Weiberfastnacht - Jürgen Reitemeier - E-Book

Weiberfastnacht E-Book

Jürgen Reitemeier

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Beschreibung

Jupp Schulte ist im Ruhestand und hat Mühe, sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Ein Staatsanwalt wird tot aufgefunden und dessen Kollege Hagen Hinze erhält einen Brief, in dem die gesamte Detmolder Staatsanwaltschaft bedroht wird. Kurz darauf, an Weiberfastnacht, wird auch noch die junge Staatsanwältin Zoé Stahl entführt. Durch persönliche Verbindungen wird Jupp Schulte in den Fall hineingezogen und ihm bleibt nichts anderes übrig, als selbst zu ermitteln. Doch er scheint eingerostet zu sein und zunächst will ihm nichts gelingen. Aber dann kommt ihm Kommissar Zufall zu Hilfe und Schulte läuft wieder zur alten Form auf.

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JÜRGEN REITEMEIERWOLFRAM TEWES

Weiberfastnacht

PENDRAGON

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

1

Weiberfastnacht fällt auch 2021 der Pandemie zum Opfer.

Zeus knallte die Lippische Landeszeitung auf den Küchentisch, reckte die rechte Faust zum Siegeszeichen und stieß einen Triumphschrei aus.

„Das geschieht ihnen recht“, sagte er halblaut zu sich selbst. Den schlaksigen Mann hielt es nicht mehr am Tisch. Er stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus auf die dunkle Straße. Das Licht der Straßenlampen spiegelte sich auf dem regennassen Asphalt. Anfang Februar, nicht der Monat, der ihn ins Freie lockte. Am liebsten hätte er jetzt das Fenster weit aufgerissen und seine Freude laut in den Abend hinausgeschrien. Doch das entsprach nicht seinem Naturell. Schließlich war er ein gebildeter, kultivierter und rational denkender Mann, eine Stütze der Gesellschaft. So einer schreit nicht einfach aus dem Fenster. Erneut nahm er die Tageszeitung in die Hand. Der Headline folgte ein kurzer Abriss über Geschichte und Bedeutung der Weiberfastnacht. Diesen Teil überflog er hastig. Über diesen unseligen Brauch wusste er selbst genug, fand er, damit hatte er sich bereits intensiv beschäftigt. Mochten andere Männer es harmlos finden, dass an diesem Tag Frauen die Macht übernehmen – er fand es widerlich. Schlimm genug, dass sie unaufhaltsam in alle Bereiche des Lebens vordrangen, in denen sie nichts zu suchen hatten, in denen die Natur ihnen eigentlich ganz deutlich nur die zweite Reihe zugewiesen hatte. Wie ein Krebsgeschwür, das immer neue tödliche Metastasen bildet. Die weibliche Strategie, ein weltweites Netzwerk aus Intrigen und Seilschaften zu flechten, dabei ihre eingebildete, ewig jammervolle Opferrolle als moralische Keule zu nutzen, schien immer effektiver zu funktionieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Männer aus allen Entscheidungsebenen verdrängt, bis sie die bestehende Weltordnung komplett umgestülpt hatten. Und die Männer? Was taten die Männer, um sich gegen ihren eigenen Untergang zu stemmen? Nichts, fand Zeus. Im Gegenteil, sie klatschten einer Entwicklung Beifall, der sie selbst zum Opfer fallen würden. Und Weiberfastnacht war der grelle symbolische Ausdruck davon. Mit welch devoter Bereitschaft die Männer ihre von der Natur vorgesehene Rolle in den Schmutz stießen, sich in einer ekelhaften Geste der Unterwerfung Schlipse und Schnürbänder abschneiden ließen, wie völlig verweichlichte Bürgermeister dem kreischenden Weibermob die Rathausschlüssel übergaben …, ihm wurde übel, wenn er nur daran dachte. Symbole hin, Symbole her, fand er, wenn es stimmt, dass Worte Taten schaffen, dann galt das erst recht dafür.

Zum Glück gab es noch Männer, die nicht nur die Zeichen der Zeit erkannt hatten, sondern auch zum Widerstand bereit waren. Zusammen mit Apollon, seinem Bruder im Geiste, war er bereit, den Kampf aufzunehmen. Ihrer Gruppe gaben sie den Namen Anteros. In der griechischen Mythologie war Anteros der Gott der Gegenliebe, der verschmähte Liebe rächte. Aber genau das war der Punkt. Seit Anbeginn aller Zeiten hatten Männer um Frauen gebuhlt, sie besungen, umgarnt, beschenkt, sich um sie geprügelt. Auch für ihn selbst hatte es Zeiten gegeben, in denen er sich um Frauen bemüht hatte. Er war nett zu ihnen gewesen, hatte ihnen die Welt zu Füßen gelegt. Und was war der Dank? Abgewiesen hatten sie ihn, immer wieder. Ausgelacht worden war er. Nein, wenn einer die Frauen durchschaut hatte, wenn jemand wirklich Bescheid wusste, dann er. Und so war es kein Wunder, dass er, der Gründer, Kopf und Herz einer kleinen Gruppe in einer Person war, sich den entsprechenden Kriegsnamen gegeben hatte: Zeus, der oberste Gott, der Herr des Himmels.

2

Jupp Schulte ging vom Wohnzimmer in seine Küche. Sie blitzte vor Sauberkeit. Nichts lag herum. Im Rest des Hauses bot sich ein ähnliches Bild. Die Ordnung in Reinform präsentierte sich hier, jedenfalls für Schultes Verhältnisse. Endlich hatte er einen Vorsatz in die Tat umgesetzt, den er seit fünfundzwanzig Jahren hatte: Ordnung schaffen. Schulte fand es gut. Alle anderen, die seine Aktivitäten erlebten, waren der Meinung, dass er als frisch gebackener Pensionär nichts Besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste.

Gestern Abend hatte ihm sein Enkel eine Stippvisite gegönnt. Die erste seit ein paar Tagen. Was war nur mit dem Jungen los? Schulte wusste es nicht. War etwa die Pubertät, die von Tag zu Tag mehr bei Linus zum Tragen kam, verantwortlich für das veränderte Verhalten? Noch vor einem Jahr hätte der Junge alles dafür gegeben, um mit seinem Opa die Tage zu verbringen. Leider war das nicht möglich gewesen, Schulte musste damals noch Verbrecher jagen.

Ja, das war damals. Es hatte sich vieles verändert. Schulte war jetzt Pensionär und hatte endlich viel Zeit. Zeit aufzuräumen und Zeit, die er mit Linus hätte verbringen können. Doch Linus hatte anscheinend überhaupt kein Interesse mehr daran, gemeinsam mit seinem Opa den Tag zu erleben.

Na, jedenfalls war Linus gestern Abend bei Schulte gewesen. Er hatte die Küche betreten, hatte sich demonstrativ umgesehen und gespottet: „Mann, Opa, was ist denn mit dir los? Hast du eine neue Freundin oder räumst du aus Langeweile auf?“

Dabei hatte der Junge Schulte frech angegrinst und nachgeschoben: „Wenn du in deinem Haus mit Ordnung schaffen durch bist, komm bloß nicht auf die Idee, dich in meinem Zimmer auszutoben. Die Bude ist NO-GO-AREA für dich, dass das mal klar ist.“

Rotzlöffel, dachte Schulte, als er jetzt die Begegnung noch einmal Revue passieren ließ, durchaus mit Wohlwollen. Er mochte Linus und fand die Ecken und Kanten, die er mehr und mehr an seinem Enkel entdeckte, durchaus in Ordnung. Und als Schultes Tochter Ina sich vor einigen Tagen über ihren Sohn mit den Worten mokierte: „Der ist noch schlimmer als sein Opa!“, da konnte Schulte einen gewissen Stolz nicht verhehlen. So waren sie, die Schultes – unangepasst, knorrig und wenn es sein musste, gingen sie auch schon mal mit dem Kopf durch die Wand. Diese Eigenschaften konnte er auch seiner Tochter attestieren. Die war keinen Deut besser als der Rest der Familie, davon war Schulte felsenfest überzeugt.

Schulte drückte sich einen Kaffee. Den mittlerweile über zehn Jahre alten Kaffeeautomaten, den er sich einst zugelegt hatte, weil ihm die Plörre, die damals in der Kreispolizeibehörde Detmold als Kaffee angeboten wurde, zuwider war, hatte er nach seiner Pensionierung in seine Küche gestellt. Er strich versonnen über die alte Maschine, die gerade ächzend die Bohnen zermahlte. Dabei erinnerte er sich an den Tag, als er sich das Gerät ins Büro gestellt hatte. Innerhalb kürzester Zeit war dieser Raum zu einem zentralen Punkt in der Behörde geworden. Hier war so manch schwieriger Fall diskutiert worden. Aber auch Klatsch und Tratsch hatten noch bis vor kurzem an Schultes Kaffeeautomaten stattgefunden, sodass auch er selbst stets gut informiert war, wenn es nicht gerade um seine eigene Person ging.

Schulte bemerkte einen Anflug von Sentimentalität. Sein Enkel hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

Sicher, seine Unordnung ging ihm seit langer Zeit selbst auf die Nerven. Und Schulte hatte sich schon vor Jahren vorgenommen, vor seinem Tod noch einmal aufzuräumen. Aber das, was er in den letzten Wochen an Ordnung geschaffen hatte, übertraf alle seine Vorstellungen und Ziele.

Eines Morgens las er gelangweilt in der Zeitung. Die Pandemie verhinderte Ausflüge in der Stadt. Wirkliche Freunde hatte er kaum. Entweder wohnten sie nicht in der Gegend oder es waren ehemalige Kollegen. Die hatten zu tun und er wollte sich nicht aufdrängen. Keiner sollte denken, er käme ohne seinen Job nicht klar.

Also hatte Schulte damit begonnen, sein Haus aufzuräumen. Es hatte ihm sogar Spaß gemacht und er war stolz auf seine Ordnung. Aber jetzt war alles an seinem Platz und es regnete immer noch. Wie sollte er den Tag herumbekommen? Nur mit dem Hund durch den Regen gehen, brachte ihm auch nicht die Erfüllung. Zwar hatte er durch die andauernden Spaziergänge mit seinem schwarzen Mischling Lümmel schon einiges an Gewicht verloren und die Pfunde, die er abgespeckt hatte, standen ihm gut zu Gesicht. Doch das bemerkte ja niemand, denn Schulte bekam selten Besuch in seiner Einöde.

Missmutig sah er aus dem Fenster. Für die nächsten Tage war Schnee angekündigt worden, das wäre wenigstens eine schöne Abwechslung.

Gerade ging Linus mit einem anderen Jungen über den Hof. Irgendetwas irritierte Schulte. Dann begriff er – Linus und diese andere Person gingen Hand in Hand über den Hof. Und jetzt, als Schulte dies bewusst wahrnahm, erkannte er auch die femininen Züge der Begleitung. Schulte konnte es nicht fassen. Sein Enkel war vierzehn!

3

In diesem Laden kann man offenbar nur etwas werden, wenn man eine Frau ist, dachte der Detmolder Staatsanwalt Hinze, als er sich der Eingangshalle der Generalstaatsanwaltschaft in Hamm näherte. In Detmold würde demnächst eine Oberstaatsanwaltsstelle neu zu besetzen sein. Dieses Mal war er an der Reihe, fand er. Er wollte nichts dem Zufall überlassen, sondern würde sich gleich beim Gesprächstermin mit der Generalstaatsanwältin von seiner besten Seite zeigen, der Frau klarmachen, dass er der richtige Mann für diese Position war.

Gerade wollte er die verspiegelte Eingangstür öffnen, da trat ein Mann ins Freie und stand nun direkt vor Hinze. Der staunte nicht schlecht, als er sein Gegenüber erkannte. Es war Oberstaatsanwalt Söder, der Mann, der in Ungnade gefallen war. Der in die Verbannung, in ein Austauschprogramm nach Bulgarien musste. Er schien anscheinend seine Strafe verbüßt zu haben.

„Kollege Söder!“ Hinze trat dem Mann einen Schritt entgegen. Wollte ihn begrüßen, ihm die Hand geben. Dann fiel ihm ein, dass man so etwas in Zeiten von Corona nicht tat. Und überhaupt, waren solche Vertraulichkeiten nicht etwas übertrieben? Ja, entschied Hinze, so eine Geste war eines Staatsanwaltes unwürdig. Einen Moment wirkte Hinze unsicher, dann hatte er sich wieder gefangen.

„Kollege Söder!“, brachte er erwartungsfroh hervor. „Zurück aus der Fremde oder nur Heimaturlaub?“

Söder wunderte sich einen Moment über die Freundlichkeit, die ihm Hinze entgegenbrachte.

„Ich wusste gar nicht, dass ich Ihnen so dermaßen gefehlt habe“, sagte er dann mit einer gewissen Ironie.

„Ich muss zugeben“, entgegnete Hinze, „als Sie uns im Rahmen des Austauschprogrammes verlassen haben, da habe ich diese Veränderung mit einem gewissen Gleichmut hingenommen. Das war damals. Aber nach den Erfahrungen und Erlebnissen seitdem, weiß ich Sie als Kollegen mehr denn je zu schätzen.“

„Woher kommt der Sinneswandel?“, fragte Söder amüsiert.

„Wenn Sie die Kollegin kennen würden, die man zu uns versetzt hat, nachdem Sie in die Welt hinausgegangen sind, dann würden Sie mich verstehen.“

„Berichten Sie, Hinze, berichten Sie.“ Söder sah auf seine Armbanduhr. „Was halten Sie von einem Spaziergang um den Ahseteich?“

„Tut mir leid, Herr Söder“, bedauerte Hinze. „Ich habe gleich einen Termin bei der Generalstaatsanwältin. Es geht um eine Stellenbesetzung, da kann ich nicht zu spät erscheinen.“

„Wollen Sie noch einen Karrieresprung in Angriff nehmen?“, fragte Söder. „Sollte es nicht klappen, Kollege, empfehle ich Ihnen ein solches Austauschprogramm, wie ich es durchlaufen habe. Danach stehen Ihnen alle Türen offen. Gehen Sie am besten auch nach Bulgarien. Da können Sie mit wenig Geld in Saus und Braus leben. Und Frauen gibt es da, Hinze, ich sage Ihnen, Staatsanwalt in Bulgarien, das ist wie der Himmel auf Erden.“

Hinze überlegte, was Söder ihm da gerade durch die Blume mitteilen wollte. Doch jetzt war nicht die Zeit, es herauszufinden. Hinze machte eine Geste, die Eile, Verzweiflung und Bedauern signalisieren sollte. „Herr Söder, nehmen Sie es mir nicht übel. Ich muss zur Chefin. Wir müssen uns unbedingt treffen. Ich rufe Sie an. Dann bringen wir uns auf den neuesten Stand. Wie erreiche ich Sie?“

„Wir sehen uns, meine Telefonnummern sind die alten geblieben.“

4

Die Haustür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Helena begann am ganzen Körper zu zittern. Sie wusste, wer gerade das Haus betreten hatte. Wer da so rücksichtslos mitten in der Nacht Lärm machte. Es war ihr Mann.

Helena grübelte schon lange über das veränderte Verhalten ihres Ehemannes. Seit gestern wusste sie mehr. Sie hatte im Verlauf des Webbrowsers des familieneigenen Computers den Besuch auf diversen Seiten festgestellt. Und alle diese Seiten hatten eins gemein. Das Kürzel MGTOW. Mittlerweile wusste sie, was es bedeutete. Es war die Abkürzung von Men Going Their Own Way. Und dieser Satz stand für eine Ideologie, stand für Männer, die sich um ihr vermeintliches Recht auf Sex mit Frauen betrogen sahen. Sie hatte es in den Foren gelesen, die ihr Mann regelmäßig besuchte. In denen wurden Frauen für alles verantwortlich gemacht, was den Männern missfiel. Frauen heirateten Männer, um materiell und finanziell versorgt zu sein, verweigerten diesen Männern aber den Sex. Stattdessen, so wurde auf diesen Seiten behauptet, würden die Frauen weiterhin sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe mit attraktiven Männern eingehen. Und sich am Ende sogar scheiden lassen, um selbst daraus noch einen Vorteil zuziehen.

Seit Helena dies und viele andere Schmähschriften über Frauen gelesen hatte, konnte sie sich das Verhalten ihres Mannes erklären.

Gut, ihr Mann war immer konservativ gewesen. Dieses Männerbild kannte sie von zu Hause. Die Frau war dem Manne untertan. So war auch Helena erzogen worden und so verbreitete es der Prediger sonntags in der Kirche. Helena hatte studiert, war Lehrerin geworden und hatte sich in den letzten Jahren gegen diese Sichtweise gewehrt. Sie wollte nicht so leben, wie ihre Mutter es tat. Die hatte mit Eintritt in die Ehe ihr Schicksal in die Hand ihres Mannes gelegt. Helena hingegen wollte ihr Leben selbst gestalten.

Es war von Anfang an nicht leicht gewesen, in einer Partnerschaft zu leben, in der der Mann glaubte, er sei das uneingeschränkte Oberhaupt der Familie. Doch seit längerer Zeit wurde es unerträglich. Helenas Mann war vom konservativen Familienvater zu einem rücksichtslosen, bösartigen, gewalttätigen Tyrannen mutiert, der glaubte, ständig seine Männlichkeit unter Beweis stellen zu müssen.

Wieder knallte eine Tür. Der Lärm riss Helena für eine Sekunde aus ihren Gedanken. Gut, dass die Kinder bei ihren Eltern waren. Denn gleich würde ihr Mann ins Zimmer treten. Er würde nicht etwa betrunken sein, was das Türenknallen erklären könnte. Nein, er würde mit klarem Verstand in diesen Raum treten und er würde sich wie ihr Herr und Gebieter aufspielen. In seiner Weltsicht war dies sein gutes Recht.

Die Tür zur Küche flog auf. Helenas Mann betrat böse grinsend den Raum. Er sah zum leeren Küchentisch hinüber.

„Was soll das?“, schnauzte er. „Du hast gehört, dass ich das Haus betreten habe. Wieso steht das Abendbrot nicht auf dem Tisch?“

5

Hagelkörner prasselten gegen das Küchenfenster. Das klassische Aprilwetter, jedoch im kalten Februar. Schulte saß in seiner Küche und wusste nichts mit sich anzufangen. Am liebsten hätte er eine Flasche Bier aufgemacht. Dieser Gedanke erschreckte ihn. Würde er jetzt, wo er pensioniert war, zum Frusttrinker? So konnte es nicht weitergehen, überlegte er. Er musste etwas machen. Schulte stemmte sich aus seinem Stuhl hoch und ging ins Wohnzimmer. Er warf einen Blick auf den Fernseher. Wenn er den jetzt, um elf Uhr am Morgen, anschalten würde, dann konnte er auch gleich zur Flasche greifen.

Wieder sah er aus dem Fenster. Anton Fritzmeier, sein Freund und Vermieter schleppte eine Gemüsekiste zu seinem Hofladen. Schulte beneidete ihn. Anders als er kannte der alte Bauer den Begriff Langeweile gar nicht. Irgendetwas hatte Fritzmeier immer zu tun. Und wenn er alles erledigt hatte, legte er sich auf sein altes Küchensofa, las die Zeitung oder schlief ein bisschen. Später, nach solchen Ruhepausen, fand Fritzmeier gleich wieder eine Aufgabe, die es zu erledigen galt.

Plötzlich hatte Schulte einen Geistesblitz. In diesem Augenblick wusste er, was er machen konnte. Er würde etwas kochen. Und zwar für seinen Enkel Linus. Wie wäre es mit einem schönen Eintopf, überlegte Schulte. Ein handfester Eintopf, das wäre genau das Richtige. Und das Gute an der ganzen Sache war, er hatte sein Einkaufszentrum direkt vor der Haustür. Fritzmeiers Hofladen!

Als er den Hofladen betrat, wurde er von Fritzmeier mit den Worten begrüßt: „Dat wurde aber auch Zeit. Endlich kommse mal vorbei, um einen alten Mann ein bisschen zur Hand zu chehen. Da vorne, die Kiste mit den Möhren, die musse in dat Regal da packen.“

„Nee, Anton“, grinste Schulte etwas verlegen. „Ich habe nicht vor, als Lehrling hier in deinem Hofladen anzufangen. Dieses Geschäft ist deins und ich denke in keiner Weise daran, hier einzusteigen.“

„Wieso denn dat nich? So ein Laden ist doch ’ne chanz vernünftige Beschäftigung“, entgegnete der alte Bauer. „Und eins musse dich mal merken: Is der Handel noch so klein, so bringt er mehr als Arbeit ein.“

Schulte winkte ab. „Nee, Anton, lass mal. Der Hofladen ist deine Angelegenheit, da halte ich mich raus.“

„Ja, und was willse denn dann hier?“, fragte Fritzmeier mürrisch. „Im Wege rumstehen?“

„Nein, Anton, ich möchte bei dir einkaufen“, antwortete Schulte grinsend.

„Einkaufen?“ Fritzmeier starrte Schulte aus zusammengekniffenen Augen an. „Wat willse dann einkaufen? Ne Kiste Bier?“

„Nein, Anton, ich will für Linus kochen, einen ordentlichen Eintopf“, entgegnete Schulte, nicht ohne einen gewissen Stolz in seiner Stimme.

„Du und kochen? Für Linus?“, brummte Fritzmeier. „Der arme Bengel!“

„Also jetzt hör mal, Anton, ich habe früher oft gekocht. Und gar nicht schlecht!“ Schulte war beleidigt.

„Na ja“, brummelte Fritzmeier leise. „Dat war früher.“

Zehn Minuten später verließ Schulte mit Kartoffeln, Gemüse und einem Ring Fleischwurst bepackt den Laden und ging auf sein Häuschen zu. Auf der Hälfte des Weges öffnete sich eine Haustür und Linus steckte seinen Kopf ins Freie. „Opa!“, rief er. „Mama lässt fragen, ob du mit uns zu Mittag essen möchtest?“

6

Eigentlich war es ein schönes Bild. Der sanfte Detmolder Dauernieselregen rann langsam in langen, leicht gezackten Linien an der Fensterscheibe ihres Büros hinunter. Die junge Staatsanwältin Zoé Stahl hatte aber an diesem Tag keinen Sinn für die beruhigende Melancholie eines lippischen Landregens. Sie hatte soeben einen sehr komplexen, kraftraubenden Prozess erfolgreich zu Ende gebracht und fühlte sich urlaubsreif. Aber nicht nur der Regen führte ihr vor Augen, dass an eine normale Urlaubsreise gar nicht zu denken war. Regen war zu dieser Jahreszeit nicht ungewöhnlich. Aber die zweite Welle der Corona-Pandemie hatte im Januar ihren Scheitelpunkt erreicht und die Inzidenzwerte waren immer noch zu hoch für Lockerungen des Lockdowns. Inzidenzwert, Lockdown … alles Begriffe, die ihr bis vor einem Jahr völlig fremd gewesen waren und die nun zum Alltag gehörten wie Brot und Butter. Nein, eine Reise in den sonnigen Süden war nicht möglich. Aber sie besaß eine kleine Ferienwohnung an der Ostsee. Da würde es zwar kalt, feucht und windig sein, aber besser als nichts. Sie musste einfach mal etwas anderes sehen.

Als es an ihrer Bürotür klopfte, schaute sie hoch und sah ihren Staatsanwaltskollegen Hagen Hinze vor der Glastür stehen und so fröhlich winken, als hätten sie sich monatelang nicht gesehen. Sie seufzte innerlich, wäre lieber ungestört geblieben, aber sie bat ihn mit einem Handzeichen hinein. Hinze, der keine Maske trug, schien bester Laune zu sein.

„Bin frisch getestet“, rief er fröhlich. „Keine Sorge.“

Dann ließ er sich, ohne eine Aufforderung abzuwarten, in den Besuchersessel fallen.

„Dann darf ich ja wohl gratulieren“, begann er das Gespräch, während Zoé Stahl bereits darüber nachdachte, wie sie es geschickt beenden könnte. Hinze war ihr bislang nie blöd gekommen, wie manch anderer in dieser Behörde. Sie hatte es nicht leicht gehabt in ihrem ersten Jahr in Detmold. Mit vierunddreißig Jahren bereits Staatsanwältin zu sein, dazu noch als Frau und, für die Flurfunk-Tuschler das Sahnehäubchen, als Farbige, das alles hatte nicht nur für Bewunderung gesorgt, sondern auch zu Neid und übler Nachrede geführt. Sie war von ihrem brasilianischen, dunkelhäutigen Vater erzogen worden und hatte nicht nur seine Hautfarbe in stark abgeschwächter Form geerbt, sondern auch seine lässige Art, durchs Leben zu kegeln. Die junge Frau entsprach eher dem Klischee einer Rockerbraut als dem einer hohen Beamtin. Obwohl innerlich ruhig und erfolgsorientiert, hatte sie gelernt, sich durch deutlich extrovertiertes Auftreten ein Schutzschild zwischen sich und der Außenwelt zu schaffen. Niemand wusste so recht, wie mit dieser schrillen Person umzugehen war und als Folge davon ließ man sie in Ruhe. Verletzungsvermeidung durch Distanz war ihr zur zweiten Natur geworden.

„Wozu gratulieren?“, fragte sie mit wenig echtem Interesse.

„Na, zum siegreichen Prozess“, tönte Hinze. „Zehn Jahre ohne Bewährung, das ist doch was. Glückwunsch! Der Verteidiger heult jetzt wahrscheinlich ins Kopfkissen.“

„Eigentlich ging es mir um ein der Straftat angemessenes Urteil und nicht darum, den Verteidiger zu demütigen.“

Hinze schaute drein wie jemand, der soeben in seine selbst aufgestellte Falle getappt ist.

„Da haben Sie auch wieder recht, Frau Stahl“, wiegelte er verlegen lächelnd ab. „Das vergisst man manchmal in unserem Beruf. Aber eine gesunde Portion Ehrgeiz gehört nun mal dazu, oder? Ich bin damit immer gut gefahren. Und jetzt scheint sich das auch endlich auszuzahlen.“

Er dehnte die rhetorische Pause so lange aus, bis Zoé Stahl sich endlich durchrang, ihn zu fragen, was er damit meine. Daraufhin räkelte er sich wohlig im Sessel, strahlte sie an und sagte: „Ich habe Grund zur Annahme, dass es in Kürze so weit ist und ich zum Oberstaatsanwalt befördert werde. Lange genug gewartet habe ich ja. Und ich denke, dass sich meine Arbeit sehen lassen kann.“

„Aber dann kann man ja fast schon gratulieren“, antwortete sie und hoffte innerlich, damit das Gespräch beenden zu können. Doch Hinze hatte offenbar noch etwas auf dem Herzen. Er räusperte sich immer wieder, irgendetwas schien ihm quer in der Kehle zu stecken, als er endlich sagte: „Frau Stahl, Sie sind nun schon über ein Jahr bei uns und wir haben uns noch gar nicht richtig kennengelernt. Wollen wir nicht mal zusammen essen und dabei in Ruhe plaudern? Gern auch bei mir zuhause. Meine Mutter ist eine begnadete Köchin und könnte uns etwas Wunderbares zaubern.“

„Ihre Mutter?“, fragte Zoé verblüfft.

„Ja, ich wohne mit ihr in einem Haus. Sie wohnt unten und ich in der oberen Etage. Sie kann ja nicht mehr so gut Treppen steigen. Was meinen Sie?“

Die junge Frau suchte fieberhaft nach einer höflichen Ausrede. Nun wurden ihr selbst die Kochkünste der gebrechlichen Mutter als Lockmittel angeboten. Die ostwestfälischen Männer sind schon eine ganz besondere Gattung, dachte sie und schüttelte innerlich den Kopf.

„Das ehrt mich sehr, Herr Kollege“, säuselte sie so nett wie möglich. „Aber ich denke, das geht gerade nicht. Wir stecken mitten im Lockdown. Und gerade wir, die wir Repräsentanten dieses Staates sind, sollten uns ganz besonders vorbildlich verhalten. Ich möchte auch Ihre Mutter nicht in Gefahr bringen. Wirklich vielen Dank für das nette Angebot. Vielleicht, wenn Corona mal keine Rolle mehr spielt.“

Hinze wirkte, als habe sie ihm einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Kopf gekippt. Wieder räusperte er sich, grinste verlegen, sprang dann wie von einer Stahlfeder geschleudert aus dem Sessel und ging zur Tür. Im Türrahmen blieb er stehen, drehte sich um und sagte: „Da haben Sie wohl recht. Vielleicht kann man nach Ostern mal wieder an Besuche denken. Ach ja, mir fällt gerade ein, dass Sie demnächst ein paar Tage Urlaub nehmen wollen. Ich bin dann gern Ihre Urlaubsvertretung. Auch wenn ich Ihnen rein optisch natürlich nicht das Wasser reichen kann, versteht sich. Wir sollten uns mal zeitnah zusammensetzen und alles durchsprechen. Wann wollen Sie los?“

Sie winkte lässig ab.

„Keine Ahnung. Lassen Sie uns in der nächsten Woche mal einen Termin festlegen.“

Hinze wirkte plötzlich kurz angebunden. Er schaute auf seine Armbanduhr und sagte dann: „Entschuldigen Sie, Frau Stahl. Aber ich muss los. Mein Chorleiter holt mich gleich hier ab. Wir haben Probe.“

„Chorleiter? Singen Sie im Chor?“

„Ja, im Männerchor Concordia Detmold. Eine echte Probe ist es nicht. Geht ja nicht, wegen Corona. Wir üben jetzt immer nach Stimmlagen getrennt. Heute treffen sich nur die Tenöre, mit entsprechendem Abstand, versteht sich. Wir üben im Hangar, da ist Platz genug.“

„Na dann“, schmunzelte Zoé Stahl, „viel Vergnügen.“

Eine Minute später schaute sie aus dem Fenster mit Blick auf den Parkplatz. Hinze ging auf einen etwas pummeligen Mann zu, der neben einem silbergrauen Citroën Berlingo Kombi stand und offensichtlich auf ihn wartete. Nach einer mehr symbolischen Begrüßung klemmten sich beide eine Maske vors Gesicht und stiegen ein.

7

Das war ja mal wieder super gelaufen. Nach dem Mittagessen bei seiner Tochter Ina hatten sie noch zusammengesessen und einen Kaffee getrunken. Linus hatte nicht die Absicht gehabt hier den halben Nachmittag zu vergeuden, um Konversation mit Mutter und Opa zu betreiben. Doch seine Mutter hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass er so lange am Tisch zu sitzen habe wie alle anderen auch. Linus hatte schlechte Laune bekommen. Schulte wollte ihn etwas aufmuntern, Ina entlasten und sein frisch eingekauftes Gemüse an den Mann bringen.

„Was hältst du davon, Linus, wenn ihr Sonntag zu mir zum Mittagessen kommt?“, fragte er seinen Enkel.

„Oh nee, Opa, lass mal, du musst im hohen Alter nicht alles nachholen, was du dein Leben lang versäumt hast“, entgegnete Linus patzig. „Und bitte keine Selbstversuche was das Kochen angeht. Ich möchte meinen einzigen Opa in nächster Zeit nicht tot vor dem Küchenherd auffinden.“

Schulte war sprachlos und Ina erschrocken. Doch bevor die Erwachsenen zu Wort kamen, schob Linus nach: „Kann ich aufstehen? Ich habe mich mit Eva verabredet.“

Ina verdrehte die Augen.

Schulte wollte nachfragen, wer Eva sei, doch Linus hatte bereits die Küche verlassen. Also stellte Schulte die Frage seiner Tochter: „Wer um Himmels willen ist Eva?“

Linus hatte tatsächlich seine erste Freundin.

Jetzt saß Schulte in seiner Küche. Vor sich einen Berg Kartoffeln und Gemüse. Er musste dieses Zeug verarbeiten, sonst würde es schlecht. Und es Fritzmeier zurückzubringen, das traute er sich nicht.

Bevor er die nächste Kartoffel schälte, nahm er sie in die Hand und betrachtete sie lange. Dabei kam ihm der Begriff Bratkartoffelverhältnis in den Sinn. Eine Liebesbeziehung auf Zeit, in der auch für das leibliche Wohl gesorgt wird. So ein Verhältnis brauchte er. Vielleicht auch zwei oder drei, wenn eins davon mal zu kompliziert würde. Und er musste wieder unter Leute. Diese elende Pandemie fesselte ihn schon seit Monaten an seine Wohnung. Langsam bekam er einen Lagerkoller.

Schulte starrte auf die Kartoffeln und das Gemüse, die noch zu verarbeiten waren. Er hatte viel zu viel eingekauft. Irgendwo hatte er mal gehört, dass ein erfahrener Koch sich nur so viele Produkte besorgt, wie er auch wirklich benötigt. Er brummelte: „Ich bin eben Anfänger. Aber was soll’s, die verschiedenen Gemüsesorten werden sicher ein paar Tage halten. Und vielleicht kann ich ja einen Teil davon bei Ina loswerden.“

Plötzlich stand Linus in der Tür. Schulte sah zu ihm hinüber. Irgendetwas bedrückte den Jungen.

„Was ist? Hat deine Freundin dich versetzt?“, versuchte Schulte die Stimmung mit einem Spruch zu entkrampfen und wusste augenblicklich, dass er mit dem, was er da gerade rausposaunt hatte, nicht die beste Gesprächseröffnung gewählt hatte.

„Nein, sie ist nach Hause gefahren. Sie schreibt bald eine Lateinarbeit und muss unbedingt lernen“, brummelte Linus. Er schwieg einen Moment, druckste herum und sagte dann: „Opa, ich möchte mich bei dir entschuldigen.“

Schulte sah ihn an. „Entschuldigen? Für was?“, wunderte er sich.

„Na ja, Mama hat gesagt, ich hätte mich heute Mittag dir gegenüber danebenbenommen. Wenn das so war, es war nicht meine Absicht.“

Schulte nickte. „Schon okay, mach dir keinen Kopf. Ich bin nicht aus Zucker und im Zweifel kann ich auch sagen, wenn mir etwas nicht passt.“

Die beiden schwiegen einige Augenblicke. Linus wollte gerade gehen, da ergriff Schulte noch mal das Wort.

„Na ja“, sagte er. „In letzter Zeit bist du schon manchmal ein bisschen rotzig.“

„Mama sagt das auch“, entgegnete Linus. „Scheiß Pubertät, meint sie.“ Er grinste schief und setzte nach: „Ich bin eben kein Kind mehr, aber alle behandeln mich wie einen kleinen Jungen. Gleichzeitig sagen alle: Linus, du bist fast erwachsen. Also bitte, benimm dich auch so.“ Wieder schwieg der Junge und Schulte hatte das Gefühl, dass sein Enkel noch nicht am Ende seiner Überlegung angekommen war. „Was denn nun, frage ich mich, Kind oder Erwachsener? Wenn ich also fast erwachsen bin, dann sollte man mich auch so behandeln. Und übrigens, wie benimmt sich ein Erwachsener? Trinkt er Bier und raucht Zigaretten? Ich weiß nicht, was man machen muss und wie es ist, ein Erwachsener zu sein.“

Schulte ging zu seinem Enkel und legte ihm die Hand auf die Schulter. Dabei bemerkte er, dass der Junge in der letzten Zeit einen gewaltigen Schuss gemacht hatte. Linus war fast genauso groß wie er selbst.

„Weißt du, Linus, im Grunde sitzen wir beide im selben Boot. Von mir erwarten alle, dass ich mich wie ein Rentner verhalte. Und mir geht es ebenso wie dir. Ich weiß nicht, wie sich ein Rentner verhalten soll. Viele geben mir gute Ratschläge. Aber darauf kann ich verzichten. Sie helfen mir nicht weiter. Und weil ich das Gefühl kenne, wie überflüssig die meisten dieser Tipps und Empfehlungen für mich sind, glaube ich, auch dich zu verstehen. Man wird nicht von heute auf morgen erwachsen. Das ist ein Prozess. Um den zu bewältigen, muss man sich ausprobieren. Beim Ausprobieren wirst du Fehler machen. Aus denen wirst du, wenn du nicht ganz dumm bist, etwas lernen. Und die Tatsache, dass du hier stehst und dich für einen vermeintlichen Fehler entschuldigst, gibt mir das Gefühl, dass du es auf gute Art und Weise schaffst, erwachsen zu werden.“

Schulte fühlte gleichzeitig Stolz auf seinen Enkel, aber auch einen Anflug von Sentimentalität hochkommen.

„Weißt du, Linus, deine Mutter hat dir beigebracht, dass man andere Menschen wertschätzen soll. Sie hat dich Höflichkeit gelehrt und, wie ich finde, Selbstbewusstsein vermittelt. Das ist gutes Handwerkszeug, um erwachsen zu werden.“

Schulte klopfte Linus auf die Schulter. „So, Junge. Und jetzt erzähl mir was von deiner Freundin.“

Linus verdrehte die Augen. „Lass mal, Opa. Du erzählst mir ja auch nichts über deine Frauengeschichten. Wenn sich das mal ändert, können wir gern in einen Erfahrungsaustausch einsteigen.“

8

Für die nächsten Tage war Schnee angekündigt worden, aber so richtig glauben konnte Zoé Stahl das nicht. Schnee gab es doch nur noch auf alten Fotos oder künstlich erzeugt aus der Schneekanone. Nein, sie ging davon aus, dass dieses elende Grau in Grau niemals enden würde. Die Kombination Lockdown und Regen ließ weder persönliche Kontakte noch lange Spaziergänge an der frischen Luft zu und war für ihre Stimmung ein echter Overkill. Damit konnte sie nicht gut umgehen. Missmutig starrte sie auf ihren Mund-Nasen-Schutz, der an der Schreibtischlampe hing wie ein Mahnmal. Als sie kurz gedanklich überflog, wen sie in Detmold zu ihren nennenswerten privaten Kontakten zählen konnte, gab ihr das den Rest. Die Ausbeute war erbärmlich, gestand sie sich ein. Sicher, sie war gerade mal ein Jahr hier und Arbeitsüberlastung sowie Corona-Beschränkungen hatten nicht viel Raum gelassen, sich in der Region zu vernetzen. Aber glücklich war sie mit der Situation nicht. Kurz dachte sie daran, Jupp Schulte anzurufen. Der Ex-Polizist, der vom Alter her ihr Vater sein könnte, war einer der wenigen Menschen, mit denen sie sich hier seelenverwandt fühlte. Beide waren bemüht, den durch die berufliche Zusammenarbeit entstandenen Kontakt ins Private hinüberzuretten.

Der Gedanke an Schulte verflog, als sich ihr privates Handy meldete. Eine Männerstimme stellte sich vor: „Bodo Bruschetta hier. Hallo Frau Stahl. Sie erinnern sich an mich? Letztes Jahr, die Entführung meines Sohnes Raffael. Sie waren die leitende Staatsanwältin in dem Fall.“

Sie dachte kurz nach, dann bestätigte sie: „Ja, ich erinnere mich gut. Womit kann ich Ihnen helfen?“

„Ich wollte mich einfach mal melden und mich für die außergewöhnlich faire und angenehme Zusammenarbeit bedanken. Auch dafür, wie sensibel Sie mit dem traumatisierten Jungen umgegangen sind. Chapeau! Raffael geht es heute wieder gut, wenn man mal von den Restriktionen durch Corona und den üblichen Begleiterscheinungen der Pubertät absieht. Es ist auch Ihr Verdienst, dass alles so gut gelaufen ist. Ich …“

„Seien Sie mir nicht böse“, unterbrach sie ihn. „Aber ich wüsste schon gern, woher Sie meine private Handynummer haben. Von Jupp Schulte?“ Da sie wusste, dass Bruschetta gut mit Schulte bekannt war, lag die Vermutung nahe.

„Nein! In solchen Sachen ist Schulte diskret. Ich habe so meine Quellen. Keine Sorge, nichts, was Sie beunruhigen müsste.“

Die Staatsanwältin war mit dieser Aussage nicht zufrieden, fragte aber nicht nach. Sie hatte sich im Vorjahr kaum mit Bruschetta beschäftigt, weil dafür kein Grund vorlag. Sie war sich aber bewusst, dass dieser Mann keinen gesetzestreuen Geschäften nachging. Andererseits hatte er eine Ausstrahlung, die sie während der Ermittlungen als angenehm empfunden hatte. Sie mochte Menschen, die ein bisschen gegen den Strich gebürstet waren.

Das weitere Gespräch führte fast zwangsläufig zum alles beherrschenden Thema Corona.

„Was ich am meisten vermisse“, sagte Zoé Stahl, die sich viel stärker auf das Gespräch einließ, als eigentlich beabsichtigt, „ist Essen gehen. Mal wieder nicht selber kochen müssen, in netter Gesellschaft essen, das wäre schön.“

„Geht mir genauso“, erwiderte Bruschetta. „Damit ich mal wieder was Anständiges auf den Teller kriege, habe ich mich als Koch selbst weitergebildet. Und ich darf mir schmeicheln, dass ich mich mit meinen Kochkünsten nicht mehr verstecken muss. Ich würde Ihnen meine Fortschritte gern einmal vorführen. Wenn Sie Lust haben, dann kommen Sie doch vorbei. Wann haben Sie denn mal Zeit? Ich bin flexibel, bin ja sozusagen Freiberufler. Keine Sorge, das macht mir keine Umstände. Kochen werde ich sowieso und Sie würden mir eine Riesenfreude machen, wenn Sie mir beim Essen Gesellschaft leisten.“

Bevor Zoé Stahl das Für und Wider dieses Angebots erwägen konnte, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung selbst sagen: „Ja, gern. Sonntagabend könnte ich. Auf den Fernseh-Tatort habe ich keine Lust. Aber ich habe vergessen, wo Sie wohnen.“

9

Gern hätte Zoé Stahl ein paar elegantere Schuhe angezogen, aber die winterlichen Wetterverhältnisse ließen das nicht zu. Es hatte den ganzen Sonntag über geschneit und es schien, als solle dies immer so weitergehen. Mit dem Auto zu Bruschetta zu fahren, machte keinen Sinn. Es waren gerade mal achthundert Meter Fußmarsch von ihrer Wohnung in der Brahmsstraße bis zur Fürstengartenstraße, der Wohnstätte von Bruschetta. Außerdem hatten die Räumfahrzeuge den Schnee an den Straßenrändern so aufgehäuft, dass es schwierig sein dürfte, einen Parkplatz zu bekommen. Also stieg sie in ihre Stiefel, setzte eine Pudelmütze auf, wickelte sich einen warmen Schal um den Hals und zog los. Echte Abendgarderobe war das nicht, aber das wäre sowie nicht ihre Sache gewesen. Sie kleidete sich immer so, wie es ihr gerade in den Sinn kam, ohne auf den Anlass Rücksicht zu nehmen. Damit eckte sie häufig an, aber das bereitete ihr in der Regel eher eine diebische Freude. Es machte ihr Spaß, das Klischee von der jungen, dynamischen Karrierefrau, die alles ihrer Laufbahn unterordnet, umzukehren. Nicht wenige ihrer Kollegen würden sie deswegen niemals zu sich nach Hause einladen.

Es dauerte nicht lange und sie bekam trotz der Stiefel nasse Füße. Ihr leises Fluchen half dagegen wenig. Bruschettas Haus lag auf der linken Seite der Fürstengartenstraße. Sie verglich die Hausnummer mit dem Eintrag in ihrer Handykontaktliste und wollte gerade durch das schmiedeeiserne Gartentor gehen, als ihr der Mann auffiel, der vor dem Haus schräg gegenüber Schnee schippte. War das nicht …?

„Hallo Herr Hinze!“, rief sie hinüber. „Ich wusste gar nicht, dass Sie auch hier wohnen.“

Hagen Hinze, ihr Staatsanwaltskollege, schaute sie völlig irritiert an. Es dauerte eine Weile, bis er sie durch das dichte Schneetreiben hindurch erkannte. Dann winkte er und rief zurück: „Wieso auch hier wohnen? Sind Sie hierhergezogen?“

„Nein“, lachte sie. „Ich besuche nur jemanden.“

Hinze wirkte verunsichert.

„Sie wollen zu … zu dem Herrn gegenüber? Aber wissen Sie denn nicht, dass …“

Aber Zoé Stahl hörte ihm schon nicht mehr zu. Sie winkte nur zum Abschied und ging durch das Gartentor. Es war Sonntagabend, sie freute sich auf ein nettes Abendessen. Auf dem kurzen, aber dunklen Weg zwischen Gartentor und Haustür kamen ihr unerwartet zwei Gestalten entgegen. In der einen, der größeren, erkannte sie zu ihrer Überraschung Jupp Schulte.

„Was machst du denn hier?“, fragten beide gleichzeitig. Als sich die Überraschung gelegt hatte, sagte Schulte, auf den halbwüchsigen Jungen neben sich zeigend: „Ich hole Raffael ab. Der übernachtet heute bei Linus, meinem Enkel. Die beiden Jungs sind gute Freunde und wollen sich an irgendeinem Computerspiel festbeißen. Soso, jetzt weiß ich auch, warum Bruschetta sturmfreie Bude haben wollte. Pass bloß auf, Bruschetta hat’s faustdick hinter den Ohren.“

Zoé Stahl grinste ihn, dabei kein bisschen verlegen, an. „Dann werde ich wohl aufpassen müssen“, sagte sie. „Danke für den Tipp!“

Zwei Stunden später saß Zoé Stahl in einem gemütlichen Sessel.

„Haben Sie das wirklich alles selbst gekocht?“, fragte sie in ihrer lässigen Art. Bruschetta lachte: „Wie man’s nimmt. Ich habe meine alte Mutter zuhause in Italien angerufen und um Hilfe gebeten. Telefon-Support nennt man das heutzutage wohl. Hat ja gut geklappt, oder?“

„Allerdings“, bestätigte sie. „Es war großartig. Schönen Gruß an ihre Mutter.“

Dann wurde sie nachdenklich und fragte: „Kennen Sie eigentlich meinen Kollegen Hinze etwas näher?“ Bodo Bruschetta hatte nach dem abschließenden Espresso einen italienischen Rotwein serviert, dem Zoé Stahl ungeniert zusprach. Ihr bereitete es keine Seelenpein, ihre vielen Laster offen zu leben. Sie rauchte Zigarillos, sie trank gern auch mal etwas Hochprozentiges, sie fluchte und war überhaupt wenig diplomatisch in der Wahl ihrer Worte. Bruschetta schien genau das zu gefallen, denn er strahlte sie förmlich an. Auf ihre Frage bezogen sagte er: „Meinen Sie den etwas vertrockneten Herrn gegenüber? Ein pingeliger Kerl. Ich wette, der räumt jetzt alle Viertelstunde den Schnee weg. Nervt gern mal ein bisschen. Nicht mein Typ, wenn Sie mich fragen. Außerdem bin ich ihm irgendwie suspekt, glaube ich. Na ja, soll er denken, was er will.“

Auch Bruschetta scheint ein Freund des offenen Wortes zu sein, dachte sie und nahm einen großen Schluck Wein.

Sie plauderten noch eine Weile. Dann ließ sie sich von ihm in den Mantel helfen, stieg wieder in die noch feuchten Stiefel und machte sich auf den Weg nach Hause. Der Schnee fiel immer noch in dicken Flocken vom Himmel, als käme er aus einer unerschöpflichen Quelle.

10

Mit allem hatte Zeus gerechnet, aber nicht mit Schnee. Wie ein richtiger Winter aussehen konnte, hatte er fast vergessen, wie die meisten Menschen in unseren Breiten. Aber an diesem Sonntag waren bereits am Morgen die ersten Schneeflocken heruntergerieselt. Der Schneefall war immer dichter geworden, die Temperaturen waren im Keller – kurz, es wurde ein richtiger Wintertag, so wie früher. Noch am Vormittag war dies für Zeus ein Grund zur Sorge gewesen. Sorge, dass der Schnee seinen Plan zerstören könne. Doch im Laufe des Nachmittags waren ihm die Vorteile des starken Schneefalls klargeworden. Pläne machen ist gut, hatte er gedacht, aber besser ist es, sich neuen Rahmenbedingungen flexibel anzupassen.

Um 19:30 Uhr war sein Gast erschienen. Unpünktlich wie immer, fast eine halbe Stunde später als vereinbart. Zeus hatte für Verspätungen keinerlei Verständnis. Er selbst war immer auf die Sekunde pünktlich und erwartete das auch von anderen. So waren die ersten Minuten des gemeinsamen Abendessens in leicht angespannter Atmosphäre verlaufen. Mit der Zeit hatte sich dies aber gelockert und es war ein guter Abend mit richtigen Männergesprächen geworden, fand Zeus.

Jetzt, um 22 Uhr, fielen seinem Gast immer wieder die Augen zu. Er antwortete nur noch zeitversetzt auf Fragen, schien geistesabwesend zu sein. Das komme vom vielen Essen und den Schnäpsen, sagte er in einem sinnlosen Versuch, sich seine Schwäche schönzureden.

„Das waren doch nur zwei Schnäpse“, sagte Zeus boshaft. „Ich denke, es ist eher das Alter. Ruhen Sie sich ein bisschen aus, dann geht’s wieder.“

Doch auch zehn Minuten stilles Verharren im Sessel verbesserte nichts am Zustand seines Gastes. Er sackte immer mehr in sich zusammen.

„Muss nach Hause“, sagte er immer wieder, von Mal zu Mal leiser werdend.

Zeus lachte.

„Nach Hause? Etwa mit dem Auto? Das können Sie getrost vergessen, mein Lieber. Da kommen Sie nicht weit. Wissen Sie was? Ich löse für Sie jetzt ein Aspirin in Wasser auf und dann bringe ich Sie nach Hause. Sie wohnen doch in Hiddesen, richtig? Selbst fahren können Sie dahin wirklich nicht mehr.“

Dem Besucher schien alles völlig egal zu sein. Er winkte nur mit einer matten Geste ab und überließ Zeus die Initiative.

„Mir ist kalt“, klagte er jammervoll. Aber da war auch schon Zeus wieder zurück und reichte ihm ein Glas, voll mit einer trüben weißen Flüssigkeit.

„Sieht nicht gerade appetitlich aus, so ein aufgelöstes Aspirin“, kommentierte Zeus. „Tut aber gut. Trinken Sie!“

Zögernd nahm sein Gast das Glas zur Hand und nippte daran. Er verzog das Gesicht und stellte es auf den Couchtisch.

„Sie wissen doch“, lachte Zeus, „bitter im Mund ist im Herzen gesund. Los, nun trinken Sie schon. Ich will nicht mitten in der Nacht durch den Schnee fahren müssen.“