Lippische Seilschaften - Jürgen Reitemeier - E-Book

Lippische Seilschaften E-Book

Jürgen Reitemeier

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Beschreibung

1984 ist Jupp Schulte ein frischgebackener Kommissar. Seine neue Dienststelle ist nicht die erhoffte pulsierende Großstadt, sondern das beschauliche Detmold. Der immer schon chaotische Schulte übernachtet, mangels ­einer Wohnung, in seinem alten Bulli auf dem Parkplatz der Polizei Detmold. Gleich am ersten Abend wird er Zeuge einer mysteriösen Verhaftung, die sich als erstes Glied einer Kette von Ereignissen herausstellt, dessen Ende ihm im Jahre 2015 beinahe Kopf und Kragen kostet.

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Reitemeier / Tewes · Lippische Seilschaften

JÜRGEN REITEMEIER

WOLFRAM TEWES

Lippische Seilschaften

PENDRAGON

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

1

1984

Die Küche war ein niedriger Raum. Wenn Schulte den Arm hob und sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er mit den Fingern die Zimmerdecke berühren. In dieser Stube hatte er viele Stunden seiner Kindheit verbracht. Wenn er sich richtig erinnerte, hatten seine Eltern in der Zeit nach seiner Geburt noch kein Wohnzimmer. Das Familienleben der Schultes fand in der Küche statt, an deren Tisch Schulte in den letzten Tagen so viel Zeit verbracht hatte.

Das gesamte Geld, das sein Vater damals als frischgebackener Tischlermeister erwirtschaftete, wurde gleich wieder in den kleinen, gerade gegründeten Betrieb gesteckt. Anders als andere Meisterschüler seiner Klasse konnte Schulte senior nicht auf mehrere Generationen Tischlerhandwerk zurückblicken und so auch nicht auf eine im Familienbesitz befindliche Werkstatt. Er hatte nichts außer seinem Meisterbrief.

Weil Jupps Vater aber ein selbstständiger Handwerker sein wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als einen Kredit aufzunehmen. Mit dem Geld kaufte er sich die ersten Maschinen, eine gebrauchte Abrichte und einen Dickenhobel. Die Werkstatt, in der die Geräte aufgebaut wurden, hatte der Vater mieten müssen.

Dieser beruflichen Ausrichtung musste sich die junge Familie Schulte unterordnen. Sie wohnten im Haus der Großeltern. Dort hatte Schultes Opa seinem Sohn widerwillig eine Küche und ein Schlafzimmer für die Kleinfamilie zur Verfügung gestellt.

„Selbstständiger Tischler, Junge, das ist Größenwahn, das ist nicht unsere Kragenweite“, hatte der Alte geschimpft. „Da kann nichts als eine Pleite bei rumkommen, und dann bist du ein noch größerer Hungerleider als jetzt schon.“

Schultes Vater hatte sich vom Gerede seines Vaters nicht beeindrucken lassen. Er wollte unabhängiger Handwerksmeiste sein. Darauf hatte er sein Leben lang hingearbeitet. Und er wollte seinem Sohn, wenn der erwachsen war, ein florierendes Unternehmen überlassen.

Pock! Ein Wassertropfen schlug auf den Boden des Metallspülbeckens auf. Das Geräusch riss den frisch gebackenen Kommissar aus den Gedanken an seine Kindheit. Jupp Schulte musste grinsen. Dieses Pock des tropfenden Wasserhahns hatte ihn während seines gesamten Lebens in Warburg begleitet. Als er zur Kommunion von seinem Opa eine Uhr geschenkt bekommen hatte, eine mit Sekundenzeiger, da hatte er sie gleich ausprobiert und die Zeit zwischen den fallenden Wassertropfen gestoppt.

Wenn dann in den folgenden Wochen die Hausaufgaben nervten, dann hatte Schulte immer mal wieder den Abstand gemessen, in dem die Tropfen auf dem Boden des Waschbeckens in der Küche aufschlugen und dieses unvergessliche blecherne Geräusch erzeugten.

Über mehrere Wochen hatte Schulte die Zeit von Wassertropfen zu Wassertropfen auf der letzten Seite seines Matheheftes in eine Tabelle eingetragen. Die Länge des Tropfenintervalls hatte zwischen vierzig bis zweiundvierzig Sekunden gelegen. Jupp Schulte konnte sich noch genau erinnern.

Pock, schlug der nächste Wassertropfen den Ton an. Schulte sah auf seine Uhr und nahm die Zeit. Pock! Zweiundvierzig Sekunden – es hatte sich nichts geändert. Jedenfalls wenn es um den Abstand ging, in dem die Tropfen in Mutters Waschbecken aufschlugen. Ansonsten war nichts mehr so wie damals, als Schulte in dieser Küche seine Hausaufgaben gemacht hatte.

Sein Vater war gestorben, als Schulte fünfzehn Jahre alt war. Schulte selbst wollte nie Tischler werden, er wollte in die Welt, und so wurde die Werkstatt verkauft, um das Auskommen der Familie abzusichern.

Als Schulte achtzehn Jahre alt war, hatte das Schicksal wieder zugeschlagen. Er hatte es geschafft, in einer Nacht gleich zwei Frauen zu schwängern. Diese ungeahnte Fruchtbarkeit hatte zur Folge, dass Schulte nicht, wie er es sich gewünscht hatte und wie alle seine Freunde es taten, nach dem Abitur ein Studium begann. Nein, er musste sich einen Beruf suchen, der es ihm ermöglichte, den finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, die die doppelte Vaterschaft mit sich gebracht hatte. Er war zur Polizei gegangen und hatte, weil seine Mutter ihm ständig in den Ohren lag, die Mutter von Ina geheiratet. Ina war zwei Stunden nach Lena, der Erstgeborenen, zur Welt gekommen und somit seine jüngste Tochter.

Diese Ehe war, so wusste Schulte heute, eine Schnapsidee. Die Schnapsidee seiner Mutter.

Schon ein Jahr später hatte sich Inas Mutter wieder von Schulte getrennt. Er sei ja eh nie da, hatte sie ihm vorgehalten. Und immer nur zu Hause sitzen und auf den Herrn Wachtmeister warten, das sei nicht ihr Ding. Mit diesen Worten hatte sie Schulte von jetzt auf gleich vor die Tür gesetzt. Und so stand er da, mit einer Tasche dreckiger Klamotten, die seine Frau ihm nicht mehr waschen würde. Also war er zu seiner Mutter gegangen. Die hatte ihm zwar zwei Tage später seine Sachen frisch gebügelt in die Reisetasche gepackt, aber ihr stiller Vorwurf gegen ihn, den gottlosen Rabenvater, der hatte sich mit Schultes Ankunft in ihrer kleinen Küche breitgemacht. Und diese Atmosphäre des Tadels hatte viele Monate den dunklen engen Raum nicht mehr verlassen. Eigentlich nie, dachte Schulte, denn noch heute, sechs Jahre später, nahm er ihn in jeder Nische der Küche wahr.

Gerade hatte man Schulte zum Kommissar befördert. Mit der Urkunde in der Tasche war er aus der Polizeikaserne ausgezogen, und wohin hatte es ihn verschlagen? Zurück zu seiner Mutter nach Warburg. Schon drei Wochen lebte er wieder hier und litt unter der bedrückenden Atmosphäre, die die Enge seines Elternhauses auf ihn ausübte.

Doch ab heute sollte alles anders werden. Vor Schulte lag ein Brief des Innenministeriums.

2

Der alte Mann schaute prüfend in den Nachthimmel, während er die Tür des Restaurants hinter sich schloss. Nach einem sonnigen Frühlingstag war es kühl geworden. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte, dass es zehn nach elf war, höchste Zeit für einen Mann seines Alters, nach Haus zu gehen. Er zog den Reißverschluss der Windjacke bis zum Anschlag hoch und stieg vorsichtig einige Treppenstufen zur Straße hinab. Als er gleich um die Ecke den Bürgersteig an der Straße Neustadt betrat, pfiff ihm ein eisiger Wind ins Gesicht. Er schlug den Kragen hoch, steckte beide Hände in die Taschen und ging weiter. Im diffusen Licht der Straßenlampen war weit und breit kein Mensch zu sehen, nur ein Auto kam ihm entgegen. Das Detmolder Nachtleben ist immer noch so überschaubar wie vor vierzig Jahren, dachte er amüsiert. An der Musikhochschule überquerte er den schmalen Friedrichstaler Kanal, bog links ab und folgte langsam dem Fußweg am Kanal entlang. Hier war es noch stiller als im restlichen Detmold. Selbst wenn es ein Geräusch gegeben hätte, wäre es vom scharfen Wind verschluckt worden. Er hatte noch etwa hundert Meter zu laufen. Seit seiner Pensionierung bewohnte er eine geräumige Eigentumswohnung in einer der wunderschönen Villen, die sich am Friedrichstaler Kanal bis zur Oberen Mühle entlangzogen. Seinen Wohnsitz empfand er mit einigem Stolz als sichtbaren Ausdruck eines erfolgreichen Lebens. Mit seiner Vita konnte er sich sehen lassen.

Er dachte zurück an den heutigen Abend. Die Männer, mit denen er ihn verbracht hatte, waren ehemalige Juristen, wie er auch. Zwei Rechtsanwälte, ein Staatsanwalt und er selbst, als ehemaliger Richter, an der Spitze der Hierarchie.

Jeden zweiten Mittwoch im Monat trafen sie sich zu einer Art Stammtisch und sprachen über Gott und die Welt. An diesem Abend war ihm wieder aufgefallen, dass seine Bekannten intellektuell abbauten. Ihre Wahrnehmung der Welt war verschwommen geworden, und ihre Argumentation war nicht mehr präzise und schlüssig, wie sie früher einmal war, fand er. Er hingegen war nach wie vor im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. An sich konnte er keinen Verfall feststellen. Und dennoch hatten sie sich heute über ihn lustig gemacht. Hatten herablassend gelächelt, als er ihnen von dem Mann erzählt hatte, der ihn schon seit Tagen verfolgte. Als sei er einer dieser Verrückten, die hinter jedem Busch einen Feind vermuten. Ausgerechnet er mit seinem scharfen, analytischen Verstand sollte plötzlich weiße Mäuse sehen? Lächerlich! Wütend kickte er eine leere Zigarettenschachtel weg, die auf dem Bürgersteig lag.

Als er nach einigen Metern auf Höhe des Altenheimes „Im Weinberg“ angekommen war, tauchte urplötzlich die Gestalt eines Mannes aus dem Tor des äußerst pittoresken großen Gebäudes hervor und verstellte ihm den Weg.

Die linke Hand des Unbekannten steckte in der Hosentasche, die rechte hielt er hinter seinem breiten Rücken verborgen. Dem alten Richter sank das Herz in die Hose. Ein Gefühl, das ihm eigentlich fremd war. Er hatte sich immer durch den ganz besonderen Status seines Berufsstandes geschützt gefühlt. Stets war er es gewesen, der das Schicksal anderer bestimmt hatte, der reuigen Sündern eine zweite Chance geben, aber auch gutbürgerliche Existenzen mit einem einzigen Richterspruch pulverisieren konnte. Aber nun stand nichts zwischen ihm und dem Mann, der nur ein Straßenräuber sein konnte. Er kämpfte seine wachsende Besorgnis nieder, riss sich zusammen und fragte, so mannhaft wie möglich:

„Was soll das, junger Mann? Lassen Sie mich durch!“

Der Mann schaute ihn ernst an, sagte aber kein Wort. Als der alte Richter erneut den freien Weg einforderte, kam es leise, aber drohend:

„Die Bewohner des Gebäudes, vor dem wir gerade stehen, sind alt und hören schlecht. Niemand schaut aus dem Fenster und beobachtet uns. Wir sind allein auf der Straße. Schauen Sie sich um. Und schreien Sie ruhig. Der Wind ist zu stark, niemand wird Sie hören. Los, gehen Sie hinein, damit wir uns in Ruhe unterhalten können!“

Mit der linken Hand wies er zum Tor. Sein Blick zeigte dem alten Mann, dass sein Gegenüber es ernst meinte. Also gehorchte er besser.

Zögernd durchschritt er das Portal, hinter dem ein kleiner Platz mit einer weißen Bank lag. Hinter dem Platz führte eine Brücke über den durch die Regenfälle der letzten Tage stark angeschwollenen und laut rauschenden Knochenbach.

An der Bank war ein Motorroller angelehnt, sonst war wegen der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen.

Der alte Richter hätte am liebsten um Hilfe geschrien, wusste aber, dass das seine Lage nur verschlechtern würde. Er riss sich zusammen und fragte:

„Was wollen Sie von mir? Geld?“

Als Antwort schüttelte der Jüngere nur den Kopf. Es dauerte wieder viele quälende Sekunden, bis er sagte:

„Sie erinnern sich vermutlich nicht an mich, oder? Kann ich sogar verstehen. Ich war auch nur ein unbedeutendes Abfallprodukt Ihrer Arbeit. Ein Stück Dreck, das man auf den Müll wirft und schnell vergisst. Dabei haben Sie mein Leben zerstört. Für immer.“

Der Alte starrte ihn an, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Keine Frage, keine Forderung, keine Bitte formte sich in dem zum Eisblock erstarrten Hirn. Er fühlte nichts mehr, dachte nichts mehr, spürte nur noch den eigenen hämmernden Puls.

Erneut sprach der junge Mann:

„Irgendwann zahlt man den Preis für seine Verbrechen. Ich werde jetzt Ihr Leben zerstören. Das ist nicht mehr als gerecht, denke ich.“

Blitzschnell riss er den rechten Arm nach vorn. In der Faust hielt er eine kurze Stange. Der Richter starrte wie paralysiert auf das Schlagwerkzeug, das sich hoch in die Luft erhob, im schwachen Licht einer weit entfernten Straßenlampe metallisch schimmerte und dann auf ihn zukam.

3

1984

Berlin, ich komme. Je länger Schulte den Brief anstarrte und dabei sein Leben Revue passieren ließ, umso mehr wurde dieser eine Gedanke Gewissheit. Berlin, ja, das war der Ort seiner Zukunft. Am Tage würde er der Schrecken der Großstadtkriminellen sein und am Abend mit seiner alten Schulfreundin Annette Spellerberg um die Häuser ziehen. Er würde leben, wild und intensiv! Und der Superbulle sein, der Gute, der von allen geschätzt wird, selbst von denen, die er hinter Gitter brachte.

In dem Moment, in dem Schulte den braunen Umschlag mit dem Landeswappenaufdruck Nordrhein-Westfalens öffnete, wären die Weichen gestellt für das Große, das Ganze, das seinem Leben die entscheidende Richtung geben würde. Wohin würde es gehen? Berlin, Köln oder Bremen? Das waren die Städte, die Schulte als Wunscheinsatzorte in seiner Bewerbung angegeben hatte.

Zu über neunzig Prozent berücksichtigte man die Wünsche der frischgebackenen Kommissare, hatte man ihm gesagt, als man ihm die Urkunde zu seinem bestandenen Diplom Verwaltungswirt ausgehändigt hatte. Einzig, wenn es überhaupt keine Planstelle geben würde, könne man mit Überraschungen rechnen. Doch bei der Größe der Städte, die Schulte als seine Wahleinsatzorte angegeben hatte, war es mehr als unwahrscheinlich, dass sich dort keine freie Stelle für einen wie ihn finden würde. Und Konkurrenz brauchte Schulte nicht zu fürchten. Sehr zur Verwunderung seiner Vorgesetzten hatte er ein Top-Examen hingelegt. Außerdem hatte Schulte den Eindruck, dass er der Einzige war, der sein Polizistendasein in einer Großstadt fristen wollte. Fast alle seine Kollegen wollten heimatnah eingesetzt werden. Sie wollten zu den Orten ihrer Jugend, dort zu den Respektspersonen zählen, endlich heiraten, ein Haus bauen und eine Familie gründen.

Nur er, Schulte, er wollte all das nicht mehr, er wollte nicht mehr in der engen Küche seiner Mutter sitzen und auch in sonst keiner Drei-Zimmerwohnung in Warburg seine freien Abende verbringen. Eine Flasche Bier vor dem Fernseher trinken, vielleicht noch eine, damit er besser schlafen konnte und danach ins Bett gehen, nein, das war nicht Schultes Lebensperspektive.

Und wenn die Flimmerkiste einmal überhaupt nichts hergab, wenn er dann, um etwas Abwechslung zu haben, in eine der Kneipen ging, die es rund um den Warburger Altstadtmarkt gab, dann, das wusste er, hatte diese Art der Freizeitgestaltung für ihn auch keinen sonderlichen Erholungswert. Denn in sämtlichen Kneipen kannte ihn jeder. Er war hier groß geworden. Und von einem dieser unfreiwilligen Bekannten aus alter Zeit, von irgendeinem dieser besoffenen Stammtischbrüder würde er garantiert innerhalb kürzester Zeit als Drecksbulle angepöbelt werden. Er würde für den Führerschein verantwortlich gemacht werden, der diesem Kerl entzogen worden war, weil der nach der zehnten Flasche Bier auf dem Bau noch in sein Auto gestiegen war, um bis zur nächsten Kneipe zu fahren. Nein, das brauchte Schulte nie mehr, das hatte er hoffentlich für immer hinter sich gebracht. Niemals mehr in seinem Leben sollten solche Begebenheiten Bestandteil seiner freien Abende sein und niemals mehr sollte ihm das Gepöbel irgendwelcher Leute die Laune verderben.

Schulte nahm den Brief des Innenministers vom Tisch und hielt ihn gegen das Küchenfenster.

Der Umschlag war blickdicht. Es war nichts zu erkennen. Lediglich das Gewicht des Schriftstückes ließ darauf schließen, dass die Papierhülle weitere Blätter in sich barg.

Schulte zog die Schublade des Küchentisches auf und entnahm ihr das Hummelchen seiner Mutter, ein manchmal etwas rostiges, aber immer scharfes Schälmesser. Mit der Vorsicht, als würde er ein menschliches Organ sezieren, schlitzte Schulte den Umschlag auf. Mit jedem Millimeter, mit dem er den Briefschlitz vergrößerte, nahm das Zittern seiner Hand zu. Dann endlich hielt er das Schriftstück in der Hand. Aufgeregt begann Schulte zu lesen.

Was? Was stand da? Er konnte es nicht fassen! … freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihre zukünftige Dienststelle die Kreispolizeibehörde Lippe ist. Ihr Dienstbeginn ist der 1. Juni 1984. Bitte erscheinen Sie am Mittwoch, den 30. Mai zu einer Vorbesprechung in der Hornschen Straße 59…

Augenblicklich stellte sich bei Schulte eine akute Belastungsreaktion ein. Der Nachricht hatte er keinerlei Bewältigungsstrategien entgegenzusetzen. Er bekam einen heißen Kopf, gleichzeitig wurden ihm die Knie weich, er ließ sich zurück auf den Stuhl sinken. In wenigen Sekunden bildeten sich feine, silbern schimmernde Schweißperlen auf seiner Stirn.

Schulte strich sich durch die Haare und starrte auf seine feuchte Hand. Dann fing er an, wie irre zu kichern.

Detmold, er konnte es nicht fassen. Dieses Kaff. Dann konnte er auch gleich Dorfbulle in Hohenwepel oder Peckelsheim werden. Vorbei die Träume von Berlin, von der großen, weiten Welt. Augenblicklich glaubte er, jegliches Interesse an seinem Beruf verloren zu haben. Alles, was ihn an Detmold erinnerte, wenn man einmal vom Hermannsdenkmal absah, waren Polizisten, die den Ruf hatten, besonders scharf zu sein, wenn es darum ging, irgendwelchen Bauern der Warburger Börde ihre Trecker stillzulegen. War das in absehbarer Zeit auch seine Hauptaufgabe? Würde er demnächst nicht wie gehofft die spektakulären Kriminalfälle dieser Welt lösen? Musste er zukünftig braven Bauern auflauern, mit der Absicht, ihnen die landwirtschaftlichen Zugmaschinen stillzulegen?

4

„Hast du das früher auch gemacht?“, fragte Maren Köster amüsiert, als ihnen immer wieder kleine Gruppen junger Männer mit Bollerwagen voller Bierflaschen, mehr oder weniger betrunken, im Wald begegneten.

„Meinst du Vatertagsausflüge?“, fragte Jupp Schulte zurück. Er lachte leise, als habe er sich gerade an etwas erinnert. „Klar, darauf habe ich mich tagelang gefreut. Ich war immer dabei, wenn es darum ging, sich mal so richtig danebenzubenehmen. Kennst mich doch.“

Sie hakte sich lächelnd bei ihm ein.

„Das glaube ich dir aufs Wort. Und wie ist das heute? Findest du es nicht langweilig, mit mir völlig nüchtern durch den Wald zu bummeln, anstatt mit den wilden Kerlen die Sau rauszulassen?“

Vorsicht Falle, dachte Schulte und konzentrierte sich auf eine diplomatische Antwort. Viel zu oft schon hatte er das Krisenpotential solcher Fragen unterschätzt und war ins offene Messer gelaufen. Es war nicht damit getan, ihr zu sagen, dass er solchen Saufgelagen einfach nicht mehr gewachsen war, dass er aus diesem Alter raus war, dass so was tagelang schlimme Folgen nach sich ziehen würde.

„Nein, absolut nicht“, antwortete er, so überzeugend wie möglich. „Ich habe fünfzehn Jahre um dich gebuhlt und ich muss mich immer noch kneifen, wenn ich daran denke, dass dieser Traum Wirklichkeit geworden ist. Mit dir würde ich auch über den Mond laufen und hätte das Gefühl, gerade am attraktivsten Ort des Universums zu sein.“

Sie schubste ihn in gespielter Empörung etwas von sich weg und sagte lachend:

„Jupp, dass ausgerechnet du im Alter noch romantisch wirst, kann ich mir nicht vorstellen. Wer soll dir das denn glauben?“

Irritiert schaute er sie an, erkannte aber, dass sie trotz ihrer relativierenden Aussage durch seine Worte offenbar angenehm berührt war. Schulte atmete erleichtert durch. Er hatte nicht einmal übertrieben mit seinen Worten. Maren Köster war die begehrenswerteste Frau, die er kannte. Sie war zwar heute mit ihren fast fünfzig Jahren nicht mehr der rattenscharfe, Männerherzen mordende, atemberaubende Hingucker der früheren Jahre, aber sie hatte, trotz einiger Pfunde mehr, immer noch eine Figur, für die viele Zwanzigjährige ihre Seele verkaufen würden. Die schulterlangen glatten Haare waren immer noch dicht, und die dunkelrote Farbe war nach wie vor echt. Klar, hatten ihr die Jahre auch einige Fältchen ins Gesicht gezeichnet, und sie bewegte sich nicht mehr so katzengleich wie früher, aber für Schulte war und blieb sie die Traumfrau.

Wieder kam ihnen ein Trupp johlender Jungmänner entgegen.

„Krasse Braut!“, rief einer der Männer mit krächzender Stimme Schulte zu. „Hat sich gut gehalten für ihr Alter!“

Einen kurzen Moment schwankte Jupp Schulte zwischen dem Impuls, dem dreisten Kerl eine reinzuhauen oder zu lachen. Er entschied, wie Maren Köster auch, ihn einfach zu ignorieren und weiterzugehen.

Niemand in der Detmolder Kreispolizeibehörde hätte vor einem Jahr auch nur einen Pfifferling darauf gegeben, dass Schultes jahrelange Bemühungen um seine Kollegin einmal Erfolg haben könnten. Es galt als ausgemacht, dass Schulte eines Tages aufgeben würde. Umso verblüffter waren alle, als direkt nach Abschluss des Fleischhammermordfalles im letzten Jahr die beiden so unterschiedlichen, als unvereinbar geltenden Menschen ihren Kollegen verkündeten, ein Paar zu sein. Umgehend waren Wetten über die Haltbarkeit dieser unglaublichen Beziehung abgeschlossen worden. Zum allgemeinen Erstaunen hielten die beiden sich wacker. Sie hatten entschieden, ihr Verhältnis während der Arbeit ruhen zu lassen, und sie wohnten immer noch getrennt. Das hatte bislang als Konfliktvermeidungsstrategie ganz gut funktioniert. Und irgendwann war das Thema durch, die Beziehung Köster und Schulte war Alltag in der Kreispolizeibehörde geworden. Heute, am Feiertag, es war Christi Himmelfahrt, hatten beide zusammen frei. Das kam nicht oft vor und wollte genossen werden.

Zehn Minuten später verkündete ihnen ein Schild, dass sie das Gelände nicht betreten dürften. Hier wurde seit Jahren die Falkenburg, der Sitz der ersten Herren von Lippe, die bis auf die Grundmauern geschleift worden war, wieder aufgebaut. Ein ambitioniertes Unternehmen, das bei Schulte von Anfang an ambivalente Gefühle ausgelöst hatte. Einerseits gefiel dem Romantiker in ihm, dass die ehemals so stolze Burg wieder auferstehen würde, für den Pragmatiker in ihm hatte das Ganze etwas von Disneyland. Leider konnten sie vom Bauzaun aus wenig erkennen.

„Gehen wir trotzdem rein?“, fragte Schulte.

„Ich weiß nicht“, entgegnete sie, „wir sind immerhin Polizisten und haben eine Vorbildfunktion.“

„Hm …“, brummte Schulte, dessen diebische Freude beim Überschreiten von Regeln aller Art ihn seit der Kindheit immer wieder in Schwierigkeiten gebracht hatte. „Ich gehe trotzdem mal über den Zaun. Nur ganz kurz.“

Als er das Bein heben wollte, um den Zaun zu überwinden, dudelte sein Handy. Verärgert blieb er stehen und zog das Gerät aus der Hosentasche. Dann lauschte er mit zunehmend schlechter gelaunter Miene dem Anrufer und steckte das Handy schließlich wieder ein.

„Tut mir leid“, brummte er resigniert, „aber ich muss sofort in die Stadt. Im Knochenbach ist eine Leiche gefunden worden.“

5

1984

Missmutig warf Schulte ein paar Hemden, Unterwäsche und zwei frisch gewaschene Jeans in die Reisetasche. Gerade, als er sich ein Paar Strümpfe greifen wollte, klopfte es an der Tür. Seine Mutter steckte den Kopf ins Zimmer.

„Hier, Junge“, sie wedelte mit einigen länglichen Blättern. „Ich habe dir deine Bankauszüge mitgebracht. Natürlich hast du dein Konto mal wieder überzogen. Ich hab dir schon hundertmal gesagt, Schultes haben keine privaten Schulden. Darum habe ich es ausgeglichen und noch tausend Mark draufgepackt. Wenn du jetzt deine neue Stelle in Detmold antrittst, musst du ja wenigstens ein paar ordentliche Klamotten haben.“

Schulte war genervt. In den Augen seiner Mutter würde er nie erwachsen werden.

„Wieso kannst du einfach so meine Kontoauszüge abholen? Gibt es nicht noch so etwas wie ein Bankgeheimnis?“, maulte Schulte missmutig.

„Komm, Junge, nun stell dich mal nicht so an! Wir haben doch keine Geheimnisse voreinander. Und glaub mir, wenn ich deine Kontoauszüge haben möchte, dann bekomme ich sie auch. Oder glaubst du etwa, Backhaus’ Anton würde es sich trauen, mir zu widersprechen, wenn ich wissen will, was auf deinem Konto los ist?“

Ein Lächeln huschte über das schon runzelige, mit Falten durchzogene Gesicht seiner Mutter. Dabei blitzten ihre Augen wie die Sterne.

Das Leben war an seiner alten Dame nicht gerade spurlos vorübergegangen. Aber bei ihr war das nur Patina. Wenn man genau hinsah, war sie doch noch eine verdammt schöne Frau. Warum sie wohl nach dem Tod seines Vaters nicht noch einmal geheiratet oder sich zumindest einen Freund gesucht hatte?

„Bevor du nachher nach Detmold fährst“, wurde Schulte aus seinen Gedanken gerissen, „gehst du bitte noch schnell zu Wilke und kaufst dir ein paar ordentliche Anzüge, Hemden und Krawatten. Dann machst du wenigstens gleich von Anfang an einen ordentlichen Eindruck bei deinen Kollegen“, sagte sie mit mahnender Stimme.

„Och, Mutter, nee! Hör doch endlich mit dem Versuch auf, mich anzuziehen. Heutzutage trägt keiner mehr eine Krawatte bei der Kripo.“

Empört stemmte die alte Dame die Hände in die Hüften.

„Komm mir jetzt nicht so, Josef! Du glaubst wohl, ich sehe kein Fernsehen? Da irrst du dich. Und glaub mir, in den Filmen, da tragen alle Kommissare Krawatten. Außer dieser Schimpanski oder wie der heißt. Willst du dir den etwa zum Vorbild nehmen?“

Schulte war genervt.

„Nein Mutter, ich will mir Schimanski nicht zum Vorbild nehmen. Ich bin das Vorbild für Schimanski.“

Schultes Mutter sah ihn empört an. Und drohte ihm dann lachend mit der rechten Hand, einer Geste, die sagen wollte, es wird Zeit, dass ich dir mal wieder etwas hinter die Ohren gebe.

Das Geplänkel der beiden wurde jäh durch das schrille Geräusch der Haustürklingel unterbrochen. Schultes Mutter sah auf die Uhr. „Wer kommt denn jetzt, so kurz vor dem Mittagessen, noch vorbei? Das gehört sich doch nicht! Wenigstens am Mittag muss man doch noch seine Ruhe haben.“

Verärgert stieg sie hinunter, um dem ungebetenen Gast zu öffnen.

„Hallo, Oma“, hörte Schulte eine helle Kinderstimme. Und dann ein äußerst unfreundliches: „Tag Minna, ist Jupp da?“

Ach du Scheiße, dachte Schulte. Was will die denn hier? Er wusste, immer wenn Mona, seine Exfrau, auftauchte, bedeutete das nichts Gutes. Während er nach unten stieg, machte er sich auf eine unangenehme Begegnung gefasst.

Kaum sah Mona ihn, da schimpfte sie auch schon los.

„Da bist du ja, du Rabenvater. Wie ich hörte, hältst du dich schon seit ein paar Wochen in Warburg auf und hast dich nicht einmal bei deiner Tochter blicken lassen. Damit ist jetzt Schluss. Ich fahre eine Woche in Urlaub. Und du kannst endlich mal die Verantwortung wahrnehmen und dich um dein Kind kümmern.“

Schulte öffnete den Mund, um ihr zu erklären, dass er gerade auf dem Weg nach Detmold sei. Doch bevor er das erste Wort herausbrachte, giftete Mona: „Ina hat Pfingstferien. Die wird sie mit dir verbringen. Und komm bloß nicht auf die Idee, Ina wieder bei deiner Mutter zu parken. Du bist ihr Vater und hast dich zu kümmern. Wenn du das nicht machst, dann hetze ich dir das Jugendamt auf den Hals. Und jetzt tschüs. Übernächsten Sonntag um achtzehn Uhr bringst du mir Ina wieder vorbei. Keine Minute früher und keine Minute später.“

Mona drehte sich um, nahm ihre Tochter noch einmal liebevoll in den Arm und küsste sie auf die Wange. „Wir haben alles besprochen, Liebes, sei tapfer.“ Sie beachtete Schulte nicht mehr mit der kleinsten Geste, warf die Haustür zu und weg war sie.

Schulte stand da wie ein begossener Pudel, während seine Mutter ihn mit einem Blick, der Traurigkeit und auch etwas Vorwurfsvolles in sich barg, ansah. Dann sagte sie so leise, dass Ina es nicht hören konnte: „Mein Gott, Josef, irgendwann musst du der Mona mal sehr wehgetan haben.“

Noch ehe Schulte antworten konnte, zupfte ihn Ina am Ärmel.

„Papa, wenn du nach Detmold musst, was machen wir denn dann? Weil, Mama fährt doch gleich in Urlaub, nach Gran Canaria. Wo soll ich denn jetzt hin? Wenn Mama sagt, dass ich nicht bei Oma bleiben darf?“

Schulte sah seine Tochter verdattert an. Dann grinste er.

„Na, wir fahren zusammen nach Detmold, und du hilfst mir einfach bei meiner Arbeit.“

„Du meinst, beim Einbrecherfangen?“, strahlte Ina ihn mit großen Augen an.

Schulte grinste noch breiter.

„Klar, wenn wir welche erwischen, dann stecken wir sie ins Gefängnis.“

„Au ja, das machen wir.“ Ina klatschte begeistert in die Hände und hüpfte wie ein Flummi um Schulte herum.

Schultes Mutter warf ihrem Sohn einen bösen Blick zu.

„Josef, was redest du da für einen Unsinn? Du kannst doch das Kind nicht einfach mitnehmen. Du hast ja noch nicht mal ein Zimmer in Detmold. Wo wollt ihr denn schlafen?“

Schulte nahm seine Mutter in den Arm und drückte sie. Die wollte sich zwar wehren, kam aber gegen ihren Sohn nicht an.

„Nun reg dich mal nicht auf, Mütterchen. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und ein frischgebackener Kommissar. Da werde ich das eine oder andere schon mal selbst entscheiden können. Mach dir keine Sorgen, Ina und ich landen schon nicht unter der Brücke.“

Und an seine Tochter gewandt sagte er: „Schnapp dir deine Tasche, wir fahren.“

„Au ja, und während der Fahrt hören wir Pumuckl.“

Schultes Mutter seufzte und drückte ihm einen Korb in die Hand. „Hier, ich habe dir noch etwas zu essen eingepackt.“ Sie legte noch eine Tüte Gummibärchen obendrauf.

Dann drohte sie Schulte mit dem Zeigefinger.

„Für Ina, verstanden! Nicht für dich, Josef.“

6

Als Polizeirat Jupp Schulte im Eingangsbereich des Altenheimes Im Weinberg ankam, war der bereits komplett mit Trassierband abgesperrt. Eine kleine Menschenmenge stand vor der Absperrung und schaute interessiert den weiß gekleideten Leuten zu, die geschäftig hin und her huschten. Schulte verabscheute diese Form von Neugier, konnte jedoch nicht dafür garantieren, dass er selbst sich in einer solchen Situation anders verhalten hätte. Maren Köster hatte ihn nach dem Anruf mit ihrem Auto nach Detmold gefahren und ihn an der Allee abgesetzt. Dann war sie nach Haus gefahren, um den Rest des Tages allein und vermutlich schlecht gelaunt zu verbringen. Schulte konnte ihre Enttäuschung über den so abrupt unterbrochenen freien Tag zwar verstehen, sah aber keinen Grund, sich dafür schuldig fühlen zu müssen.

Auf der Knochenbachbrücke innerhalb des Altenheimgeländes begrüßte ihn eine riesige, kräftig gebaute Frau. Auch sie war mit einer weißen Kombination und ebensolchen Gummistiefeln bekleidet, was ihre enormen Ausmaße optisch noch verstärkte. Ihre zarte Kleinmädchenstimme hingegen schien, wie auch ihre schulterlangen dichten Locken, einer ganz anderen Person zu gehören. Wie immer, wenn Schulte der Frau sehr nah gegenüberstand, hatte er das Gefühl, gleich von einem Lastwagen überrollt zu werden. Er trat einen Schritt zurück und legte den Kopf in den Nacken, um Renate Burghausen in die freundlichen, klugen Augen schauen zu können.

„Und?“, fragte er.

Die Leiterin der Spurensicherung war bei ihren Einsätzen meist bester Laune. Tatorte, die anderen Menschen ein lebenslanges Trauma verursacht hätten, schienen bei ihr eher stimulierend zu wirken. Ein bisschen schräg war Renate Burghausen schon, aber er mochte sie, schätzte ihre Kompetenz und ihre Gradlinigkeit.

„Ein alter Mann liegt da unten tot im Bach“, antwortete sie fröhlich und zeigte mit der Hand über die aus Natursteinen gemauerte rechte Seitenbegrenzung der Brücke nach unten. „Die genaue Todesursache haben wir noch nicht klären können, da er noch im Wasser liegt und wir mit der Bergung warten wollten, bis Sie hier sind. Er ist aber ziemlich wahrscheinlich erschlagen worden. Kommen Sie mit. Haben Sie keine Gummistiefel dabei?“

Hatte Schulte natürlich nicht, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als mit seinen Straßenschuhen den abschüssigen, vom Regen durchweichten Hang hinunter zum Bachbett zu rutschen. Dann stand er vor dem verrenkten Körper eines alten Mannes, der am Rande des Baches, etwas oberhalb des Hauptwasserlaufes, auf dem Bauch lag. Ein Teil des auf der rechten Wange liegenden Kopfes war durch eine große aufgeplatzte Verletzung deformiert. Das Wasser des Baches hatte bereits alles Blut aus der Wunde gewaschen, und so wirkte die Szene trotz allem irgendwie klinisch.

„Was meinen Sie, wie lange liegt er da schon?“, fragte Schulte. Renate Burghausen zögerte mit der Antwort.

„Ganz schwer zu sagen, unter diesen Bedingungen. Das kann nur die Obduktion klären. Ich tippe mal auf rund vierundzwanzig Stunden. Aber nageln Sie mich darauf nicht fest, es ist nur eine erste ganz grobe Schätzung.“

Schulte nickte und schaute sich schweigend weiter um. Die walkürenhafte Frau neben ihm schien zu wissen, wonach er suchte.

„Die Tatwaffe haben wir noch nicht gefunden, wenn Sie die suchen. Wir wissen aber auch noch nicht so richtig, wonach wir suchen müssen.“.

„Ist der Mann beraubt worden?“, fasste Schulte nach.

„Nein, definitiv nicht. Seine Brieftasche steckte noch in der Innentasche seines Mantels. Alles war da: Geld, die üblichen Papiere und seine Kreditkarte. Leider ist alles komplett vom Wasser durchgeweicht, aber noch immer lesbar. Der Mann heißt Doktor Walter Konzelmann, ist vierundachtzig Jahre alt und wohnt hier ganz in der Nähe. Raubmord können wir wohl ausschließen.“

Schulte und Burghausen verließen ihre Stehplätze, um dem Fotografen der Spurensicherung Platz zu machen, und kletterten wieder den Abhang hoch. Oben angekommen, kam einer der Mitarbeiter auf Renate Burghausen zu.

„Wir haben da was gefunden, glaube ich“, sagte der junge Mann schüchtern, als er vor seiner imposanten Chefin stand.

Direkt neben der Sitzbank war ein dunkler, eher unscheinbarer, aber noch feuchter Fleck zu sehen. Die große Frau ging laut ächzend in die Knie, wischte mit dem Zeigefinger über den Fleck und roch dann an ihrem Finger. Als sie sich offenbar eine Meinung gebildet hatte, kam sie, diesmal noch stärker ächzend, wieder in die Höhe und hielt Schulte den Finger direkt vor die Nase. Der zuckte erschrocken zurück, aber das half ihm wenig. Der Finger folgte ihm, und so hatte er keine andere Wahl, als wenigstens den Anschein zu erwecken, daran zu schnuppern. Dann zuckte er ratlos die Achseln. Renate Burghausen schien seine Reaktion erwartet zu haben und lächelte nachsichtig.

„Kennen Sie den Geruch nicht? Hatten Sie früher kein Moped oder ein Mofa? Ich würde es nicht beschwören, aber ich tippe auf ein Benzin-Öl-Gemisch für einen Zweitaktmotor. Also wahrscheinlich ein Mofa oder so. Der Fleck ist noch nicht alt. Könnte also mit dem Mord zu tun haben, muss aber nicht.“

Schulte, der heilfroh war, nicht mehr diesen wurstdicken Zeigefinger vor der Nase zu haben, schaute sich noch einmal zu Renate Burghausen um.

„Okay, dann suchen Sie mal weiter. Ich werde jetzt Klingelmännchen spielen und die Nachbarn besuchen. Haben Sie eigentlich schon Kontakt zur Heimleitung gehabt?“

Frau Burghausen nickte und zeigte auf eine mittelalte Frau, die etwas entfernt stand und traurig über die ungewöhnliche Szenerie blickte.

7

1984

Auf der Strecke von Warburg bis Detmold konnte man die Hörspielkassette Pumuckl und sein Freund Meister Eder genau zweieinhalb Mal hören. Das wusste Schulte jetzt. Und er wusste auch, dass die Strecke von Warburg nach Detmold die höchste Dichte von stationären Blitzern in ganz Nordrhein-Westfalen aufzubieten hatte. Selbst für Schulte, dessen Bulli mit seinen siebenundvierzig PS die hundert Kilometermarke nur selten, und wenn, dann überhaupt nur bergab, erreichte, war diese Straße vermintes Gebiet. Denn kaum hatte seine Blechkiste Fahrt aufgenommen und eine Geschwindigkeit von ansatzweise neunzig Stundenkilometer erreicht, kam auch schon die nächste Geschwindigkeitsbegrenzung und damit der nächste Starenkasten. Also musste Schulte wieder abbremsen. Irgendwann, kurz hinter Steinheim, war er es leid. Er fuhr einfach nur noch siebzig. Zwar wurde er mit seinem Fahrzeug dadurch zum allgemeinen Verkehrshindernis und zog den Ärger der anderen Autofahrer auf der Ostwestfalenstraße auf sich. Aber das war ihm ziemlich egal. Die Entscheidung, nicht mehr ständig die Geschwindigkeit zu wechseln, fiel genau zu dem Zeitpunkt, an dem die Pumuckl-Kassette das zweite Mal durchgelaufen war. Schulte, mittlerweile ziemlich runter mit den Nerven, wagte ganz vorsichtig den Vorstoß, vielleicht jetzt mal eine Kassette aus seinem Repertoire zu hören. Das jedoch lehnte Ina strikt ab. Sie hätte, so behauptete sie, bei Oma im Haus von ihm das Versprechen bekommen, während der Fahrt Pumuckl zu hören. Schulte überlegte, ob er diskutieren sollte. Entschied sich jedoch dagegen.

Es war nicht einmal dreizehn Uhr, als Schulte seinen Bulli vor der Kreispolizeibehörde stoppte. Sie hatten noch zwei Stunden Zeit bis zu dem Vorgespräch mit seinem zukünftigen Chef.

„Was meinst du, Ina, gehen wir in die Stadt, Mittagessen?“, versuchte Schulte der Pumuckl-Session ein jähes Ende zu bereiten.

„Au ja, ich nehme Pommes mit Majo.“ Seine Tochter war begeistert. Gemeinsam gingen sie die Hornsche Straße, Richtung Innenstadt entlang, um alsbald in die Leopoldstraße einzubiegen. Vor dem Gebäude der Bezirksregierung, einem hässlichen Hochhaus, blieben sie stehen. Schulte sah es sich an und knurrte sich in den Bart: „In dem verdammten Kasten sitzt wahrscheinlich das Arschloch, das mich nach Detmold versetzt hat.“

Ina sah Schulte mit strenger Mine an und sagte: „Meine Lehrerin behauptet, verdammt sagt man nicht und Arschloch erst recht nicht.“ Dann zwinkerte sie Schulte zu und meinte verschwörerisch: „Wenn Frau Pohlmeier nicht dabei ist, sage ich die Wörter aber auch manchmal, und Blödmann sage ich auch noch.“

Schulte grinste und strich ihr sanft durch die Haare.

Als die beiden von der Exterstraße kommend in die Lange Straße einbogen, staunte Schulte nicht schlecht. Was für eine ansehnliche Stadt, wenn auch mit einem hässlichen RP-Gebäude gestraft. Wieso wusste er eigentlich nicht, dass die Innenstadt Detmolds so schön war? Wenn hier jetzt auch noch ein bisschen was los war, war die Versetzung nach Detmold vielleicht doch nicht ganz so schlecht.

Nach ein paar hundert Metern, Schulte staunte immer noch, meldete sich Ina zu Wort: „Rudolf’s Rostbratwurst“, las sie langsam vor. „Ob es da wohl auch Pommes gibt?“

Fünf vor drei betraten Schulte und seine Tochter die Detmolder Kreispolizeibehörde. In dem Glaskasten saß ein dicker Polizist mit einer Panzerknackervisage. Wie es der feiste Kerl wohl zur Polizei gebracht hatte, fragte sich Schulte irritiert.

Der Dicke starrte den Mann und das Mädchen unverhohlen an.

„Was ist?“, fragte er unfreundlich. Die beiden schienen zu stören.

„Kommissar Schulte“, stellte er sich dem Polizeimeister vor.

„Ja schön, und?“, fragte der Dicke dämlich. Schulte betrachtete den Mann. Er trug kein Namensschild.

„Wie heißen Sie, Herr Polizeimeister?“, fragte er den Polizisten hinter der Glasscheibe etwas verärgert und konnte den Gedanken, was das denn für ein Blödmann sei, nicht verhindern.

„Äh, ja, ich meine, ich heiße Egon Volle“, brachte er umständlich hervor.

„Also, Kollege Volle, mein Name ist Jupp Schulte. Ich bin der neue Kommissar hier bei der Kreispolizeibehörde Detmold. Ich habe um fünfzehn Uhr einen Termin bei Hauptkommissar Grabowski. Würdest du mich bitte bei ihm anmelden?“

„Ja, äh, wie jetzt?“ Kaum zu glauben, das Gesicht des Polizisten nahm einen noch dämlicheren Ausdruck an.

„Mann, Volle, nun sei doch nicht so vernagelt. Das ist doch bescheuert. Ruf einfach meinen neuen Chef an und sag ihm, dass ich da bin.“

„Bescheuert sagt man nicht“, kam es von Ina.

„Genau“, sagte Volle und grinste Schultes Tochter dankbar an.

„Mein Gott, Volle, was ist denn nun? Wenn hier nicht bald was passiert, dann hole ich dich aus dem Glaskasten raus, setze mich auf deinen Platz und rufe den Chef selber an. Und du fährst zukünftig wieder Streife“, raunzte Schulte den Mann hinter der Scheibe an und verdrehte die Augen.

Während Volle „Der ist nicht da!“ nuschelte und sich anschließend verlegen die Fingernägel polierte, maulte Ina. „Mensch, Papa, sei nicht so unfreundlich!“

Schulte raufte sich die Haare, ignorierte seine Tochter und stöhnte genervt: „Wie? Der ist nicht da?“

„Ist noch in der Mittagspause“, gab Volle kleinlaut zum Besten. „Der Chef wohnt ja gleich hier um die Ecke, in Remmighausen. Mittags isst er immer zu Hause.“

„Und wo ist sein Büro?“

„Erster Stock, Zimmer 100.“

„Dann lass mich rein. Ich warte auf ihn“, befahl Schulte dem Dicken.

„Geht nicht, ich darf keine Zivilisten in das Gebäude lassen“, entgegnete Volle.

Schulte kramte in der Tasche und hielt ihm den Dienstausweis unter die Nase.

Hastig drückte Volle auf den elektronischen Türöffner und nuschelte: „Darf ich eigentlich gar nicht, für jeden x-Beliebigen die Tür aufmachen.“

Schulte war schon fast durch die Tür, da hörte er hinter sich ein Räuspern und die Worte: „Genau, Volle, darfst du nicht! Wir sprechen uns noch.“

Schulte hatte die Eingangstür zu dem eigentlichen Polizeigebäude schon fast passiert, als er die Stimme vernahm, und er drehte sich wieder um. Er sah einen jetzt schwitzenden Volle und einen stiernackigen, kräftigen Mann mit Kinnbart.

„Junger Mann, wer sind Sie, dass Sie in meiner Polizeibehörde einen meiner Beamten anschnauzen?“, stellte ihn der Stiernackige mit befehlsgewohnter Stimme zur Rede.

„Kommissar Schulte.“

„Und ich bin Ina“, kam es von Schultes Tochter, etwas ängstlich.

„Kommissar Schulte? Sagt mir nichts.“ Der Stiernacken zuckte mit den Schultern und räusperte sich.

„Sollte es aber“, entgegnete Schulte kühl und wusste augenblicklich, dass er und dieser Mann keine Freunde wurden.

Er sah demonstrativ auf die Uhr und sagte dann möglichst unterkühlt. „Denn wir hatten vor genau fünfzehn Minuten einen Termin, Hauptkommissar Grabowski.“

„Na, nun riskieren Sie mal am ersten Tag nicht gleich eine dicke Lippe, Herr Schulte.“ Dann wies er auf Ina und sagte: „Und ein Kindergarten sind wir auch nicht.“

„Ich helfe meinem Vater in den nächsten Tagen bei der Verbrecherjagd“, entgegnete die Kleine und grinste, ebenso wie Schulte, den Stiernacken an.

Der bekam eine Hustenattacke. Als er sich davon wieder erholt hatte, sah er Schulte böse an und hoffte, damit Eindruck zu machen. Doch da war er bei seinem neuen Kommissar an der falschen Adresse. Vorgesetzte waren noch nie Schultes Fall gewesen. Mir ist es egal, wer unter mir Chef ist, pflegte er zu sagen. Diese Haltung hatte ihm während seiner Zeit bei der Polizei schon öfter Ärger eingebracht.

„Also, was ist jetzt, Hauptkommissar Grabowski“, entgegnete Schulte gelassen. „Besprechung oder nicht?“ Er konnte Grabowskis Gedanken quasi von dessen Stirn ablesen: Dem Schnösel werde ich schon noch zeigen, wo Bartel den Most holt, nahm der sich wahrscheinlich vor.

Laut sagte Grabowski aber bloß: „Na, dann kommen Sie mal mit. Ihre Tochter kann bei Volle warten.“

In Grabowskis Büro zeigte sich Schultes Chef von der besten Seite. In zehn Minuten hatte er Schulte die Welt erklärt. Glaubte Grabowski jedenfalls. Denn er bemerkte nicht, dass Schulte schon nach dreißig Sekunden auf Durchzug gestellt hatte und gelangweilt aus dem Fenster sah. Als der Hauptkommissar seinen Vortrag mit: „Noch Fragen?“, beendet hatte, nickte Schulte.

„Das heißt: Ja, Herr Hauptkommissar“, schnauzte Grabowski.

„Okay, Herr Grabowski. Bin ich neben Ihnen der einzige Beamte im gehobenen Dienst in diesem Kommissariat, oder gibt es noch Kollegen?“ Dabei bemerkte er, dass sich sein neuer Chef angesichts der unmilitärischen Wortwahl gewaltig anstrengen musste, um nicht die Beherrschung zu verlieren. „Ja, es gibt noch Kommissar Lohmann. Der ist heute aber in Düsseldorf. Landespolizeimeisterschaft im Fußball. Aber die Pöhlerei auf Staatskosten gewöhne ich dem auch noch ab, das können Sie mir glauben, Herr Kommissar.“

„Wo ist mein Büro?“, schoss Schulte die nächste Frage ab.

„Raum 113. Neben Lohmann und Ihnen arbeitet noch Frau Meierjohann, Hedwig Meierjohann, bei uns. Sie ist Zivilistin, äh, ich meine, unsere Sekretärin.“

Wieder bekam Grabowski einen Hustenanfall.

„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte Schulte. Grabowski winkte ab.

„Ich glaube, mich hat eine Sommergrippe erwischt. Aber so was haut uns ja nicht um, oder, Herr Schulte? So eine kleine Grippe macht uns nur noch härter.“

Wieder hustete der Hauptkommissar. Dann fuhr er fort: „Was uns nicht umbringt …, na, Sie kennen diese Lebenseinstellung, sind ja durch unsere hervorragende deutsche Polizeischule gegangen. Da hat man es Ihnen ja beigebracht. Wir deutschen Polizisten, hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder …, na, lassen wir das. Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr. Ach, und übrigens, ich lege Wert auf Pünktlichkeit. Das schreiben Sie sich mal gleich hinter die Ohren, Kommissar.“ Grabowski wedelte mit der Hand und schob ein „Wegtreten!“ nach.

Schulte hingegen ging auf den Hauptkommissar zu, streckte seinem Gegenüber die Hand entgegen, und als der verblüffte Grabowski sie nahm, sagte Schulte artig: „Auf Wiedersehen, Herr Grabowski, wir sehen uns dann morgen.“ Anschließend machte er einen Diener. Seine Mutter hätte ihre wahre Freude an dem wohlerzogenen Sohn gehabt. Und Schulte freute sich auch, als er den völlig verdatterten Hauptkommissar anlächelte.

Als Schulte wieder am Eingang ankam, legte Ina fünf Spielkarten vor Volle auf den Tisch. „Das ist doch eine große Straße, oder, Egon?“

8

Schulte hätte es voraussagen können – die Befragung der Nachbarn war nichts als Zeitverschwendung. Niemand hatte im fraglichen Zeitraum etwas gehört, geschweige denn gesehen. Niemand wohnte in direkter Nachbarschaft, selbst die nächstliegenden Häuser waren mehr als einen Steinwurf entfernt. Auch die Leiterin des Altenheimes versiegte als Informationsquelle enttäuschend schnell. Die alten Bewohner des Heimes lagen vermutlich zur Tatzeit alle im Bett und schliefen, das diensthabende Personal war entweder beschäftigt gewesen oder hatte vor dem Fernseher gesessen.