Der Berber - Jürgen Reitemeier - E-Book

Der Berber E-Book

Jürgen Reitemeier

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Beschreibung

Schulten Jupp, Maren Köster und Axel Braunert sind wieder da. Die drei von der Detmolder Kripo müssen sich nicht nur mit einem neuen Chef herumschlagen, sondern auch noch mit einem verwahrlosten Hund. Aber was hat der mit dem Fall des ermordeten Berbers zu tun? Wer ist die Frau, die tot an den Externsteinen gefunden wird? Und welche Rolle spielt der eitle Museumsdirektor? Nach "Fürstliches Alibi" haben Jürgen Reitemeier und Wolfram Tewes erneut einen packenden Lippe-Krimi geschrieben. Detailgenau, spannend, liebenswürdig. Wer ihn gelesen hat, wird in der Langen Straße in Detmold nach Schulten Jupp Ausschau halten.

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Reitemeier / Tewes · Der Berber

JÜRGEN REITEMEIER WOLFRAM TEWES

Der Berber

PENDRAGON

Inhalt

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Vorwort

Auch diese Geschichte spielt in Lippe.

Einer reizvollen Region, in der die jährliche Regenmenge ebenso sprichwörtlich ist wie die Sparsamkeit seiner Bewohner. Wer hier mit Geld um sich wirft, der macht sich verdächtig und sollte sich hinterher über nichts wundern.

Wundern Sie sich nicht, wenn Sie in diesem Buch auf einen Namen stoßen, den Sie zu kennen glauben. Das ist reiner Zufall! Alle Personen und die Handlung sind frei erfunden!

Wenn sich aber der Eine oder Andere verwundert fragt, woher ihm denn diese oder jene wunderbare Episode bekannt vorkommt, dann lassen Sie sich sagen: Wunder gibt es eben immer wieder!

„Ich bin, also ist Schönheit!“

Peter Hille

Prolog

„So, das war die letzte Runde, ich mach jetzt dicht!“

Der fast kahlköpfige Wirt der Detmolder Gaststätte Berta knallte drei Gläser auf den Tisch, ging dann zu seiner Theke, nahm sich einen Putzlappen und begann, die anderen Tische abzuwischen. Trotz der späten Stunde war das Pils nach allen Regeln der Gastwirtskunst gezapft. Exakt sieben Minuten. Darauf konnte man sich eben im Frühling 1967 in der Provinz noch verlassen.

Die drei jungen Männer waren korrekt gekleidet, hatten als Zugeständnis an die Uhrzeit und den Alkoholkonsum lediglich die Krawatten etwas gelockert und die Ärmel der weißen Hemden hochgekrempelt. Auch dies war im Frühjahr 1967 in der Provinz völlig in Ordnung.

Außerdem legte der Arbeitgeber der drei Herren, der Detmolder Regierungspräsident, den allergrößten Wert auf standesgemäßes Auftreten seiner Verwaltungslehrlinge.

„Helmut, mach doch mal das Radio an,“ rief Arnold Berger dem Wirt zu. „Nur noch eben Nachrichten hören!“

Der dicke Gastwirt war zwar müde, aber ein gutmütiger Kerl. Er knipste das große Loewe-Radio an und drehte den Sendersuchknopf auf den WDR. Es dauerte einige Sekunden, bis das Röhrengerät die nötige Betriebstemperatur hatte. Dann dröhnte die sehr amtlich klingende Stimme des Nachrichtensprechers durch die fast leere Kneipe.

„In den späten Abendstunden kam es in Berlin anlässlich des Schah-Besuchs zu schweren Unruhen. Sicherheitskräfte hinderten die Demonstranten daran, die Berliner Oper zu stürmen, in der Schah Reza Pahlewi mit seiner Frau Fara Diba einer Aufführung beiwohnte. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen kam ein Student namens Benno Ohnesorg ums Leben. Er wurde in einem Hinterhof erschossen aufgefunden. Wie ein Polizeisprecher mitteilte, konnte der Todesschütze noch nicht ermittelt werden. Behauptungen der APO, Ohnesorg sei von einem Polizisten von hinten erschossen worden, bezeichnete die Berliner Polizei als völlig gegenstandslos. Die Studenten…“

Die drei jungen Männer waren schockiert.

„Ich glaube denen kein Wort,“ stieß Berger wütend heraus. „Die Bullen haben den umgelegt, da wette ich meinen Arsch drauf!“

„Ich hätte große Lust, irgendein Schaufenster einzuwerfen. Pflastersteine gibt es nicht nur in Berlin. Ich kenne auch in Detmold genug. Und bürgerliche Scheißer, die jede Woche die Bunte kaufen, weil da so schöne Bilder von Herrn und Frau Schah drin sind, haben auch hier Geschäfte mit schönen großen Schaufenstern!“ Karl Hofknecht neigte seit seiner Kindheit zu spektakulären Aktionen.

Arnold Berger war von einem anderen Naturell.

„Das ist doch Quatsch! Dann reparieren die ihre Schaufenster, die Kunden kaufen aus Mitleid noch mehr von ihrem Ramsch und du guckst dumm aus der Wäsche. Nein, man müsste etwas machen, was das System ins Wanken bringt. Man muss das System mit seinen eigenen Waffen schlagen.“

„Und wie willst du das anfangen?“

„Keine Ahnung, weiß ich auch noch nicht. Aber irgendwas fällt mir schon ein, verlasst euch drauf! Überlegt mal. Morgen fahren wir alle drei nach Nieheim zur Schulung. Keiner von uns interessiert sich für diesen Mist. Aber wir haben eine ganze Woche Zeit, uns was Pfiffiges auszudenken!“

In der Tat stand den dreien einer der zahlreichen Verwaltungslehrgänge bevor, der diesmal in Nieheim stattfinden sollte. Eigentlich hätten alle drei schon längst im Bett liegen sollen, da sie bereits um 8 Uhr in der Frühe antreten mussten. Aber wer wollte jetzt daran denken?

„Von hinten! Auf der Flucht erschossen!“ Udo Kröger krallte die Faust um das arme Bierglas. „Wo leben wir eigentlich?“

„In Detmold! Und in Detmold ist nachts um ein Uhr Polizeistunde! Los, raus jetzt! Ich mach Feierabend!“ Dieser fast kahlköpfige, dicke und gutmütige Wirt konnte auch resolut sein.

Draußen bot Karl Hofknecht den anderen an, noch zu ihm nach Hause zu gehen. Seine Eltern seien nicht zu Hause, dafür aber noch einige Flaschen Schnaps. Außerdem könne man sich noch ein paar Eier in die Pfanne hauen.

Als ihr Lehrgangskollege Leo Hoffmann sie um kurz nach 6 Uhr einen nach dem anderen von ihren Elternhäusern abholte, staunte er nicht schlecht über die verkaterten Gesichter. Alle drei quälten sich so durch den ersten Lehrgangstag, dass sie am Abend unbedingt etwas Entspannung brauchten. Die fanden sie im Lindenkrug bei einigen Bieren. Wieder kam das Thema des gestrigen Abends auf den Tisch. Arnold Berger war es, der schließlich die Sache ins Rollen brachte.

„Hört mal, Jungs! Wir haben doch heute trotz allem ’n bisschen was gelernt über das Einwohnermeldewesen. Zum Beispiel wissen wir jetzt, was eigentlich einen vollwertigen Menschen ausmacht. Und was ist das?“ Fragend blickte er Udo Kröger an. Der dachte aber in diesem Moment nur an ein Detmolder Mädchen namens Monika, dem er bereits seit einem Jahr ebenso hartnäckig wie erfolglos den Hof machte.

„Dass alles dran ist, was dran gehört,“ antwortete Kröger müde und desinteressiert.

„Quatsch! Er braucht einen Eintrag in die Einwohnermeldekartei seiner Gemeinde, einen Personalausweis, eine Nummer bei der Bundesversicherungsanstalt, eine Lohnsteuernummer und so weiter. Viel mehr braucht man nicht, um ein angesehenes Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. Und wir, ja wir, können ihm all das verschaffen. Ich habe eine Idee. Wollt ihr sie hören?“

Die beiden anderen schauten sich genervt an, nickten aber brav. Berger war so etwas wie der Wortführer dieser kleinen Gruppe. Man war es gewohnt, dass er sich gelegentlich etwas ,dicke machte‘.

„Letztens hatte mein Abteilungsleiter mich mal zum Standesamt geschickt, was abholen. Da kam ein Typ, der wollte heiraten. Das ging aber nicht, weil seine ganzen persönlichen Unterlagen wie Geburtsurkunde und so bei einem der Bombenangriffe auf Berlin verbrannt sind. Jetzt hat er keinen Pass, keinen Beweis dafür, dass er überhaupt geboren ist, überhaupt nichts. Ihn gibt es praktisch gar nicht. Der arme Amtsleiter hat ganz schön rotiert.“

„Und, hat er jetzt seine Frau geheiratet oder nicht?“ wollte Udo Kröger wissen.

„Ich denke schon. Er hatte jedenfalls seine ganze Verwandtenmischpoke mitgebracht und alle haben eidesstattliche Erklärungen abgegeben, dass sie diesen Mann schon von ganz klein auf kennen und dass er wirklich der ist, der er zu sein behauptet. Weiter habe ich von der Sache nichts mitgekriegt, aber ich denke mal, der ist jetzt schon unter der Haube!“

„Aber was hat das alles mit uns zu tun?“

„’Ne ganze Menge! Stellt euch mal den Spaß vor. Wir erfinden einen Mann! Wir verschaffen ihm einen Namen, einen traurigen Lebenslauf mit Bomben und ausgebrannten Häusern und so. Den schicken wir dann durch die Instanzen, mit Hilfe solcher eidesstattlichen Erklärungen.“

„Und wo willst du die herkriegen? Da macht doch keiner mit, das wäre ja verrückt!“

„Ich kenne Leute, denen ist jetzt alles egal, die reden auch nicht mehr darüber. Und Geld wollen sie dafür auch nicht.“

„Die möchte ich sehen!“

„Kannst du aber nicht! Die liegen alle unter der Erde. Jungs, kapiert doch! Wir nehmen uns einfach einige Leute vor, die in der letzten Zeit gestorben sind und deren Lebenslauf in etwa zu dem unseres künstlichen Freundes passt. Da können wir ja flexibel sein. Außerdem sitzen wir doch an der Quelle. Wir basteln uns deren eidesstattliche Erklärungen, setzen das richtige Dienstsiegel darunter und erledigt. Merkt kein Mensch!“

Die beiden anderen schauten sich völlig verwirrt an.

„Mann, Arnold!“ meinte dann Karl Hofknecht, „du bist noch verrückter als ich dachte!“

1

Frau Feldbusch staunte nicht schlecht. Nun betrat schon der achte ‚Berber’ die Sparkassenfiliale am Detmolder Markt. Ebenso wie seine Vorgänger wedelte auch er mit einem nagelneuen Fünfhundertmarkschein.

„Könnse den ma’ wechseln, die in Aldi haben nich chenug Kleingeld.“

„Sicher doch,“ meinte Frau Feldbusch freundlich wie immer, „ich muss aber erst mal kurz nach hinten, heute haben wohl alle nur große Scheine.“

Sie nahm den Geldschein und verließ den Kassenraum.

„Komisch,“ dachte sie bei sich, „alle Penner kommen mit einem Fünfhunderter, alle sind älter als von 1990 und sind nagelneu, obwohl wir mittlerweile das Jahr 2001 haben.“

Bei den anderen Scheinen waren die Seriennummern fast fortlaufend gewesen, doch bei diesem Schein war sie aus einer anderen Reihe. Sie überprüfte die Nummer des Geldscheins an Hand der aktuellen Computerlisten. Registriert war der Schein nicht. Aber, dass irgendwo in dieser Geschichte ein ganz dicker Wurm war, daran hatte die erfahrene Kassiererin überhaupt keinen Zweifel. Aufgeregt rief sie bei der Polizei an und teilte ihre Beobachtung mit. Dann ging sie wieder in den Kassenraum. Vor dem Schalter wartete ungeduldig der Besitzer des Scheines. Frau Feldbusch hatte weiche Knie.

„Watt nich in Ordnung?“

„Doch, doch, aber ob Sie es glauben oder nicht, ich musste von der Paulinenstraße Hundertmarkscheine anfordern, Sie sind mindestens schon der Zehnte der hier mit einem Fünfhundertmarkschein steht.“ Unauffällig legte sie ein DIN A4 Blatt auf die Fächer mit den Geldscheinen.

„Un alles Penner, wa?“

„Na ja,“ Frau Feldbusch wollte dem Mann nicht zu nahe treten.

„Die sind vom Professor, der hat irgendwie ’ne Erbschaft gemacht, oder so. Jedenfalls is der seit Tagen sturzbesoffen un scheißt mit den Geld rum, als wär et Dreck. Getz licht der irgendwo inne Büsche und pennt. Abba ich bin doch nich blöd. Ich hab dat Geld genommen, die annern auch. Un dat gebe ich getz aus, bevor der wieder nüchtern wird und dann die Kohle womöchlich noch wieda haben will. Ich mache mich ein schönen Tach, dat könnense mich chlauben.“

In dem Moment fasste dem Mann jemand auf die Schulter und drehte ihm gleichzeitig den Arm auf den Rücken. Dem ‚Berber’ stand der Schmerz im Gesicht. Frau Feldbusch sah in das Gesicht eines Streifenpolizisten, der versuchte sie cool anzugrinsen, wobei er aber eher dämlich wirkte.

Frau Feldbusch bekam ein schlechtes Gefühl. Gerade hatte sie mit dem Mann ein Gespräch geführt und jetzt kam dieser Polizist und behandelte diesen Menschen überzogen rüde. Am Eingang der Bank stand ein weiterer Uniformierter. Er war erheblich jünger als sein Kollege. Dieser hatte dem zerlumpten Mann mittlerweile die Hände auf dem Rücken gefesselt. Die restlichen Besucher der Bank wurden unruhig. Irgend etwas schien nicht in Ordnung zu sein. Stimmengewirr wurde laut. Worte wie Banküberfall fielen. Jemand schrie hysterisch:

„Was ist denn hier los?“

Auch die Bankangestellten wurden unruhig.

Der Polizist Rudolf Volle ließ sich nicht beirren. Der stieß den Gefesselten vor sich her, Richtung Ausgang, ohne noch eine Frage zu stellen, ob er den richtigen Mann festgenommen hatte oder nicht.

„Los, du Penner! Jetzt geht es ab. So was wie dich können wir hier nicht gebrauchen!“

Gerade wollte er die Ausgangstür aufstoßen, als ein ungleiches Paar den Schalterraum betrat. Der eine Mann war jung, groß, schlank, elegant, aber auf gewisse Art leger gekleidet. Er hatte einen Dreitagebart, volles schwarzes Haar und einen „Brilli“ im rechten Ohr. Der andere war ca. fünfundfünfzig Jahre, trug einen abgetragenen Anzug, darüber einen ebenso zerschlissenen Sommermantel. Die Krawatte hatte er wahrscheinlich schon bei seiner eigenen Konfirmation getragen. Er besaß schütteres graues Haar und auf der Stirn standen ihm Schweißperlen. Er war völlig außer Atem. Für seine dreißig Kilo Übergewicht war die eben eingeschlagene Gangart um einiges zu schnell gewesen.

„Wachtmeister Volle, was ist denn hier los?“ fragte der jüngere der beiden Männer den Polizisten.

„Ach, die Kommissare Braunert und Lohmann sind auch schon da! Haben gerade jemanden verhaftet. Wenn man auf die Kripo wartet wird das ja nie was!“ sagte der Polizist mit dem Panzerknackergesicht nicht ohne Stolz und eine gewisse Arroganz.

Kommissar Braunert war der Aufruhr in der Bank nicht entgangen. Er zog die uniformierten Kollegen aus dem Bankraum. „Und wieso haben sie diesen Mann verhaftet?“

„Äh ja … em …“ Von der Mischung aus Dummheit und Arroganz, die er noch eben gezeigt hatte, war nur noch die Dummheit übriggeblieben. Sein etwas jüngerer Kollege wollte ihm zur Hilfe kommen.

„Ja, da war doch was mit Falschgeld oder so über Funk gekommen, weiß auch nicht mehr so genau. Wir sofort hin und … “

Axel Braunert, Kommissar bei der Detmolder Kripo, verdrehte die Augen.

„Ihr wartet hier!“ lautete sein kurzer Befehl, dann ging er in die Bank. Das leise gemurmelte, „alte Schwuchtel“, von Volle war für den Kommissar nicht mehr zu hören gewesen.

Braunert ging wieder in die Bank. Die immer noch vorherrschende Unruhe beachtete er nicht weiter und steuerte direkt auf Frau Feldbusch zu. Sie war gerade mit einem älteren Herrn im Gespräch. Trotz seiner Größe von nur 1,65 Meter drückte dieser die Personenwaage auf lockere 102 Kilogramm. Sein rundes Gesicht mit den roten Backen und der dicken, leicht geröteten Nase sagte einiges über seine Liebe zum schönen Leben als auch über seinen Blutdruck aus. Seine grauenhafte Krawatte war viel zu kurz gebunden und hing in Höhe des Bauchansatzes. Als der Mann den Polizisten auf sich bzw. auf Frau Feldbusch zusteuern sah, grinste er verschmitzt und hakte seine Daumen hinter die Hosenträger mit der Lippischen Rose drauf.

„Na, Herr Kommissar, auch schon da?“

„Tja Herr Rodehutskors, wenn mir das Polizist-Sein so ins Blut übergegangen ist, wie Ihnen das Journalist-Sein, dann wechsele ich den Beruf. Denn dann wäre ich schon vor jeder Straftat zur Stelle, mit dem Resultat, dass das Verbrechen keine Chance mehr hätte und ich keinen Feierabend.“

Der Zeitungsmann lachte geschmeichelt, kramte einen halben Zigarrenstumpen und einen abgegriffenen Notizblock aus seiner groß karierten Jacke und wartete in aller Ruhe ab. .

Frau Feldbusch machte ihrem Unmut Luft:

„Mussten ihre Leute diesen Mann so behandeln, der hat doch gar nichts gemacht! Nur weil er einen großen Geldschein besessen hat, ist das doch noch lange kein Grund ihn zu behandeln als sei er ein Mörder und …“.

Der Kommissar fühlte sich verlegen. Er hörte sich die Vorwürfe aber kommentarlos an. Nachdem Frau Feldbusch sich einigermaßen beruhigt hatte stellte er ihr die nötigsten Fragen und nahm ihre Personalien auf, um dann wieder zu seinen Kollegen und dem in Gewahrsam genommenen Mann zu stoßen. Diese Gruppe saß beharrlich auf einer Bank am Eingang zum Pastorengarten und wartete auf ihn.

Dort angekommen entschuldigte sich Braunert bei dem Verhafteten für das Vorgehen, erklärte ihm, dass er ihm die Handschellen sofort abnehmen würde und dass es zunächst zur Wache ginge. Den beiden Streifenpolizisten bedeutete er, dass sie sich wieder ihren eigentlichen Aufgaben zu widmen hätten. Er würde im weiteren Verlauf wieder auf sie zukommen. Die beiden verzogen sich denn auch mit unverständlichem Gesichtsausdruck in den Streifenwagen, den sie spektakulär, das Blaulicht rotierte noch, direkt vor der Sparkasse geparkt hatten.

2

Kurz hinter der Strate-Brauerei, am Ende der Fürstengartenstraße, tauchte auf der linken Seite eine elegante, weinbewachsene Naturstein-Villa aus der Gründerzeit auf. Maren Köster lenkte ihren Opel Tigra bis direkt vor die imposante Doppeltreppe. Über der Eingangstür hing als Blickfang ein riesiger bunter, sehr merkwürdig aussehender Stuhl. Darunter prangte in großen eleganten Metallbuchstaben der Name des Hauses: Möbeldesign-Museum. Hier war sie noch nie gewesen, was nicht weiter verwundert, da dieses Museum erst vor einem halben Jahr eröffnet hat. Sie ging durch die massige Holztür, durchschritt eine große Eingangshalle mit allerlei Hinweisschildern und verschwand dann in einer Tür mit der Aufschrift „Büro Dr. Henry Zimmermann, Museumsleitung“.

Hier wurde sie von einer drallen Blondine, so Mitte Dreißig, zurechtgemacht wie vor einem Auftritt in einer Herzblatt-Livesendung, fürs erste gestoppt.

„Herr Dr. Zimmermann ist zur Zeit in einer Besprechung. Ich werde kurz fragen, wann er für Sie Zeit hat,“ säuselte sie wenig freundlich.

„Er hat jetzt Zeit,“ versetzte die Kommissarin genauso unfreundlich. „Er hat nämlich die Polizei gerufen. Und ich komme nicht hierhin, um in einem Vorzimmer herumzusitzen.“ Mit diesen Worten drängte sie sich rüde an der wesentlich größeren Blondine vorbei, um unaufgefordert das Büro des Dr. Zimmermann zu betreten.

„Sie können da nicht einfach so reinplatzen, Sie …!“ Die Stimme der Barbie-Darstellerin kippte vor Erregung.

„Sie sehen doch, dass ich das kann!“ Maren Köster griff zur Türklinke.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür von innen und Maren Köster prallte mit einem Mann zusammen, der gerade herauskam. Sie trat einen Schritt zurück und schaute zum dem schlanken hochgewachsenen Typ Anfang Fünfzig, hinauf. Der lächelte sie gönnerhaft an. Ihr Gegenüber steckte in einem anthrazitfarbenen dreiteiligen Anzug. Über dem Anzug ein Kopf wie aus einem Hollywoodfilm. Ein urlaubsgebräuntes männliches Gesicht, mit einem vollen, leicht angegrauten Haarschopf und einem Zahnpasta-Lächeln, so dass die sonst so kecke Maren Köster für kurze Zeit keine Worte fand.

„Mein Name ist Dr. Zimmermann, ich leite das Möbeldesign-Museum. Ich nehme an, Sie sind die Vertreterin der Polizei. Kommen Sie rein und setzen Sie sich doch.“

Eine Stimme wie Dr. Brinkmann von der Schwarzwaldklinik.

„Fräulein Lukas! Machen Sie uns doch bitte einen Kaffee, ja?“ Maren Köster ging ins Büro, nahm einen Stuhl und stellte sich leicht verlegen mit Name und Dienstgrad vor. Dr. Zimmermann zog anerkennend die buschigen Augenbrauen hoch.

„Ich wusste nicht, dass die Detmolder Polizei so schöne Mitarbeiterinnen hat. Jetzt muss ich dem Dieb ja richtig dankbar sein, dass er mir einen solch charmanten Besuch beschert hat.“

Maren Köster staunte über sich selbst. In jedem anderen Fall hätte sie bei einer solchen Anmache eher sauer reagiert. „Geschleime“, wie sie das immer nannte, mochte sie nämlich eigentlich gar nicht. Aber seltsam, hier und heute gefiel ihr dies alles.

„Vielen Dank, Dr. Zimmermann! Kommen wir doch zur Sache! Sie haben den Diebstahl eines Ausstellungsstückes gemeldet. Um was genau handelt es sich?“

„Also da muss ich schon sagen, der oder die Diebe haben genau gewusst, welche Stücke besonders wertvoll sind. Es handelt sich um eines unserer Prachtstücke. Eine Stahlrohr-Leder-Kombination von Ludwig Mies van der Rohe aus dem Jahre 1930. Wunderschön!“

Darunter konnte sich eine Polizeibeamtin wenig vorstellen. Sie bat Zimmermann um eine etwas genauere Beschreibung des Möbels.

„Es ist eine Liege. Die Konstruktion besteht wie gesagt aus geschwungenem Stahlrohr, überzogen mit 15 schwarzen Leder-Halbrollen. Können Sie sich das vorstellen?“ Er lächelte verständnisvoll, als sie den Kopf schüttelte.

„Hier, natürlich haben wir von einem solch wertvollen Stück auch ein Foto. Es wird nur schwer verkäuflich sein, da jeder Fachmann Alarm schlagen wird, wenn es ihm angeboten wird.“

„Halten Sie es für möglich, dass der Dieb einfach ein Fan dieses Designers, wie hieß er noch gleich, ist?“

„Mies van der Rohe hieß der Mann. Sicher ist das möglich. Ich zum Beispiel habe auch ein Stück von ihm in meiner Wohnung. Allerdings ein weniger bekanntes und ich habe es bezahlt. Ganz ehrlich!“ Er lächelte lausbübisch.

„Seit wann haben sie die Liege vermisst?“

„Seit heute morgen. Wissen Sie, unsere Ausstellungsstücke habe alle ihren eigenen Platz. Dort, wo sie am besten zur Geltung kommen. Dort, wo sie ihre Seele dem Besucher öffnen können, wie ich immer sage. An der Stelle fehlte heute morgen etwas. Das fällt natürlich sofort auf. Ich habe dann umgehend die Polizei angerufen.“

Die Kommissarin stellte noch einige Routinefragen. Wer hatte nachts Zugang zu den Räumen? Gab es irgendwo ein zerbrochenes Fenster oder ein geknacktes Türschloss? Hatte er einen Verdacht? Und so weiter. Dann stand sie auf und ließ sich von Zimmermann aus dem Büro führen.

„Darf ich Sie kurz durch unsere kleine aber feine Ausstellung führen? Vielleicht gewinne ich Sie ja als Freundin unseres Hauses!“

Normalerweise hätte sie dies kategorisch abgelehnt. Es war kein Zusammenhang mit ihrer dienstlichen Tätigkeit zu erkennen. Zu ihrer eigenen Überraschung nahm sie das Angebot dankend an.

Zimmermann geleitete sie in einen wirklich beeindruckenden großen Raum, in dem verschiedene Möbelstücke so arrangiert worden waren, dass der Raum eine gewisse Wohnzimmeratmosphäre bekam.

„Der ist aber schön!“ Sie ging zu einem kleinen schmalen Schränkchen von sehr elegantem Schwung und einer skurrilasymmetrischen Gesamtform.

„Ja, Sie beweisen einen Sinn für das Schöne. Dies ist die Kopie eines Schrankes im Neo-Rokokostil von Hector Guimard aus dem Jahre 1900. Das Original steht in Paris, im Musée des Arts Décoratifs.“

Verträumt strich Maren Köster über das helle, stark gemaserte Holz.

„Tja, so was kann sich eine einfache Polizistin nun mal nicht leisten,“ seufzte sie.

„Leisten vielleicht nicht. Aber wenn Sie Interesse an sinnlichen Möbelstücken haben, kommen Sie doch jederzeit wieder. Ich habe lange nicht mehr ein so anregendes Gespräch geführt.“

Jetzt wurde es aber höchste Zeit zu gehen. Sie verabschiedete sich kurz angebunden, ging hinaus, stieg in ihren Tigra und brauste davon.

3

Im Polizeirevier an der Bielefelder Straße angekommen, machten sich Braunert und sein Kollege Bernhard Lohmann sofort daran, den ,Berber’ zu vernehmen. Der verhaftete Mann war völlig fertig.

„Mensch, jetzt sein Sie mal nicht so niedergeschlagen!“ meinte Lohmann freundlich und nahm dem Festgenommenen die Handschellen ab. Dann kramte er in seiner alten, speckigen Aktentasche und förderte eine Tüte mit Puddingschnecken an das Tageslicht. Er hielt dem Verhafteten das Behältnis unter die Nase.

„Nehmen Sie ruhig, sind von Hartmann aus der Krummen Straße. Einer der besten Bäcker in ganz Lippe, wenn Sie mich fragen. Kaffee gibt es auch gleich, und dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Anschließend unterhalten wir uns ein bisschen und in drei Stunden sitzen Sie wieder auf dem Bruchberg in der Sonne.“

Den Obdachlosen jedoch schienen weder die warmen Worte noch die Kuchenteilchen zu interessieren. Er machte einen Eindruck, als stünde ihm nun eine lebenslange Haftstrafe bevor.

„Es wird Ihnen wirklich niemand den Kopf abreißen,“ versuchte jetzt auch Axel Braunert den Mann zu beruhigen. „Wir ziehen das Verhör zügig durch und dann können Sie wieder gehen. Sie müssen lediglich erreichbar sein, falls später noch Fragen zu klären sind.“

Plötzlich brachen bei dem Verhafteten alle Dämme. Die Tränen und der Rotz rannen ihm durch das Gesicht.

„Fünfhundert Mark, Mann, und ich Blödmann chehe inne Spaakasse um se einzutauschen! Dat hätt ich mich doch denken können, dat da wat nich in Ordnung mit is! Hunderttausend Mann in Stadion und wer kricht den Ball an Kopp? Azze! Die andern saufen sich die Hucke voll und ich sitze hier bei die Bullen. Von die fünfhundert Mark seh ich doch nich mal mer ein Schnipselchen. Hätt ich für innen Puff chehen können, aber mit alle Schikane. Mensch, bin ich blöde, fünfzehn Jahre bin ich auf Platte und hab et immer noch nich begriffen!“

Der Mann zog die Nase hoch und wischte den Rest mit seinem linken Ärmel ab. Dann kam der nächste Weinkrampf über ihn. Im Moment war der Landstreicher nicht ansprechbar, da konnten die beiden Polizisten machen was sie wollten.

„Ich hole erst mal Kaffee,“ meinte Axel Braunert und zog mit einem Tablett Richtung Kaffeeautomat ab, der im Aufenthaltsraum stand.

Hier saßen sechs Streifenpolizisten, als Braunert den Raum betrat.

„Diese dumme Schwuchtel! Dem tu ich bei nächster Gelegenheit erst mal einen rein!“ posaunte Wachtmeister Volle gerade. Sechs Augenpaare starrten Braunert an. Der tat als habe er nichts gehört und zog seinen Kaffee. Dann verließ er grußlos den Raum. Die Tür war kaum ins Schloss gefallen, da stand Karl-Heinz Helmer auf und stellte sich direkt vor Volle. Die Nasenspitzen berührten sich fast.

„Du tust hier keinem einen rein! Ist das klar? Und wenn du Braunert in meiner Anwesenheit noch einmal als Schwuchtel bezeichnest, dann gibt’s was auf die Nuss!“

Damit hatte Volle nicht gerechnet. Kleinlaut drückte er sich Richtung Tür.

„Braunert ist nämlich trotz allem ein guter Polizist! Und ein anständiger Kollege! Was man von manch anderem nicht behaupten kann!“ rief Helmer Volle hinterher, der dabei war den Raum zu verlassen.

Axel Braunert war Volles Aussage sofort auf den Magen geschlagen. Er spürte, dass ihm schlecht wurde. Verzweifelt versuchte er, sein Schwulsein vor den Kollegen zu verbergen. Doch er hatte den Eindruck, dass es ihm auf der Stirn geschrieben stand. Er war aus Überzeugung Polizist geworden, doch in der letzten Zeit hatte er den Eindruck, dass er hier am falschen Platz war. Schon öfter hatte er sich in der jüngeren Vergangenheit bei dem Gedanken ertappt, die Polizei zu verlassen.

Braunert drückte mit dem Ellenbogen die Türklinke herab und trat wieder in sein Büro, in dem der immer noch flennende Berber und der Puddingschnecken essende Kommissar Bernhard Lohmann saßen.

„Was ist denn mit dir los?“ fragte Bernhard erschrocken, „haste was Falsches gegessen? Du bist ja weiß wie die Wand!“

Braunert stellte den Kaffee auf den Tisch und winkte ab: „Schon wieder in Ordnung.“ Dann verteilte er die Kaffeebecher.

„Es hilft nichts, Herr…? Wie heißen sie eigentlich?“ wandte sich Axel Braunert an den Festgenommenen.

Der zog wieder den Rotz hoch und schluchzte: „Arthur! Arthur Neumann.“

„Na, sehen Sie,“ brachte Lohmann sich zwischen zwei Bissen Puddingschnecke ein, „den Namen haben wir ja jetzt schon mal und wo sind Sie geboren?“

„In Blomberg,“ schniefte der Tippelbruder. Er hatte sich mittlerweile wieder gefasst.

„Sagen Se mal, wat is denn getz mit die fünfhundert Mark, kriege ich die wieder?“

„Ich glaube, da haben Sie Pech“, sagte Axel Braunert ehrlich. „Der Geldschein, den Sie besaßen, ist zwar nicht registriert. Wenn Sie nicht schlüssig nachweisen können, woher Sie den Schein haben, bleiben Sie erst mal verdächtig. Jedenfalls glaube ich nicht, dass Sie den Geldschein schnell zurück bekommen oder Anspruch auf Schadensersatz haben. Machen Sie sich da mal lieber keine Hoffnungen.“

Diesmal fing der Verhaftete an zu toben und zu fluchen. Den Verlust der fünfhundert Mark konnte er einfach nicht verschmerzten.

„Wissen Se, wann ich dat letzte mal fünfhundert Mark inne Hand gehalten habe? Dat is so lange her, da kann ich mich schon selbs nich mehr dran erinnern und getz hab ich ma einen und dann sowat.“ Es folgte eine Schimpftirade.

Plötzlich wurde der Penner ganz hektisch.

„Also, wat wollen se wissen? Getz aber schnell, damit wa fertig werden.“

Die beiden Polizisten sahen sich verwundert an.

„Was ist denn jetzt los,“ fragte Kommissar Lohmann verwundert, „erst heulen Sie wie ein Schlosshund und dann können Sie ihre Aussage nicht schnell genug aufs Papier bringen. Das soll einer begreifen.“

„Ja, wat meinen se wie schnell die andern ihr Geld verjubelt haben? Wenn ich mich getz ’n bisschen beeile kriege ich wenichstens noch ’n bisschen wat ab. Wenn die besoffen sind, dann sind se großzügiger als wenn se ers mit ’nen dicken Kopp inne Ecke liegen. Also wat wollen se wissen?“

In diesem Moment klingelte das Telefon. Braunert nahm ab, meldete sich und hörte dann gespannt zu. Dann sagte er:

„Schick einen Streifenwagen hin und bringt den Mann her. Aber schickt nicht den Volle, der ist da heute schon einmal unangenehm aufgefallen. Außerdem kann ich mir denken, dass Rodehutskors schon da ist, der hat schon was mitgekriegt. Ich möchte nicht, das morgen das schlechte Benehmen der Detmolder Polizei in der Heimatzeitung kommentiert wird.“

Zu Lohmann gewandt berichtete er: „Schon wieder ein Fünfhundertmarkschein, diesmal in der Volksbank. Ruf mal bei Radio Lippe an und bitte sie, eine Meldung rauszugeben, dass sich Geschäfte, bei denen kleine Beträge mit einem Fünfhundertmarkschein beglichen werden, bei der Polizei melden sollten. Das gleiche gilt für Banken, bei denen Fünfhundertmarkscheine eingewechselt werden sollen. Und dann versuch mal in Erfahrung zu bringen, wo das Geld herkommt. Ich glaube, da kommt was auf uns zu, das uns über den Kopf wächst. Ich geh nachher mal zum Chef. Meiner Meinung nach schaffen wir beiden das alleine nicht. Da brauchen wir Verstärkung.“

Der ,Berber’ wurde immer aufgeregter: „Wat is nun mit Verhör, meint ihr, ich will hier Wurzeln schlagen?“

Lohmann verließ den Raum, seine Tüte mit dem Rest Puddingschnecken unter dem Arm. Axel Braunert hob beschwichtigend die Hände.

„Ist ja schon gut,“ sagte er und fragte die restlichen Personalien ab und hämmerte sie in den PC.

„Also, dann erzählen Sie mir doch mal, wie Sie an den Geldschein gekommen sind!“

„Dat hab ich Sie doch schon gesacht! Der Professor, der hat irgend ’ne Erbschaft gemacht und hat den andern und auch mir, also jedem von uns fünfhundert Mark gegeben. Dat is alles und den Rest wissen se ja.“

„Hat der Professor auch einen Namen,“ fragte Braunert weiter.

„Sicher hat der einen Namen, aber da fragen se mich zuviel! Ich kenne den nur als Professor.“

„Und wie lange kennen Sie den Professor schon?“

„Och, der läuft mir schon seit Jahren imma mal wieda übern Weg. Man kennt sich ja so auffe Platte. Aber zu tun hatte ich mit dem nix. Dat war eigentlich son richtiges Arschloch, wenn ich dat mal so sagen darf. Ich war ganz verwundert, als der mich diese fünfhundert Mark inne Hand gedrückt hat. Hätt ich gar nich gedacht, dat der so großzügich sein kann. War er ja auch wohl nich, aber dat der ’ne Bank ausgeraubt hat oder so, dat kann ich mir ja nun nich vorstellen.“

Braunert grübelte:

„Professor! Wieso nennen Sie ihren Kollegen Professor?“

„Och, dat hat glaube ich nix zu bedeuten. Dat war eben son alten Klugscheißer und darum sagen wa Professor für den. Aber chenau weiß ich dat auch nich. Ich hab mir da nie wat bei gedacht.“

„Sie sagten eben, dass Sie ihn eigentlich nich leiden konnten?“ fragte Axel Braunert weiter.

„Ne konnt ich auch nich. Die andern aber auch nich. Wenn man mal nich aufpasste, dann soff der dir hinter deinen Rücken den Schnaps wech oder fraß dein Butterbrot auf. Und wenne ihn mal wat aus deine Pulle gegeben has, dann hat er gleich son Hieb chenommen, datte dir gleich ne neue zusammen schnorren musstes.“

„Aber er hat Euch allen fünfhundert Mark gegeben. Kam Ihnen das nicht seltsam vor?“

„Seltsam vor, seltsam vor, wenn mich einer fünfhundert Mark gibt, dann frage ich nich lange, dann nehme ich die und sehe zu, dat ich Land gewinne bevor er et sich anders überlegt und se wieda haben will.“

Das weitere Gespräch brachte nichts Neues. Bei dem ,Professor’ musste es sich wohl um eine stadtbekannte Detmolder Pennergröße handeln. Braunert wunderte sich, wie wenig er als Polizist über diese Szene wusste.

„Wat is nun, kann ich jetzt abhauen oder wat.“

„Ja, Sie können jetzt gehen. Aber Sie müssen sich bis auf weiteres täglich bei uns melden, da Sie keinen festen Wohnsitz haben. Das Detmolder Stadtgebiet dürfen Sie auch nicht verlassen. Doch jetzt müssen Sie nur das Protokoll unterschreiben und dann bekommen Sie von uns noch eine Quittung, dass wir den Fünfhundertmarkschein einbehalten haben. Vielleicht haben Sie ja doch noch Glück und bekommen ihn zurück.“

„Ja, und wie komme ich getz inne Stadt?“ fragte Neumann.

Axel Braunert entschuldigte sich und sagte, dass er leider laufen oder den Bus nehmen müsse.

Grummelnd erledigte der ,Berber’ die Formalien und machte sich auf den Weg in die Innenstadt.

Axel Braunert setzte sich grübelnd an seinen Schreibtisch. Ein Gefühl von Unbehagen und Überforderung beschlich ihn. Er konnte nicht genau sagen, ob es die Sprüche von Volle vorhin im Sozialraum waren, die ihm dieses Unbehagen bereiteten oder ob dieser seltsame Fall ihn so verunsicherte. Er versuchte die Begegnung mit Volle zu verdrängen und sich auf den Fall zu konzentrieren. Warum verschenkte jemand jede Menge Fünfhundertmarkscheine und dann noch ein Penner, der als Schnorrer und „Sozialschwein“ im Milieu bekannt war. Was hatte das für einen Sinn? Er fand keinen Zugang. Braunert kramte einen Stift aus seiner Schreibtischschublade und versuchte die Vorgehensweise zu ordnen. Er kritzelte die nötigen Schritte auf seine Schreibtischunterlage. Zunächst musste er seinen Chef informieren. Er merkte, dass er Kopfschmerzen bekam. In diesem Moment betrat Lohmann den Raum.

„So, ich habe mit Radio Lippe gesprochen. Die Meldung geht schon über den Äther. Die Seriennummer des Geldscheines habe ich an das LKA weitergegeben. Mal sehen, wann die sich melden. Kann ja nicht so lange dauern. Was hältst du von der Sache? Kommt mir ja alles ein bisschen verrückt vor.“ Axel Braunert zuckte mit den Schultern und teilte ihm seine Überlegungen mit. Lohmann war mit allem einverstanden. Dann ging er.

4

Axel Braunert zuckte zusammen, als sein Kollege Lohmann eine Stunde später mit ungewohnter Dynamik die Bürotür aufstieß und atemlos hervorsprudelte:

„Hör zu! Mit der Meldung über Radio Lippe wegen der Geldscheine haben wir gewaltig was losgetreten. Bei uns laufen die Telefone heiß. Mittlerweile haben sich acht Einzelhändler gemeldet. Vier weitere Scheine sind bei den Detmolder Banken aufgetaucht. Der Aldi meldet sechs Scheine und beim Allfrisch waren es zwei. Die Banken behaupten zwar, dass diese Scheine nicht als heißes Geld registriert sind, wundern sich aber, dass alle aus dem Zeitraum von vor dem Jahr 1990 sind. Und zu allem Überfluss auch noch so gut wie niegelnagelneu. Völlig jungfräulich! Ich rufe gleich noch mal beim LKA an. Vielleicht wissen die ja mittlerweile was Neues.“

Lohmann musste an dieser Stelle erst mal wieder Luft holen. Er war die Treppe zum Büro hochgestürmt, wie er dies bezeichnen würde. Ein unbefangener Beobachter hätte lediglich festgestellt, dass er die Treppe immerhin ohne Zwischenstopp erklommen hatte. Sein zartrosa Oberhemd wies in Höhe des Bauchansatzes große Schweißflecken auf. Einige so groß wie ein lippischer Pickert.

„Aber das Beste kommt noch! Auf dem Marktplatz feiern zwischen siebzig und neunzig Leute ’ne Fete. Obdachlose, städtische Trinker, Punks und so weiter. Die lassen da so richtig die Sau raus. Es haben sich schon etliche Geschäftsleute und Anwohner beschwert. Wir müssen unbedingt was machen. Wenn die alle besoffen sind, brauchen wir mit unseren paar Polizisten nicht anrücken.“

Braunert schaute ihn fragend an.

„Was willst du machen?“

„Eigentlich müssten wir eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei aus Stukenbrock anfordern. Aber, wer will die Verantwortung übernehmen?“

„Geh doch zum Chef! Der ist ja ganz grell auf Verantwortung und so was. Das ist schließlich ein junger Dynamischer.“

Braunert saß etwas abwesend auf seinem Bürostuhl und hatte die Füße auf die herausgezogene zweitunterste Schreibtischschublade gelegt. Das Bild erinnerte Lohmann zwangsläufig an den Kollegen Josef Schulte.

„Erpentrup ist heute pünktlich gegangen. Irgendwas mit dem Umzug seiner Frau, die jetzt wohl auch nach Detmold umzieht. Damit hat das unbeschwerte Strohwitwerleben unseres lieben Chefs auch ein Ende. Und sein Handy hat er wohlweislich abgeschaltet.“

„Dann muss Schulte eben entscheiden. Er ist immerhin nach Erpentrup der Ranghöchste.“

„Der ist auch nicht aufzutreiben. Aber bei dem wundert es mich nicht. Da ist so was normal.“

Plötzlich sprang die Bürotür wieder auf. Wachtmeister Volle trat ein. Völlig unbefangen, als sei vorher nichts gewesen. Affektiert schlug er sich immer wieder mit dem Schlagstock in die geöffnete linke Handfläche.

„Wat is denn nu? Sollen wir uns das besoffene Gesocks jetzt vornehmen oder nicht?“

Braunert und Lohmann wechselten einen schnellen Blick.

„Volle,“ zischte Lohmann fast heiser, „sieh zu, dass du Land gewinnst. Und wenn du demnächst noch einmal in dieses Büro kommen solltest, dann klopfst du gefälligst und wartest, bis wir dich hereinrufen. Ist das klar?“

Volle starrte ihn kurz perplex an, wandte sich dann aber abrupt um und ging.

Lohmann wischte sich den Schweiß von der Stirn und griff zum Telefon.

„Ist mir jetzt alles egal! Ich rufe jetzt in Stukenbrock an. Die sollen zumindest schon mal ’nen Schwung Leute in Bereitschaft halten, die sie nach Detmold schicken können. Ich denke, wir beiden sollten uns jetzt ein paar besonnene uniformierte Kollegen schnappen und uns in der Stadt sehen lassen. Etwas Polizeipräsenz tut da jetzt wohl not!“

In der Schülerstraße trafen sie die Streifenpolizisten. Zusammen gingen sie zum Marktplatz. Auf den Bänken lagen Betrunkene. Manche schliefen bereits. Im Wasser des Marktplatzbrunnens schwammen Bröckchen von Erbrochenem. Überall lagen leere Bierdosen und Weinflaschen. Die ganze Truppe hatte sich ungeheuer abgeschossen. Einige der torkelnden Männer hatten nagelneue Anzüge an, an denen noch Preisschilder hingen. Ein Notarzt kam gerade mit Blaulicht und Martinshorn auf den Marktplatz gefahren. Und rund um den Platz standen in Scharen die Detmolder Bürger, beobachtend und diskutierend. Die Stimmung unter ihnen war explosiv.

„Wenn jetzt einer ’ne Zigarette anzündet, dann fliegt die ganze Innenstadt in die Luft,“ murmelte Braunert. „So ’ne dicke Luft hatten wir hier schon lange nicht mehr!“

Sie hörten einen der Geschäftsleute schimpfen:

„Erst hat der mir an der Scheibe runtergekotzt und dann ist er bei mir im Laden zusammengebrochen! Den kriegte ich doch nicht mehr da weg! Der war so fertig, der wäre wahrscheinlich in meinem Laden gestorben!“

Lohmann raunte Braunert hinter vorgehaltener Hand zu:

„Wenn wir hier jemanden schützen müssen, dann die Besoffenen. Die Leute sind ja was auf dem Baum. Dabei sollen die Geschäftsleute doch froh sein. Die haben bei der Orgie bestimmt ein gutes Geschäft gemacht.“

Zwei Stunden später hatte sich das Problem auf dem Marktplatz gelöst, ohne dass die Detmolder Polizei hätte großartig eingreifen müssen. Die meisten der Feiernden hatten sich irgendwohin verzogen. Den schaulustigen Bürgern war es mit der Zeit auch zu langweilig geworden. Denn außer, dass die eh schon Betrunkenen versuchten, noch das ein oder andere Bier in sich hineinzuschütten, passierte nichts mehr. So verteilten sie sich mit der Zeit in die angrenzenden Biergärten und Eisdielen.

Lohmann rief in Stukenbrock an. Die Bereitschaftspolizei wollte gerade das Kasernengelände verlassen. Und so konnte er noch rechtzeitig Entwarnung geben. Er schwatzte noch etwas mit dem diensthabenden Polizisten. Lohmann kannte ihn aus anderen Zusammenhängen.

„Na, macht nichts Bernhard,“ sagte er, „war ne gute Übung für meine Truppe. Wir sind ja nicht mal ausgerückt. Das regeln wir auf dem kleinen Dienstweg. Dann brauchst du nicht mal einen Bericht zu schreiben.“

Lohmann war froh, dieser lästigen Arbeit und der eventuellen Diskussion mit Erpentrup entgangen zu sein. Er beobachtete noch wie sich das Gelage langsam auflöste und schickte die Polizisten nach Hause bzw. zurück zum Routinedienst.

„Na, Axel lass uns Feierabend machen. Es reicht für heute. Kommste noch mit einen Schlürschluck trinken? Mir ist jetzt danach. Wir können ja gleich da ins Brauhaus gehen.“

An sich war Axel Braunert ja froh, Feierabend zu haben. Aber wann war er schon mal von Lohmann eingeladen worden? Solch seltene Glücksfälle muss man einfach ausnutzen.

5

Heute Morgen war sie die Erste. Sie war viel zu früh. Sie hatte die Nacht bei ihrer Tochter in Detmold verbracht und wollte so schnell wie möglich wieder zurück in ihr kleines Häuschen in Bad Meinberg. Der Fahrkartenschalter, etwas euphemistisch Reisezentrum genannt, hatte morgens um 04.50 Uhr noch nicht geöffnet. Und an einen dieser Kunden verachtenden Fahrkartenautomaten würde sie nicht gehen. „Soweit kommt‘s noch!” Wenn die Bundesbahn ihr nicht auf anständigem Wege eine Fahrkarte verkaufen könne, dann würde sie eben ohne in den Nahverkehrszug um 5.01 Uhr Richtung Altenbeken einsteigen. Schlimmstenfalls müsste sie dann im Zug nachlösen, aber bei der kurzen Fahrstrecke bis zum Bahnhof Horn-Bad Meinberg… das geht auch ohne!

Die kleine, komplett von Hut bis zu den Schuhen, inklusive Handtasche, in blassem Beige gekleidete alte Dame warf trotzig den grauen Kopf in den Nacken und durchquerte den kalten, unfreundlichen Zwischenraum zwischen Empfangshalle und den Gleisen. Links eine abweisende Backsteinwand, rechts einige Schaukästen mit Bahnwerbung. Nirgendwo eine Bank. Oma Tölle hatte bereits eine sehr eigene Meinung über die Bahn. Heute morgen fand sie alle ihre Einschätzungen bestätigt. Ächzend erstieg sie rechterhand die steile Treppe hinauf zu den Gleisen. Einmal weil sie als ortskundige Reisende wusste, dass es direkt an ihrem Gleis eine Bank gibt. Zum anderen war’s ein zwar noch kühler, aber dennoch schöner Sommermorgen und Oma Tölle hielt zu Recht ihr Immunsystem für leistungsfähiger als das Nahverkehrssystem der Bahn. Nur die Beine waren jetzt, nach der Treppe, etwas wackelig. Sie näherte sich der Bank von hinten, umkreiste sie … und wurde bitter enttäuscht. Die Bank war besetzt! Oder besser, belegt! Da lag ein Mann, ganz eindeutig ein Penner, eingewickelt in seinen alten Mantel und drehte ihr den Rücken zu. Offensichtlich schlief er. Ihre Enttäuschung schlug schnell in Wut um. Sie forderte den Mann lautstark auf, die Bank zu räumen und Platz zu machen für eine alte Dame, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet habe und jetzt mit 82 Jahren ein Recht auf eine Ruhebank hätte. Überhaupt sei so eine Bank zum Sitzen und nicht zum Schlafen da und … Oma Tölle hätte noch lange so weiterschimpfen können. Wäre ihr nicht aufgefallen, dass der Mann überhaupt keine Regung zeigt. Das machte sie sprachlos. Erst vor Wut. Dann vor Schreck.

6

Es war fünf vor halb sieben, als Bernhard Lohmann das Büro betrat. Auch die Aufregung des gestrigen Abends hatte ihn nicht von seinem üblichen Rhythmus abhalten können. Er war bereits in seinem Garten gewesen und hatte die Tomaten gegossen. Nun hockte er an seinem Schreibtisch und kramte die Aufzeichnungen hervor, die er gestern Abend noch gemacht hatte. Er genoss die Ruhe des Morgens. Diese unchristlich frühe Uhrzeit war für ihn völlig normal. Meist verließ der 52-jährige Polizist kurz nach sechs Uhr sein Haus in Lage-Müssen und machte sich mit dem nicht mehr taufrischen beigefarbenen Opel Vectra auf den Weg ins Polizeipräsidium. Im Sommer verbrachte er vorher immer noch einige Zeit in seinem Garten um noch dies oder jenes Unkraut zu jäten, den Gartenzwerg zu reinigen oder dem Maulwurf grausame Rache zu schwören.

In der letzten Zeit war es bei ihm zuhause morgens ungemütlicher geworden. Seine zwei fast erwachsenen Töchter bestimmten den Rhythmus im Bad und die Gesprächsthemen am Frühstückstisch. Wenn man hier überhaupt von Frühstück reden konnte. Dieses bestand für seine Töchter aus einer hastig geschlürften Tasse Kaffee und einer Scheibe trockenem Knäckebrot. Für sie war das Wichtigste am Essen das Zähneputzen hinterher. Seine Frau stellte nach wie vor unbeirrt Morgen für Morgen ihren Liebsten ein komplettes Frühstück auf den Küchentisch und war jedesmal enttäuscht, dass davon so gut wie nichts angerührt wurde. Als Ausgleich dafür erwartete sie wenigstens von ihrem Mann, dass der sich ausgiebig mit ihr beschäftigte. Die Zeitung zum Frühstück, für Lohmann lebensnotwendiger Kult, wurde als Angriff auf die eheliche Gemeinschaft interpretiert und madig gemacht.

Lohmann hatte vor einiger Zeit angefangen, sich diesem morgendlichen Fiasko durch Flucht zu entziehen. Er schnappte sich seine Zeitung, holte unterwegs seine Brötchen, brühte sich mit der dienstlichen Kaffeemaschine den Morgenkaffee und machte es sich am Schreibtisch gemütlich. Den Kaffeeautomaten auf dem Flur nutze er nicht, weil ihm dieser Kaffee nicht mild genug geröstet war. So hatte er bereits, wenn die Kollegen zum Dienst kamen, den Sportteil seiner Zeitung auswendig gelernt, in Ruhe gefrühstückt und erweckte dennoch bei den Kollegen den Eindruck, ein ganz besonders Fleißiger zu sein. Denn, es war wie mit dem Igel und dem Hasen. Die anderen mochten so früh kommen, wie sie wollten… Lohmann war bereits da!

Die Lektüre des Sportteils war vor allem am Montagmorgen ein absolutes Muss. Besonders genussvoll war diese Pflicht, wenn Bayern München am Wochenende verloren hatte. Vor zwanzig Jahren hatte Bernhard Lohmann die Fußballschuhe auf Drängen seiner damals jungen Ehefrau an den berühmten Nagel gehängt. Dabei hatten einige aus dem Verein dem nicht unbegabten Libero noch lange nachgeweint. Eigentlich war er auf dem Höhepunkt seines Könnens für die Landesliga viel zu schade gewesen. Sogar Arminia Bielefeld soll mal bei ihm angeklopft haben. Aber das war für den bodenständigen Lipper nie ein Thema. Und als kurz darauf der erste Bundesliga-Skandal die Republik erschütterte und Arminia Bielefeld als einer der Sündenböcke zwangsabsteigen musste, war der junge Polizist Lohmann froh, damit nichts zu tun zu haben. Seine Freundin Else, die er als 30-jähriger geheiratet hatte, war zuerst stolz auf ihren so sportlichen Freund gewesen. Sie hatte aber bereits nach kurzer Zeit angefangen, an seinem Hobby herumzumäkeln. Als die älteste Tochter im Anmarsch war, gab er kampflos auf und verbrachte von da an seine Sonntagnachmittage mit Kinderwagenschieben und Besuchen bei der Schwiegermutter.

Von seiner sportlichen Figur waren nur die ,strammen Waden’ übriggeblieben. Während Muskeln und die Kopfbehaarung immer weiter zurückgingen, wuchs der Bauch. Mittlerweile brachte er es auf ein Kampfgewicht von 110 Kilo bei einer Körpergröße von 1,76 Meter. Seine Frau, die sich trotz des Schwarzwälder Kirschkuchens ihrer Mutter erstaunlich gut gehalten hatte, zog ihn damit täglich auf. Die wenigen Haare machte er jeden Morgen mit viel Pomade formbar und verteilte jedes einzelne Haar fein säuberlich über die blanke Kopfhaut. Seine jüngere Tochter hatte vor einigen Wochen innerhalb der Familie einen großen Lacherfolg mit der Bemerkung geerntet, sein Kopf sähe aus wie ein unbeschriebenes Notenblatt. Sobald das Wetter dies als Rechtfertigung zuließ, trug er nun eine Kopfbedeckung. Im Herbst und Winter einen braunen Cordhut und im Sommer eine kecke Mütze.

Den Ehering hatte er bereits vor Jahren mit viel Schmierseife von den kurzen fleischigen Fingern gezogen und in eine Schublade seines Nachtschranks verbannt. Mit Vorliebe trug er mausgraue Anzüge und lachsfarbene, grüne oder rosa Hemden.

Der Ersatz für das (Fußball-) Feld der Ehre war seitdem sein Garten, den er mit einer Inbrunst und Akribie pflegte, die seine Frau eifersüchtig werden ließ. Einmal hatte er seiner älteren Tochter erlaubt, auf seinem Rasen eine Gartenparty zu feiern. Noch heute ließ ihn die Erinnerung daran schaudern. Seitdem verteidigte er seinen Garten wie früher seinen Strafraum. Und genauso erfolgreich.

Bernhard Lohmann war gern Polizist. Am liebsten arbeitete er mit Axel Braunert zusammen. Die ruhige höfliche und sachliche Art des Kollegen gefiel ihm. Dass Axel Braunert schwul war, war Lohmann dank der dienstlichen ,Buschtrommel‘ bekannt. Aber da es ihm Braunert nie selbst bestätigt hatte, gelang es Lohmann dieses Gerücht einfach zu ignorieren, da nicht sein konnte, was nicht sein durfte. In vielen Dingen dachte Lohmann sehr konservativ. Dies war zum Teil auch der Grund, warum er mit Maren Köster nicht so gut konnte. Eine Frau als Kommissarin war ihm grundsätzlich suspekt. Aber dann noch so eine! Mit dieser Mischung aus großer Klappe, unbestreitbarer fachlicher Kompetenz und schönen Beinen kam er einfach nicht zurecht. Für Frauen hatte er verschiedene Schubladen in seiner Wertewelt. Maren Köster passte in keine davon.

Der dienstranghöhere Josef Schulte war hingegen seiner Meinung nach ein ,prima Kerl‘. Zwar stieß dessen Anarchismus im Dienst auf Lohmanns völliges Unverständnis. Das fand er überflüssig und unsinnig. Aber er wusste aus jahrelanger Zusammenarbeit, dass Schulte im Grunde ein guter Polizist und ein guter Kumpel war.

Heute Morgen las er gerade in der Heimatzeitung einen Artikel über eine Niederlage des TBV Lemgo in der Handball-Bundesliga, als Axel Braunert ins Büro kam und wortkarg grüßte. Braunert war morgens nie gesprächig. Lohmann wusste und respektierte dies in der Regel. Heute nicht.

„Hier, guck mal rein! Da steht was drin über die Geldgeschichte. Hat Rodehutskors geschrieben.“ Mit diesen Worten reichte er Braunert die Zeitung herüber. Dann klingelte das Telefon. Lohmann meldete sich und hörte dann schweigend zu.

„Okay! Die anderen Scheine schicken wir euch noch heute zu. Besten Dank erst mal!“

Zum noch lesenden Braunert gewandt:

„Das war das LKA. Der erste Schein war schon mal ein Fehlalarm. Das Geld müssen wir wohl zurückgeben. Mal sehen, was die anderen Fünfhunderter bringen. Die Kollegen vom LKA faxen den Bericht gleich rüber. Ich will mich auch mal dran setzen und was zu Papier bringen, damit ich unserem jungen dynamischen Chef gleich bei der Besprechung was zu bieten habe.“

Braunert blickte aus der Zeitung auf und sagte: