Der Bergpfarrer 379 – Heimatroman - Toni Waidacher - E-Book

Der Bergpfarrer 379 – Heimatroman E-Book

Toni Waidacher

0,0

Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 10 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Unter anderem gingen auch mehrere Spielfilme im ZDF mit Millionen Zuschauern daraus hervor. "Na, jetzt bist' wohl richtig hungrig, was?" Franz schaute den jungen Burschen schmunzelnd an. Joe kam eben aus dem Reifelager, wo er die Käselaibe gewendet und mit Salzlake abgebürstet hatte. "Was mach' ich bloß, wenn du net mehr hier bist?", setzte der Senner in gespieltem Entsetzen hinzu. "Ich mag ja gar net dran denken." Die beiden setzten sich auf die Aussichtsterrasse, von der man einen herrlichen Blick auf die Berge hatte. Zwar hatten sie schon einmal gefrühstückt, aber das war in aller Herrgottsfrühe gewesen, als die Sonne noch gar nicht so richtig aufgegangen war, gleich nach dem Melken der Kühe und Ziegen. Jetzt hatte der Hunger wieder eingesetzt, und auf dem Tisch standen Brot und Käse, Butter und Dauerwurst, Honig und Marmelade bereit. Für den Thurecker-Franz gab es heißen Kaffee, für Joe Brunner, der eigentlich Josef hieß, Milch, wie sie frischer nicht sein konnte. "Nachher ist der Ziegenfrischkäse dran", bemerkte er. "Ich hab' schon die Kräuter gesammelt." Der Fünfzehnjährige deutete auf die Almwiese, von der er am Morgen die Kräuter gesucht hatte. "Die geben einen prima Geschmack." Franz lächelte. "Warum wirst' eigentlich net mein Nachfolger?", fragte Franz, halb im Spaß, halb im Ernst. "Das Zeug dazu hast du?" Joe schaute nachdenklich vor sich hin. Das Zeug dazu hast du - das hatte auch der Rossnerbauer gesagt, als er ihm auf dem Hof und bei den Kühen geholfen hatte. Der Bursche schüttelte den Kopf. "Ich werde Bauer", erklärte er. "Aber bestimmt kann ich da auch das gebrauchen, was ich bei dir gelernt hab'." "So, so", lachte der Alte, "dann willst' mir also Konkurrenz machen." Joe wiegte den Kopf hin und her.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 118

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Bergpfarrer -379-

 Entzweite Liebe

Kommt der Bergpfarrer einer Intrige auf die Spur?

Roman von Toni Waidacher

»Na, jetzt bist’ wohl richtig hungrig, was?«
Franz schaute den jungen Burschen schmunzelnd an. Joe kam eben aus dem Reifelager, wo er die Käselaibe gewendet und mit Salzlake abgebürstet hatte.
»Was mach’ ich bloß, wenn du net mehr hier bist?«, setzte der Senner in gespieltem Entsetzen hinzu. »Ich mag ja gar net dran denken.«
Die beiden setzten sich auf die Aussichtsterrasse, von der man einen herrlichen Blick auf die Berge hatte. Zwar hatten sie schon einmal gefrühstückt, aber das war in aller Herrgottsfrühe gewesen, als die Sonne noch gar nicht so richtig aufgegangen war, gleich nach dem Melken der Kühe und Ziegen. Jetzt hatte der Hunger wieder eingesetzt, und auf dem Tisch standen Brot und Käse, Butter und Dauerwurst, Honig und Marmelade bereit. Für den Thurecker-Franz gab es heißen Kaffee, für Joe Brunner, der eigentlich Josef hieß, Milch, wie sie frischer nicht sein konnte.
»Nachher ist der Ziegenfrischkäse dran«, bemerkte er. »Ich hab’ schon die Kräuter gesammelt.« Der Fünfzehnjährige deutete auf die Almwiese, von der er am Morgen die Kräuter gesucht hatte. »Die geben einen prima Geschmack.«
Franz lächelte.
»Warum wirst’ eigentlich net mein Nachfolger?«, fragte Franz, halb im Spaß, halb im Ernst. »Das Zeug dazu hast du?«
Joe schaute nachdenklich vor sich hin. Das Zeug dazu hast du – das hatte auch der Rossnerbauer gesagt, als er ihm auf dem Hof und bei den Kühen geholfen hatte.
Der Bursche schüttelte den Kopf.
»Ich werde Bauer«, erklärte er. »Aber bestimmt kann ich da auch das gebrauchen, was ich bei dir gelernt hab’.«
»So, so«, lachte der Alte, »dann willst’ mir also Konkurrenz machen.«
Joe wiegte den Kopf hin und her.
»Na ja«, meinte er, »bis ich so ein Käsemeister bin, wie du, vergeh’n noch Jahre. Außerdem …«
Er verstummte und schaute vor sich hin.
»Außerdem, was?«, hakte der Senner nach.
Joe zuckte die Schultern. »Ich weiß ja noch gar net, ob’s überhaupt was wird, mit der Landwirtschaft, wenn mein Onkel mich nach Neuseeland mitnimmt, dann ist’s ohnehin Essig damit.« Beinahe trotzig biss er von seinem Brot ab und kaute schweigend vor sich hin.
Franz Thurecker blickte ihn an, er konnte die Sorgen des jungen Burschen verstehen.
Als Waise im Heim der barmherzigen Schwestern, in Garmisch-Partenkirchen, aufgewachsen, war Joe von dort fortgelaufen, nachdem er sich mit seinem bis dahin besten Freund zerstritten hatte.
»Das Unglück der Männer, sind die Frauen!«, hatte Tobias neunmalklug gesagt – und sich dann an das Madel herangemacht, auf das Joe selbst ein Auge geworfen hatte.
Böse Worte waren gefallen, und Tobias hatte behauptet, Joes Mutter lebe noch und habe den Buben ins Heim abgeschoben, weil der Vater sie mit dem Kind sitzengelassen hätte.
Diese Behauptung wurde zur fixen Idee, und Joe war plötzlich überzeugt, dass seine Mutter tatsächlich noch am Leben sei.
Er wollte, nein, musste sie unbedingt finden!
Auf einem Ausflug ins Freibad, den die größeren Kinder ohne Aufsicht unternehmen durften, entwischte er und floh in Richtung Wachnertal.
Wachnertal, St. Johann, das waren die einzigen Anhaltspunkte, die er hatte. Während Joe sich in der Kirche verkroch, um in der Sakristei zu übernachten, wurde er Zeuge, wie ein Mann in die Krypta schlich. Der Bub ahnte, dass der Unbekannte nichts Gutes im Schilde führte, sperrte ihn kurzerhand ein und wurde so zum Retter der aus der Kirche gestohlenen Figur der Mutter Gottes.
Es versteht sich von selbst, dass der Bergpfarrer Joe erst einmal bei sich aufnahm und ihm bei der Suche nach seiner Mutter behilflich war. Indes stand jetzt fest, dass Josef und Christl Brunner, seine Eltern, tatsächlich vor mehr als zehn Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Joe wuchs zunächst bei seiner Großmutter in Waldeck auf kam aber nach deren Tod ins Heim.
Die Fluggesellschaft, der man ein Verschulden an dem Unglück nachgewiesen hatte, zahlte den Hinterbliebenen eine beachtliche Summe Schmerzensgeld, die sich im Falle von Joes Eltern sogar noch verdoppelte. Elisabeth Gruber legte dieses Geld für die Zukunft ihres Enkelkindes gut an, sodass sich bis heute ein kleines Vermögen angesammelt hatte, über das der Bursche bei seiner Volljährigkeit verfügen können sollte.
Joe hatte auf seiner Flucht aus Garmisch-Partenkirchen Anton Rossner kennengelernt, einen Bauern, der einen Hof in der Nähe von Glockenbach besaß. Zwei Tage blieb er dort, half Rossner bei der Arbeit und gewann sogar das Herz der anfangs misstrauischen Bäuerin.
Eines Tages, so hoffte Joe, würde er auf den Rossnerhof zurückkehren und dort eine Ausbildung als Landwirt machen.
Doch dann kam alles ganz anders! Nichtsahnend öffnete Joe die Tür des Pfarrhauses und ein wildfremder Mann stellte sich ihm vor. Er behauptete, Joes Onkel Christian zu sein, der Bruder der verstorbenen Mutter.
Freilich war diese unerwartete Wendung ein Schock für den Fünfzehnjährigen, der sich inzwischen damit abgefunden hatte, tatsächlich eine Waise zu sein, die ihre Eltern niemals kennenlernen würde, doch der Schrecken riss nicht ab, denn Christian Gruber erklärte unumwunden, Joe mit nach Neuseeland nehmen zu wollen, wo er sich inzwischen ein neues Leben aufgebaut hatte.
Der junge Bursche sah nur einen Ausweg, dem zu entkommen – nämlich erneut zu fliehen. Nach zwei Tagen, die er im ›Höllenbruch‹ zugebracht hatte, stieg er über den Wirtschaftsweg zur Kandereralm hinauf und suchte Unterschlupf bei Franz Thurecker.
Joe und der Senner hatten gerade den Tisch abgeräumt und die Sachen in die Hütte getragen, als ein Auto den Wirtschaftsweg herauf kam.
»Nanu, wollen die schon den Käse holen?«, murmelte Franz erstaunt. Und war noch erstaunter, als er sah, wer da aus dem Wagen stieg.
»Hochwürden?«, fragte er ungläubig.
Noch nie war es vorgekommen, dass der gute Hirte von St. Johann mit dem Auto auf die Alm gekommen war.
»Ich weiß, dass es ein ungewöhnlicher Anblick ist«, lächelte Sebastian Trenker. »Aber glaub’ mir, es war notwendig, dass ich so rasch wie möglich herauf komm’, und ganz gewiss wird’s bei diesem einem Mal bleiben.« Er schaute sich um. »Wo steckt er denn, der Joe?«
Franz schmunzelte. »Der hat sich in der Hütte verkrochen.«
»Es ist alles in Ordnung«, rief der Bergpfarrer. »Du kannst herauskommen, Joe, und keine Angst, es wird alles gut. Versprochen!«

*

»Guten Morgen, Mutter. Wie geht es dir?« Thomas von Darrenberg beugte sich zu seiner Mutter hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ist Vater schon im Büro?«
Gräfin Ursula nickte. Sie saß auf der Terrasse des Schlosses, das Frühstück vor sich, und schaute ihren Sohn forschend an.
Hatte er sich verändert? War er anders, als sonst?
Erleichtert atmete sie auf, als sie nichts feststellen konnte, das sie hätte beunruhigen müssen.
»Guten Morgen, Graf Thomas. Kaffee?« Lautlos war die Haushälterin durch die Tür gekommen.
Der junge Graf nickte. »Ja, danke, einen Kaffee nehme ich, dann wird es Zeit für mich.«
Die Gräfin schüttelte den Kopf. »Junge, nimm dir Zeit und frühstücke in Ruhe. Vater wird auch noch eine halbe Stunde ohne dich auskommen können.«
Thomas schüttelte den Kopf. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, groß und schlank, sein markantes Gesicht wurde von einem dunklen Augenpaar dominiert, seine fast schwarzen Haare waren modisch kurz geschnitten.
»Geht nicht«, erwiderte er, während er mit einem Nicken die Kaffeetasse entgegennahm, die die Haushälterin ihm reichte. »Brockmann kommt um elf und holt die beiden Hengste ab. Ich will dabei sein, wenn sie verladen werden. Die Tiere sind zu wertvoll.«
Das Gestüt Darrenberg war berühmt für seine Zucht, einige der besten Rennpferde Europas stammten aus diesem Stall. Jetzt waren zwei Deckhengste verkauft worden, und Graf Thomas legte Wert darauf, das Verladen stets persönlich zu überwachen. Waren die Pferde dann übergeben, gab er damit gleichzeitig auch die Verantwortung für die Tiere ab.
»So geht das aber nicht!«, tadelte Gräfin Ursula. »Du wirst noch krank, wenn du nichts isst!«
»Nachher«, winkte er ab. »Ich hole mir dann eine Kleinigkeit aus der Küche.«
Er gab seiner Mutter erneut einen Kuss, nahm den Trachtenjanker vom Stuhl und schlüpfte hinein.
Mit einem ›Bis später!‹ eilte er durch die Tür und betrat das große Esszimmer, das an die Terrasse grenzte.
Auf dem Büffet standen noch Kaffeekanne und Aufschnittplatten, Körbe, mit Laugengebäck und Semmeln, auf einem Rechaud wurden Rühreier und Nürnberger Rostbratwürstel warm gehalten. Anna Vollmers räumte allerdings schon zusammen.
Thomas war wieder einmal, aufgefallen, wie blass Henrikes Mutter ausschaute.
»Immer noch keine Nachricht?«, fragte er.
Die Haushälterin schüttelte den Kopf und zog ein Taschentuch hervor, mit dem sie die Tränen abwischte, die ihr bei der Frage in die Augen gestiegen waren.
Thomas nahm sie in die Arme.
»Am Wochenende setzen wir uns zusammen und überlegen gemeinsam, wo Henrike sein könnte«, versprach er. »Und wenn es sein muss, fahre ich um die halbe Welt, um sie zu finden!«
Er nickte Anna aufmunternd zu und ging hinaus.
Indes war ihm alles andere, als zuversichtlich zumute. Seit sechs Wochen war Henrike jetzt verschwunden, und kein Mensch wusste, wo sie sich aufhielt.
Oder sich versteckte? Sogar vor ihm?
Thomas schluckte beklommen, als er an die Vermisste dachte. Ein Leben lang, so hatte er geglaubt, würde ihre Liebe halten, und doch war sie letztendlich an dieser Krankheit gescheitert, die Henrike an den Rollstuhl zu fesseln drohte.
Wie dumm von ihr, zu glauben, seine Liebe wäre nicht stark genug, das zu ertragen!
»Sie sagt, sie kann es dir nicht zumuten, dein Leben mit einer gelähmten Frau zu teilen.«
Das hatte ihm Henrikes Mutter von ihrer Tochter ausgerichtet. Die Haushälterin und ihr Mann, Karl, der als Chauffeur auf Schloss Darrenberg arbeitete, waren die einzigen Menschen, die von der Liebe ihres Kindes zu dem Grafensohn wussten.
Eine verbotene, weil nicht standesgemäße Liebe!
Nicht Hals über Kopf hatten sie sich ineinander verliebt, es war langsam gewachsen. Seit fast zwanzig Jahren lebten und arbeiteten die Vollmers im Schloss, Henrike war sechs gewesen, als sie hier anfingen, Thomas zwei Jahre älter. Fast wie Geschwister waren sie aufgewachsen, ganz selbstverständlich ging das Madel in den herrschaftlichen Räumen ein und aus, wie Graf Thomas genauso selbstverständlich in der Wohnung, unter dem Dach, mit der Freundin spielte.
Als sie älter wurden, flaute es ab. Der junge Graf hatte andere Interessen, als die Chauffeurstochter.
Henrike ging aufs Gymnasium, machte ihr Abitur, während Thomas bereits Betriebswirtschaft studierte. Eines Tages würde er, als Nachfolger seines Vaters, das Gestüt übernehmen.
Henrike machte ihr Abitur mit der sensationellen Note von Eins Komma null. Es hatte für sie immer festgestanden, dass sie Medizin studieren wollte und hatte mit diesem Abschluss hatte sie die besten Voraussetzungen dafür geschaffen.
Auf der Feier, zu der sie ein paar Freundinnen und Bekannte eingeladen hatte, war es dann geschehen, dass Thomas Henrike mit anderen Augen sah, als er es bisher getan hatte. Sein Herz klopfte schneller, wenn sie ihn anschaute, und der Mund wurde vor Aufregung trocken.
Natürlich war sich der junge Graf des Risikos bewusst, dass er einging, als er Henrike endlich seine Liebe gestand. Ein ganzes Jahr hatte er gewartet, als Henrike dann in den Semesterferien Heim kam, geschah es.
Auf dem Gestüt war es selbstverständlich, dass jeder reiten konnte, angefangen bei der gräflichen Familie, bis hin zu den Knechten und Angestellten, ohne die ein solcher Betrieb nicht funktionierte. Es gab lediglich zwei Ausnahmen, Anna Vollmers weigerte sich beharrlich auf ein Pferd zu steigen, und Carl hatte schon bei seiner Einstellung erklärt, die einzigen Pferdestärken, die ihn interessierten, steckten unter der Motorhaube der gräflichen Limousine.
Nicht so Henrike!
Die Tochter des Ehepaares lernte das Reiten, kaum dass sie mit ihren Eltern auf das Schloss gezogen war, und schon nach kurzer Zeit brachte sie es zu solch einer Perfektion, dass Graf Jochen sie zu einem Turnier anmeldete. Henrike gewann das Springreiten in ihrer Altersklasse vor der gleichaltrigen Bianca von Wollenstedt, die daraufhin nicht ihre beste Freundin wurde …
Auf den gemeinsamen Ausritt, den Henrike und Thomas am ersten Tag der Semesterferien unternahmen, konnte sich der junge Graf nicht länger zurückhalten. Anmutig und begehrenswert saß die Studentin im Sattel, ihr langes Haar wehte unter dem Helm, und wenn sie lachte, dann ging ihm das Herz über.
Als sie eine Pause einlegten, nahm Thomas sie in die Arme. Beide außer Atem, schauten sie sich an, genau wissend, was jetzt geschehen würde.
Der Kuss war zart und wild zugleich, ein Versprechen für die Ewigkeit. Und doch äußerte Henrike Zweifel.
»Wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte sie.
Sie saßen im Gras und hielten sich an den Händen, während die Pferde in der Nähe an den Zweigen des Baumes zupften, an den sie gebunden waren.
Ihnen war beiden klar, dass ihre Liebe geheim bleiben musste. Wenigstens solange, bis Henrike mit dem Studium fertig war. Dann würde Gräfin Ursula vielleicht keine Einwände gegen diese unstandesgemäße Verbindung haben. Doch jetzt durfte sie auf keinen Fall davon erfahren.
»Mutter würde der Schlag treffen«, hatte Thomas, halb im Scherz, halb im Ernst gesagt.
Anna Vollmers indes überraschte die beiden, kaum ein halbes Jahr später, in inniger Umarmung, in Henrikes Zimmer.
»Ich hab’ mich schon gewundert, wieso du jedes Wochenende heimkommst«, sagte die Haushälterin, kopfschüttelnd. »Aber jetzt wird mir so manches klar …«
»Ich liebe Henrike«, erklärte Thomas, »und ich werde sie eines Tages heiraten. Ob meine Mutter es will oder nicht!«
»Dann passt nur bis dahin schön auf, dass ihr net noch mal auffliegt«, meinte Anna Vollmers und ging wieder hinaus.
Auf dem Flur atmete sie tief durch. Sie hatte diese Entwicklung kommen sehen, und in ihren Augen waren Henrike und Thomas auch ein ideales Paar, das wunderbar zusammenpasste. Indes kannte sie auch die Standesdünkel der Gräfin, die einer Hochzeit ihres Sohnes mit der Tochter eines Chauffeurs und einer Haushälterin wohl niemals zustimmen würde.

*

»Du brauchst wirklich keine Angst haben«, versprach Sebastian, als sie den Kiesweg hinaufgingen. »Dieser Mann ist net dein Onkel und er wird dich auch net nach Neuseeland mitnehmen.«