Fürstliches Alibi - Jürgen Reitemeier - E-Book

Fürstliches Alibi E-Book

Jürgen Reitemeier

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Beschreibung

Ein Toter im Park und jede Menge geklauter Autos. Viel zu tun für die Kollegen der ­Detmolder Polizei. Auf verschlungenen Pfaden geht es quer durch Ostwestfalen-Lippe. Mit dem ­liebenswert chaotischen Polizistentrio aus dem Lipperland ist dem Autorenteam ein großer Wurf gelungen. Ein Regional-Krimi mit Pep. Hoffentlich hören wir noch mehr von Schulten Jupp, Maren ­Köster und Axel Braunert.

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Reitemeier / Tewes · Fürstliches Alibi

JÜRGEN REITEMEIER WOLFRAM TEWES

Fürstliches Alibi

PENDRAGON

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Impressum

Vorwort:

Zugegeben … normalerweise spielen Krimis in Palermo, Tokio oder New York. Dieser spielt in Ostwestfalen.

Was in jenen magischen Städten die ,ehrenwerte Gesellschaft’ und die Wall Street sind, sind hier Schützenverein, Sparclub und Tippgemeinschaft. Aber … hüben wie drüben träumt man vom großen Geld und der schnellen Mark. Doch oft bleibt nur der Katzenjammer.

Müssen wir noch erwähnen, dass alle Namen und Personen frei erfunden sind? Andererseits … wer sich den Schuh anzieht, dem passt er!

1

Der ungewöhnlich warme Oktober hatte das Gras noch einmal kräftig wachsen lassen.

Rudi Lüke schwang sich brummig auf den Rasentraktor und startete das Gerät, das er eigentlich schon winterfest machen wollte. Er steckte seine gerade angezündete Zigarette zwischen die Zähne, zog seine Baseballmütze tiefer in die Stirn, um sich gegen die tief stehende Herbstsonne zu schützen und ratterte los. Sicherlich würde es weit über eine Stunde dauern, die über zweitausend Quadratmeter Rasenfläche rund um den schlossähnlichen alten Herrensitz zu mähen und diese Zeit hatte er eigentlich nicht übrig. Rudi Lüke war angestellt, um das alte herrschaftliche Haus wieder in Schwung zu bringen und nicht zum Rasenmähen. Wie sollte er mit dem Haus weiterkommen, wenn er ständig diese Hilfsarbeiten allein erledigen musste?

Seine Anfragen nach zusätzlichen Arbeitskräften waren ebenso regelmäßig wie erfolglos. Leopold Gockel, der Gutsverwalter, ließ absolut nicht mit sich reden.

„Der sitzt auf dem Geld, als wenn’s sein eigenes wäre,“ brummte Lüke vor sich hin und umkurvte schneidig einen Haselnussbusch. Aber was soll’s? Demnächst sollten ja einige Polen oder Russen hier auf dem Gut wohnen und arbeiten. Dann würde er sich schon ein paar Arbeitskräfte abziehen. Nach einer Viertelstunde hatte er bereits einem ordentlichen Teil des Parks einen zackigen Bürstenschnitt verpasst. Lüke tankte sein Gefährt auf, leerte den Auffangkorb und startete durch zur zweiten Runde. Er hatte es eilig. Es war bereits später Nachmittag und der Abend stand vor der Tür. Er hatte zwar noch nichts Konkretes vor, plante aber einen netten Abend mit Freunden in Detmold oder beim TBV Lemgo, dem lippischen Handball-Bundesligisten. Der war seine große Leidenschaft. Vor drei Jahren hatte ihm die eskalierende Meisterschaftsfeier anschließend einige Tage Bettruhe abverlangt. Und heute Abend gab’s ein Nachholspiel gegen den Lokalrivalen GWD Minden.

Schnell noch unter der großen Trauerweide durch. Er zog den Kopf ein, als er in die Wand aus herunterhängenden Zweigen stieß.

Plötzlich heulte der Rasenmäher auf, gleichzeitig gab es einen heftigen Stoß. Rudi Lüke trat hektisch auf die Bremse, stellte erschrocken den Motor aus, stieg vom Traktor und ging zurück zu der Stelle um nachzuschauen.

Aber da lag keine Baumwurzel, auch kein Erdhaufen…

Da lag ein Mann! Und der sah gar nicht mehr gut aus.

2

Hermann Rodehutskors biss sehr vorsichtig in den mitgebrachten Apfel, um sein empfindliches Zahnfleisch zu schonen.

Seit rund fünfundzwanzig Jahren war er Redakteur bei der ‘Heimatzeitung’ und spezialisiert auf die Abteilung ‘Lob und Hudel’, wie seine Kollegen spotteten. Rodehutskors war zuständig für…? Ja, für was eigentlich? Als dienstältester Redakteur nahm er sich die Freiheit, seinen Zuständigkeitsbereich für sich Maß zu schneidern. Sein Wahlspruch lautete stets: Kompetenzen bekommt man nicht, Kompetenzen nimmt man sich! Er war nicht, wie für seine jüngeren Kollegen selbstverständlich, für eine bestimmte Stadt innerhalb des Verbreitungsgebietes zuständig. Rodehutskors schrieb, was ihm Spaß machte. Spaß machten ihm vor allem gesellschaftliche Ereignisse, Empfänge, Bälle und so weiter. Nicht dass er ein großer Tänzer oder sonstiger Partylöwe wäre, nein, das war nichts für ihn. Vielmehr war er ein leidenschaftlicher Freund von warmen und kalten Büfetts. Und so gab es keine Hochzeit, keinen wichtigen Geburtstag in Prominentenkreisen ohne Hermann Rodehutskors.

An diesem kühlen Sonntagabend saß er an seinem alten Schreibtisch und focht einen harten Kampf gegen seinen Intimfeind, den PC. Einen Kampf, bei dem er meistens unterlag und bei dem er Schützenhilfe bei einem der jungen und schnöseligen Volontäre anfordern musste. Sollten die ruhig über ihn lachen! Wenn er ihnen auch in technischen Belangen ständig unterlegen war, besaß er doch geradezu einen Overkill an Beziehungen und Erfahrungen. Und die waren für einen Lokalredakteur allemal wertvoller.

Noch heute Mittag war Hermann Rodehutskors bei einem gesellschaftlichen Großereignis gewesen. Der Fürst hatte eine Fuchsjagd mit Meute veranstaltet. Eine Schleppjagd war nun wahrhaftig nichts Alltägliches in der lippischen Provinz. Fünfzig Jagdgesellen hatten bei bitterkaltem aber trockenem Herbstwetter teilgenommen. Ross und Reiter mussten auf der etwa zwölf Kilometer langen Strecke dreißig Sprünge bewältigen. Es wurde, je nach Leistungsstärke, in zwei Gruppen geritten. Das nicht springende Feld führte der Jagdherr an, der Fürst persönlich. Diese Gruppe durfte die bis zu einem Meter hohen Hindernisse umreiten. Das attraktive, aber sportlich auch anspruchsvollere springende Feld wurde angeführt vom Baron von Exterstein. Über den hätte Hermann Rodehutskors viel zu erzählen gewusst, aber das gehört nicht hierher. Ein andermal vielleicht.

Auf halber Strecke wurde eine Rast eingelegt, auf der die Pferde Hafer in Körnerform und die Reiter Weizen in anderer Form, aber auch als Korn, zu sich nahmen.

Das Wichtigste an so einer Jagd war natürlich die Meute, die die Fährte des ‘Fuchses’ aufnehmen musste. Vierundzwanzig Foxhounds waren es, die in Topform hinter dem künstlichen Wild herpreschten.

Zuschauer, Gäste und natürlich Hermann Rodehutskors als Vertreter der lokalen Presse konnten von markanten Punkten aus die Jagd verfolgen. Das Ganze begleitete die Jagdhornbläsergruppe „Teutoburg“ mit jagdlichen Signalen. Zum Finale mit dem Höhepunkt jeder Jagd, dem schönen Lied: ‘Die Sau ist tot’.

Leider konnte Hermann Rodehutskors das anschließende gemütliche Beisammensein nur kurz genießen, da er dringend in die Redaktion zurück musste. Das Redaktions-Textverarbeitungssystem schloss um 21.30 Uhr für die morgige Ausgabe. Und darin hatte man ihm Platz für drei Fotos und etwa zweihundert Textzeilen frei gehalten. Früher hätte er darüber gelacht, so was war für einen altgedienten Redakteur ‘n Klacks! Aber seit einem Jahr gab es diesen verdammten Ganzseiten-Umbruch am Bildschirm. Und das war nicht seine Sache. Um etwa 20.30 Uhr hatte er die Schnauze voll! Resigniert und wütend winkte er Thomas, den Volontär, zu sich.

„Zehn Mark, wenn du den Mist hier für mich bis halb zehn fertig machst!“, damit überreichte er dem jungen Mann seinen, mit der alten IBM-Kugelkopfschreibmaschine geschriebenen Entwurf und die noch einzuscannenden Fotos.

„Zwanzig“, konterte Thomas Hansen, der seinen Vorteil erkannte.

„Zehn Mark, und keinen Pfennig mehr, sonst schicke ich dich am Wochenende zum Erntedankfest, zu den Kaninchenzüchtern, der Landfrauenvereinigung und …!“

„Is’ ja schon gut“, seufzte Thomas Hansen. „Ich mach’s ja!“

Durch diesen kleinen Triumph wieder etwas in seiner Ehre rehabilitiert, hatte er sich seinen alten, aber warmen Lodenmantel angezogen und war raus gegangen.

Wieder einmal stöhnte er, als er seinen stattlichen Bauch in den Kleinwagen zwängte.

„Da zeigt sich, was dem Verleger seine Redakteure wert sind“, brummte er. „Einen Polo, unglaublich!“

Es wäre nur ein kleiner Fußmarsch, etwa ein Kilometer gewesen, vom Pressehaus der Heimatzeitung bis hin zum fürstlichen Schloss. Aber laufen war nicht seine starke Seite.

„Wenn Gott gewollt hätte, dass ich laufe, dann hätte er mir Räder an die Beine montiert!“, pflegte er auf entsprechende Vorwürfe seiner Frau zu antworten.

3

Rudi Lüke war kreidebleich! Als er die Fleischwunden sah, die der Rasenmäher gerissen hatte, musste er sich übergeben. Ihm dröhnte der Kopf, es flimmerte vor seinen Augen. Er hatte gerade mit dem Rasenmäher einen Mann überfahren. Es war ihm unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen, er torkelte über die frisch gemähte Wiese. Was war zu tun? Die klaffenden Wunden schoben sich wieder in sein Bewusstsein. Vielleicht lebte der Mann ja noch. Er musste zurück zur Unfallstelle, doch er brachte die Kraft nicht auf.

Sollte er die Polizei rufen? Den Krankenwagen? Was, wenn der Mann jetzt verblutet?

Er zündete sich eine neue Zigarette an, sog gierig den Rauch ein. Seine Bewegungen waren noch hektischer als sonst. Er rannte ziellos durch den Park. Gedanken schossen ihm durch den Kopf und endeten im Nichts.

4

Hermann Rodehutskors war dem Schlosspförtner bestens bekannt. Er konnte ohne sich auszuweisen durch die Sperre auf den bewachten Parkplatz des Fürsten fahren. Die letzten zweihundert Meter bis zum Schloss musste er allerdings zu Fuß gehen. Sänften gab es nicht. Mit ihm zogen einige ordenbehängte und mit Schärpen verzierte ältere Herren, ihre genauso alten, aber noch schriller herausgeputzten Damen am Arm, durch den kleinen Schlosshof. Ihm fiel das bevorstehende Großereignis „Vierhundert Jahre Detmolder Schützenverein“ ein. Rodehutskors war begeisterter Schütze und noch vor zwei Jahren hatte er es zum Schützenkönig gebracht. Bei dem Versuch seine fünfundzwanzig Jahre jüngere Nachbarin als Königin zu nehmen hatte dann der Haussegen doch gewaltig schief gehangen. Es gab eben immer das berühmte Haar in der Suppe. Die Gesprächsfetzen, die vom Schloss her herüber schallten, riss ihn aus seinen Gedanken. Der gesellschaftlich relevanteste Teil der Jagd lief gerade auf Hochtouren. Die Nachfeier in großer Garderobe!

Er fühlte sich dennoch nicht etwa underdressed. Nein, man kannte ihn und seine abgetragenen Anzügen, die er auch auf allen Festlichkeiten anhatte. Es gab eine Ausnahme im Jahr, das war zum Detmolder Schützenfest. Dann holte er seinen schwarzen Anzug aus dem Schrank.

Hermann Rodehutskors war eine nicht wegzudenkende Instanz. Die feinen Herrschaften mochten ruhig die Nase über ihn rümpfen. Der Verlockung eines Interviews und eines Fotos in der Presse konnte keiner von ihnen widerstehen. Ihre Eitelkeiten und Geltungssucht waren sein Geschäft.

Oh, er wusste, wie man mit diesen „feinen Pinkeln“ umzugehen hatte. Egal, ob alter Adel oder Geldadel, egal ob politisch oder klerikal. Bloß nicht einschüchtern lassen!

Nach knapp einer halben Stunde hatte er den ersten Film verknipst und mehrere Gläser Champagner mit mehr oder weniger wichtigen Leuten getrunken. Er fühlte sich pudelwohl. Das hier war sein Zuhause, an der ‘Front’ und nicht an dem trostlosen PC.

Manche der Männer hier waren neureiche Aufsteiger, ohne guten Namen und ohne jeden Stil. Sie besaßen aber etwas reichlich, das bei vielen der anwesenden Adeligen peinlich knapp war. Geld! So entstanden gut funktionierende Symbiosen. Beide Seiten hatten etwas zu bieten, was der anderen Seite fehlte. Der eine brachte das Geld auf, ohne das der feine Lebensstil unmöglich wäre. Dafür schmückte sich der Geldsack mit den erlauchten Namen seiner adeligen Freunde, ohne die sein Reichtum immer seelenlos bliebe.

Nach eineinhalb Stunden etwa dozierte neben Rodehutskors ein junger Mann über seine verantwortungsvolle Tätigkeit im Detmolder Wirtschaftsleben. Rodehutskors grinste innerlich. Er wusste, dass dieser junge Dandy ein kleiner Bankangestellter war, dessen Kompetenz kaum über das Sortieren von Buchungsbelegen hinausging. Aber er hatte es irgendwie geschafft, die Tochter eines kleinen lippischen Landadeligen zu heiraten.

„Ah, die Presse!“, schleimte der Dandy. „Wenn Sie Näheres über die heutige Jagd erfahren möchten, dann sprechen Sie doch mit dem Bruder meines Schwiegervaters, dem Baron von Exterstein. Der hat die gesamte Organisation von Anfang bis Ende in seiner Hand gehabt.“

Er hakte sich bei dem Pressemann unter, was diesem überhaupt nicht recht war, und führte ihn zu einer greisen Dreiergruppe, die aus einer völlig senilen Baronin, einer hinreißend hässlichen Fabrikantenfrau und dem Baron von Exterstein bestand, der hier seiner Rolle als Schwerenöter gerecht zu werden versuchte.

„Lieber Onkel, darf ich dir Herrn Rodehutskors vom Heimatblatt vorstellen?“

Der junge Mann begann mit einer ausschweifenden Vorstellung, die der alte Baron ohne jedes Mitgefühl unterbrach.

„Aber, aber! Natürlich kenne ich Herrn Rodehutskors!“, dröhnte er jovial und stellte ihn seinerseits den anwesenden Damen vor, was der Redakteur mit einer gekonnten Verbeugung krönte. Das musste man ihm schon lassen.

„Jetzt bin ich schon fast zwei Stunden hier und musste wirklich bis nach zehn Uhr warten, bis die Presse auf mich aufmerksam wird. Ja, ja. Im Alter wird man uninteressant!“

Der Baron war groß und schlank, mit einer imponierenden Nase über einem dünnen weißen Schnurrbärtchen. Er steckte in einem ‘Stresemann‘. Für seine fast 65 Lebensjahre hatte er sich recht „stramm“ gehalten. Er war ein bekannter und begeisterter Reitersmann, weshalb ihm auch bei der heutigen Jagd die entscheidende Rolle als Führer der springenden Meute zugestanden worden war.

„Großartige Jagd heute, nicht wahr, Herr Redakteur? Haben Sie alles gesehen?“

„Aber selbstverständlich, Herr Baron! Ein solches Ereignis darf und will sich die lokale Presse nicht entgehen lassen. Mein Kompliment, Herr Baron, Sie haben das springende Feld wieder einmal souverän geführt. Da spürt man die alte Schule!“

„Apropos alte Schule“, lachte der alte Herzensbrecher, postierte die eine Dame links und die andere rechts von sich, legte beiden den Arm um die mächtigen Hüften und brachte sich selbst laut lachend in Fotostellung.

Hermann Rodehutskors wusste, was von ihm erwartet wurde und ließ sich nicht lange bitten. Fünf Fotos von dieser morbiden Gruppe, das musste reichen.

„Steht Dienstag in der Zeitung! Für morgen ist es nämlich schon zu spät“, versprach er jovial.

Der alte Herr lachte, entschuldigte sich bei den Damen und führte Hermann Rodehutskors zum Büffet.

5

Leopold Gockel raste mit einem mittelschweren BMW Richtung Hannover. Die A2 war, wie immer montags, voller Autos, viele mit polnischen Nummernschildern. Er benötigte schon Hupe und Lichthupe gleichzeitig, um die nach Osten rollende Blechlawine auszumanövrieren. Der BMW-Fahrer fuhr unkonzentriert, was eigentlich nicht seine Art war. Heute Morgen hätte er die Edel-Karosse von seinem Chef Heinz Zylinski, einem ehemaligen Schrotthändler und nun sein aktueller Brötchengeber, in Empfang nehmen sollen, um sie nach Frankfurt an der Oder zu überführen. Doch Zylinski war nicht am verabredeten Ort gewesen, obwohl er gestern noch angerufen hatte, um einen weiteren Auftrag anzukündigen, den Gockel für ihn ausführen sollte. Der Wartende hatte das Anwesen des Geschäftsmannes abgesucht. Er war nicht aufzufinden.

Leopold Gockel wunderte sich darüber, dass er den BMW, den er überführen sollte, unverschlossen vorfand. Zu allem Überfluss steckte sogar der Schlüssel. Jetzt fiel ihm auf, dass auch die Hunde, zwei weiße hässliche Kampfmaschinen, nicht in ihrem Zwinger waren. Sicherheitshalber setzte er sich ins Auto. Dort wartete er vergeblich, wurde immer unruhiger. Er hatte Zeiten einzuhalten. Einmal war er zu spät in Frankfurt an der Oder angekommen. Der russische Geschäftspartner seines Chefs hatte getobt und Gockel hatte später das Gefühl, einer Tracht Prügel nur haarscharf entgangen zu sein. Anschließend hatte ihm auch Zylinski zu Hause die Hölle heiß gemacht.

Irgendetwas war heute Morgen anders als sonst. Gockel zog den Kragen seiner Anzugjacke hoch. Ihn fröstelte. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Unruhe machte sich in ihm breit. Er konnte die Ursache nicht genau bestimmen. War das Warten der Grund dafür oder gab es einen anderen Grund? Er fühlte sich auf einmal nicht mehr wohl hier zwischen den Altautos, so fasste er den Entschluss, nicht länger auf seinen Chef zu warten. Er zündete den Motor und rollte vom Hof.

Gockel dachte über Zylinski nach. Das war schon ein seltsamer Typ. Er machte Geschäfte jeder Art, verkaufte Autos, handelte mit alten Werkzeugmaschinen und britischem Rindfleisch. Seit einiger Zeit war er Kreistagsabgeordneter, selbstverständlich für die Partei, die seit kurzem die Mehrheit hatte. In den letzten Jahren versuchte er sich als recht erfolgreicher Immobilienmakler und Bauunternehmer. Vor kurzem hatte er einem verarmten Adeligen sogar ein altes Rittergut abspenstig gemacht. Gestern hatte Gockel in der „Landeszeitung“ gelesen, dass Zylinski von irgendeiner Verbandsversammlung zum Vorsitzenden des Festkomitees „Hundertfünfundzwanzig Jahre Hermannsdenkmal“ gewählt worden war. Gockel würde sich nicht einmal mehr darüber wundern, wenn der gute alte „Hermann“ mittlerweile auch Zylinski gehören würde.

LKW-Flotten der großen Supermarktketten lieferten sich ihre ganz privaten Rennen an den Bergen von Bad Eilsen. ALDI fuhr heute gegen REWE! Dieser Wettkampf der Könige der Landstraße riss Gockel aus seinen Gedanken Er ging in die Eisen. Die eh schon vorhandene Unruhe verstärkte sich durch die Störung des Verkehrsflusses von Sekunde zu Sekunde. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Das Überholmanöver dauerte jetzt schon über drei Minuten.

„Man sollte meinen, die machen das extra“, dachte Leopold Gockel. Womit er vermutlich nicht mal Unrecht hatte.

Er legte die Hand auf die Hupe und betätigte gleichzeitig den Hebel für die Lichthupe. Ein Dauersignalton ertönte. Jetzt war er es leid! Gockel zog den BMW nach rechts, schaltete „runter“, schoss auf dem Standstreifen an den nebeneinander fahrenden Brummis vorbei und setzte sich, vor den LKWs, wieder dahin, wohin ein BMW gehört: Auf die Überholspur!

Nach geglücktem Überholmanöver ließ Gockel die Seitenscheibe der Fahrertür herunter. Er zeigte den nun ihrerseits hupenden LKW-Fahrern den Stinkefinger, sah lachend in den Rückspiegel, in dem er beobachten konnte, wie ihm einer der Landstraßenkapitäne mit dem größten Schraubenschlüssel drohte, den Leopold Gockel je gesehen hatte.

In diesem Moment lenkte ein „Polenfiat“ mit vollbepacktem Dachgepäckträger aus unerklärlichen Gründen auf die Überholspur. Als der seinen Spurwechsel fast abgeschlossen hatte, konzentrierte sich Leopold Gockel endlich wieder auf die Fahrbahn und stand im nächsten Moment auf der Bremse. Er alterte in den nächsten Sekundenbruchteilen um Jahre, riss das Lenkrad nach links, fuhr an dem Fiat vorbei. Jedoch bestimmte die Leitplanke seine Richtung. Die Büsche, die Männer der Straßenmeisterei unter Lebensgefahr vor einiger Zeit gepflanzt hatten, wurden von dem Auto entwurzelt und flogen in hohem Bogen durch die Luft.

Dann hatte Gockel den Wagen wieder unter Kontrolle und den Fiat hinter sich. Die Insassen des überladenen Autos störten sich nicht weiter an dem zeternden BMW-Fahrer, der gerade versuchte, sie zum Halten auf dem nächsten Rastplatz zu bewegen, auf den er dann auch fuhr. Sie nahmen in aller Seelenruhe weiter Kurs Richtung Hannover.

Leopold Gockel startete wieder durch um das Auto zu verfolgen. Doch vor ihm befanden sich wieder die zwei nebeneinanderfahrenden Laster. Gockel lagen die Nerven blank.

Noch tausend Meter bis zur Abfahrt Bad Münder! Gockel hupte wütend. Endlich, der links fahrende ALDI-LKW beendete seinen Überholvorgang. Leopold Gockel schoss mit seinem Gefährt rasant an den Lastern und an der Ausfahrt vorbei, auf der gerade der polnische Fiat die A2 verließ.

Wütend schlug Leopold Gockel mit beiden Händen auf das Lenkrad. Am liebsten hätte er hineingebissen.

Da, wieder ein Hinweisschild auf einen Parkplatz. Er steuerte ihn an, stoppte den Wagen und stieg aus ohne den Motor abzustellen. Er wollte sich den Schaden ansehen, der beim Entlangschrammen an der Leitplanke entstanden sein musste. Die Tür fiel ins Schloss und verriegelte mit einem leisen „Klack“.

Am Auto waren einige leichte Schrammen und Dellen, nichts Großartiges. Nur der Türgriff der Fahrertür war vermutlich an einer Niete der metallenen Fahrbahnbegrenzung hängen geblieben, denn er fehlte!

Gockel war fassungslos. Er stand vor seinem verschlossenen Auto. Der Motor lief, der Schlüssel steckte im Zündschloss und die einstmals vorhandene Vorrichtung, die es ermöglichte die Tür zu öffnen, lag einige Kilometer weiter westlich auf dem Mittelstreifen der A2.

Um achtzehn Uhr musste er in Frankfurt/Oder sein. Diesen Termin durfte er nicht verpassen, das hatte ihm Zylinski ausdrücklich mit auf den Weg gegeben. Mit der Drohung, sonst sei er raus aus dem Ostgeschäft.

Nicht ein verdammtes Auto war hier, von dem er Hilfe erwarten konnte! Er spürte ein unangenehmes Ziehen in seiner Brust. Wenn doch zumindest eine Telefonzelle auf dem Parkplatz wäre, dann könnte er wenigstens Rudi auf dem Gut anrufen. Sein Handy lag fein säuberlich auf der Mittelkonsole des verschlossenen BMW.

Wütend suchte er nach einem ordentlichen Stein um die Scheibe des Wagens zu zerschlagen, aber nicht mal den gab es an diesem verfluchten Ort.

Da, ein Auto! Wirklich, ein Auto lief diesen Halteplatz an. Noch nie hatte diese stinkende ‚Rennpappe’ aus Zwickau bei ihm ein solches Glücksgefühl ausgelöst, wie dieser Plastebomber. Sonst hielten die Dinger ja immer nur den Verkehr auf, aber im Moment würde er schon einiges dafür geben mit dieser Errungenschaft des Sozialismus über die Autobahn zu donnern.

Er hetzte zu dem Auto, das gleich in die erste Parkbucht des Rastplatzes eingebogen war.

In der „DDR-Karosse“ saßen zwei junge Männer. Auf ihren bunten Stoppelhaaren trugen sie Baseballmützen mit dem Emblem eines roten Stieres.

Gockel befand sich in einer Zwangslage. Zum einen verunsicherten ihn die beiden Insassen. Zum andern wollte er die Situation, in der er sich befand, nicht an die große Glocke hängen. Gleichzeitig musste er so schnell wie möglich diese bayerische Nobelkarosse aufbekommen.

Er klopfte an das Seitenfenster des Trabbis. Der Fahrer kurbelte das Fenster runter.

„Hey“, versuchte es Gockel so locker wie möglich, „könnt ihr mich bis zur nächsten Raststätte mitnehmen?“

„Nein“, antwortete ‘Mütze I’ und kurbelte die Scheibe wieder hoch.

Gockel klopfte wieder, diesmal hektischer und energischer.

„Hau ab, Grufti!“, sagte ‘Mütze II’ „frag den Vertreter, der diesen BMW da fährt, wenn der vom Pinkeln zurück ist.“

„Ich bin, besser gesagt, war der Fahrer des BMW´s.“

„Dann setz dich in deine Kiste und verdufte!“

Die Scheibe wurde wieder hochgedreht. ‘Mütze I’ zeigte Gockel den fiesen Mittelfinger. Der jedoch drosch jetzt beinahe hysterisch mit beiden Fäusten auf das Dach des Fahrzeugs. Das gab Geräusche von sich, als würde auf einem Pappkarton getrommelt.

Wieder wurde die Scheibe herunter gedreht.

„Hey Alter, hast du einen Lattenschuss? Setz dich in deine Vertreterkiste und mach dich vom Acker! Sonst putzen wir dich von der Platte! Und mach endlich den Motor aus. Verpestet die ganze Luft, der Kerl!“

Gockel wollte gerade etwas erwidern, so in der Art wie: Zweitakter sind Stinkekisten, Dreckschleudern und so weiter, sagte dann aber nur:

„Geht nicht.“

‘Mütze II’ starrte ihn an, als hätte er es mit einem Wesen der „Dritten Art“ zu tun, stieg aus und sah sich den BMW an. Dann brüllte er laut los. Wahrscheinlich war das seine Art zu lachen. Nun kam auch der Beifahrer, peilte kurz die Lage und fing ebenfalls lauthals zu lachen an.

Nachdem sich ‘Mütze II’ wieder eingekriegt hatte, sagte dieser:

„Na gut, wer so blöd ist, der braucht dringend Hilfe. Okay, bis Raststätte Hannover und keinen Meter weiter.“

Gockel kletterte nach hinten. Der Trabbi wurde angeschmissen. Das ‘Perempempem’ des Motors war deutlich zu vernehmen.

Gerade wollte Gockel seine missliche Lage erklären, da stellte der Kopilot den Kassettenrecorder an. Der Gast auf dem Rücksitz sah verwundert durch das Heckfenster, konnte jedoch keinen Anhänger entdecken, auf dem die Verstärkeranlage, die diesen Sound erzeugen musste, mitgeführt wurde. Gleichzeitig bemerkte er, dass er auf der Abdeckung der Bass-Reflexboxen saß und nicht wie vermutet auf dem Rücksitz. Er hatte das Gefühl auf und ab zu hüpfen. Wo die Hoch- und Mitteltöner versteckt waren, konnte er nicht entdecken. Diese Frage ließ sein Vorstellungsvermögen auch nicht mehr zu, denn es war ihm unmöglich, sich zu erklären, wie ein so kleines Auto soviel Stauraum für eine solche Musikanlage zuließ. „Fünfundsiebzig Jahre lang, Haken für den Duschvorhang“, dröhnten ihm die `Toten Hosen´ in die Ohren. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er die Knatterkiste aus der Ex-DDR sofort wieder verlassen. Selbst der Weg durch das Fenster wäre ihm recht gewesen. Die damit verbundenen Schwierigkeiten waren ihm mittlerweile egal. Langsam wurde ihm schlecht. Er hatte das Gefühl einer ähnlichen Gehirnwäsche unterzogen zu werden, wie es dem hier besungenen „Alex“ widerfahren war. Aussteigen, nur aussteigen, egal, was das für Folgen mit sich brachte. Seine bemützten Mitfahrer verzogen keine Miene. Da endlich das Hinweisschild: Raststätte Hannover 5000 Meter. Das Ende der Folter war abzusehen. Noch fünf Minuten, die Leopold Gockel wie eine Ewigkeit vorkamen. Dann hielt der Trabi. Die beiden bemützten Männer ließen ihren Tramper grinsend aussteigen.

Dieser stürzte in die Büsche, die Bass-Rhythmen waren ihm so auf den ohnehin schon in Mitleidenschaft gezogenen Magen geschlagen, dass er sich übergeben musste. Nach geraumer Zeit kam er zurück zum Trabi.

„Zwanzig Mark!“, raunzte ihn der Fahrer an.

„Mein Geld ist in meinem Auto“, stöhnte Gockel, „aber in diese Kiste kriegen mich keine zehn Pferde mehr. Wenn ihr Eure Leistung bezahlt haben wollt, müsst ihr schon mit dem Mechanikerauto mit zurück fahren.“

„Mal sehen“, winkte ‘Mütze I’ ab und ging mit seinem Kumpel zur Raststätte. Auf dem Weg dorthin sagte er: „War ja gemein, aber diese Typen würden solchen Leuten wie uns nie helfen.“

Gockel ging in das Tankstellengebäude der Raststätte und verlangte den Chef. Die Frau an der Kasse sagte:

„Den Trick kenne ich schon, ich suche den Chef und Sie suchen die Kasse. Wenn Sie was von ihm wollen, dann müssen Sie ihn schon selber suchen. Er ist irgendwo da draußen auf dem Hof.“

„Irgendwo da draußen auf dem Hof? Was ist das für ein Drecksladen? Ich brauche dringend Hilfe und dann kriege ich so eine Antwort.“

„Na, nun bleiben Sie mal ganz ruhig. Männer mit BOSS-Anzügen kommen hier öfter rein und machen den dicken Max. Wo brennt es denn? Ihnen steht ja die Panik im Gesicht“.

Von hinten machten nun auch andere Kunden der Tankstelle ihrem Unmut Luft: „Was will der Kerl hier? Halt den Verkehr nicht auf! Ich muss um 18.00 Uhr in Berlin sein und der spielt sich hier auf.“

„Genau, wenn Sie was vom Chef wollen, dann suchen Sie Ihn doch, dies ist eine Kasse, hier wird bezahlt und nicht erzählt!“

Leopold Gockel merkte, dass er hier nicht weiter kam, auch wenn er unter anderen Umständen dieser Auseinandersetzung nicht aus dem Wege gegangen wäre. Heute war er angeschlagen. Das Pech der letzten Stunden saß ihm in den Knochen. Dies könnte sich in den nächsten Sekunden fortsetzen, also lieber raus hier, sonst war es möglich, dass er in wenigen Minuten am ersten Buchstaben der Markentankstelle hängen würde, so dick wie die Luft hier langsam aber sicher wurde. Also gab er klein bei und fragte hinter vorgehaltener Hand: „Wie sieht denn Ihr Chef aus?“

„Grauer Kittel, breit wie hoch, nicht zu übersehen, und jetzt nichts wie raus hier!“

6

Josef Schulte war dreiundvierzig Jahre alt und dunkelhaarig. Er hatte immer einen Dreitagebart. Seit er vor einem halben Jahr mit dem Rauchen aufgehört hatte, deutete sich ein leichter Bauchansatz an. Bestimmte Kollegen beschrieben ihn als schlampig, weil er immer diese Levis 105, oder was für eine Zahl auch immer das war, trug. Schon seit Beginn seines Polizeidienstes hier in Detmold trug er diese Hosen. Es wurde auch von ihm behauptet, dass er eine einzige, natürlich fertig gebundene, Krawatte im Schrank hängen habe. Den Knoten hatte angeblich noch sein Vater geknüpft, der jedoch schon vor zehn Jahren gestorben war. Wieder andere Kollegen bezweifelten selbst dieses, da sie ihn weder mit diesem legendären Stück noch mit einem anderen Schlips je gesehen hatten.

Josef Schulte war geschieden und der Grund für seine frühere Ehe war auch der Anlass, der ihn zum Polizisten werden ließ.

Damals in der Oberprima hieß es eines Morgens: „Schon gehört? Schulten Josef bekommt ein Kind!“ Eine Woche später hieß es dann nochmals: „Schulten Jupp kriegt schon wieder ein Kind!“ Das war zuviel für ihn und seine Mutter, damals Vorsitzende des katholischen Müttervereins der Altstadtpfarrei seiner Geburtsstadt Warburg. Sie machte ihm die ‘Hölle heiß’, bis er eine der werdenden Mütter ehelichte. Der anderen zahlte er Unterhalt, den er sich bzw. seinem Kind am Bau verdiente.

Dieser unerwartete Kindersegen veranlasste ihn, nicht wie geplant Soziologie und Sport zu studieren, sondern zur Polizei zu gehen.

In den langen Nächten, die er sich dann später im Polizeidienst um die Ohren schlug, hatte er oft über das fragwürdige Wochenende nachgedacht, an dem er zweifacher Vater wurde. Alle seine Freunde waren zur Party des damaligen Warburger Jugendzentrums Namens „KOM IN“ am Heinturm in der Nähe von Ossendorf gefahren. Nur er war zum Calenberger Schützenfest gegangen.

„Ich kann es nicht ertragen, wenn Heidi den ganzen Abend mit diesem blöden Typen rumknutscht!“, hatte er zu seinem Kumpel Bruno gesagt, bevor sich auf seine Kreidler Florett setzte und in die entgegengesetzte Richtung davon fuhr. An der Theke der Schützenhalle hatte er dann kräftig über die Strenge geschlagen und war fürchterlich abgestürzt. Um Mitternacht verdrückte er sich mit Erna ‚in die Büsche’. Kurz darauf stand er wieder vor dem Biertresen und kriegte ‚einen Moralischen’. Dies wiederum veranlasste Karin den armen Kerl zu trösten, der mittlerweile ziemlich groggy war. Karins Eltern waren übers Wochenende verreist und so nahm sie aus purem Mitleid den total betrunkenen Schulte mit nach Hause. „Wenn ich mich wenigstens noch erinnern könnte ob’s Spaß gemacht hat,“ jammerte er noch Jahre später.

Seit fünf Jahren war er nun bei der Kripo in Detmold. Als Hauptkommissar der Abteilung Diebstahl bekam er heute Morgen das dritte im Kreis geklaute Auto auf den Tisch und das innerhalb von vier Wochen. Insgesamt waren in diesem Zeitraum in Ostwestfalen zehn Autos als gestohlen gemeldet worden und allesamt keine alten Kisten. Und keine Spur, kein Hinweis, nichts.

Seinen Hörer hatte Josef Schulte vorsorglich neben das Telefon gelegt, denn er vermutete jeden Moment den Anruf des Polizeirats, der wahrscheinlich auch schon von dem gestohlenen Mittelklassewagen gehört hatte und ihm jetzt wieder Druck machen wollte.

Um dem zu entgehen, beeilte er sich seine Tasse Kaffee auszutrinken, die ihm Hedwig, der gute Geist der Abteilung, gekocht hatte. Er wollte dann zum Tatort fahren um mit dem Bestohlenen, einem Vertreter aus der Möbelbranche, zu reden. Vielleicht bekam er ja endlich einen Hinweis.

„Er war einfach weg!“

Der dicke Mann fuchtelte wüst mit den Armen herum. Der Schweiß lief ihm am roten, fast kahlen Kopf herunter und tropfte auf den blütenweißen Hemdkragen.

„Heute Morgen war’s! Ich ging nach dem Frühstück zur Garage und wollte ins Geschäft fahren. Da war er weg! Einfach weg!“

Der Möbelvertreter Wilhelm Grundkötter rang nach Luft.

Hauptkommissar Josef Schulte versuchte ihn zu beruhigen, indem er dem aufgebrachten Mann eine von dessen eigenen Zigaretten anbot. Er hätte ja selbst auch gern geraucht, aber das war vorerst vorbei.

„Lassen Sie uns mal weniger von heute Morgen reden,“ sagte er im Plauderton. „Ist Ihnen gestern Abend oder in der Nacht etwas aufgefallen?“

„Nee! Dann hätte ich ja sofort die Polizei angerufen.“

„Denken Sie doch mal genau nach. Hat jemand versucht Sie mit irgendwas abzulenken? Hatten Sie den Wagen korrekt abgeschlossen? Ich sehe, Sie haben eine abschließbare Garage. Das Torschloss ist immerhin geknackt worden. Haben Sie nichts gehört?“

Grundkötter dachte nach.

„Nein! Erst habe ich gestern Abend auf DSF Fußball geguckt. Ich stelle den Kasten immer ziemlich laut, weil ich ‘n bisschen schlecht höre. Dann bin ich ins Bett und habe geschlafen.“

„Leben Sie allein, Herr Grundkötter?“

„Aber sicher! Für mich ist die Mark noch ‘ne Mark wert und keine fünfzig Pfennig!“

Josef Schulte musste daran denken, dass er zwar auch allein lebte, aber für ihn die Mark durch zweifache Alimentenzahlung höchstens fünfunddreißig Pfennig wert ist.

„Ich werde mich dann mal bei ihren Nachbarn umhören. Offen gestanden glaube ich aber nicht, dadurch etwas Wichtiges zu erfahren. Hier waren ganz offensichtlich Profis am Werk. Wenn Ihnen noch was Interessantes einfällt, dann melden Sie sich bitte bei mir.“

„Mein schöner Volvo! Wahrscheinlich ist er jetzt schon kurz vor Warschau! Und ich Trottel habe ihn erst vorgestern gewaschen. Und vollgetankt hatte ich auch! Verdammte… !“

7

„Da ist nicht mehr viel zu erkennen“, stöhnte der Pathologe Heinz Jakobskrüger.

Jakobskrüger war im Dienst ein tüchtiger Mann und in seiner Freizeit Kassenwart der Anonymen Alkoholiker seines Heimatstädtchens Lage.

„So einen Rasenmäher sollte ich mir auch mal zulegen“, grinste er. „Der reißt echt was weg!“

Axel Braunert schluckte. Diese Art von Humor war nicht sein Ding. Er war eher ein sensibler Mensch. Mit derart makabren Scherzen, die für Pathologen, Krankenpfleger und Bestatter so typisch sind, weil sie ihnen die nötige Distanz zu ihrer Tätigkeit verschaffen, konnte er erst recht nichts anfangen.

„Soll das heißen, dass wir keinerlei Anhaltspunkte haben, um wen es sich handelt?“, fragte er leise.

„Das würde ich nicht sagen. Aber viel ist es nicht. Der Mann war ungefähr fünfzig Jahre alt, eher mager, hatte gesunde Innereien, war aber wohl ein starker Raucher. Beneidenswert gute Zähne hatte der Mann übrigens auch. Aber es gibt einen Punkt, an dem Sie ansetzen können. Er hatte ein künstliches Hüftgelenk. Ziemlich neu, würde ich sagen. Da müsste man doch was drüber erfahren können. Bei irgendeinem Orthopäden hier in der Gegend muss er das ja machen lassen haben. Alles andere, wie Körper- und Schuhgröße und so, habe ich Ihnen hier in die Akte gelegt. Die Kleidung habe ich nicht untersucht, das ist auch nicht meine Aufgabe. Das machen die Kollegen von der Spurensicherung. Vielleicht finden die ja was raus. Aber nach meinem ersten Eindruck wird das nicht viel hergeben. In den Taschen war jedenfalls nichts. Zufrieden?“

Was blieb Axel Braunert anderes übrig, als traurig zu nicken.

„Was ist mit der Todesursache?“

„Ja, dazu kann ich nur sagen, dass er eindeutig erschossen worden ist. Ich habe die Kugel rausgeholt und sie der ballistischen Abteilung zugeschickt. Mit so was kenne ich mich nicht aus. Der arme Kerl wurde von hinten erschossen. Die Kugel drang durch die Lunge und hat ‘ne ziemliche Ferkelei im Körper angerichtet. Ich würde mal behaupten, dass der Schütze so was nicht jeden Tag macht. Ein Profi hätte das besser hingekriegt. Das Überlebensrisiko war hier viel zu hoch, wenn ich das mal so sagen darf. Mehr kann ich ihnen leider nicht erzählen. Ach ja, die Todeszeit war wahrscheinlich gestern Abend zwischen zehn Uhr und Mitternacht. Reicht das für’s Erste?“

Axel Braunert bedankte sich höflich, klemmte sich die Akte unter den Arm und ging.

Die Kollegen von der forensischen Abteilung hatten auch nicht viel anzubieten.

„In den Taschen war nichts, gar nichts. Der Anzug war zwar teuer, aber auch nicht so exklusiv, dass sich hieraus echte Anhaltspunkte ergeben könnten. Diesen Anzug können Sie für einen Tausender bei jedem besseren Herrenausstatter kaufen. Das gleiche gilt für die Schuhe. Schmuck hatte er keinen. Nicht mal einen Ehering. Den kann ihm aber der Mörder abgenommen haben. Wir wissen also nicht mal, ob der Mann verheiratet war. Eine Patronenhülse haben wir auch noch nicht gefunden, aber es kann ja auch ein Revolver gewesen sein. Mal abwarten. Dafür wissen wir ziemlich genau, wo der Schuss gefallen sein muss. Trotz des gerade gemähten Rasens konnten wir noch einige Druckstellen und Schleifspuren im Gras feststellen, die zur Fundstelle hin führten. Nicht viel, aber vielleicht kommt ja noch was.“

„Tja. Trotzdem, besten Dank!“