Dreck am Stecken - Jürgen Reitemeier - E-Book

Dreck am Stecken E-Book

Jürgen Reitemeier

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Beschreibung

Beim Festakt zum 70. Jahrestag des lippischen Beitritts zum Land NRW will ein Mann einen Anschlag verüben, kann aber von der Detmolder Polizei daran gehindert werden. Der Attentäter wird festgenommen, aber unter ungeklärten Umständen überraschend schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. Ein Vierteljahr später wird dieser Mann tot auf der Baustelle der Falkenburg gefunden.

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Reitemeier / Tewes · Schnapsidee

JÜRGEN REITEMEIER

WOLFRAM TEWES

Dreck am Stecken

PENDRAGON

Inhalt

Danksagung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Danksagung

„So is dat. Die Einen sind so, die Anderen sind so.“

Anton Fritzmeier

Diese Geschichte spielt im Lipperland. Aufgeschrieben wurde sie jedoch unter der Sonne Andalusiens. Für ihre beeindruckende Gastfreundschaft dort möchten wir uns bei Maria und Paul Schulte ganz herzlich bedanken.

Dank gebührt auch unseren Test- und Korrekturlesern Christiane Fischer, Ille Rinke, Andreas Kuhlmann, Frank Mühlenmeier und Andreas Naumann. Gut, dass wir Euch haben.

Das Titelbild kommt wie immer aus den geschickten Händen von Alfons Holtgreve. Wo holt der Mann nur immer seine Ideen her?

Selbstverständlich sind alle Personen und Handlungen frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit real existierenden oder bereits verstorbenen Personen ist purer Zufall und von uns nicht beabsichtigt.

Prolog

„Mehr können wir nicht für dich tun“, sagte der ältere, übergewichtige Mann und steckte dem Kerl, der ihm gegenübersaß, einen dicken, unbeschrifteten Umschlag zu. Dann legte er einen Finger an die Lippen, als wolle er um Ruhe bitten, und fuhr im Flüsterton fort: „Du weißt Bescheid. Es ist deine letzte Chance. Wenn du querschießt, fährst du wieder ein. Aber dann werden wir keinen Finger mehr für dich rühren. Nochmal holen wir dich nicht aus dem Knast. Also, reiß dich zusammen!“

„Das ist doch wie in einem schlechten Film!“, fluchte der andere. „Jahrelang mache ich für euch die Drecksarbeit. Halte meinen Kopf hin, gehe dafür sogar hinter Gitter. Dann, nach Jahren, rührst du einen Finger, damit ich endlich aus dem verdammten Knast komme, du drückst mir einen Briefumschlag mit ein paar Kröten in die Hand und bietest mir diesen verdammten Job als V-Mann an. Wahrscheinlich denkst du sogar, du würdest mir damit etwas Gutes tun und die ganze Angelegenheit sei damit endgültig erledigt. Glaubst du das wirklich?“ Der Alte zeigte keinerlei körperliche Regung. Aber er sah sein Gegenüber mit eiskalten wässrigen Augen an. Allein dieser Blick reichte aus, um dem sportlich wirkenden Mittvierziger zu zeigen, dass er gerade den Bogen überspannt hatte. Dieser bückte sich und griff nach seinem kleinen Koffer.

Der Alte nickte. „Halt mich auf dem Laufenden! Ich will alles wissen, alles!“

Vor einer Stunde hatte der jüngere der beiden nach fast fünf Jahren die Justizvollzugsanstalt Detmold verlassen. Eigentlich hätte er noch viele Jahre dort verbringen müssen. Aber der Alte, der früher sein Freund und Förderer gewesen war, der sich jetzt zu seinem Retter aufspielte und der künftig sein Vorgesetzter sein würde, hatte endlich alle seine Beziehungen spielen lassen, an den richtigen Strippen gezogen und ihn aus dem Knast geholt.

Der Alte hatte behauptet, alles gegeben zu haben. Dennoch wäre es ihm beinahe nicht gelungen, den Jüngeren vorzeitig aus der Haft zu holen, so schwerwiegend seien seine Verbrechen im Dienst gewesen. Letztendlich sei die Tatsache, dass der Silberrücken, wie er in Insiderkreisen genannt wurde, alle in der Hand hatte, ausschlaggebend dafür gewesen, dass sich die Gefängnistüren geöffnet hatten.

Dem Alten hatte er damals viel zu verdanken gehabt. Und jetzt glaubte dieser Mann, er könne alles von ihm verlangen, könne ihn nach Belieben lenken, könne ihn aber auch jederzeit fallenlassen und damit endgültig vernichten. Diese Konstellation musste und würde sich schon bald ändern. Auch er wusste viel über den Alten. Der sollte sich mal nicht wundern, wenn es zum Machtkampf kam. Doch alles zu seiner Zeit. Zunächst würde er seine Rachgier stillen. Dann musste die Machtfrage geklärt werden.

In der Innenstadt betrat er einen Telefonladen und kaufte mit einem winzigen Teil des Geldes aus dem Umschlag ein einfaches Prepaid-Handy. Dann trat er hinaus auf die Straße und schaute sich um. Es war Spätherbst, kühl und regnerisch. Die Menschen liefen mit eingezogenen Köpfen durch die Einkaufsstraßen, jeder schien es eilig zu haben, niemand interessierte sich für ihn. Gut so, fand er. Als er zwei Polizisten durch die Straße bummeln sah, verkrampfte sich sein Magen schmerzhaft. Er drehte sich weg, um nicht gesehen zu werden. Mehr aus einem Reflex heraus als aus Notwendigkeit, denn schließlich war er offiziell wieder ein freier Mann und musste sich nicht verstecken. Doch auch die Beamten beachteten ihn nicht.

Er zückte sein neues Handy und wählte eine Nummer mit Detmolder Ortsvorwahl.

„Hallo“, sagte er leise, während er sich besorgt nach möglichen Ohrenzeugen umschaute. „Ich bin’s. Ich bin jetzt raus. Kannst du mich abholen?“

1

Die Sektgläser wurden erhoben. Dann erklang ein helles Klirren – Ausdruck der guten Stimmung, die bei den Detmolder Polizisten herrschte.

„Immer schön in die Augen sehen!“, meinte Oliver Hartel grinsend und prostete einer Kollegin von der Verkehrspolizei zu.

Polizeirat Jupp Schulte schob sich ein Lachskanapee in den Mund, kaute und nuschelte dabei: „Siebzig Jahre NRW interessieren mich nicht die Bohne, und die Rede unserer Landesmutter erst recht nicht. Seitdem Hanni uns um die verdiente Lohnerhöhung gebracht hat und die Polizei auch sonst wie ein Stiefkind behandelt, ist die bei mir unten durch. Der glaube ich kein Wort mehr. Aber die Schnittchen, die sie für uns geschmiert hat, die sind klasse.“

Ganz schön langweilig heute Abend, dachte Pauline Meier zu Klüt währenddessen. Sie hatte sich freiwillig für die Stallwache gemeldet, denn im Januar war weder auf ihrem Bauernhof noch in ihrem privaten Umfeld etwas los. Aufgesetzte Feiern wie diese, die gerade im Landestheater zelebriert wurde, interessierten doch außerhalb der Politik- und Verwaltungskaste niemanden. Das Geld hätte man sich auch sparen können. Oder aber damit den Menschen helfen, die ohnehin am Rande des Existenzminimums herumkrebsten.

Die Einladungen zur Siebzigjahrfeier waren erst vor ein paar Tagen auf den Tischen vieler Landkreisbediensteter gelandet. Der Flurfunk im Kreishaus hatte gleich darauf vermeldet, dass irgendwelche Verantwortlichen es verschlafen hätten, zu geeigneter Zeit die richtigen Leute einzuladen. Und als sich dann herausgestellt hatte, dass die bereits Eingeladenen nicht einmal das halbe Landestheater gefüllt hätten, da hatte man angeblich die Beschäftigten einiger lippischer Behörden mit Einladungen versehen, um zu verhindern, dass die Ministerpräsidentin und der Landrat vor leeren Rängen reden mussten.

Für die Richtigkeit dieser Aussage hätte Pauline Meier zu Klüt ihre Hand allerdings nicht ins Feuer gelegt. Doch bei vielen Kolleginnen und Kollegen, die von dieser Geschichte gehört hatten und nun glaubten, nur als Lückenbüßer zu der Feier geladen worden zu sein, herrschte natürlich eine gewisse Verärgerung. Nicht wenige von ihnen hatten es deshalb von vornherein abgelehnt, an der Veranstaltung im Landestheater teilzunehmen.

Das Summen des Diensttelefons riss Pauline Meier zu Klüt aus ihren Gedanken.

Schulte nahm sich ein Käsehäppchen. „Auch nicht schlecht!“, brummte er mit vollem Mund.

Eigentlich war er nur hergekommen, weil sein Kollege Lindemann es vorgeschlagen hatte. So hatten sie die Gelegenheit, einen entspannten Abend zusammen zu verbringen, und zwar auf Kosten des Landes.

„So blöd war die Idee, den Lipper zu spielen, ja doch nicht, Lindemann“, fuhr Schulte weitaus artikulierter fort.

Der Angesprochene sah seinen Chef fragend an.

„Wie, den Lipper spielen?“

„Na, die Einladung zu einer Feierlichkeit wahrnehmen, bei der es etwas zu essen und zu trinken gibt, ohne dass man etwas bezahlen muss. Wo alles, wie der Lipper zu sagen pflegt, für umsonst ist.“ Schulte grinste und dozierte weiter. „Und das Mitbringsel zu solchen Feten? Das ist oft der Bruder, der auf diese Weise dann auch noch satt wird.“

„Also, ich wiederhole Ihre Aussagen noch einmal. Nur um sicherzugehen, dass ich Sie richtig verstanden habe“, sagte Pauline Meier zu Klüt in den Telefonhörer. „Sie behaupten also, dass seit Tagen eine Terrorwarnung für die Feier ‚Siebzig Jahre Lippe in NRW‘ vorliegt. Und Sie behaupten weiter, dass diese Meldung vom LKA an die Kreispolizeibehörde Lippe weitergegeben worden sei?“

Die Person am anderen Ende, die sich mit Wintermeier gemeldet hatte, bestätigte ihre Zusammenfassung.

„Außerdem sagen Sie, dass ein Foto des voraussichtlichen Attentäters existiere und dass dieser den Behörden sogar bekannt sei?“

„Richtig. Ich habe Ihnen das Foto gerade noch einmal zugemailt. Sagen Sie bloß, bei Ihnen in der Behörde weiß niemand etwas von dieser Angelegenheit?“ In der Stimme schwang eine gehörige Portion Vorwurf mit.

Schon im nächsten Moment ertönte ein Klicken in der Leitung. Das Gespräch war beendet.

Pauline Meier zu Klüt legte den Hörer auf. Es musste gehandelt werden. Und zwar sofort.

Der Mann in der weißen Kellnerjacke öffnete den Kühlschrank und holte einen Pappkarton hervor. Er riss ihn auf und zog fünf Champagnerflaschen heraus, die er vor sich auf den Tisch stellte. Dann griff er noch einmal in die Kiste und entnahm ihr ein schweres Päckchen. Das dicke Papier leistete angemessenen Widerstand, dann hatte er es geschafft.

Es war gar kein Problem gewesen, die Pistole in das Theater zu schmuggeln. Niemand hatte auch nur eine der angelieferten Getränkeverpackungen kontrolliert.

Zärtlich und respektvoll zugleich strich er über den blanken Lauf der Smith & Wesson. Dann schob er seine Jacke zur Seite und steckte sich den kalten Stahl in den Hosenbund. Sofort spürte er die Kühle auf seiner Haut. Im ersten Moment fühlte es sich an, als habe er sich eine Stange aus Eis zwischen Hose und Rückgrat geschoben. Doch nach dem ersten kurzen Kälteschock strahlte die Waffe etwas Angenehmes aus. Sie gab ihm das Gefühl von Überlegenheit und Macht.

Unglaublich! Ein Attentäter auf der Feier im Landestheater! Wie war noch gleich die Handynummer von Erpentrup? Pauline Meier zu Klüt hatte fast alle Kontakte in ihrem Telefonbuch abgespeichert, aber nicht die des Detmolder Polizeichefs, der ihr oberster Vorgesetzte war. Wie komme ich nur schnell an diese verdammte Nummer, überlegte sie. Hastig tippte sie ein paar Zahlen in die Tastatur ihres Diensttelefons. In der Zentrale meldete sich ihr Kollege Egon Volle und sagte seinen Spruch auf.

Pauline Meier zu Klüt unterbrach ihn.

„Gib mir mal ganz schnell die Nummer von Erpentrup!“

„Die Nummer von Erpentrup? Was willst du denn damit?“, fragte Volle in aller Gemütsruhe.

„Ihn anrufen, was sonst?“, blaffte die Kommissarin.

„Ihn anrufen? Jetzt? Der ist doch im Landestheater. Meinst du denn, der würde an sein Telefon gehen?“

„Egon!“, schrie Pauline Meier zu Klüt in den Hörer. „Egon, die Handynummer!“

„Nun schrei doch nicht so. Ihr von der Kripo meint immer, ihr wärt etwas Besseres. Wenn ihr pfeift, dann müssten alle anderen springen, denkt ihr. Außerdem weiß ich gar nicht, ob ich die Nummer vom Chef rausgeben darf. Wo kämen wir denn hin …“

„Egon, die Nummer! Du hast genau drei Sekunden Zeit!“, schrie die Polizistin ihn an. „Eins!“

„Okay. Aber ein bisschen mehr Höflichkeit erwarte ich schon.“

Der Mann öffnete eine Flasche Champagner und schenkte ein. Nach dem siebten Glas musste er eine weitere Flasche entkorken. Es ist schwieriger, zehn Gläser von diesem Prickelwasser durch die Menge zu balancieren, als jemandem das Hirn wegzublasen, dachte er überheblich, während er das zehnte Glas mit Bedacht aufs Tablett stellte.

Kritisch beäugte er seine Kellnergarderobe in dem großen Wandspiegel. Sitzt super, die Jacke, dachte er. Die Waffe im Hosenbund verursacht nicht die kleinste Beule. Er hatte ein gutes Gefühl. Es würde nicht mehr lange dauern, dann war erledigt, was zu erledigen war, und die Welt sähe anders aus.

„Mann, Erpentrup, geh ran, geh verdammt noch mal an dein verflixtes Telefon!“, murmelte Pauline Meier zu Klüt halblaut und trat aufgeregt von einem Bein auf das andere.

„Der Teilnehmer kann den Anruf zurzeit nicht entgegennehmen. Wenn Sie eine …“

Na, da geht es eben nicht auf dem großen Dienstweg, dachte Pauline. Dann sollte sich Erpentrup nachher aber nicht beschweren, er sei wieder mal übergangen worden. So nach dem Motto, solche wichtigen Angelegenheiten müssten gefälligst über ihn laufen.

Mittlerweile war die E-Mail aus Düsseldorf mit dem Foto des vermeintlichen Attentäters bei ihr eingegangen. Die Kommissarin leitete sie umgehend weiter an ihre Kollegen. Mit der einen Hand bediente sie ihren Rechner, mit der anderen Hand das Telefon.

Sie erreichte Schulte, der sich flüsternd am anderen Ende meldete.

Im Festsaal des Landestheaters herrschte absolute Stille. Die Ministerpräsidentin genoss die uneingeschränkte Aufmerksamkeit, die ihr Vortrag über die Geschichte Nordrhein-Westfalens erweckte. Und sie genoss es, dass alle Anwesenden ihr zu folgen schienen. Da geschah das Unglaubliche.

„Wer hat am letzten Spieltag nichts zu feiern? FC Bayern!“, quäkte eine Kinderstimme. Mehrere hundert Köpfe drehten sich in die Richtung, aus der die Störung kam. Nach dieser hoffnungsvollen Aussage, die sich als Klingelton entpuppte, herrschte einige Sekunden lang Ruhe. Trotz der Dunkelheit, die über den Sitzreihen des Theatersaals lag, konnten einige Anwesende beobachten, wie ein Mann hektisch nach seinem Telefon suchte. Und dann begann die Kinderstimme erneut die hoffnungsfrohe Botschaft zu verbreiten: „Wer hat am letzten Spieltag nichts zu feiern? FC Bayern!“

Stille. Der Mann hatte sein Smartphone mittlerweile gefunden. Das hell erleuchtete Display war für alle sichtbar.

Der Störenfried, dieser unverschämte Kerl, drückte den Anruf jedoch nicht weg, nein, rotzfrech stand er auf und zwängte sich durch die Sitzreihe. Alle Gäste, die rechts von ihm in seiner Reihe saßen, mussten sich erheben, um ihn vorbeizulassen.

Was für eine Impertinenz, dachte die Ministerpräsidentin und war geneigt, die rücksichtslose Person, die sich da oben durch die Sitzreihen quälte, zu beschimpfen. Doch im letzten Moment wurde sie sich darüber klar, dass dies die nächste Ungehörigkeit des Abends gewesen wäre.

Pauline Meier zu Klüt war erleichtert. Zwar wurde aus dem unverständlichen Geflüster, das sie zu Anfang gehört hatte, jetzt ein verärgertes Fluchen, doch immerhin war ihr die Kontaktaufnahme zu ihrem direkten Vorgesetzten gelungen.

„Mensch, Meier, was ist denn so wichtig, dass du mich ausgerechnet jetzt anrufst? Alle Anwesenden haben mich in der letzten halben Minute verflucht, unsere Landesmutter eingeschlossen. Wenn Erpentrup mich erkannt hat, bringt der mich um. Warum habe ich Idiot mein Handy nicht ausgestellt?“

Pauline Meier zu Klüt hätte nie gedacht, dass Schulte sich die Sache so zu Herzen nehmen würde. Er scherte sich doch sonst nicht um irgendwelche gesellschaftlichen Konventionen. Die feierliche Atmosphäre und die prächtige Umgebung schienen selbst einen groben Klotz wie Schulte zu beeindrucken.

„Herr Polizeirat, was bin ich froh, dass ich Sie erreicht habe. Ich habe gerade aus Düsseldorf eine Terrormeldung bekommen. Während der Feier soll ein Attentat auf die Ministerpräsidentin geplant sein.“

Schulte traute seinen Ohren nicht.

„Das glaubst du doch selbst nicht, Meier. Da ruft doch nicht irgend so ein Hansel vom LKA bei der Kreispolizeibehörde Detmold an und gibt mal eben so eine Terrorwarnung durch. So nach dem Motto, hey, ihr Provinzbullen, da passiert gleich was, kümmert euch mal. Wenn da wirklich sowas wie ein Attentat geplant wäre, dann würden die Düsseldorfer doch ganz andere Hebel in Bewegung setzen.“

Pauline Meier zu Klüt schnaubte. „Kann sein, kann nicht sein, Herr Polizeirat. Aber was ist, wenn in der nächsten halben Stunde die Ministerpräsidentin und der Landrat erschossen werden, und morgen stellt sich heraus, dass wir davon gewusst und nichts unternommen haben? Nein, dann doch lieber auf Nummer sicher gehen und die Veranstaltung aufmischen. Und wenn sich das Ganze dann doch als Fake herausstellen sollte, dann holen wir uns eben einen Anschiss ab, und das Leben geht weiter.“

„Hast recht, Meier. Mein Hemd ist sowieso schon dreckig. Da kommt es auf einen Flecken mehr oder weniger auch nicht mehr an. Wie gehen wir vor? Wenn ich die anderen Kollegen jetzt auch noch aus der Veranstaltung hole, dann erschlägt mich der Landrat.“

Die Polizistin unterbrach die Überlegungen ihres Chefs. Sie hatte sich in den letzten Minuten einen vagen Plan zurechtgelegt.

„Ich habe Ihnen und einigen Kollegen eine Nachricht und ein Foto von dem angeblichen Attentäter geschickt. Ich schlage vor, Sie informieren zuallererst die Verantwortlichen beim LKA. Die haben doch sicher so etwas wie eine Kommandozentrale im Landestheater. Schließlich sind die Düsseldorfer für alles verantwortlich. Die sollen dann auch über das weitere Vorgehen entscheiden. Es wäre gut, wenn Sie nach dem Mann auf dem Foto Ausschau halten würden. Sobald der Festakt beendet ist, sollen die Kollegen Sie unterstützen. Ich schreibe allen noch eine Mail mit weiteren Instruktionen und bin dann gleich bei Ihnen.“

Vorsichtig hob der Kellner das Tablett mit den gefüllten Champagnergläsern hoch. Es war verabredet, dass sich die Ministerpräsidentin mit dem Landrat, der Landesverbandsvorsteherin, der Regierungspräsidentin und anderen Politik- und Verwaltungsgrößen in einen separaten Raum zurückziehen würde, um ein erstes Gläschen zu trinken und sich nach dem Auftritt etwas zu entspannen. Anschließend würde man sich dem Volk zeigen.

In diesem Raum war er der Auserwählte, der besondere Kellner, der erst den Champagner servieren und dann, ja dann die Smith & Wesson zum Einsatz bringen sollte.

Gerade hatte er das Tablett vom Tisch genommen, da wurde die Tür geöffnet. Ein Mann vom Sicherheitsdienst trat ein.

„Sie haben noch etwas Zeit. Es hat einen kleinen Zwischenfall gegeben, dadurch verzögert sich das Ende des Festaktes ein wenig. Sie haben noch fünf Minuten, dann können Sie servieren.“

Schulte sah sich suchend im Foyer um. Verzweifelt hielt er Ausschau nach den Kollegen, die für die Sicherheit verantwortlich waren. Auch von der theatereigenen Security war niemand da, oder sie waren verdammt gut getarnt. Während Schulte immer hektischer nach den Leibwächtern der Ministerpräsidentin suchte, sah er sich wieder und wieder das Foto des angeblichen Attentäters auf seinem Smartphone an. Er musste sich dieses Gesicht einprägen.

Dann endlich entdeckte er einen Mann von der Sicherheit. Er erfüllte alle Klischees: kahlrasierter Kopf, schwarzer Anzug und ein Kreuz wie ein Kleiderschrank.

Schulte hastete auf ihn zu und hielt ihm den Polizeiausweis unter die Nase. Das beeindruckte den Glatzkopf überhaupt nicht. Er legte die, wie Schulte fand, typische Düsseldorfer Arroganz an den Tag, verzog den Mund zu einem süffisanten Lächeln und wollte etwas sagen. Doch Schulte kam ihm zuvor.

„Wo finde ich Ihren Chef?“

Der Typ grinste schmierig und fragte: „Sag mal, bist du nicht der Knilch, der eben den gesamten Festakt gestört hat?“

„Schnauze!“, zischte Schulte, der keine Zeit für Frotzeleien hatte. „Wenn du mir jetzt nicht augenblicklich sagst, wo ich deinen Vorgesetzten finde, dann verteilst du aufgeblasener Typ demnächst hier in Detmold Strafzettel.“

Der Mann mit dem rasierten Schädel schluckte. Er sah noch einmal auf den Dienstausweis. Polizeirat. Na ja, das war schon was. Und auf Ärger hatte er gerade keine Lust. Also erklärte er Schulte brav, wo sich die Leitzentrale des Staatsschutzes befand.

Dem Kellner zitterten die Knie. Beim Auftauchen des Kerls von der Security war ihm kurzzeitig das Herz in die Hose gerutscht. Seine Souveränität war erst mal dahin. Er setzte er sich auf den nächstbesten Stuhl, nestelte eine Fluppe aus einer zerdrückten Schachtel und steckte sie sich zwischen die Lippen. Dann sah er das Schild mit der durchgestrichenen Zigarette und blickte zum Rauchmelder hoch, der an der Zimmerdecke angebracht war. Also besser nicht rauchen, das Anrücken der Feuerwehr wollte er auf jeden Fall vermeiden. Frustriert zerbrach er den Glimmstängel und warf ihn in einen Abfalleimer. Er sah auf seine Armbanduhr. Dann hob er das vollgestellte Tablett ein zweites Mal an und verließ den Raum.

Ein Mann in Uniform stellte sich ihr in den Weg. „Hier können Sie jetzt nicht rein.“

Pauline Meier zu Klüt zückte genervt ihren Ausweis und versicherte ihrem Kollegen die Dringlichkeit ihres Unterfangens, ohne ihm jedoch den wahren Grund für ihren Besuch zu nennen. Ihr Auftreten reichte aus, um ins Landestheater eingelassen zu werden.

Wo war nur die verdammte Leitzentrale der Security? Schulte riss Türen auf, sah hinein und knallte sie wieder zu. Mittlerweile verließen die ersten Zuhörer den Theatersaal. Der Festakt schien beendet zu sein. Immer mehr Menschen betraten das Foyer und den feierlich geschmückten Gastraum. Die ersten Sektgläser wurden gereicht. Die Situation wurde immer unübersichtlicher. Ein Kellner ging an Schulte vorbei. Er wirkte angespannt. Schultes Intuition signalisierte ihm: Mit diesem Kellner stimmte etwas nicht. Komisch, dachte er, die Musik spielte ganz woanders. Die Besucher der Feier wollten etwas zu trinken haben. An den Getränkeausgaben wurde jede helfende Hand benötigt, und dieser Kerl marschierte mit seinem Tablett in die entgegengesetzte Richtung, weg von den nach Getränken lechzenden Menschenmassen. Schulte betrachtete erneut das Bild auf seinem Smartphone.

Pauline Meier zu Klüt versuchte, sich so schnell es ging durch den Pulk der entgegenkommenden Gäste zu kämpfen. Aufgeregt sah sie sich um. Wo war Schulte? Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen, versuchte über das Gewimmel hinwegzusehen. Da entdeckte sie ihn. Schulte wandte sich gerade von ihr ab und folgte eilig einem Mann in weißer Jacke, der im Begriff war, eine Tür zu öffnen, während er auf der anderen Hand unsicher ein Tablett mit an den Rand gefüllten Sektgläsern balancierte. Pauline Meier zu Klüt war augenblicklich klar, dass dies kein Kellner sein konnte.

2

Erpentrup fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen. Die Ministerpräsidentin, der Landrat und andere führende Köpfe aus Nordrhein-Westfalen und Lippe hatten sich in diesem Raum verabredet, um nach der Feierstunde noch ein Gläschen Schampus zu trinken. Anschließend wollte man dann gemeinsam ein Bad in der Menge nehmen. Doch es kam niemand. Erpentrup war verärgert. Er sah auf seine Uhr. So unpünktlich konnte doch niemand sein. Hatte er sich etwa im Raum geirrt? Das wäre natürlich extrem peinlich. Fluchend kramte er nach seiner Einladung, die hoffentlich in der Innentasche seines Smokings steckte.

In diesem Moment trat ein Kellner ein. Erpentrup blickte auf. Der Mann vom Service, der ein Tablett voller Gläser auf der Hand balancierte, stellte sich bei dem Versuch, die Tür hinter sich zu schließen, so dermaßen ungeschickt an, dass Erpentrup sich genötigt sah, ihm zu helfen, um einem möglichen Unglück vorzubeugen.

„Lassen Sie mal“, sagte Erpentrup und griff nach der Klinke. Doch da wurde die Tür mit Wucht aufgestoßen und traf Erpentrup an der Schulter. Er wurde gegen den Kellner geschleudert, woraufhin dieser das Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinschlug. In den Raum stürmte ein Mann, stürzte sich auf den am Boden liegenden Kellner, drückte ihm ein Knie in den Rücken und riss seinen rechten Arm nach hinten.

„Schulte, sind Sie wahnsinnig?“, stöhnte Erpentrup. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand er da und rieb sich seine Schulter. Das würde bestimmt ein blauer Fleck werden.

Jetzt hastete auch noch eine Frau in den Raum, in der Hand hielt sie eine Pistole. Pauline Meier zu Klüt, dachte Erpentrup. Es waren wieder alle Wahnsinnigen seiner Polizeibehörde unterwegs.

Sofort kniete sich die Polizistin neben den am Boden fixierten Kellner und presste ihm den Lauf ihrer Waffe in den Nacken. „Polizei, keine Bewegung!“, rief sie.

Schulte saß rittlings auf dem Kellner und zog diesem eine silbern glänzende Waffe aus dem Hosenbund. „Tür zu!“, blaffte er seinen Vorgesetzten Erpentrup an.

Was für ein Abend! Nach der Festnahme des angeblichen Attentäters wuselten die Leute vom Personenschutz des LKA so aufgeregt und planlos herum wie ein Ameisenvolk, dessen Bau man zertreten hatte.

Obwohl Erpentrup während der Feierlichkeiten gar nicht zu erreichen gewesen war, zeterte er nach der Festnahme herum, dass er Schultes ständige Alleingänge nicht mehr ertragen könne. Das Vorgehen hätte mit ihm abgesprochen werden müssen, und er, Erpentrup, erwarte morgen in aller Frühe einen ausführlichen Bericht.

„Ich bin hier der Chef! Und wie immer bin ich der Einzige, der von nichts eine Ahnung hat“, stellte er resigniert fest.

Anscheinend war ihm nicht ganz bewusst, welche Wahrheit er da gerade ausgesprochen hatte. Schulte jedenfalls grinste seinen Chef breit an. Dem stieg gleich die Zornesröte ins Gesicht. Doch bevor sich seine Wut entladen konnte, übernahm Pauline Meier zu Klüt. Da sie Erpentrups Auftritt schon vorhergesehen hatte, konnte sie ihm gleich den Wind aus den Segeln nehmen.

Den Polizeichef beruhigte sie, indem sie ihm mitteilte, dass sich alle nötigen Informationen schon jetzt in seinem E-Mail-Account befanden. Wenn er weitere Fakten benötige, solle er sie nur kurz anrufen.

Erpentrup schien erst einmal besänftigt.

„Wenigstens etwas“, brummte er. „So, und jetzt schaffen Sie diesen Mann hier ohne großes Aufsehen weg. Einen Skandal können wir im Moment wirklich nicht gebrauchen.“

Pauline Meier zu Klüt hatte für den Chef der Detmolder Kreispolizeibehörde auch nicht viel übrig, aber anders als Schulte suchte sie nicht die Auseinandersetzung, sondern ließ ihn ins Leere laufen.

Nun trommelte sie ihre Kollegen von der Mordkommission zusammen. Gemeinsam brachten sie den Festgenommenen zur alten Kreispolizeibehörde. Dort nahmen sie und Schulte sich den Attentäter gleich vor. Doch der sagte nichts. Nicht einmal seinen Namen konnten die Polizisten erfahren. Sie nahmen seine Fingerabdrücke und behandelten ihn erkennungsdienstlich. Auf diesem Wege wurden sie fündig. Kevin Müngersdorf hieß er.

Als Jugendlicher hatte er einmal ein Mofa gestohlen und war dabei erwischt worden. Keine große Sache damals. Es war wohl mehr ein Dummejungenstreich gewesen, der nicht strafrechtlich verfolgt worden war. Immerhin hatte man seine Fingerabdrücke genommen, um herauszufinden, ob er in vergleichbare Straftaten verwickelt war.

Nachdem sie den Namen des angeblichen Attentäters kannten, versuchten Schulte und Meier zu Klüt erneut, ihn zum Reden zu bewegen. Doch er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Na gut, meine Identität kennen Sie ja jetzt. Gute Arbeit!“, bemerkte er grinsend. „Versuchen Sie ruhig, mehr über mich in Erfahrung zu bringen. Helfen werde ich Ihnen dabei aber nicht.“

Das waren die letzten Worte, die die Polizisten in dieser Nacht von Müngersdorf zu hören bekamen. Von da an schaltete er auf Funkstille. Irgendwann warfen Schulte und Meier zu Klüt das Handtuch.

Aus internen Informationskanälen hatte die Truppe um Schulte erfahren, dass die Ministerpräsidentin und der Landrat sich kurz nach der Festnahme des Tatverdächtigen in der Öffentlichkeit gezeigt hatten. Das versuchte Attentat war bis jetzt anscheinend geheim gehalten worden.

Offenbar wollte man die Angelegenheit unter den Teppich kehren. Denn Pauline Meier zu Klüt hatte von Erpentrup eine kurze E-Mail mit dem Betreff „Vergatterung“ erhalten. „Es geht nichts an die Öffentlichkeit!“, war darin zu lesen.

Mittlerweile war es kurz nach drei. Völlig geschafft saßen Schulte und seine Leute zusammen. Hartel hatte illegalerweise ein paar Flaschen Bier organisiert und kalte Getränke besorgt. Doch die meisten nippten nur lustlos an ihrem Kaffee.

„So was habe ich noch nicht erlebt“, meinte Schulte. „Das muss man sich mal reintun. Da plant irgendjemand, eine Terrororganisation oder eine Einzelperson, ein Attentat auf die Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen. Der Verfassungsschutz, das LKA oder sonst wer bekommt Wind von der geplanten Straftat, und nichts passiert. Erst als die Feierlichkeiten schon laufen, erfahren wir in der Kreispolizeibehörde Detmold durch einen Anruf, dass unsere Landesmutter in ein paar Minuten ausgeknipst werden soll. Das ist doch ungeheuerlich!“ Schulte sah Pauline Meier zu Klüt an. „Wie hieß der Kerl noch mal, der dich da angerufen hat?“

„Er hat sich mit Wintermeier gemeldet“, antwortete die Polizistin. „Aber wenn ich im Nachhinein über den Anruf nachdenke, könnte es auch eine Frau gewesen sein, die ihre Stimme verstellt hat. Die Rufnummer war übrigens unterdrückt. Ich habe inzwischen natürlich beim LKA angerufen, doch der Kollege in der Telefonzentrale versicherte mir, es gebe beim Landeskriminalamt überhaupt keinen Beamten mit dem Namen Wintermeier.“

Pauline Meier zu Klüt legte eine Kunstpause ein.

„Also habe ich dem Absender der E-Mail mit dem angehängten Foto geantwortet und ihn gebeten, sich noch einmal bei mir zu melden, da es noch etwas zu klären gäbe.“ Sie schob ihr Tablet in die Mitte des Tisches. „Und hier ist die Antwort: Delivery Notification. Delivery has failed.

„Sendung fehlgeschlagen“, murmelte Lindemann. „Das heißt, der Account wurde eingerichtet, eine E-Mail wurde verschickt, und anschließend hat man den Account wieder gelöscht.“

Pauline Meier zu Klüt nickte. „Relativ sicher ist nur, dass es ein Konto ist oder war, das vom Landeskriminalamt eingerichtet wurde. Aber mittlerweile habe ich auch daran so meine Zweifel. Der Absender kann die Nachricht auch aus einem offenen Netzwerk abgeschickt haben und so getan haben, als stecke das LKA dahinter.“

Hartel verdrehte die Augen. „Ihr meint also wirklich, dass uns irgendjemand vor einem Attentat warnen wollte, das tatsächlich hätte stattfinden sollen? Offenbar wusste ja weder das LKA noch sonst eine Behörde davon?“

„Es wusste vielleicht eine Behörde oder eine Dienststelle davon“, schaltete sich Schulte ein. „Aber die hat die Informationen, warum auch immer, nicht korrekt weitergegeben. Und die Ungereimtheiten sind damit nicht beendet. Kommt es euch nicht alles etwas seltsam vor? Unsere Ministerpräsidentin entgeht haarscharf einem Attentat, und alle tun so, als wäre nichts gewesen! Keine Überprüfungen, keine verstärkten Sicherheitsvorkehrungen, man feiert einfach weiter, und unsere Landesmutter genießt das Bad in der Menge. Entweder ist die Frau kalt wie eine Hundeschnauze, oder sie wusste während der Veranstaltung gar nicht, dass man ihr ans Leder wollte.“

„Vielleicht hat die Ministerpräsidentin ja bis jetzt keine Ahnung, dass sie dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen ist“, gab Hartel zu bedenken.

Die Polizisten schwiegen ratlos.

Schulte schüttelte den Kopf. „Ich wette, diese Geschichte fällt uns noch auf die Füße. Nicht dem LKA, nicht Erpentrup, nein uns, uns allen, die wir hier sitzen.“ Niemand sagte etwas. Aber alle wussten, dass ihr Chef recht behalten sollte.

„Kommt Leute, morgen ist auch noch ein Tag“, sagte er. „Wir machen Feierabend. Morgen früh um neun sehen wir uns wieder.“

3

Ein schriller Klingelton riss Schulte am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Mit großer Willenskraft gelang es ihm, seinen Arm unter der Bettdecke hervorzuziehen, um die penetrante Lärmquelle zum Schweigen zu bringen. Dann drehte er sich zur Wand, zog sich das Kissen über den Kopf und seufzte herzzerreißend.

Er hatte ziemliche Kopfschmerzen, doch das Schlimmste war die Tatsache, dass er jetzt aufstehen musste. Er musste sich auf den Weg in die Kreispolizeibehörde machen und dort diesen renitenten Müngersdorf zum Reden bringen.

Es war Sonntag. Früher war das für Schulte ein Wochentag wie jeder andere gewesen. Doch das hatte sich in der letzten Zeit geändert. Er benötigte diesen arbeitsfreien Tag, um sich auszuruhen. In der letzten Nacht hatte er nur knapp vier Stunden geschlafen, und er hatte keine Ahnung, wie er dieses Defizit kompensieren sollte.

Dieses Jahr würde Schulte seinen sechzigsten Geburtstag feiern. Was ihm früher wie ein biblisches Alter vorgekommen war, würde ihn in Kürze einholen.

Der Wechsel ins nächste Lebensjahrzehnt hatte längst seine Vorboten geschickt. Ein Glas Bier mehr als üblich raubte ihm die nötige Power für den nächsten Tag. Dicht getaktete Arbeitswochen hatten zur Folge, dass Schulte abends über seiner Zeitung einschlief. Wenn er dann später aufwachte und den Kopf, der auf die Tischplatte gesunken war, wieder in die Senkrechte bringen wollte, fühlte sich sein Rücken an, als wäre eine Herde Pferde darüber hinweggaloppiert.

Wollte sein zehnjähriger Enkel mit ihm Fußball spielen, blieb ihm meistens nur die Flucht. Ließ er sich ausnahmsweise auf ein Spielchen ein, plagten ihn anschließend Zerrungen, Verstauchungen und Muskelkater.

Schulte stand auf und zwang sich zum Gang ins Badezimmer.

In der Nacht hatte es gefroren. Der Himmel leuchtete in einem strahlenden Blau. Die Landschaft sah aus, als wäre sie mit weißem Puderzucker überzogen worden. Jetzt einen schönen langen Hundespaziergang, anschließend ein opulentes Frühstück und dann aufs Sofa vor die Glotze und Doppelpass gucken. Das wäre der ideale Vormittag gewesen. In den Werbepausen hätte Schulte noch ein bisschen die Augen zumachen können.

Dieser Traum endete abrupt, als Schulte seinen Defender auf dem Parkplatz vor der Kreispolizeibehörde abstellte. Auf dem Weg in sein Büro stellte Schulte verwundert fest, dass die Tür von Erpentrups Arbeitszimmer nur angelehnt war. Was hatte diesen Kerl, normalerweise der Inbegriff von Faulheit, dazu bewogen, an diesem Sonntag ins Büro zu gehen? Die Verhaftung des mutmaßlichen Attentäters? Wollte Erpentrup jetzt doch mit den gestrigen Ereignissen an die Öffentlichkeit gehen? Na, ihm sollte es recht sein.

Offenbar telefonierte er gerade. „Der alte Silberrücken“, hörte Schulte seinen Chef sagen. „Ja, die Angelegenheit habe ich gerade erledigt.“

Schulte wollte nicht lauschen, sondern ging weiter und klopfte wenig später an die Bürotür von Pauline Meier zu Klüt. Die sortierte ihre Unterlagen.

„Erpentrup ist auch im Haus“, informierte er seine Kollegin.

„Der ist mir auch schon über den Weg gelaufen“, entgegnete sie. „Irgendwie ist der komisch drauf heute.“

Schulte zuckte mit den Schultern. „Egal. Ruf doch mal unten an und lass den Müngersdorf in den Vernehmungsraum bringen. Ich hole mir noch kurz einen Kaffee und komme dann dazu.“

Fünf Minuten später traf er Pauline Meier zu Klüt am Türrahmen des Vernehmungsraums an. Sie sah Schulte vielsagend an.

„Ich weiß jetzt, warum Erpentrup im Hause war“, sagte sie mit monotoner Stimme. „Er hat Müngersdorf ans LKA übergeben.“

Schulte sah sie ungläubig an.

„Ich hatte gerade Volle an der Strippe“, fuhr sie fort. „Der hat gesagt, vor einer halben Stunde sei ein Mann vom LKA dagewesen, so ein Großer, Schlanker, um diesen Müngersdorf abzuholen. Ein versuchtes Attentat auf die Ministerpräsidentin, das sei für uns hier in Detmold ja wohl eine Nummer zu groß, habe der Mann zu Volle gesagt. Daraufhin hat Volle Erpentrup angerufen, der kurz vor dem LKA-Mann hier in der Kreispolizeibehörde aufgeschlagen war. Der habe sein Okay gegeben. Daraufhin haben die Kollegen diesen Müngersdorf aus der Zelle geholt und ans LKA übergeben.“

Schulte machte auf dem Absatz kehrt, um wütend in Erpentrups Büro zu stürmen. Doch schon während seiner Kehrtwende hörte er Pauline Meier zu Klüt sagen: „Sie brauchen sich gar nicht zu bemühen, Herr Polizeirat. Unser aller Chef hat die Behörde schon wieder verlassen.“

4

Hans Maurer wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Anstieg von der Gauseköte zur Falkenburg war anstrengender gewesen als gedacht. Am frühen Nachmittag war er seiner Bürgerpflicht nachgekommen und hatte gewählt. Es war Sonntag, der 14. Mai – Wahltag in Nordrhein-Westfalen. Maurer war direkt vom Wahlbüro in der Detmolder Innenstadt nach Berlebeck gefahren und hatte sich zu Fuß auf den Weg zur Falkenburg gemacht. Aus den fast nicht mehr erkennbaren Überresten der alten Burg, so wie er sie als junger Mann kannte, war eine quirlige Baustelle geworden. Mächtige, trutzige Mauern ragten vor ihm auf und ließen ihn erahnen, welche einschüchternde Wirkung sie einst auf reisende Händler, aber auch auf potentielle Feinde gehabt haben mussten.

Vor einigen Jahren war aus einer völlig verrückt erscheinenden Idee ein beeindruckendes Projekt geworden. Auf den Überresten der Ruine wurden die Mauern wieder aufgebaut, Brunnen waren freigelegt und neu befestigt worden, und langsam, aber stetig entstand vor den staunenden Blicken der Besuchergruppen eine echte Burg.

Hans Maurer wollte dies einmal mit eigenen Augen sehen und war deshalb die steile Strecke durch den Wald gelaufen. Nun stand er vor der Außenmauer und las auf einem Hinweisschild, dass es verboten sei, die Baustelle zu betreten. Er schaute sich kurz um, sah weit und breit keinen Menschen und quetschte sich kurzerhand durch das provisorische Tor. Staunend bummelte er kreuz und quer durch die Anlage. Als er vor einer mit Feldsteinen eingefassten höhlenartigen Öffnung stand, die früher offenbar als Felsenkeller gedient hatte, lugte er neugierig hinein. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase, und als er das Brummen Hunderter Fliegen hörte, wollte er sich schon angewidert abwenden. Da blieb sein Blick an etwas hängen, was ihn kurz erstarren ließ. Im Halbdunkel des großen Loches erkannte er einen hellbraunen Schuh. Aber der lag nicht flach auf dem Boden, sondern stand senkrecht, wie bei einem Menschen, der auf dem Rücken liegt. Dann sah er den zweiten Schuh. Als sich seine Augen an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, erkannte er ein Hosenbein.

Entsetzt wollte Maurer zurückweichen. Aber die Fliegen schwärmten nun in großer Menge auf ihn ein. Sie waren überall, in den Ohren, im Hemdkragen, in den Augen. Wild um sich schlagend konnte er endlich seinen Oberkörper aus der Höhlung zurückziehen. Am liebsten wäre er davongelaufen. Nichts als weg von hier! Aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn ließ er sich auf eine der neuen, niedrigen Mauern fallen und atmete tief durch. Dann zog er mit zitternden Fingern sein Handy aus der Tasche und musste feststellen, dass hier oben kein Empfang war.

So zufrieden hatten die Beamten der Kreispolizeibehörde in Detmold ihren Chef schon lange nicht mehr erlebt. Tänzelnd und ein Liedchen summend lief er durch die Flure, schaute in jedes Büro und rief fröhlich: „Guten Morgen! Wunderschöner Tag heute!“ Auf die völlig verblüfften Gesichtsausdrücke achtete er nicht.

Nachdem er sich behaglich in seinen edlen Chefsessel gefläzt hatte, schnipste er einige eingebildete Fussel von seinem perfekt gebügelten dunkelblauen Anzug und ließ seinen Blick durch das großzügig geschnittene Büro schweifen. Fast hätte er vor Glück geseufzt. Die Welt und das Leben konnten so schön sein.

Am gestrigen Sonntag hatten die Nordrhein-Westfalen gewählt. Und sie hatten, nach Meinung von Klaus Erpentrup, Leiter der Detmolder Kreispolizeibehörde, gut gewählt. Die bisherige Landesregierung war mit Pauken und Trompeten in die Wüste geschickt worden, und die FDP, Erpentrups politische Heimat, war wie Phönix aus der Asche gestiegen. Vorbei die Jahre der Demütigung, vorbei die spöttischen Bemerkungen anderer Parteien. Die Liberalen waren endlich wieder wer, waren zurück im Rennen. Und mit ihnen Klaus Erpentrup.

Seine gute Laune hielt auch während der Montagmorgenbesprechung an. Der Fund einer männlichen Leiche auf dem Gelände der Falkenburg schien eine ganz normale Routineermittlung zu werden. Der Mann war offenbar nicht so leicht zu identifizieren, weil sein Gesicht durch Tierfraß reichlich entstellt war, aber dafür gab es ja Renate Burghausen, die Leiterin der Spurensicherung. Erpentrup mochte sie nicht besonders. Sie war mehrere Zentimeter größer als er, dabei war er mit seinen durchaus vorzeigbaren einssechsundachtzig alles andere als mickrig. Ihre fachliche Kompetenz jedoch war unumstritten. Sie und ihr Team würden schnell herausfinden, um wen es sich bei dem Toten handelte. Da machte er sich als Chef des Ganzen keine Sorgen. Den Rest würden Jupp Schulte und seine Ermittlertruppe erledigen.

Schulte konnte er gar nicht ausstehen. Die Zusammenarbeit mit diesem struppigen, widerborstigen Endfünfziger war ein einziger Kampf, denn er war einfach nicht bereit oder in der Lage, sich an Regeln zu halten. Immer wieder waren die beiden so ungleichen Männer zusammengerasselt. Hier der eloquente, gutaussehende und strebsame Klaus Erpentrup, ein wahrer Vorzeigechef, dort der schlampig gekleidete, schlecht rasierte und fluchende Jupp Schulte. Oft genug hatte Erpentrup versucht, diese Nervensäge loszuwerden. Aber leider war Schulte ein außerordentlich erfolgreicher Ermittler. In aller Regel löste er die Fälle, die er übernahm, und seine Leute standen zu ihm, verziehen ihm offenbar alle Ungehörigkeiten.

Doch an diesem Morgen war Erpentrups gute Laune durch nichts und niemanden zu erschüttern. Während der ganzen Besprechung spielte ein Lächeln auf seinen Lippen. Tief in seinem Innern hatte er das Gefühl, dass sich sein ganz persönliches Glück an diesem Tag noch steigern sollte.

Um kurz nach vier meldete sich sein Telefon, und eine wohlbekannte Stimme begrüßte ihn. Es war ein Parteimitglied in hoher Position aus Düsseldorf. Erpentrup hatte diesen Mann häufig bei Parteiveranstaltungen getroffen und schätzen gelernt.

„Wir sind wieder wer, mein Lieber“, jubelte der Anrufer. „Jetzt werden wir die Sache in die Hand nehmen. Wir haben Großes vor. Und dabei brauchen wir Leute, die schon bewiesen haben, dass sie führen, dass sie voranmarschieren können. Kluge Köpfe mit einer harten Hand. Kurz und gut, wir brauchen Leute wie dich. Seit heute Morgen in aller Herrgottsfrühe hocken wir zusammen und zerbrechen uns die Köpfe, wen wir ins Boot holen könnten. Ich habe dich für eine hohe Aufgabe im Innenministerium ins Gespräch gebracht. Der Vorschlag ist sehr positiv aufgenommen worden. Wärst du gern Staatssekretär? Alles ist möglich, die Welt steht uns offen. Was meinst du?“

Erpentrup brachte kein Wort heraus.

Sein Anrufer deutete seine Sprachlosigkeit richtig. „Das ist natürlich eine Riesenüberraschung, kann ich verstehen. Lass dir etwas Zeit mit deiner Zusage. Und vor allem, mein lieber Klaus: Kein Bockmist bis dahin, verstehst du? Du darfst jetzt keinen Fehler machen. Denk daran!“

Renate Burghausen hatte wirklich schnell gearbeitet. Schon mittags wurde die Ermittlungsgruppe zusammengerufen.

„Es ist ein vorläufiges Ergebnis“, begann sie. „Die Obduktion läuft noch. Aber für den Bereich der Spurensicherung kann ich schon mal einen groben Überblick geben. Der Mann ist erschlagen worden. Er starb an einem Schädelbruch. Das Tatwerkzeug muss lang und rund gewesen sein. Ein Stuhlbein oder etwas Vergleichbares. Die vermutete Tatwaffe spricht für eine Handlung im Affekt, da will ich mich aber noch nicht festlegen. Der Todeszeitpunkt muss durch die Obduktion genauer bestimmt werden, aber dem ersten Eindruck nach war der Mann gestern bereits zwei Tage tot. Ich tippe auf die Nacht von Donnerstag auf Freitag. Der Tote hatte keine Papiere bei sich, aber – und das war eine Überraschung – seine Fingerabdrücke waren bereits in unserer Datenbank. Könnt ihr euch noch an den Festakt am 21. Januar erinnern, als siebzig Jahre Lippe in NRW gefeiert wurden? Damals gab es einen Attentatsversuch, der vereitelt werden konnte. Einen Täter hatten wir auch. Daher die Fingerabdrücke. Der Mann hieß Kevin Müngersdorf, wohnhaft in Heiligenkirchen. Fällt der Groschen?“

Der fiel sogar sehr laut. Jupp Schulte erinnerte sich nur zu gut an den Morgen, als er Müngersdorf vernehmen wollte. Damals hatte ihn die Auskunft, dass Erpentrup den Mann ans LKA übergeben hatte, persönlich gekränkt. In der Zwischenzeit hatte er den Vorfall vergessen. Nun quoll alles wieder hoch.

„Großartig!“, polterte er los. „Aber unser Landeskriminalamt hat ja immer alles im Griff! Die sorgen sich rührend um die Sicherheit der Menschen, die sie in ihren Fängen haben. Das stinkt doch zum Himmel. Angeblich waren wir damals zu blöd, um diesen Mann festzunageln. Also mussten das die besonders kompetenten Kollegen vom LKA machen. Wenn der Kerl bei uns verknackt worden wäre, würde er jetzt noch am Leben sein. Zwar in einer Zelle, aber quicklebendig.“

Erpentrup sprang auf. Seine strahlende Laune war dahin, er wirkte angespannt und nervös.

„Schulte, Sie stehen hier nicht auf einer Theaterbühne. Halten Sie sich etwas zurück. Mir hat die Sache damals auch nicht gefallen, aber es wurde eben von oben so entschieden, und damit basta. Momentan können wir uns keine Unvorsichtigkeiten erlauben. Gerade jetzt müssen wir ganz besonders auf Zack sein. Keine Schnellschüsse, keine Fehler, meine Damen und Herren.“

„Warum gerade jetzt?“, bohrte Schulte nach. „Wann können wir uns denn Unvorsichtigkeiten erlauben? Was meinen Sie damit?“

Wenn Blicke töten könnten, wäre Schulte in diesem Moment tot umgefallen.