Varusfluch - Jürgen Reitemeier - E-Book

Varusfluch E-Book

Jürgen Reitemeier

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Beschreibung

Ein Förster entdeckt nach einem Frühjahrssturm im Wald am Bielstein einen Schild, ­einen Brustpanzer und ein Kurzschwert. ­Könnten das Teile einer römischen Rüstung sein? Für Politiker wie Historiker ist der Fund kurz vor dem 2000-jährigen Jubiläum der Varusschlacht eine Sensation. Doch, was hat der Tod eines Mannes im Jöllenbecker Heimathaus mit der Rüstung vom Bielstein zu tun? Der sympathische Haupt­kommissar Jupp ­Schulte kommt dem Varusfluch näher als ihm lieb ist.

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Reitemeier / Tewes · Schnapsidee

JÜRGEN REITEMEIER

WOLFRAM TEWES

Varusfluch

PENDRAGON

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Das ist der Teutoburger Wald,

Den Tacitus beschrieben,

Das ist der klassische Morast,

Wo Varus steckengeblieben.

O Hermann, dir verdanken wir das!

Drum wird dir, wie sich gebühret,

Zu Detmold ein Monument gesetzt;

Hab selber subskribieret.

Heinrich Heine

Deutschland – ein Wintermärchen

Sollte jemand beim Lesen dieses Buches den Eindruck haben, es gäbe Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, so ist dies reiner Zufall und von uns nicht beabsichtigt.

Kommunalpolitiker sind das Salz in der Suppe eines jeden Regionalkrimis. Auch wir können nicht ohne dieses Grundgewürz auskommen. In dieser Geschichte konnte auf Ämter und Funktionen nicht verzichtet werden. Dabei ist uns bewusst, dass Mandate von Menschen bekleidet werden, denen wir an keiner Stelle zu nahe treten wollen. Es ist wieder einmal alles reine Phantasie!

Prolog

Die Freundschaft hatte er schon abgeschrieben. Doch dann kam die Einladung. Da er noch nie in seinem Leben nachtragend gewesen war, hatte er sie ohne zu zögern angenommen. Jetzt stand er hier, allein in dem alten Gemäuer.

Der Mann war aufgeregt, als er den spärlich beleuchteten Gang betrat. Ein seltsamer Ort für eine Verabredung, ging es ihm durch den Kopf. Die Luft war feucht und roch nach Moder. Die Bruchsteinwände schimmerten tiefgrau, es hatte sich Kondenswasser gebildet. Der Boden aus gestampftem Lehm dämpfte seine Schritte. Nach wenigen Metern änderte sich die Richtung des Gangs, es wurde noch dunkler, und er stand plötzlich vor einer alten Holztür. Er wartete einige Minuten. Es schien niemand in der Nähe zu sein. Als er die Tür öffnete, quietschte es in den Angeln. Er betrat ein Kellergewölbe. Durch ein vergittertes Fenster fielen Sonnenstrahlen auf das glänzende Metall einiger Waffen und Rüstungen. Wie kamen die denn hier her?

Der Besucher strich mit der rechten Hand über die kalte, glatte Fläche eines Schwertes und bewunderte die exzellente Arbeit. Wahrhaft meisterlich, dachte er.

In einer Ecke des Kellerraumes entdeckte er einige nagelneue Ziegelsteine.

Plötzlich wurde ihm vieles klar. Hier ging es nicht mehr darum, was wo geschehen war, wer auf welcher Seite stand, und wer Recht oder Unrecht hatte. Hier ging es nur noch um Reputation und Geld – viel Geld! Freundschaft interessierte ebenso niemanden mehr wie die gemeinsam geschlagenen Schlachten und die gemeinsam verlebten, schönen Tage.

Als er so da stand und auf die römischen Waffen sah, konnte er plötzlich ganz klar denken. Die Tatsache, dass er sich den Forderungen seines vermeintlichen Freundes nicht gebeugt hatte, hatte ihn in große Gefahr gebracht. Er musste sofort weg von diesem Ort. Als er sich hastig umdrehte, stand plötzlich ein ganz in schwarz gekleideter Mann da, ihm wohlbekannt, der ihn aus kalten Augen anstarrte. Der einsame Besucher hatte das Gefühl, dass ein eisiger Luftzug von seinem Gegenüber ausging, der seinen Körper erstarren ließ. Der Schwarze ging langsam auf ihn zu, ein Messer in der Hand, und griff an. Im nächsten Moment spürte das Opfer einen stechenden Schmerz in der Brust. Während alles Leben aus seinem Körper wich, zuckten vor seinen Augen grelle Blitze. Er fiel in ein unendliches schwarzes Nichts.

1

Der Regen wurde vom Wind gegen die Fenster gepeitscht. Stephan Rathmeier, Förster des Landesverbandes Lippe, saß in seinem Büro. Es schien ihm, dass aus einer riesigen Gießkanne Wasser in rauen Mengen auf sein Haus gegossen wurde. Immer wieder klingelte das Telefon. Meist handelte es sich um Autofahrer, die meldeten, dass irgendwo wieder ein Baum auf einer Straße lag und die Durchfahrt unmöglich machte. In den lippischen Wäldern wütete das Tief „Emma“. Feuerwehr und Waldarbeiter würden in der kommenden Nacht und den nächsten Tagen genug zu tun haben. Gerade hatte ein wohl lebensmüder Beschäftigter des WDR angerufen, der dem Sendemast auf dem Bielstein einen Besuch hatte abstatten wollte. Weit war er nicht gekommen, denn schon nach wenigen hundert Metern lagen die ersten Bäume auf der Senderstraße. Die nächsten Tage würden für Rathmeier heftig werden, denn der gerade wütende Sturm, da war er sich sicher, würde eine Menge zusätzliche Arbeit bedeuten. Außerdem musste er auch noch einen Kollegen vertreten, der Urlaub hatte.

Der Förster schaltete seinen PC aus. Das lange Starren auf den Bildschirm war anstrengend. Für ihn war jetzt Feierabend. Morgen war auch noch ein Tag. Er stellte das Diensttelefon auf sein Handy um und verließ sein Büro.

Der Sturm tobte bis zum frühen Morgen. Doch mit Sonnenaufgang verzogen sich die Wolken, und es kündigte sich ein herrlicher kalter Februartag an.

Stephan Rathmeier liebte dieses Wetter. Schon früh war er auf den Beinen. Nach einer Tasse Kaffee machte er sich auf den Weg. Er wollte sein Jagdrevier durchqueren und sich dabei gleich einen Eindruck davon verschaffen, was Emma so angerichtet hatte.

Zunächst fuhr er zur Senderstraße. Die Hiddeser Feuerwehr hatte die meisten Bäume schon von der Straße geräumt. Doch oben – kurz unter dem Gebirgskamm – ragten noch einige umgeknickte Fichten auf die Straße. Sie stellten jedoch keine wirkliche Behinderung dar. Doch weiter unterhalb im Tal, in der Nähe der deutlich zu erkennenden bronzezeitlichen Fahrrinnen, lagen einige Bäume kreuz und quer. Der Förster stoppte seinen Wagen. Er kletterte über die Leitplanke und stieg hinab zu den vom Sturm gefällten Bäumen. Es handelte sich um einige ca. achtzig Jahre alte Fichten. Die hätten sowieso bald gefällt werden können, dachte er. Jetzt hatte der Sturm die Angelegenheit etwas forciert. Die Bergung der Stämme würde nicht ganz einfach werden, weil man natürlich auf die archäologische Fundstelle Rücksicht nehmen musste. Da konnte man nicht einfach mit schwerem Gerät in den Wald fahren, um die Bäume abzutransportieren. Der Förster kletterte über einen mächtigen Stamm und stand vor einem gewaltigen Krater, in dem noch gestern der Wurzelballen einer riesigen Fichte gesteckt hatte. Die herumliegenden Bäume machten Rathmeier unmissverständlich deutlich, welche Kraft von den immer häufiger auftretenden Stürmen ausging. Da wurden Bäume mit fast zwei Metern Stammumfang gefällt wie Streichhölzer.

In dem trichterförmigen Loch hatte sich schon Wasser gesammelt. Der Förster begutachtete die Beschaffenheit des Bodens. Plötzlich entdeckte er etwas, das ihn zum Staunen brachte! Dort, wo der Wurzelballen wie eine drei Meter hohe Wand in den Himmel ragte, steckte da nicht ein Schwert? Sicher war es nur ein Ast, der einer solchen Waffe ähnlich sah. Rathmeier versuchte, danach zu greifen. Doch trockenen Fußes war es unmöglich, an den Gegenstand zu gelangen. Sollte er sich nasse Füße holen?

Nach kurzer Überlegung siegte jedoch seine Neugierde. Er stieg vorsichtig in den Tümpel. Vielleicht war es ja nicht so tief. Doch da hatte er sich geirrt. Als er wieder festen Boden unter der Stiefelsohle fühlte, stand er bis zu den Knien im Wasser. Seltsam, er stand nicht etwa auf matschigem Untergrund, sondern auf etwas Glattem, Hartem. Er zog den anderen Fuß nach und rutschte auf dem Untergrund aus, als wäre es eine Eisfläche. Im nächsten Moment schlug schlammiges Wasser über seinem Kopf zusammen. Prustend tauchte er kurz darauf ärgerlich fluchend wieder aus der schmutzigen Brühe auf. Jetzt war es sowieso egal. Er griff in den Tümpel hinein und fühlte etwas Glattes, Kaltes. Tastend suchte er nach einer Kante, dann konnte er mit den Fingern unter die Platte greifen. Nachdem er das kalte Etwas an die Oberfläche gewuchtet hatte, starrte er auf ein Rechteck aus Metall. War das etwa? Das war doch ein Schild! Er legte den Fund auf den Waldboden. Dann watete er zu dem anderen Gegenstand, von dem er glaubte, es handele sich um ein Schwert. Er hatte sich nicht geirrt, er hielt eine geschmiedete Klinge in der Hand! Das gab es doch nicht! Noch vor einigen Jahren hatten hier keine hundert Meter von dieser Stelle entfernt Grabungen stattgefunden. Man hatte damals nichts Wesentliches gefunden. Und heute förderte er gleich zwei Artefakte an den Tag, die unter Umständen der Diskussion um den Ort der Hermannschlacht neue Nahrung geben könnten. Wenn das, was er da in der Hand hielt, wirklich römische Waffen waren, dann konnten sich die in Kalkriese warm anziehen!

Obwohl Stephan Rathmeier bis auf die Knochen nass war, spürte er die Kälte nicht. Was war zu tun? Am heutigen Samstag war keine Menschenseele im Schloss. Im Lippischen Landesmuseum würde er niemanden mit dem nötigen Fachwissen erreichen, im Weserrenaissance-Museum erst recht nicht. Aber hier im Dreck lagen zwei Waffen, die unter Umständen von unschätzbarem Wert waren.

2

Soweit war er schon lange nicht mehr gelaufen. Seine Talente lagen woanders. Er konnte stundenlang tapfer sitzen, sei es am Schreibtisch, im Auto oder in der Kneipe. Kein Problem. Auch liegen war prima, keine Frage. Aber laufen?

Doch an diesem windigen und feuchtkalten Spätnachmittag im März stellte Hauptkommissar Josef Schulte zu seiner eigenen Überraschung plötzlich fest, dass er bereits seit über einer Stunde unterwegs war. Zu Fuß! Kreuz und quer war er durch Detmold marschiert, beide Hände in den Jackentaschen, den Kopf gesenkt, den Kragen hochgeschlagen. Nicht einmal den widerwärtigen Nieselregen spürte er, obwohl dieser ihm mittlerweile aus den Haaren ins Gesicht und in den Nacken rieselte. Nein, es war kein schönes Wetter. Aber es war auch kein schöner Tag und würde es wohl auch nicht mehr werden.

Den Vormittag hatte er in Warburg verbracht. In dieser Stadt hatte er vor rund fünfzig Jahren das Licht der Welt erblickt. Hier war er aufgewachsen. Und hier hatte er vor ein paar Stunden seine Mutter beerdigt. Es war keine große Beerdigung geworden. Seine Mutter hatte in den letzten Jahren sehr zurückgezogen gelebt. Schulte hatte keine Geschwister und konnte auch sonst nicht mit einer großen Familie aufwarten. Von seinem Eheversuch vor vielen Jahren waren nichts als Scherben geblieben. Danach hatte er es nie wieder versucht. Lena Wiesenthal, eine seiner beiden Töchter, lebte in Detmold und war bei der Beerdigung außer ihm selbst die einzige nahe Verwandte der Verstorbenen gewesen.

Schulte war kurz darauf wieder nach Hause gefahren. Es gab zwar noch einige offene Fragen zu klären, aber das konnte warten. An diesem Tag konnte und wollte er nicht darüber nachdenken, was aus dem Haus würde, wer in den nächsten Jahren das Grab pflegen sollte und so weiter.

Am liebsten wäre er am Nachmittag zur Arbeit gefahren, um auf andere Gedanken zu kommen. Aber er hatte nun mal den ganzen Tag Sonderurlaub, und außerdem fühlte er sich irgendwie verpflichtet, diesen Tag seiner Mutter zu widmen.

Im Haus hatte er es jedoch nicht lange ausgehalten. Er hatte sich in seine dicke Winterlederjacke gehüllt, den Kragen hochgeklappt und seinen Hund aufgefordert, ihm nach draußen zu folgen. Der aber hatte nur einen Schritt vor die Tür gemacht und war sofort wieder umgekehrt. Monster – so hatte Schulte den großen, schwarzen, zotteligen Hund genannt, als der ihm vor sieben Jahren mehr tot als lebendig zugelaufen war. Monster war mittlerweile ein alter Herr geworden, der die warme, trockene Wohnküche Schultes viel gemütlicher fand als dieses entsetzliche Märzwetter.

„Weichei!“ – Schulte hatte lächelnd den Kopf geschüttelt und war allein hinausgegangen. Da er nicht in seinem Dorf herumlaufen wollte, war er nach Detmold gefahren und dort ohne nachzudenken einfach drauflos getrabt.

Die Detmolder Innenstadt war nicht groß genug, um dort lange umherzulaufen, ohne immer wieder an dieselben Stellen zu gelangen. Außerdem war das Stadtzentrum wegen einiger Baustellen zurzeit kein wirkliches Vergnügen.

Schulte war es eigentlich völlig gleichgültig, durch welche Straßen er schlurfte, welche Fassaden er bereits mehrfach gesehen hatte. Nur das Unterwegssein zählte, in Bewegung bleiben, bloß nicht zuhause still sitzen. Denn das war das Schöne an diesem ziellosen Hin- und Herlaufen: Da er selbst keine Sekunde still stand, blieben auch seine Gedanken ständig in Bewegung und hatten keine Chance, sich länger als einige Sekunden festzusetzen.

Schulte war es nur recht so. Ihm gefiel nicht, was da so auf ihn einstürzte. Dieses brachiale Assoziationsgewitter war leichter zu ertragen als ein einzelner, quälend bis zum Ende durchlittener Gedankengang. Es war nicht nur der Tod seiner Mutter. Der war nicht überraschend gekommen, er hatte sich lange vorher angekündigt. Dennoch hatte ihn das Ereignis stärker getroffen, als er dies erwartet hatte. Es war das Gefühl, allein gelassen worden zu sein, als sei ihm ein Stück Boden unter den Füßen weggerissen worden. Vielleicht ist man erst dann richtig erwachsen, wenn kein Elternteil mehr lebt, grübelte er. Erwachsen und allein mit allen Problemen. Völlig unabhängig davon, wie alt man ist. Zwischendurch begann sein Gewissen spürbar zu pochen. Hatte er sich genug um seine Mutter gekümmert? Warum war er nicht öfter zu ihr gefahren, um mit ihr zu reden? Was wusste er tatsächlich von ihren Sorgen und Nöten? Hatte sie Angst vor dem Sterben gehabt? Wie oft mochte sie versucht haben, mit ihrem einzigen Kind darüber zu reden? Aber hatte er den Wink nicht verstanden? Oder hatte er ihn nicht verstehen wollen? Schulte musste sich eingestehen, dass er all dies nicht wusste. Immer war alles andere wichtiger und angenehmer gewesen als dieses Gespräch über die letzten Dinge des Lebens. Zu spät! Er hatte den Zeitpunkt verpasst.

Als wäre ein Deich gebrochen, stürzten nun Emotionen auf ihn ein, denen er sich nicht gewachsen fühlte. Nachdem er vor kurzem mit seinem fünfzigsten Geburtstag die Schallmauer überschritten hatte, ertappte er sich immer wieder bei der Frage: War’s das? Oder kommt noch was? Er fand jedoch keine zufrieden stellenden Antworten. War sein ganz persönliches Leben gut gelaufen – oder hatte er es verbockt? Es trug mächtig zu seiner Verwirrung bei, dass er in dieser Frage keine eindeutige Position beziehen konnte. War er vielleicht nicht ganz normal? Empfanden auch andere Männer in seinem Alter so? Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Und außerdem: was erwartete oder erhoffte er denn tatsächlich noch für sich? Endlich mal eine langfristig glückliche Beziehung zu einer Frau? Wurde es nicht langsam Zeit? Aus dem einsamen Wolf früherer Jahre war doch mittlerweile ein begossener Pudel geworden, wenn er ganz ehrlich zu sich war. Und seine Arbeit? Welche Perspektiven bot sie ihm noch? Sollte es für immer und ewig seine Aufgabe sein, den menschlichen Ausschuss dieser maroden, selbstsüchtigen Gesellschaft zu entsorgen? Unter Arbeitsbedingungen, die immer schlechter wurden? Kraft hatte er noch genug, das spürte er. Aber hatte er auch noch Lust? Vielleicht gab es ja irgendwo das verheißene Land, das er bloß noch nicht gesehen hatte. Was sprach dagegen, einfach mal nachzuschauen, einfach mal was Neues auszuprobieren? Zum Teufel mit den Pensionsansprüchen! Wenn alles schief ging, konnte er immer noch Fritzmeiers Hof übernehmen, Bauer werden und in der Scheune Marihuana anbauen. Oder so ähnlich.

Plötzlich stellte Schulte fest, dass er zitterte. Ihm wurde klar, dass dies nicht an seinen Nerven lag, zumindest nicht nur, sondern vor allem der unbestreitbaren Tatsache geschuldet war, dass er klatschnass und völlig durchgefroren sinnlos durch die menschenleeren Straßen Detmolds lief. Er zog den Kragen noch weiter hoch, beschleunigte seinen Schritt und ging zurück zum Auto.

Nach einem heißen Bad und mit einem gut gefüllten Glas Whisky in der Hand sah die Welt schon wieder etwas freundlicher aus. Was war das eben gewesen im Detmolder Regen? Eine kleine, durch plötzlich aufgetretene äußere Umstände ausgelöste Sinnkrise? Oder ein echter Nervenzusammenbruch? Brauchte er einfach nur Urlaub? Wann hatte er eigentlich seine letzten freien Tage genommen? Ja, das leuchtete ihm ein. Er brauchte einfach nur Ruhe, viel Ruhe. Dann würde sich alles wieder einrenken. Schließlich war er nun in einem Alter, in dem es nicht mehr peinlich sein muss, sein Bedürfnis nach Ruhe einzugestehen. Schön, sagte er sich. Dann will ich mal sehen, wie ich mein Leben vereinfachen und ruhiger gestalten kann.

Er unterstrich seine guten Vorsätze mit einem großen Schluck. Dann setzte er sich aufs Sofa und versuchte, sich auf die schönen, ruhigen Zeiten zu konzentrieren, die nun auf ihn warteten. Nach einer Viertelstunde riss ihn das Telefon aus den warmen Gedanken.

„Hallo Daddy! Hier ist Ina!“

Ina war Schultes andere Tochter. Sie war eine volle Woche jünger als ihre Halbschwester Lena. Dabei war sie von Schulte in derselben verhängnisvollen Nacht gezeugt worden. Allerdings mit einer anderen Mutter. Aber während die immer tüchtige und sehr ordentliche Lena es gar nicht abwarten konnte, auf die Welt zu kommen, hatte ihre Schwester, die in Sachen Ordnungsliebe mehr nach ihrem Vater kam und die auch sonst nur ungern den geraden und schnellen Weg ging, sich viel Zeit gelassen. Schulte hatte damals aus der Not heraus die Mutter von Ina heiraten müssen, weshalb sie auch mit Nachnamen Schulte hieß. Lenas Mutter hatte dagegen einen (wie sie sagte …) anständigeren Mann geheiratet und dadurch ihrer Tochter den Nachnamen Wiesenthal mitgegeben.

So gut sich Schultes Kontakt in den letzten Jahren zu der in Detmold wohnenden Lena Wiesenthal entwickelt hatte, so wenig vertraut war ihm seine andere Tochter, die zu allem Überfluss auch noch weit weg in Greifswald wohnte. Vor diesem Spross hatte Schulte sogar ein wenig Angst, denn Ina war nicht süß und nett und lebenstüchtig. Sie war struppig, widerborstig, geriet immer wieder an die falschen Kerle und bekam ihr Leben nicht so richtig in den Griff. Ende vergangenen Jahres war sie Mutter geworden. Noch vor Beendigung des Studiums und natürlich von einem jungen Mann, der bei dieser Nachricht panikartig die Flucht ergriffen hatte.

Vielleicht ganz gut, dass sie so weit weg war. Ina hielt sich nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln auf.

„Du, ich habe ein Problem!“

Und dann berichtete sie ihrem wortlos und zunehmend sorgenvoll lauschenden Vater davon, dass sie nun, nach ihrem Diplom, arbeitslos sei, kein Einkommen habe und die Belastung durch das Kind einfach zu groß geworden sei. Aushilfsweise jobben wurde wegen des Kindes auch immer schwieriger, also konnte sie sich auch ihre Wohnung nicht mehr leisten. Und überhaupt hätte sie die „Schnauze voll“ von Greifswald und von den ständig jammernden Ossis. Sie hätte sich alles genau überlegt und wolle nun wieder zurück nach Ostwestfalen, um zuhause wieder neu anzufangen.

„Kann ich ’ne Zeit bei dir wohnen?“, fragte sie am Schluss ihrer „Ausführungen“. Schulte erstarrte vor Schreck und war erst einmal sprachlos. Dann versuchte er es mit schüchterner Gegenwehr.

„Aber wie stellst du dir das vor? Ich habe hier nur ’ne einfache Junggesellenbude. Wie soll das gehen?“

Das ließ Ina natürlich nicht gelten.

„Aber Lena hat doch auch schon mal ein ganzes Jahr bei dir gewohnt. Das ging doch auch.“

Stimmt! Lena hatte tatsächlich mal eine ganze Weile hier gewohnt. Und nachdem einige Startschwierigkeiten überwunden waren, hatte es ihm sogar gut gefallen. Lena war jedoch auch ein ganz anderer Typ. Sie war der komplette Gegenentwurf zu ihrem Vater. Dadurch hatten sich die beiden gut ergänzt. Aber Ina? War Ina nicht sein jugendliches, weibliches Abziehbild? Wollte er tatsächlich jemanden in seine Wohnung aufnehmen, der genauso chaotisch und eigenwillig war wie er selbst? Nein, das wollte er nicht unbedingt. Er wollte ganz im Gegenteil seine Ruhe haben. Nichts als Ruhe.

„Na, ja! Lena war auch allein hier. Du hast aber dein Kind. Wo soll das denn hin?“

„Mein Kind ist immerhin dein Enkelkind! Dein erstes und einziges Enkelkind. Eigentlich solltest du dich freuen, es endlich kennen zu lernen. Bisher hast du ja nicht gerade viel Enthusiasmus gezeigt. Weißt du eigentlich, wie süß der Kleine ist? Sollen wir etwa auf der Straße wohnen?“

Und so ging es weiter. Schulte wehrte sich tapfer, doch spürte er seine Niederlage schon heraufziehen. Diesen Argumenten hatte er nichts entgegen zu setzen. Nach einem zehnminütigen sinnlosen Rückzugsgefecht stimmte er schließlich seufzend zu. Ina freute sich.

„Prima! Alles klar! Wir kommen am Sonntag mit der Bahn. Holst du uns ab?“

Schulte blieb kurz in völliger Starre sitzen. Dann friemelte er steif den Telefonhörer in die Basisstation und trank mit einem Schluck den Rest des Glases leer. Noch bevor der erste sorgenvolle Gedanke an die Zukunft in ihm reifen konnte, hatte er die Whiskyflasche aus dem Schrank geholt und wieder eingegossen – randvoll.

3

Fröstelnd saß Karen Holzmeier, die Bodendenkmalpflegerin Lippes und Kustorin des Landesmuseums, im Büro des Hauptamtsleiters des Landesverbandes Lippe. Im Schloss Brake ist es immer kalt, dachte sie, während sie auf den Verwaltungschef und den Landesverbandsvorsteher wartete. Sie dachte an ihr gut geheiztes Büro in Detmold und fühlte eine angenehme Zufriedenheit. Außerdem war das politische Parkett des Schlosses weitaus glatter als das ihres beschaulichen Museums.

Heute Morgen, sie hatte kaum ihren Mantel ausgezogen, war Stephan Rathmeier, der Förster aus Hiddesen, in ihrem Büro aufgetaucht. In der Hand hielt er ein römisches Kurzschwert und einen Schild. Nachdem Rathmeier ihr berichtet hatte, wie er an die antiken Waffen gelangt war, hatte die Bodendenkmalpflegerin die Fundstücke unter die Lupe genommen. Auf den ersten Blick sahen Schwert und Schild verdammt echt aus. Vielleicht etwas zu gut erhalten für die lange Zeit, die sie da oben am Bielstein gelegen haben mussten. Aber dafür konnte es gute Gründe geben. Man musste die Fundstelle eben genauer untersuchen. Je länger sie sich die Artefakte ansah, umso nervöser wurde sie. Ihr Forschungsdrang nahm von Sekunde zu Sekunde weiter zu. Am liebsten wäre sie sofort nach Hause gefahren, hätte ihr bequemes, schickes Bürodress gegen Gummistiefel und Ölzeug getauscht und wäre mit dem Förster zu der Stelle aufgebrochen, an der er die Waffen gefunden hatte. Doch dieses Bedürfnis musste sie hinten anstellen. Auf Nachfragen hatte der Förster ihr versichert, dass er niemandem von dem Fund erzählt habe.

„Das ist auch gut so!“, bestätigte ihm Karen Holzmeier.

„Dieser Fund ist von höchster Brisanz. Wenn davon auch nur ein Wort an die Öffentlichkeit dringt, bevor wir die Stelle weiträumig abgesperrt und gesichert haben, ist da oben die Hölle los. Die ganzen verrückten Hobbyarchäologen würden am Bielstein jeden Stein umdrehen und mehr zertreten, als sie jemals zu Tage fördern könnten. Und diese Leute nehmen ja in Lippe immer mehr zu. Von den Grabräubern und Plünderern antiker Kunstschätze ganz zu schweigen. Glauben Sie mal nicht, dass alle, die in den lippischen Wäldern etwas echt oder vermeintlich Antikes finden, dies auch melden. Geschweige denn, dass sie es abgeben. Da sind Sie schon eine rühmliche Ausnahme. Und wenn die beiden Fundstücke wirklich aus der Zeit der Varus-Schlacht stammen, dann sind sie mehr wert als ein Kleinwagen. Das sage ich Ihnen. Von ihrem ideellen Wert will ich erst gar nicht sprechen. Wenn die in Kalkriese von diesem Fund Wind bekommen, tritt in Osnabrück und Umgebung Alarmstufe Rot in Kraft. Also, Herr Rathmeier: Top Secret!“

Gleich nachdem der Förster das Büro der Bodendenkmalpflegerin verlassen hatte, hatte sie den Hauptamtsleiter des Landesverbandes angerufen. Der hatte sich alles interessiert angehört, die Bedeutung des Fundes aber nicht sofort einzuordnen gewusst. Doch als der Groschen gefallen war, hatte Karen Holzmeier die zunehmende Aufregung des Mannes durchs Telefon spüren können. Er hatte sie gebeten, sofort zu kommen, um das weitere Vorgehen zu besprechen.

Die Tür wurde vehement aufgestoßen und riss die Archäologin des Landesverbandes aus ihren Gedanken. Nach einer kurzen Begrüßung teilte ihr der Verwaltungschef mit, dass er den Landesverbandsvorsteher zum Gespräch hinzu gebeten habe. In dieser heiklen Angelegenheit wollte er nicht allein entscheiden.

„Also lassen Sie uns auf ihn warten.“

Da klopfte es auch schon. Herein trat jedoch der Landrat. Verblüfft sahen ihn die beiden Beschäftigten des Landesverbandes an. „Was hat der denn hier zu suchen?“, dachten Verwaltungschef und Denkmalpflegerin gleichzeitig. Da schob sich auch der Landesverbandsvorsteher in den Raum.

Nach dem Begrüßungsritual ergriff Landesverbandsvorsteher Müller das Wort:

„Da der Landesverband bezüglich der Fragen und Planungen zur Zweitausendjahrfeier der Varus-Schlacht mit den verschiedensten Institutionen und Städten kooperiert, habe ich unseren wichtigsten Partner, unseren Landrat, zu diesem Gespräch hinzu gebeten. Ich denke, es liegt in unser aller Interesse, die kurzfristige Vorgehensweise gemeinsam zu besprechen.“

An die Bodendenkmalpflegerin Lippes gewandt, bat er:

„Vielleicht setzen Sie uns erst mal vom Stand der Dinge in Kenntnis, Frau Holzmeier.“

Die Archäologin berichtete ausführlich vom Fund des Försters, von dessen Bedeutung sowie den aus ihrer Sicht möglichen Gefahren, falls die Öffentlichkeit zum falschen Zeitpunkt von den beiden Artefakten erführe.

Gleich im Anschluss ergriff der Landrat das Wort. Auch er war der Meinung, der Fund müsse so lange wie möglich geheim gehalten werden, um nicht auf politischer Ebene für Unruhe zu sorgen. Er war sich ganz sicher, dass die Osnabrücker alles daransetzen würden, die Bedeutung der Waffen zu relativieren.

„Okay“, meldete sich die Bodendenkmalpflegerin zu Wort. „Vorübergehend können wir Ihren Wünschen nachkommen. Genau so lange, bis wir die Möglichkeiten geschaffen haben, um mit den Grabungen zu beginnen. Doch wenn die Fundstätte gesichert ist, können wir den Beginn unserer Arbeit nicht mehr auf die lange Bank schieben. Vorher werden wir uns mit den nötigen Stellen in Verbindung setzen müssen. Wir benötigen die Unterstützung der Universität Münster, außerdem die nötigen Genehmigungen. Anschließend steht die wissenschaftliche Arbeit an erster Stelle. Auf politische Belange können wir dann keine Rücksicht mehr nehmen.“

Der Landrat sah ziemlich angesäuert aus. Diese Antwort gefiel ihm gar nicht. Was bildete sich diese Frau ein? Wusste sie nicht, was für den Kreis Lippe auf dem Spiel stand? Wenn die im Kreishaus arbeiten würde …

Auch Landesverbandsvorsteher Müller sah nach der Antwort der Denkmalpflegerin wenig glücklich aus.

„Wenn es soweit ist, stimmen wir unser Vorgehen genau ab“, schlug er einen versöhnlichen Tonfall an. Die Archäologin war da völlig anderer Meinung, aber klug genug, zum jetzigen Zeitpunkt zu schweigen.

„Ich denke, wir haben alles besprochen“, sagte sie leichthin. „Falls Sie mich nicht mehr benötigen, würde ich jetzt gern zum Bielstein fahren und mir das Terrain in aller Ruhe ansehen.“

Müller bedeutete ihr mit einem missmutigen Nicken, dass er keine Einwände hatte. Und so machte sich die Bodendenkmalpflegerin auf den Weg. Die Männer verließen den Raum noch nicht. Sie hatten einiges zu besprechen. Alle drei waren der Meinung, hier bahne sich eine kleine Sensation an. Da musste man vorbereitet sein.

„Am Besten, wir setzen uns mit den lippischen Entscheidungsträgern zusammen, die die Zweitausendjahrfeier zur Varus-Schlacht gestalten. Darüber hinaus gehört auf jeden Fall Hans Peter Zahn dazu, von der S.E.L.F., der Stiftung zur Erforschung Lippischer Frühgeschichte, äußerte der Verwaltungschef, in dessen Kopf schon eine Einladungsliste entstand.

4

Gemeinsam mit dem Förster inspizierte die Bodendenkmalpflegerin die Gegend in der Nähe der bronzezeitlichen Fahrrinnen am Bielstein. Kaum zu glauben, dachte sie, keine hundert Meter von hier haben wir vor einigen Jahren den Wald umgegraben. Wir haben zwar nicht nach Funden der Varus-Schlacht gesucht, hätten wir aber auch nur das kleinste Artefakt aus der Römerzeit gefunden, wir wären der Sache mit aller Akribie nachgegangen. Und nun sollen, kaum hundert Meter von den damaligen Grabungen entfernt, Schild und Schwert gelegen haben?

„Wo genau haben Sie denn die Gegenstände gefunden?“, fragte sie Rathmeier. Der wies auf ein kleines, gelbes Stück Trassierband, das dreißig Meter von ihnen entfernt an einem Wurzelballen im Wind flatterte.

Gemeinsam kämpften sie sich durch Brombeeren und über umgestürzte Bäume zur vom Förster gezeigten Stelle. Die Bodendenkmalpflegerin sah sich den Krater genauer an, der nun nicht mehr mit Wasser gefüllt war. Sie machte ein Gesicht, als stände die englische Queen im Jogging-Anzug vor ihr.

„Das gibt’s doch nicht“, sagte sie mehr zu sich selbst. „Was blinkt denn da?“

Als sie Anstalten machte, selbst in den Krater zu steigen, reichte ihr Stephan Rathmeier die Hand zur Hilfe. Die Archäologin stand auf dem matschigen Grund des Erdloches und griff nach dem blinkenden Etwas. Doch der Gegenstand klebte im Matsch. Es schien, als wolle der Waldboden das einmal Erlangte nicht mehr hergeben.

„Bitte helfen Sie mir“, wandte sich Karen Holzmeier an den Förster. Der stieg nun ebenfalls in die trichterartige Grube. Gemeinsam zogen sie an dem metallischen Gegenstand. Mit einem Geräusch, als nähme man sich mit einem großen Löffel die erste Portion aus einer Schale Götterspeise, gab der Matsch langsam den Gegenstand frei. Sie hielten eine zerbeulte Metallplatte in der Hand. Beide starrten auf den Gegenstand. Die Archäologin sprach es zuerst aus:

„Der Brustpanzer vom Harnisch eines römischen Legionärs. Ich fasse es nicht! Hier muss ein Nest sein.“

Sie stiegen aus dem Erdloch. „Ich muss sofort zurück ins Museum“, sagte die Bodendenkmalpflegerin. „Noch heute müssen wir beginnen, dieses Areal weiträumig abzusperren. Wir benötigen Wachpersonal, damit sich hier keine unbefugte Person umsehen oder aufhalten kann. Und ich muss mich so schnell wie möglich mit dem Landesamt für Denkmalpflege in Verbindung setzen. Der Fund muss gemeldet werden. Nicht auszudenken, wenn hier noch mehr liegt. Was meinen Sie, was hier los ist, wenn das bekannt wird? Alle Schatzsucher und Grabungsplünderer der Republik werden sich hier ein Stelldichein geben. Von den Schaulustigen ganz zu schweigen. Außerdem wird es einen Riesenärger geben.“

„Ärger, wieso das denn?“, fragte der Förster verwundert.

„Na ja, der Landrat und der Landesverbandsvorsteher wollen die ganze Angelegenheit so lange wie möglich unter der Decke halten. Das ist natürlich nach diesem weiteren Fund überhaupt nicht mehr möglich. Ich käme in Teufels Küche, wenn ich die Entdeckung verheimlichen würde. Stellen Sie sich vor, einer von denen, die von dem Fund wissen, verplappert sich, und eine falsche Person bekommt Wind davon! Nicht auszudenken, wenn hier jemand herumschnüffelt. Wenn auch nur die kleinste Kleinigkeit der hier möglichen Funde verschwinden würde, wäre das eine Katastrophe. Politische Interessen hin oder her, ich muss mich mit der ganzen Angelegenheit an die offiziellen Stellen wenden, da führt kein Weg dran vorbei.“ Sie griff nach ihrem Handy. „Mist“, fluchte sie, „ein Funkloch! Kommen Sie, wir fahren nach Lemgo. Ich muss unbedingt mit unserem Verwaltungsleiter reden. Soll der doch die schlechten Botschaften, die ja eigentlich gute sind, an die Politik weitergeben.“

5

Die Archäologin war direkt nach Lemgo gefahren und hatte den Verwaltungsleiter über den neuerlichen Fund in Kenntnis gesetzt. Diese Nachricht löste in dem Mann ein Wechselbad der Gefühle aus. Einerseits war Lippe jetzt wahrscheinlich wieder im Rennen, wenn es um den wahren Austragungsort der Varus-Schlacht ging. Okay, das war ja ganz prima. Aber was das für einen Rattenschwanz nach sich ziehen würde! Landesverbandsvorsteher Müller hatte keine Durchsetzungskraft, der eigentliche Chef war der Landrat und dem ging es um die Kreisinteressen. Erst wenn alle zufrieden gestellt waren, war der Landesverband an der Reihe – keine Minute früher!

Jede Menge handelnder Personen wollten aus dem bevorstehenden Ereignis Kapital schlagen. Über alle Eitelkeiten der an der Ausrichtung der Feierlichkeiten Zweitausend Jahre Varus-Schlacht Beteiligten wollte er gar nicht nachdenken. Und er, der arme Verwaltungschef, saß zwischen allen Stühlen.

Von der Bodendenkmalpflegerin hatte er kein Verständnis für seine Situation zu erwarten, das war ihm völlig klar. Die sah als erstes ihre Trümmer und altertümlichen Artefakte. Danach kam eine ganze Weile nichts. Dann kam das Landesdenkmalamt. Wenn all diese Komponenten berücksichtigt waren, konnte man vielleicht mit ihr über Kompromisse reden.

Für ihn, der eine Verwaltungslaufbahn durchlebt hatte, gab es nichts Schlimmeres, als ständig taktierende Politiker und Wissenschaftler, die ihr Fachgebiet zu ihrem Lebensinhalt erklärt hatten. Von beiden Spezies gab es im Dunstkreis des Landesverbandes einige. Doch im Moment half es nicht, die Lage zu bejammern. Er musste versuchen, das Beste aus der unübersichtlichen Situation zu machen. Also nahm er sich zusammen und flehte die Archäologin fast an:

„Sie ahnen gar nicht, auf was für dünnem Eis ich mich im Moment bewege, Frau Holzmeier. Ich brauche unbedingt ein paar Bündnispartner. Und Sie spielen dabei eine wichtige Rolle. Wir müssen uns abstimmen. Ich bitte Sie! In Zukunft werden Sie auch einmal meine Hilfe benötigen. Ich sage sie Ihnen jetzt schon zu, blind! Nur, lassen Sie uns beim Vorgehen in Bezug auf die anstehenden Ausgrabungen kooperieren.“

So hatte die Bodendenkmalpflegerin ihren Verwaltungschef noch nie erlebt. Im Moment konnte sie alles von ihm haben. Von einer neuen Büroeinrichtung bis hin zu den teuersten und seltensten Büchern, die sie als Archäologin des Landesverbandes benötigen würde. Doch gepokert wurde später. Erst mal hören, was er von ihr wollte.

Sie setzte sich wieder in den Besuchersessel, in dem sie heute Morgen schon einmal Platz genommen hatte, und fragte: „Wie stellen Sie sich denn diese so genannte Kooperation vor?“

„Wenn ich ehrlich sein soll“, antwortete der Verwaltungschef, „möchte ich mit der ganzen Grabungsgeschichte nichts zu tun haben. Wann immer die Politik etwas von Ihnen will, verweisen sie einfach auf das Landesdenkmalamt und irgendwelche Gesetze, die außer Ihnen niemand kennt. Von mir hingegen würde erwartet, dass die von politischer Seite an mich übertragenen Aufgaben eins zu eins erfüllt würden. Als Vermittler zwischen Ihnen und den Politikern würde ich aufgerieben wie ein Senfkorn zwischen zwei Mühlsteinen.

Ich möchte mich sozusagen ausklinken und immer dann, wenn es um die anstehenden Grabungen geht, sagen können: Tut mir leid, in dieser Frage habe ich keinerlei Informationen. Was die Grabungen angeht, so sind mir die Hände gebunden, da müssen Sie sich schon an die Bodendenkmalpflegerin wenden. Ich möchte Sie sozusagen als Institution vorschieben, wenn es um Ihre Belange geht. Das würde natürlich voraussetzen, dass Sie an allen in den nächsten Tagen und Wochen stattfindenden politischen Veranstaltungen teilnehmen, ohne dass ich dazwischen geschaltet wäre.“

Die Archäologin ließ den Verwaltungschef länger zappeln, als er es ertragen konnte. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl hin und her. Nach mehr als zwei Minuten Bedenkzeit sagte sie: „Okay, und Sie kommen mir dafür an anderer Stelle entgegen.“„Darauf können Sie sich hundertprozentig verlassen, Frau Holzmeier!“, entgegnete der Verwaltungschef fast euphorisch.

„Dann schreiben Sie sich folgenden Termin schon mal ins Notizbuch“, führte er das Gespräch fort. „Morgen früh um zehn Uhr Sitzung mit allen, die sich für wichtig halten. Die Fraktionsvorsitzenden der Verbandsversammlung, der Landrat, einige Bürgermeister, Vertreter von Werbegemeinschaften und einige Personen aus dem Tourismusmarketing.“

„Bei dieser Truppe bleiben die Funde doch sowieso keine vierundzwanzig Stunden ein Geheimnis“, entgegnete die Archäologin. „Da glauben doch die meisten sofort, sie wüssten etwas Außergewöhnliches, und mit diesem Wissensvorsprung werden sie noch am gleichen Tag hausieren gehen, um vor ihren politischen Freunden zu prahlen, wie gut sie informiert sind. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich schon einen Wunsch, nein, eine Bedingung, die Sie mir unbedingt erfüllen müssen! Gleich morgen früh muss das Gelände am Bielstein großräumig abgesperrt werden. Ganz gleich, ob Sie eine Bundeswehrübung daraus machen, oder ob alle Forstwirte und polnischen Leiharbeiter, die in den Wäldern des Landesverbandes arbeiten, dorthin beordert werden. Mir völlig egal, Hauptsache, die Fundstelle gleicht einer Festung, sobald der Ort bekannt wird. In unser aller Interesse übrigens.“

„Darauf können Sie sich verlassen, verehrte Kollegin. Darauf können Sie sich hundertprozentig verlassen!“

Am nächsten Morgen entschuldigte sich der Verwaltungschef mit dem Argument, er könne nicht an der anberaumten Sitzung teilnehmen, da er die Organisation zur Absicherung der Fundstelle übernehmen müsse. Die Bodendenkmalpflegerin, die ja auch die geeignetere Person sei, würde jedoch an seiner Stelle teilnehmen.

Die Sitzung entwickelte sich – wie erwartet – chaotisch. Fast alle Anwesenden versuchten sich zu profilieren. Man stellte sein Wissen über die Varus-Schlacht vor und war natürlich auf seinen Vorteil bedacht. Der Landrat schwieg. Ebenso ein gut aussehender, elegant gekleideter, älterer Herr mit vollem Haar und grauen Schläfen. Die Archäologin kannte ihn, es handelte sich um Hans-Peter Zahn, eine in Lippe sehr angesehene Persönlichkeit. Zahn war Geschäftsführer der Stiftung S.E.L.F.. Nachdem sich die meisten Anwesenden ausreichend in Szene gesetzt hatten, wollten sie von der Bodendenkmalpflegerin Einzelheiten zu den Funden wissen. Die machte jedoch zu den Gegenständen nur vage Angaben und zierte sich sogar, die genaue Fundstelle zu nennen. Darüber war die Masse der Anwesenden wenig erbaut. Nach einiger Zeit meldete sich Zahn zu Wort.

„Meine Herren, ich bitte Sie, regen Sie sich doch nicht über die Verschwiegenheit unsere verehrten Bodendenkmalpflegerin auf. Ich finde ihr Verhalten sehr professionell. Was denken Sie, was passiert, wenn der Geist aus der Flasche befreit worden ist? Dann wird es hier von Presse- und Fernsehteams wimmeln. Fachleute werden sich drängen, ihre Meinung über die Funde abzugeben. Und auch unsere Freunde aus Kalkriese legen ihre Hände mit Sicherheit nicht untätig in den Schoß. Wir werden Hunderten von Hobbyarchäologen den Spaten entreißen müssen, sonst wird oben am Bielstein jeder Krümel Waldboden umgegraben. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, ich rate Ihnen, spielen Sie auf Zeit. Wir führen die Grabungen durch und lassen die Funde in den Archiven des Landesverbandes verschwinden. Für die Veranstaltungen im Jahr 2009 werden wir uns überlegen, ob und wie wir die Funde nutzen oder nicht. Auf jeden Fall sollten wir die Karten im Moment nicht aus der Hand geben. Sicher, wir werden die Grabungen nicht geheim halten können, aber die Ergebnisse, die halten wir unter dem Deckel.

Es wäre sehr ärgerlich, wenn drei Monate vor den Feierlichkeiten ans Licht käme, dass die Rüstungen eventuell aus einer anderen Epoche stammen oder sonst wie entwertet würden. Herkunft, Epoche und Echtheit, all das können wir auch nach den Festlichkeiten klären. Die Funde sind von so großer Bedeutung, da stricken wir nichts mit der heißen Nadel, nur weil zufällig gerade das Datum Zweitausend Jahre Varus-Schlacht ins Haus steht, zu dem die Rüstung, der Schild und das Schwert gut passen würden. Ich sage Ihnen, allein die Tatsache, dass etwas gefunden wurde, wertet uns in der Standortfrage enorm auf. Die Welle, auf der wir dann schwimmen, sollten wir nutzen.“

Ringsum war zustimmendes Gemurmel zu hören. Dieser alte Fuchs ist doch mit allen Wassern gewaschen, dachte sich die Archäologin. Wenn die Rüstungen in unseren Archiven verschwinden, wird sich alle Welt darüber aufregen. Die Neugierde wächst, und ich kann in Ruhe meinen Forschungen nachgehen. Wenn ich doch irgendwann meine Meinung ändern sollte, kann ich mich immer noch aus dem Fenster lehnen.

„Ich bin dafür“, fuhr Zahn fort, „dass wir in den nächsten Tagen eine Pressekonferenz einberufen. Ich finde, der Landrat, der Landesverbandsvorsteher und unsere verehrte Frau Dr. Holzmeier sollten dort anwesend sein.“

„Und wie ist es mit Ihnen?“, rief jemand, den die Archäologin nicht kannte.

„Na ja, wenn Sie mich so fragen. Ich will mich nicht aufdrängen, schließlich ist es ja Angelegenheit des Landesverbandes. Aber ich komme gern.“

Die Anwesenden stimmten zu. Kurze Zeit später löste sich die Versammlung auf.

6

Eigentlich hätte Jupp Schulte an diesem Sonntag in aller Ruhe ausschlafen können. Er hatte keinen Wochenenddienst, die Blase regte sich noch nicht, selbst sein Hund lag noch im Tiefschlaf. Regen trommelte an die Fensterscheibe. Wahrscheinlich war es draußen auch noch windig und kalt. Normalerweise hätte ihn sonntags um halb neun, bei diesem Wetter, nichts dazu bringen können, aus dem kuschelig warmen Bett zu krabbeln. Aber heute war nichts normal. Er war schon mit einem unguten Gefühl ins Bett gegangen, hatte die ganze Nacht unruhig geschlafen. Wahrscheinlich war er von dem Gedanken an das, was heute auf ihn hereinbrechen würde, aus dem Schlaf gerissen worden. Es gab viel zu tun.

Heute Nachmittag würde seine Tochter Ina am Detmolder Bahnhof eintreffen und für unbestimmte Zeit bei ihm einziehen. Aber als wäre nicht das allein schon Anlass zur Sorge, hatte sie auch noch ihr Kind dabei, das Teil seines Lebens werden sollte. Ihr Kind, also sein Enkelkind! Dass er vor etwa zehn Monaten Opa geworden war, war für ihn zwar etwas befremdend, aber ein mehr theoretisches Problem gewesen, da zwischen ihm und seinem Enkel rund fünfhundert Kilometer lagen und er das Kind noch nie gesehen hatte. Er hatte immer eine Menge Arbeit vorschieben können und Ina war wohl zu stolz gewesen, um ihn zum Besuch zu drängen.

Und nun sollte dieser kleine Schreihals bei ihm zuhause wohnen? Die Nacht zum Tage machen? Nein, lange würde Schulte das nicht aushalten. Es musste schnellstens eine Lösung gefunden werden. Auch sein Vermieter, der alte Bauer Anton Fritzmeier, hatte äußerst skeptisch reagiert, als Schulte ihm vom Familienzuwachs berichtet hatte. Die beiden allein stehenden Männer, der Alte und der Mittelalte, hatten sich in den vergangenen zehn Jahren so aneinander gewöhnt, dass jeder Wandel auf dem Hof beide betraf. Fritzmeier mochte es immer gern so, wie er es gewöhnt war. Veränderungen machten ihn unsicher. Obwohl auch er in der letzten Zeit erstaunliche Häutungen durchlebt hatte.

Im letzten Sommer hatte Anton Fritzmeier bei einem Preisausschreiben eine Urlaubswoche auf Kreta gewonnen. Die Freude war schnell in blanken Schrecken umgeschlagen, als ihm bewusst wurde, dass er Haus und Hof gegen eine ihm völlig unbekannte Umgebung tauschen sollte. Dass ihm fremdes, vielleicht unbekömmliches Essen vorgesetzt werden könnte. Und vor allem, dass er fliegen würde. Er hatte alles versucht, den unerwünschten Gewinn zu verkaufen, aber niemand konnte ihm aus der Patsche helfen. Schulte hatte seine ganze Überzeugungskraft einsetzen müssen, um seinen alten Vermieter zu diesem Urlaub zu überreden. Letztendlich war Fritzmeier dann auch geflogen. Vorher hatte er aber mit seinem Leben abgeschlossen. Niemand war überraschter als Jupp Schulte, als ein total veränderter Fritzmeier aus dem Urlaub zurückgekehrt war. Ein fröhlicher Mann voller Tatendrang, der stundenlang begeistert von Kreta zu berichten wusste. Ursache für diesen krassen Wandel war seine Urlaubsbekanntschaft Elvira Kaufmann, eine ehemalige Lehrerin aus Bad Salzuflen. Fritzmeier war verliebt wie ein Teenager. Schulte hatte ihn seitdem etliche Male nach Bad Salzuflen gefahren, wo die beiden Alten wie die Turteltauben durch die Straßen der Kurstadt gebummelt waren und Kaffee und Kuchen genossen hatten. Erstaunlicherweise schien dieses späte Glück sehr dauerhaft zu sein, denn es hatte den ganzen Winter überdauert. Was die gebildete und vielseitig interessierte Siebzigjährige an dem über zehn Jahre älteren, schrulligen lippischen Dickschädel fand, war für Schulte mehr als rätselhaft.

Außer Fritzmeier – dem Besitzer des Hofes – und Schulte wohnte dort noch ein Mann Ende Dreißig. Alexander Kogge war vor einigen Jahren völlig pleite dort eingezogen, weil er dringend eine spottbillige Wohnung gesucht hatte. Auf Empfehlung eines gemeinsamen Bekannten, Hermann Rodehutskors, war er dann auf dem Fritzmeierschen Hof untergetaucht. Kogge war ein angenehmer Nachbar, der sich aber aus dem Leben Schultes und Fritzmeiers immer herausgehalten hatte. Schulte sah ihn nur selten und schien manchmal direkt überrascht zu sein, überhaupt einen Nachbarn zu haben.

Um fünfzehn Uhr stand Jupp Schulte mit einem undefinierbaren Gefühl im Magen am Detmolder Bahnhof und wartete.

Dass der Zug mit Verspätung ankam, überraschte ihn nicht. Aber der renovierte Bahnhof! Es war schon eine Zeit her, seit Schulte zum letzten Mal hier ein- oder ausgestiegen war. Mann, hier war aber was verändert worden! Er fragte sich, ob er seine Tochter Ina überhaupt erkennen würde. Seit wann hatte er sie eigentlich nicht mehr gesehen? Wie alt war sie damals gewesen? Der Kontakt zwischen beiden hatte sich jahrelang nur am Telefon abgespielt. Hin und wieder war Post von Ina gekommen, darin auch einige Fotos. Darauf sah sie so unterschiedlich aus, dass es genauso gut verschiedene Mädchen hätten gewesen sein können. Schulte hatte jedenfalls immer Mühe gehabt, so etwas wie einen roten Faden in der optischen Entwicklung seiner Tochter zu erkennen.

Der Zug lief endlich ein. Schulte starrte angestrengt hin und her, um Ina zu entdecken und ihr beim Aussteigen zu helfen. Sicher würde sie einen dieser riesigen unförmigen Kinderwagen mitführen, die mehr kosteten als ein Mittelklasseauto und überall im Weg standen. Dazu noch diverse Koffer für sich und ihren Bengel. Ach ja, und ganze Berge von Pampers! Was junge Mütter eben so mit sich herumschleppen.

Doch nirgendwo in der Menschenmenge erschien ein Kinderwagen. Schulte wurde noch unruhiger. Plötzlich, wie aus dem Nichts, tauchte direkt vor ihm eine junge Frau auf, die ihn fröhlich und erwartungsvoll anstrahlte. Schulte fragte sich gerade, was diese Frau wohl von ihm wollte, da fiel der Groschen.

Die junge Dame, die alles andere als damenhaft wirkte, hatte feuerrot gefärbte, schulterlange Haare, war von zierlicher, aber sportlicher Statur und bebte beinahe sichtbar vor Energie. Der Anblick erinnerte Schulte sofort an Franka Potente im Film Lola rennt. Und ähnlich außer Atem wirkte sie auch. Das mochte mit diesem merkwürdigen, unförmigen und sehr schwer wirkenden Ding zu tun haben, dass an ihrer Brust zu kleben schien. Eine Art Rucksack, aus dem ein kleiner, schwarzhaariger Hinterkopf herauslugte, den sie liebevoll mit einer Hand stützte. Schulte stand vor ihr wie ein tapsiger Pubertierender in der ersten Tanzstunde. Erst später wurde ihm klar, dass er wie ein Vollidiot gewirkt haben musste. Sie schien ihm dies aber nicht weiter übel zu nehmen, sondern lachte ihn mit einem fröhlichen „Hey“ an. Schulte wusste nicht recht, wie er sie begrüßen sollte. Gibt man einer Tochter, die man Jahre nicht gesehen hat, die Hand? Einfach umarmen ging nicht wegen dieses Beutels mit dem kleinen, schwarzhaarigen Hinterkopf. Der durfte dabei nicht zerquetscht werden. Sie löste die Situation auf, indem sie auf den Beutel zeigte und stolz sagte: „Und das ist Linus!“

„Aha!“ Das war das Einzige, was Schulte herausbekam. Eigentlich wäre er gern ganz locker gewesen, hätte den coolen Daddy gemimt. Aber er war merkwürdig gehemmt, ohne sich das erklären zu können. Inas gute Laune sank sichtbar. Schulte ärgerte sich über sich selbst und versuchte, sich zusammenzureißen.

„Entschuldige bitte“, brummte er. „Ich bin ein wenig durcheinander. Wo hast du denn dein ganzes Gepäck?“

Sie konnte schon wieder lachen. „Gepäck? Habe ich doch dabei. Ein Stück vorn und eines hinten!“ Und tatsächlich trug sie auf dem Rücken einen echten Rucksack.

„Das ist alles?“, staunte Schulte. „Was ist mit deinem ganzen Hausrat?“

„Nichts! Viel hatte ich sowieso nie. Den Rest habe ich an Second Hand Läden verkauft. Alle Möbel und fast alle Klamotten. Und falls du einen Kinderwagen vermisst: Erstens hatte ich nie Geld dafür und zweitens finde ich diese Dinger furchtbar lästig. Und warum soll ich ’ne große Tüte Pampers von Greifswald nach Detmold transportieren? Die kosten hier das Gleiche. Es war doch deine Generation, die immer das Leben mit kleinem Gepäck idealisiert hat. Ich jedenfalls lebe danach.“

Endlich konnte Schulte etwas schmunzeln.

„Finde ich prima! Zumindest in der Theorie. In der Praxis wirst du feststellen, dass bei mir zuhause viel unsinniger Krempel herumliegt. Aber warum soll eine Tochter nicht klüger sein als ihr Vater?“

7

Der Schneeregen peitschte Peter Korbmacher ins Gesicht, als er vom Parkplatz an der Dorfstraße Jöllenbecks in die Amtsstraße einbog. Was für ein Scheißwetter, dachte er. Den ganzen Winter über hatte ein laues Lüftchen geweht und jetzt, wo alle auf den Frühling hofften, trieb das Wetter seine Kapriolen. Er war bei schönstem Sonnenschein zuhause losgefahren und jetzt natürlich völlig falsch angezogen. Wenn er nicht total durchnässt im Heimathaus ankommen wollte, musste er sich schnellstens irgendwo ins Trockene retten. Er stürmte geradezu in die Jürmker Bücherstube. Hier hatte er schon vor einer Woche einen Reprint des Westfälischen Dampfbootes bestellt. Eine Zeitung, die im Vormärz von 1845 bis 1848 aufklärend in die gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit einzugreifen versucht hatte. Doch dann hatte Korbmacher aus Geldnot jeden Tag einen weiten Bogen um die Buchhandlung gemacht. Obwohl er einige Artikel aus dieser Zeitung für einen seiner jetzigen Aufträge gut hätte gebrauchen können.

Der Heimatverein Jöllenbeck beabsichtigte, ein Buch über die Geschichte und Lebensbedingungen der Leinenweber herauszugeben. Hierfür und für die damit verbundenen Forschungsarbeiten hatte man Peter Korbmacher gewinnen können.

Als Arbeitsplatz wurde ihm eine Ecke in der Heimatstube des 1801 errichteten und heutigen Heimathauses Jöllenbeck eingerichtet. Das Haus war ein für das Ravensberger Land typischer Bauernkotten, dessen Bewohner von der Landwirtschaft und der Leinenweberei gelebt hatten. Neben anderen historischen Gegenständen erinnerte ein originaler Webstuhl an den Erwerbszweig, der Bielefeld und seine Umgebung einst weit über seine Grenzen hinaus bekannt gemacht hatte.

Nur freitags von fünfzehn bis siebzehn Uhr musste Korbmacher das Feld räumen, denn dann wurde in seinem Arbeitszimmer Kaffee und Kuchen ausgeschenkt. Auch wurde er ab und zu gestört, wenn in dem alten Gebäude eine Trauung stattfand. Sonst konnte er allerdings ungestört seiner Arbeit nachgehen.

In der Buchhandlung war Korbmacher mittlerweile als guter Kunde bekannt. Mit dem Besitzer, der an der Arbeit des Archäologen und Historikers sehr interessiert war, hatte er sich etwas angefreundet.

Und so wurde er gleich, nachdem er die Eingangstür hinter sich geschlossen hatte, von einer Buchhändlerin freundlich begrüßt:

„Hallo, Herr Korbmacher! Lange nicht gesehen. Sie wollten sicher ihre Bücher abholen. Die sind schon seit letzter Woche da. Ich packe Sie Ihnen gleich ein.“

Korbmacher wurde verlegen. Ihm war es peinlich, dass er nicht das Geld hatte, um die Bücher zu bezahlen. Wie oft hatte er sich schon für seinen Eigensinn verflucht, damals ein Magisterstudium angetreten zu haben und nicht, wie alle seine Abiturkollegen, ein Lehrerstudium. Die waren jetzt alle im Staatsdienst und fein raus. Nur er musste sich seit über zwanzig Jahren – meist für einen Hungerlohn – von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur anderen hangeln. Wenn er darüber hinaus mal den einen oder anderen kleinen Auftrag bekam, hatte er jedes Mal das Gefühl, im Geld zu schwimmen. Doch es handelte sich nur um gefühlten Reichtum. Real war und blieb er arm wie eine Kirchenmaus, und er musste sich auch weiterhin das Geld, das er für seine Bücher ausgab, regelrecht vom Munde absparen. Zwar hatte er in diesem Monat wieder einen befristeten Arbeitsvertrag bekommen (er würde die nächsten Jahre im Museum und Park Kalkriese arbeiten …), aber sein erstes Gehalt wäre frühestens in ein paar Wochen fällig.

„Tut mir leid“, antwortete er daher verlegen. „Ich bin eigentlich nur vor dem Regen in Ihren Laden geflüchtet. Die Bücher hatte ich total vergessen. Heute habe ich mir nur einen 10-Euro-Schein eingesteckt. Morgen hole ich die Bestellung ab.“

Die Buchhändlerin bemerkte die Verlegenheit Korbmachers. Um die Situation zu entkrampfen, signalisierte sie ihm, dass es kein Problem sei und bot ihm zum Aufwärmen eine Tasse Kaffee an, die er gerne nahm. Danach stöberte er durch die Regale. Sein Blick fiel auf die Lippekrimis. Die hatte er eigentlich alle gelesen. Doch dann zog er eines der Bücher aus dem Regal: Jugendsünden! Das war ihm wohl entgangen! Sobald er wieder Geld hatte, würde er nicht nur das Westfälische Dampfboot hier abholen, sondern auch den Lippekrimi, der ihm noch in seiner Sammlung fehlte.

Korbmacher wurde von einem Sonnenstrahl geblendet. Er sah aus dem Fenster. Dort, wo eben noch aus dicken, schwarzen Wolken Wasser wie aus Kübeln auf Jöllenbeck gefallen war, blitzte jetzt ein stahlblauer Himmel. Die Sonne tat ihr Bestes, um das Sauwetter von eben vergessen zu lassen. Lediglich am Horizont war der Himmel noch düster verhangen. Doch der Farbkontrast sowie die sich in den Regentropfen brechenden Sonnenstrahlen schufen eine ganz besondere Atmosphäre.

Korbmacher verabschiedete sich und betrat wenige Minuten später das Heimathaus Jöllenbeck. Hier war ihm ein Schrank zugewiesen worden, in dem er einen Großteil seiner Unterlagen deponiert hatte. Die erste Hälfte des Forschungsprojekts hatte er bereits abgeschlossen.

Heute wollte er den Text Korrektur lesen. Da kam ihm die Ruhe der Heimatstube gerade recht. Korbmacher griff nach oben auf den Schrank, in dem seine Utensilien lagen, und tastete nach dem Schlüssel, den er immer auf die gleiche Stelle legte, wenn er nach getaner Arbeit seine Utensilien in dem Schrank verschloss. Er öffnete er die Tür, nahm seine Unterlagen, breitete die Ausdrucke auf einem Tisch aus und begann die Texte neu zu sortieren.

Wenn Korbmacher konzentriert arbeitete, vergaß er alles um sich herum. Dieser Zustand wollte sich heute nicht einstellen. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Heute Morgen hatte er mit einem alten Bekannten telefoniert. Schon nach wenigen Worten war es zu einem heftigen Streit gekommen. Der Gesprächspartner hatte den Hörer danach einfach aufgelegt, ohne das Gespräch formal zu beenden. Korbmacher hasste solche Situationen. Der Anruf machte ihm auch jetzt noch zu schaffen. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren.

Während seiner Abwesenheit hatte sich offensichtlich jemand an seinem Schrank zu schaffen gemacht. Was war hier los? Unbewusst waren seine Sinne auf „Umgebung beobachten“ fokussiert. Als die Eingangstür im Untergeschoss, die manchmal klemmte, kraftvoll zugezogen wurde, fiel er vor Schreck fast vom Stuhl. Er lauschte angespannt. Treppenstufen knarrten. Obwohl es nicht ungewöhnlich war, dass jemand ins Heimathaus kam, um sich umzusehen, hatte er das Gefühl, dass der Besucher, der gerade die Treppe herauf kam, Unheil mit sich brachte.

Jetzt wusste er es! Der Ankömmling bewegte sich unnatürlich leise. Woraus resultierte seine veränderte, geschärfte Wahrnehmung? Hing es mit dem heutigen Telefongespräch zusammen?

Die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete sich, ein Mann trat ein. Es war beklemmend, der Andere sagte kein Wort. Er fixierte Korbmacher mit stechendem Blick und ging langsam auf ihn zu. Der Archäologe fühlte sich nun wirklich bedroht. Seine Hände begannen feucht zu werden, sein Herz schlug wie ein Dampfhammer in der Brust. Er wollte das Schweigen, das wie Blei auf die Atmosphäre drückte, brechen.