Der Brockopath - Marie Kastner - E-Book

Der Brockopath E-Book

Marie Kastner

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Beschreibung

In einer der unwirtlichsten Gegenden Deutschlands geht die Angst um. Ausgerechnet auf dem sagenumwobenen Brocken wird nach der Walpurgisnacht eine weibliche Leiche aufgefunden. Der Harz gerät in Aufruhr und die Kriminalpolizei hat alle Hände voll zu tun, die Hysterie unter dem Deckel der Vernunft zu halten. Ein zweiter Körper, abgelegt am sogannten Hexenbrunnen, sorgt endgültig dafür, dass manch einem die Fantasie durchgeht. Schon nach wenigen Wochen Dienst bereut Kommissar Bernd Mader, dass er sich aus dem urbanen Dresden nach seiner Ehescheidung in die tiefste Provinz hat versetzen lassen. Der Fall wird immer undurchsichtiger - genau wie der Nebel, dessen milchige Schwaden den Gipfel des Brockens häufig umhüllen.

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Seitenzahl: 427

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Der Brockopath
Impressum
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Die Autorin
Danksagungen

Der Brockopath

Alarm im Harz

Marie Kastner

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-019-4

E-Book-ISBN: 978-3-96752-519-9

Copyright (2019) XOXO Verlag Umschlaggestaltung: Grit Richter

© Ulrich Guse, Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa)

© Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Rechtlicher Hinweis:

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diesen Roman sind, abgesehen freilich von real existierenden Ortschaften, frei erfunden. Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge bei Behörden sowie anderen Institutionen oder Firmen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sowie deren Vereinigungen sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig.

Selbstverständlich gilt letzteres nicht für ›Öffentliche Personen‹ aus der Politik.

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Für meinen Sohn Patrick

1

TEUFELSWERK

1. Mai 2016

Die Spuren der vergangenen Nacht waren noch deutlich sichtbar, als der vierköpfige Reinigungstrupp gegen acht Uhr eintraf. Obwohl die alljährliche Walpurgisfeier diesmal buchstäblich ins Wasser gefallen war, lagen auf dem Hochplateau des Brockens, im Volksmund auch Blocksberg genannt, jede Menge leere Dosen, Pappbecher und sonstiger Unrat herum.

Etliche Eingefleischte hatten sich den Hexensabbat trotz Regen und Kälte nicht nehmen lassen. Bevor die ersten Wanderer ankamen, musste sämtlicher Müll beseitigt und abtransportiert werden. Es dauerte nur noch zwei Stunden bis zum Eintreffen eines Triebwagens der Brockenbahn, der sowohl die Bauhofarbeiter als auch die gefüllten Plastiksäcke in einer Sonderfahrt zu Tal transportieren sollte. Die Touristen erwarteten unbefleckten Naturgenuss. Denen konnte es egal sein, dass keine öffentliche Straße zum Gipfel hinaufführte, sich daher jeglicher Transport daher in logistischer Hinsicht schwierig gestaltete.

Kühler Nieselregen und böiger Wind sorgten dafür, dass die Männer des städtischen Bauhofs von Wernigerode die Kapuzen ihrer Allwetterjacken tiefer in die Stirn zogen. Heute war Maifeiertag und da würden traditionsgemäß viele Leute auf den Brocken pilgern, allesamt in der Hoffnung auf eine gute Fernsicht, viele davon in unpassender Kleidung. Während unten schon der Frühling einzog, herrschte hier oben ein unwirtliches Klima wie in Island. Zu Deutsch: Es war saukalt.

Daniel, der Wirt der Brockenrestauration, freute sich auf den umsatzstärksten Tag des Jahres und auch die Betreiber der Harzer Schmalspurbahn würden heuer sicher wieder auf ihre Kosten kommen, Wetter hin oder her. Der historische Traditionszug mit Dampflok sollte in Wernigerode um 10.45 Uhr abfahren und um 13 Uhr am Brockenbahnhof eintreffen.

»Schau dir die Sauerei an! Da sind wieder einige der besoffenen Idioten durch den Brockengarten getrampelt. Wieso werden Absperrungen einfach ignoriert? Die Leute scheren sich offenbar einen Dreck darum, dass die Bergkuppe zum Naturschutzgebiet Hochharz gehört und hier schon seit Jahren mit viel Idealismus und Fleiß daran gearbeitet wird, zumindest einen Teil zu renaturieren«, schimpfte Sven Ackerwald, ein neunundzwanzigjähriger Blondschopf, der als sehr naturverbunden gelten konnte. Angewidert fischte er Bierdosen und zerfetztes Plastik zwischen zwei Granitfelsen hervor.

»Wenn es nach mir ginge, würde ich diese albernen Hexenfeiern zukünftig verbieten!«

»Es geht aber nicht nach dir«, grinste sein älterer Kollege Erhardt. »Meine älteste Tochter war gestern Nacht auch hier oben, sie genießt das immer sehr. Manche Menschen brauchen solche mystisch angehauchten Partys eben, um vorübergehend ihr ödes Leben zu bereichern. Im Fall meiner Mandy ist es ihr langweiliger, schlecht bezahlter Job am Fließband.«

»Und der lässt sich leichter ertragen, wenn man sich eine Warzennase anklebt, in albernen Klamotten herumrennt und einen Reisigbesen schwingt? Tut mir leid, aber dafür habe ich keinen Sinn. Mir sind Kuhschelle und Habichtskraut jedenfalls wichtiger als flüchtige Vergnügungen«, stänkerte Sven und bückte sich nach einer leeren Sektflasche der Edelmarke Rotkäppchen. Manche der Errungenschaften aus der ehemaligen DDR hatten die Wende seltsamerweise überdauert.

Der Kollege erwiderte nichts mehr, wandte sein wettergegerbtes Gesicht wieder den Unrat-Stillleben auf dem matschigen Boden zu, während die anderen beiden Arbeiter, hundert Meter entfernt, dasselbe taten.

Im Grunde ging es in der Walpurgisnacht vorrangig darum, ausgelassen mit viel Alkohol zu feiern, die durch Überlieferungen inspirierten Traditionen hochzuhalten – und das in geselliger Runde. Ein Einzelgänger wie Sven würde das nie kapieren. Der lebte in seinem eigenen Universum.

Auch Sven arbeitete konzentriert weiter. Der Regen hatte sich inzwischen doch einen Weg ins Innere seiner Jacke gebahnt, ihn fröstelte trotz seines dicken Pullovers. Laut dem Thermometer am Hexenkiosk hatte die Außentemperatur mittlerweile wieder die Null-Grad-Grenze überstiegen, gefühlt herrschten aber immer noch Minusgrade. Vermutlich lag das in erster Linie an der klammen Feuchtigkeit, die sich wie ein dünner Eisfilm über das Gesicht legte.

Dünne, zerfaserte Nebelschleier verbreiteten eine unheimliche Atmosphäre, erschwerten teilweise die Sicht auf den von großen und kleinen Steinen übersäten Boden. Man musste schon genau hinsehen, um jeden Zigarettenstummel zu entdecken. Die Männer arbeiteten lieber schweigend weiter, die Zeit drängte. Während die Natur Anfang Mai anderswo längst grünte und sprießte, schien hier tiefster Winter zu herrschen. An schattigen Stellen hielten sich immer noch hartnäckig verkrustete Schneereste, Raureif überzog die Grashalme.

Die Hoffnung auf gute Fernsicht würde sich für die Besucher bei diesen schlechten Wetterbedingungen wohl kaum erfüllen. An klaren Tagen konnte man leicht bis zum Großen Inselsberg in Thüringen, dem Köterberg im Weserbergland, und, auf der anderen Seite, zum Petersberg nördlich von Halle an der Saale schauen, gelegentlich sogar die Umrisse der Rhön und des Rothaargebirges erkennen. Doch am heutigen Feiertag war in punkto Aussicht definitiv nichts drin, das wusste Sven aus Erfahrung.

Der als ›Brocken‹ bezeichnete Berg ist mit seinen 1.141,2 Metern, gemessen am höchsten Punkt seines Gipfelplateaus, die höchste Erhebung in Norddeutschland. Das raue, unwirtliche Klima wirkt sich massiv auf Flora und Fauna aus. An der Kuppe überleben keine Wälder, und daher findet man oberhalb einer Grenze von rund 1.050 Metern allenfalls kleinwüchsige Fichten und vereinzelte Zwergbirken, Sträucher sowie niederen Heidebewuchs mit Kräutern, Gräsern und Moosen vor. Einige der Arten sind vom Aussterben bedroht.

Erhardt richtete sich nach einer weiteren halben Stunde Plackerei auf, stützte beide Hände in die Nierengegend und drückte stöhnend den schmerzenden Rücken durch. Den Greifer konnte man leider nur für Papier und kleinere Gegenstände nutzen, ansonsten kam man ums Bücken nicht herum. Das hinterließ in seinem Alter zunehmend Spuren.

Sven bemerkte es, hielt bei der Arbeit inne.

»Sollen wir eine kurze Pause einblenden? Ich habe eine Thermoskanne mit Kaffee dabei. Daniel öffnet seine Pforten ja leider erst später. Der wird noch in den Federn liegen.«

Erhardt nickte dankbar. Sven war halt doch eine gute Haut.

»Das wäre super! Gehen wir am besten einen Moment rüber zum Hexenaltar. Der flache Felshaufen taugt prima als Tischplatte. Der Teufel wird uns diese Zweckentfremdung bestimmt nachsehen … nun ja, das hoffe ich jedenfalls«, entgegnete er augenzwinkernd.

Die etwa gleich großen Männer setzten sich in Bewegung. Vor den Gesichtern sah man immer noch die weißliche Fahne des Atemhauchs. Es wollte einfach nicht wärmer werden.

Sie wussten beide genau, wo der sogenannte Hexenaltar lag, konnten ihn jedoch wegen der Nebelschwaden nicht entdecken. Erst kurz bevor sie direkt davorstanden, schälten sich die Umrisse schemenhaft aus dem milchigen Dunst. Von der umliegenden Berglandschaft des Harzgebirges war hingegen keine Spur zu erkennen, hierfür war die Suppe zu dicht.

Aber etwas stimmte da nicht. Die Oberfläche des Hexenaltars schien heute keineswegs von flachen Felsblöcken gekrönt, sondern erhöht und sehr unregelmäßig geformt zu sein. Man sah lediglich verschwommene Konturen.

»Was, zum Geier, ist das wieder … !«, murmelte Erhardt Wolters und hegte bereits eine gehörige Ladung Groll in der Brust, weil er eine weitere Müllablagerung hinter dem Gesehenen vermutete. Sein chronisches Magengeschwür machte sich unangenehm bemerkbar.

Wenn das so weiter geht, werden wir vormittags gar nicht mehr fertig … alle Welt hat am Maifeiertag frei, nur wir dürfen in dieser eisigen Einöde Dreck wegräumen, dachte er missmutig. Wütend stapfte er zum vermeintlichen Abfallberg, gefolgt von Sven, der die Handschuhe ausgezogen hatte und sich die kalten Hände rieb.

Doch Wolters täuschte sich, und zwar gewaltiger, als ihm lieb sein konnte. Es handelte sich bei der Auflage des Hexenaltars nämlich keineswegs um Abfälle.

Als die Wernigeröder Arbeitskollegen in grauenhafter Deutlichkeit erkannten, was man da in der vorangegangenen Walpurgisnacht auf der charakteristischen Felsformation abgelegt hatte, stockte beiden vor Entsetzen der Atem. Mit einem scheußlichen Knacksen zerbrach der Stiel eines morschen Reisigbesens unter Svens stahlbewehrtem Arbeitsschuh.

Die gestandenen Kerle zuckten jäh zusammen und verließen fluchtartig den Schauplatz des Schreckens. Der ›Tag der Arbeit‹ war für sie gelaufen.

*

Der Anruf kam zur Unzeit. Kommissar Bernd Mader hatte am Feiertag endlich einmal ausschlafen und die restliche Freizeit zur Renovierung des unansehnlichen Bauernhauses nutzen wollen, welches er seit sechseinhalb Wochen als Single bewohnte.

Seit er in dieses marode Anwesen in Sachsen-Anhalt umgezogen war, nutzte er jede freie Minute, die ihm sein aufreibender Schichtdienst ließ, Haus und Hof wieder halbwegs bewohnbar zu machen. Kein leichtes Unterfangen, wie ihm zwischenzeitlich bewusst geworden war. Aber die angeranzte Bude am finsteren Ende der Welt hatte nun mal seiner Lieblingsoma gehört und er hatte diese fragwürdige Erbschaft spontan und aus purer Sentimentalität angenommen.

»Kein Wunder, dass das nahe Dorf ›Elend‹ heißt. Nomen est omen, wie der Lateiner sagt. Die Leute werden sich bei der Namensfindung schon was gedacht haben«, hatte der Polizeibeamte voller Sarkasmus nach dem Einzug in seinen Bart gebrummt.

»Und die Ortschaft ›Sorge‹ liegt auch nicht sehr weit von ›Elend‹ entfernt, es ist also fast wie im richtigen Leben.«

Wenige hundert Meter vor der verwitterten Haustür verlief die Landesgrenze zu Niedersachsen und bis zur Wende war jenseits davon wirklich eine terra incognita gelegen. Seine Oma hatte die unbekannte Hochburg des Kapitalismus hinter den Grenzzäunen damals teils mit sozialistisch korrektem Schaudern, teils mit Neugierde betrachtet.

Heutzutage allerdings kam es ihm, ihrem einzigen Enkelsohn, geradezu unwirklich vor, dass Deutschland jemals in zwei Hälften geteilt gewesen sein sollte. Ost und West waren in den vergangenen zwei Jahrzehnten wie ungleiche Geschwister zusammengewachsen. Nur wenige Spuren des Sozialismus erinnerten die ortsansässige Bevölkerung jetzt noch an die dunkle Vergangenheit, doch in den Köpfen und Herzen mancher Leute mochte es ganz anders aussehen, was besonders für die sogenannten ›Wendeverlierer‹ galt. Manch einer hatte im alten System einen Job und sein Auskommen gehabt, war in den Neunzigern aber von der monetären Brutalität des kapitalistischen Systems überrollt worden. Nun sorgte der Sozialstaat für diese Leute.

Was es tatsächlich bedeutete, in der kalten Jahreszeit am Fuße des Brockens zu wohnen, hatte er heillos unterschätzt. In seiner Kindheit war er während der Schulferien gerne hierher auf Besuch gekommen, war durch den halb verwilderten Garten voller wildwachsender Blumen, Erdbeerbeete und Johannisbeersträucher gestreift und auf sämtliche Bäume geklettert. Wenn Oma ihn früher zum Abendessen suchte, musste sie den Blick fast immer nach oben richten, wo er dann meist zerschrammt und schmutzig auf einem Ast saß.

Durchwegs positive Erinnerungen fanden sich an jenes kleine, geduckt unter einer monströsen Fichte dastehende Bauernhaus mit den moosigen Dachschindeln, das früher noch nicht einmal über fließendes Wasser oder einen Kühlschrank verfügt hatte.

Selbst das hölzerne Plumpsklo auf dem Hof war ihm als Junge abenteuerlich und irgendwie urig vorgekommen.

Inzwischen gab es zwar ein bescheidenes Badezimmer sowie Stromund Wasseranschluss – aber das waren auch so ziemlich die einzigen Modernisierungsmaßnahmen, die seine Großmutter mit ihrer schmalen Witwenrente in Angriff nehmen hatte können. In diesem bescheidenen Haus war Oma Frieda 1929 geboren worden und hier war sie im vergangenen Februar im Alter von siebenundachtzig Lebensjahren plötzlich und unerwartet verstorben, mehr als zwanzig Jahre nach seinem Großvater.

Ihn gruselte immer noch ein wenig bei der Vorstellung, dass ihre Leiche nach einem Hirnschlag drei Wochen lang auf dem Küchenfußboden gelegen hatte, bis der Briefträger wegen des gekippten Küchenfensters auf den süßlichen Verwesungsgeruch aufmerksam geworden war und die Behörden alarmiert hatte.

Auch wenn er als Kripobeamter durchaus an ekelhafte Anblicke gewöhnt war – die eigene Oma hätte er doch nicht madenübersät vorfinden wollen. Er behielt sie lieber so in Erinnerung, wie er sie als Junge gekannt hatte. Eine dickliche, stets fröhliche, aber resolute Frau war sie gewesen, die ihm gelegentlich auch schon mal den Hintern versohlte. Vermutlich hatte er, der ungezogene Lausbub, es wirklich gebraucht, dass man ihm ab und zu den Hosenboden stramm zog … na, jedenfalls hätte er ihr ein solches Ende nie und nimmer gewünscht. Wenigstens war es schnell zu Ende gegangen, sie hatte nicht leiden müssen.

Mader schüttelte das ekelerregende Bild ab, das sich vor seinem geistigen Auge zusammengefügt hatte, setzte sich widerwillig im Bett auf, streckte sich vorsichtig und gähnte. Sein steifer Nacken hatte sich über Nacht trotz des großzügig aufgetragenen Franzbranntweins, den er in Omas Spiegelschränkchen gefunden hatte, kein bisschen gebessert. Schon bei der kleinsten Bewegung fuhren ihm Schmerzblitze die Halswirbelsäule hinunter. Es fühlte sich fast so an, als sei ein glühend heißes Kabel zwischen Hinterkopf und Rückenmuskulatur eingebaut, welches bei jedweder Bewegung am Knochen scheuerte und Schmerzreflexe auslöste.

Verdammte undichte Fenster, sicherlich habe ich mir in der Nacht einen Zug geholt! Ich muss so bald wie möglich in den Baumarkt nach Wernigerode fahren, Material zum Abdichten holen. Das Dach müsste ebenfalls isoliert werden, auf alle Fälle noch vor dem nächsten Winter, sinnierte der dreiundvierzigjährige Kriminalbeamte seufzend, während er seinen schlafwarmen Kater vorsichtig von seinem Lieblingsplatz zwischen den Knien hob und ihn anderswo auf der Daunendecke platzierte.

Stubentiger Felix öffnete eines seiner grasgrünen Augen, rollte sich dann wieder zusammen und gab einen zufriedenen Seufzer von sich. Anschließend befand er sich wieder im Katzentraumland. Ja, manchmal war Mader neidisch auf das silbergrau getigerte Fellbündel, das ihm erst vor vier Wochen zugelaufen und zu seinem verlässlichsten Freund geworden war.

Im Badezimmer beschränkte er die Morgentoilette darauf, sich einen Schwall kaltes Wasser ins müde Gesicht zu werfen, sich die Zähne zu putzen und kurz durch die Haare zu fahren.

Ich kenne dich Wrack zwar nicht, wasche dich aber trotzdem, dachte er schwarzhumorig beim Blick in den Spiegel. Ein attraktiver, aber mitgenommen aussehender Mann in den besten Jahren starrte ihm entgegen. Kantiges Kinn, leuchtend blaue Augen, braunes, stoppelkurz geschnittenes Haar und Dreitagebart … die Damen standen auf ihn. Dennoch hatte Sabine ihn wegen eines Anderen verlassen. Der Schichtdienst … viele Polizistenehen endeten bekanntlich auf ähnliche Weise. Er würde sich künftig nie wieder festbinden, aus die Maus.

Er schlurfte in die Küche, fütterte die neu angeschaffte Kaffeemaschine mit einem Pad und kramte in einer der gelblich lackierten Schubladen unter der Arbeitsplatte der altmodischen Küchenzeile nach dem Fahrplan der HSB. Seit gestern galt der Sommerfahrplan und die Züge der Schmalspurbahn fuhren das Brockenplateau wieder häufiger an. Er würde sich sehr beeilen müssen, um rechtzeitig zur Abfahrt um zehn Uhr fünfundzwanzig am Bahnhof Wernigerode einzutreffen, stellte er erschrocken fest. Der Zug sollte laut Fahrplan, wie anno dazumal, mit einer Dampflok bespannt sein.

Wenn seine Dresdner Kollegen wüssten, wie schwierig es hier sein konnte, überhaupt bis zu einem Tatort zu gelangen … nun, sie hatten ihn ja eindringlich davor gewarnt, sich in die tiefste Provinz versetzen zu lassen. Jetzt hatte er den sprichwörtlichen Salat, konnte nicht mehr kneifen.

Natürlich hatte er die Kollegin von der Leitstelle gefragt, ob man nicht einfach mit dem Auto auf den Brocken fahren könne. Sie hatte verneint und angemerkt, dass man hierzu eine Sondergenehmigung der Naturschutzbehörde benötigen würde und die schlecht befestigten Wege um diese Jahreszeit ohnehin nur mit Schwierigkeiten befahrbar wären.

Die andere Möglichkeit, eine Zugfahrt zu vermeiden, sei der Kremser, hatte Celia amüsiert gesagt. Man könne sich mit einem Pferdefuhrwerk in ›nur‹ zwei Stunden hinauf zum Gipfel chauffieren lassen.

Na toll, er hatte sich zum Gespött einer Zwanzigjährigen gemacht.

Hektisch schlüpfte Bernd A. Mader, wie auf seinem Klingelschild zu lesen stand, in verwaschene Jeans, einen groben flaschengrünen Strickpullover und seine heißgeliebten Doc Martens-Boots, angelte die gefütterte Rindslederjacke vom Kleiderrechen und nahm einen großen Schluck Kaffee aus der geblümten Jumbotasse. Die Eile brachte ihm eine verbrannte Unterlippe sowie eine schmerzende Zunge ein.

Ei, verbibbsch … der Tag fängt ja gut an!, dachte er auf Sächsisch. Fluchend schnappte er sich den Autoschlüssel, zog die Haustür nur hinter sich zu, anstatt noch abzusperren. So abweisend, wie das Haus im Moment von außen aussah, würde sich ohnehin kein Einbrecher freiwillig damit abgeben.

Mit quietschenden Reifen fuhr der pflaumenblaue Opel Corsa vom Hof. In Dresden war das alte, aber liebenswerte Fahrzeug als Zweitwagen und Winterauto genutzt worden. Die Familienkutsche, einen neuwertigen BMW X 5, hatte seine Frau Sabine behalten – so wie fast alles andere auch, inklusive der gemeinsamen Kinder.

Am Bahnsteig traf Mader auf zwei Beamte von der Spurensicherung, den glatzköpfigen Gerichtsmediziner Rainer Müller und eine Horde Ausflügler, die auf bequeme Weise den Gipfel stürmen wollten.

Klar, die werten Kollegen konnten ja auch nicht anders da hinauf gelangen … meine Güte, dann ist der Tatort vielleicht noch gar nicht abgesperrt. Hoffentlich haben die vier Typen vom Bauhof mitgedacht und lassen keine sensationsgierigen Touris in die unmittelbare Nähe der Leiche, dachte der Kommissar erschrocken.

Der groben Beschreibung nach, die ein Herr Wolters abgeliefert hatte, war der grausige Anblick nichts für schwache Nerven. Zudem bestand die große Gefahr, dass an der Ablagestelle des Leichnams wertvolle Spuren achtlos zertrampelt wurden. Dieser Gedanke machte ihn nervös. Er durfte gar nicht darüber nachdenken, wie lange der Bummelzug brauchen würde, um sich bis hinauf zum Brockenbahnhof zu mühen. Bis dahin war der Täter wahrscheinlich längst über alle Berge und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Zeit arbeitete in diesem Mordfall von Anfang an gegen ihn.

Die Kollegen schienen all das lockerer zu nehmen. Sie scherzten ausgelassen miteinander, so als würden sie zu einem heiteren Regenausflug ins Grüne aufbrechen. Seine Wenigkeit hatten sie zwar alle mit Handschlag begrüßt – vermutlich, weil das Dienstrang und Höflichkeit geboten –, doch jetzt stand er wieder ein Stückchen abseits, wurde nicht mehr behelligt. Bislang hatten die eingeborenen Provinzler weder mit ihm noch er mit ihnen richtig warm werden können. Er wusste nicht einmal zu sagen, ob er das bedauerte.

Endlich. Der Zug dampfte mit fünf Minuten Verspätung gemächlich auf dem Schmalspurgleis heran und es roch penetrant nach Öl und anderen Schmiermitteln. Drei historische dunkelgrüne Personenwaggons zog die kleine Lokomotive hinter sich her. Quietschend bremsten die Räder. Metall schleifte auf Metall und die Lokomotive stieß laut zischend eine riesige Dampfwolke aus. Aus einem Lautsprecher über dem Bahnsteig verkündete eine blechern schnarrende Stimme, dass der Zug 8925 abfahrbereit an Gleis drei stehe. Die Fahrgäste mögen bitte sofort einsteigen und an der Bahnsteigkante Vorsicht walten lassen.

Am Bahnhof Wernigerode schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Keine hochmodernen, aerodynamischen Züge waren hier zu sehen, man hätte sich mit ein bisschen Fantasie auch in den Siebzigern oder Achtzigern befinden können. Die einzigen Zutaten, die für eine perfekte Illusion fehlten, waren Schlaghosen, Hemden mit riesigen Kragen und Vokuhila-Frisuren.

Unter normalen Umständen hätte er sich näher für die Baureihe der Lok interessiert, Fotos geschossen und die Fahrt genossen, aber dies waren eben keine normalen Umstände. Es war für ihn vielmehr eine Reise ins Unbekannte und, in beruflicher Hinsicht, eine Art Bewährungsprobe. Die neuen Kollegen würden mit Argusaugen beobachten, was der Neuzugang aus der Stadt so draufhatte.

Bislang hatte Bernd das Plateau des Brockens noch nie betreten, war seit seinem Umzug nicht dazu gekommen. Früher, zu DDR-Zeiten, war dies ohnehin militärisches Sperrgebiet gewesen, und nach der Wende hatte sich Omas Interesse an diesem Berg weiterhin in engen Grenzen gehalten. Sie war ein bisschen abergläubisch, auch das mochte bei ihrer Verweigerungshaltung eine Rolle gespielt haben. Weiter als bis nach Schierke zu ihrer alten Schulfreundin war sie mit der Brockenbahn niemals gekommen. Kein Wunder, der Harz strotzte nur so vor Sagen über Teufel, Hexen und andere Ausgeburten der Hölle.

Der Kommissar stieg als erster ein, wählte einen Fensterplatz. Die restlichen Ermittler platzierten sich eine Reihe weiter vorn, genauso, wie er das erwartet hatte. Nicht zu weit entfernt, aber auch nicht direkt neben ihm. Man musste kein Psychologe sein, um diese Konstellation zu analysieren.

Er musste sich eingestehen, dass er die eingeschworene Kameradschaft seiner Dresdner Dienststelle vermisste, besonders seinen Partner Maik. Abgesehen von einer prima Zusammenarbeit waren sie auch privat eng befreundet gewesen. Maikie hatte immer ein offenes Ohr für seine Sorgen und Nöte gehabt. Während der belastenden Trennungsphase, als der Sorgerechtsstreit eskalierte, war er ihm hilfreich zur Seite gestanden und hatte bei Sabine umsichtig als Vermittler fungiert. Einen solchen Partner und Freund würde es kein zweites Mal geben.

Der Zug füllte sich, war bald bis auf den letzten Platz besetzt. Touristen und Tagesausflügler in wetterfester Kleidung bevölkerten die unbequemen Sitze, die meisten führten prall gefüllte Rucksäcke mit sich. Ein älterer Herr setzte sich neben ihn. Er schien ein Scherzkeks und in Plauderlaune zu sein.

»Guten Tag! Sind Sie auch so aufgeregt wie ich? Dieser Zug erklimmt gleich einen Berg von über tausend Metern Höhe und das ohne Zahnradtechnik. Bei uns an der Nordsee ist alles platt, selbst die Sprache, ha ha. Fahren Sie zum ersten Mal da hinauf?« Neugierig war er also auch noch. Konversation war aber gerade das, was Mader im Augenblick nicht gebrauchen konnte. Er wollte in Ruhe seinen Gedanken nachhängen.

»Ja«, antwortete er kurz angebunden und drehte seinen ganzen Oberkörper demonstrativ in Richtung Fenster. Sein Nacken war immer noch steif und schmerzte bei jeder Bewegung. Die norddeutsche Nervensäge seufzte, schien aber zumindest über Anstand zu verfügen und hielt die Klappe. Der Mann widmete sich seinem Reiseführer. Manchmal hilft ein Wink mit dem Zaunpfahl eben doch.

Ein Pfiff ertönte, der Zug fuhr ruckelnd los. Eine monströse Dampfwolke verhüllte den Bahnsteig, ließ die Welt da draußen für einen Moment verschwinden. Der Zug rumpelte über eine Weiche, tuckerte, vorbei an einem Zirkuszelt und Betriebsanlagen der Bahn, durch das malerische Städtchen hinaus aufs Land, eine grauweiße Fahne hinter sich herziehend.

Die Natur war im Tal gerade dabei, sich ihr schönstes Kleid überzustreifen. Frisches Grün bildete einen wunderbaren Kontrast zum dunkleren Nadelwald soweit das Auge reichte und in den Gärten blühten Obstbäume. Droben am Endbahnhof würde das ganz anders aussehen. Hie und da hatte auch hier die Forstwirtschaft hässliche Narben in den Märchenwald geschlagen, doch im Großen und Ganzen schien die Natur im Harzgebirge noch intakt zu sein. Pittoreske Häuser flogen vorbei.

Mit jedem Meter, den der Zug sich Richtung Gipfel schraubte, schienen die Wolken dunkler, die feinen Nebelschwaden dichter zu werden. Noch erlaubten sie flüchtige Blicke über angrenzende Hügelketten, jedenfalls da, wo der Wald sich lichtete. Es gab vier kurze Aufenthalte an den Bahnhöfen Hasserode, Steinerne Renne und Drei Annen Hohne. Anschließend gelangte der Zug nach Schierke, wo er eine Viertelstunde auf die Weiterfahrt wartete. Hier oben war ganz schön Betrieb, gleich mehrere Dampfzüge und Triebwagen mussten sich die eingleisige Strecke teilen. Überall lauerten Fotografen, um die blechernen Relikte aus einer anderen Zeit im Bild festzuhalten.

Die Lok setzte schnaufend zum Endspurt an, mühte sich die letzten Anhöhen hoch. Es wurde zunehmend schwieriger, die Dampfwolken der Eisenbahn von den wabernden Nebelschwaden zu unterscheiden, man konnte nicht mehr viel von der Umgebung erkennen. Die Vegetation neben der Strecke veränderte sich zusehends; sie glich hier oben eher derjenigen in den Höhenlagen der Alpen. Keine Spur mehr von Frühlingserwachen.

Ein weiterer Zug dampfte vor dem Erreichen des Bahnhofes in umgekehrter Fahrtrichtung vorbei; die etwas größere Lok zog sechs Waggons in Cremeweiß und Weinrot, von denen einer ein buntes Graffito mit der Aufschrift ›Faust‹ trug. Eindeutig ein Tribut an Goethe, der sich hier oben gerne aufgehalten hatte, wie er sich vage aus dem Schulunterricht erinnerte.

Maders innere Anspannung stieg direkt proportional zu den Höhenmetern, gipfelte in nervöser Unruhe. Gleich sollte er sein Ziel erreicht haben. Aber was würde ihn hier erwarten?

*

Brocken, stand schlicht und unverschnörkelt auf dem Schild am tristen, dunklen Steingebäude. Der Zug hielt mit kreischenden Bremsen an. Kurz darauf stand Mader zwischen plaudernden, noch orientierungslos wirkenden Touristen auf dem Bahnsteig.

Gerichtsmediziner Müller zog eine Mütze über seine Bowlingkugel mit Ohren, tippte ihm von hinten auf die Schulter.

»Kommen Sie, ich weiß wo wir hinmüssen.«

Mader setzte sich in Bewegung, folgte den drei anderen Ermittlern. Schemenhaft tauchte ein Turm aus der grauen Nebelsuppe auf, dazu ein paar flachere Gebäude. Aber für die Bebauung des steinübersäten Plateaus hatte Mader momentan keinen Blick. Sein innerer Fokus richtete sich ausschließlich auf berufliche Fakten, die er gleich zu sehen bekommen sollte.

Ihm platzte fast der Kragen, als er den Menschenauflauf gewahrte, der sich um den mutmaßlichen Tatort gruppierte. Die vier Männer vom Schierker Bauhof waren zwar dageblieben und taten ihr Möglichstes, konnten sich aber mehr schlecht als recht gegen die Schaulustigen durchsetzen.

Unter Verwendung beider Ellbogen bahnte sich Mader einen Weg durch die lästigen Gaffer und stieg behände über ein kniehohes Holzgeländer, das den moosigen Bodenbewuchs vermutlich vor dem Zertrampeln schützen sollte. Auf dem unwirtlichen Plateau schienen sich bei jedem Wetter massenhaft Besucher zu tummeln, was ihn ziemlich erstaunte.

Einer von der Spusi zog das unvermeidliche Plastikband aus der Jackentasche und machte sich hektisch daran, endlich eine offizielle Absperrung anzubringen.

»Hier gibt es nichts mehr zu sehen, bitte halten Sie Abstand!«, brüllte der Kommissar in die Menge. Anschließend konnte er die letzten Meter bis zur blutigen Bescherung auf dem Hexenaltar antreten, deren Anblick ihm in der kommenden Nacht den Schlaf rauben sollte. Es gab Horrorszenarien, an die man sich als Polizeibeamter selbst nach vielen Dienstjahren noch nicht gewöhnt hatte. Und dies war eines davon.

Die natürliche Steinformation sah aus, als habe ein Riese mit voller Absicht brettflache Felsen aufeinandergetürmt. Am oberen Ende lagen zwei der Platten nebeneinander, bildeten eine leichte Schräge. Auf der Nahtstelle lag ein splitternackter Frauenkörper aufgebahrt, oder vielmehr ein Torso mit unversehrtem Kopf. Verkrustetes Blut verklebte die hellblonden langen Haare, die, wie ein seidener Fächer ausgebreitet, einen Kontrast zum dunkleren Granit des Felsens bildeten. Das Opfer mochte Mitte vierzig gewesen sein, der Leib war schlank und zierlich.

Arme und Beine fehlten. Der Täter musste den Körper gleich hier an Ort und Stelle zerteilt haben. Hierauf ließ das viele Blut schließen, das rundum von den Felsschichten des Hexenaltars wie dunkelrote Tränen heruntergelaufen und schließlich, unten am Fuße der Formation, in den mit niedrigem Gras bewachsenen Boden gesickert war.

Hoffentlich ist sie schon tot gewesen, als er oder sie ihr das angetan hat. Ansonsten muss das arme Ding unbeschreibliche Qualen erlitten haben …

»So eine Schweinerei! Dies ist das Werk eines Wahnsinnigen. Hat man die Arme und Beine der Frau gefunden?«, wollte Mader von einem der Zeugen vom städtischen Bauhof wissen. Der nickte stumm, zeigte seitlich am Hexenaltar vorbei in den Nebel. So käsig wie der junge Mann aussah, hatte ihn der Fund wohl ziemlich mitgenommen.

Mader schoss zunächst mehrere Fotos vom Tatort, dann folgte er gemessenen Schrittes der angegebenen Richtung. Bereits nach wenigen Metern blieb er verdutzt stehen, kratzte sich am Kopf. Hier musste ein Psychopath der Sonderklasse am Werk gewesen sein, kein Zweifel.

Wenigstens können wir in diesem Fall gleich nach einem Mörder suchen, brauchen uns nicht mit der Frage aufzuhalten, ob es sich womöglich um Selbstmord gehandelt haben könnte, dachte der Kommissar ironisch.

Sexuelle Motive sind nicht auszuschließen, die komplette Kleidung fehlt

… aber vielleicht hat er sich so auch bloß mit dem Zerteilen leichter getan, sinnierte der erfahrene Beamte. Die spätere Obduktion würde sicher Informationen dazu erbringen.

»Müller, sobald Sie da vorne fertig sind, kommen Sie bitte zu mir herüber. Mit diesen Teilen hier dürfte unser Opfer zu vervollständigen sein. Aber Vorsicht, damit Sie nirgends hineintreten!«, rief Mader dem Gerichtsmediziner durch den Nebel zu.

Auf einem relativ ebenen Stück der Wiese hinter dem Hexenaltar standen zehn große Plastikschüsseln im Kreis, von der Sorte, wie man sie zum Waschen von Hand, oder im Garten bei der Beerenernte verwendet. Metallischer Blutgeruch lag in der Luft, erzeugte ein flaues Gefühl in der Magengrube. Zum Glück hatte er noch nicht gefrühstückt.

Genau in der Mitte dieser akkuraten Anordnung aus identischen Schüsseln war wiederum ein Steinkreis von ungefähr einem Meter Durchmesser angelegt, welcher, aufgrund der allzu symmetrischen Abstände zwischen den Steinen, nicht natürlichen Ursprungs zu sein schien. Schwarz verkohlte Äste legten die Vermutung nahe, dass hier jemand vor kurzem ein kleines Lagerfeuer angezündet hatte.

Aber ist sowas hier überhaupt erlaubt, hätte das nicht anderen Besuchern der Walpurgisfeierlichkeiten auffallen müssen? Was ist mit dem Wirt des Brockenhotels, der war doch sicher die gesamte Zeit vor Ort?

Vielleicht kursieren im Internet Fotos aus dieser Nacht, in den sozialen Netzwerken oder auf You Tube. Heutzutage findet sich doch jeder Blödsinn im Netz, was für polizeiliche Ermittlungen gar nicht so übel ist. Falls meine Leute bei ihren Recherchen nachher fündig werden sollten, sähe man die genauen Wetterverhältnisse und womöglich hat jemand sogar zufällig das Leuchten des Feuerscheins aufgenommen.

Mader ging kopfschüttelnd in die Hocke, schnupperte wie ein Spürhund. Falls ihn nicht alles täuschte, hatte das Feuer tatsächlich erst in der vergangenen Nacht gebrannt. Zwar fühlte sich der Boden darunter nicht mehr warm an, doch das war bei diesen Temperaturen und dem rauen Wind, der unablässig übers Plateau fegte, kein Wunder.

Die Schüsseln beherbergten blutige Klumpen, dazu die Hände und Füße des Opfers. Die vier Gliedmaßen der bedauernswerten Toten schienen demnach nicht etwa ordentlich tranchiert, sondern dilettantisch auseinandergesägt worden zu sein, vermutlich in großer Eile. Es fanden sich keine glatten Schnittkanten.

Mal abwarten, ob das Müller genauso sieht. Ein Metzger oder Chirurg scheint unser gestörter Killer also schon mal nicht zu sein, grübelte Mader und fotografierte das ekelerregende Szenario, wie üblich, von sämtlichen Seiten gleich mehrfach.

Die beiden Kerle von der Spurensicherung waren noch eifrig beim Torso zugange, sie packten soeben einen zerbrochenen Reisigbesen ein. Den hatte Mader vorhin im Vorübergehen zwar liegen sehen, jedoch noch nicht bewusst mit dem Tatort in Verbindung gebracht.

Jetzt aber dämmerte ihm, dass der Mörder wohl ein Meister der Inszenierung sein musste. Er hatte ganz bewusst eine Kulisse aufgebaut, das Opfer hingebungsvoll in Szene gesetzt. Aus welchen Motiven heraus oder zu welchem Zweck, das mussten sie nun in akribischer Kleinarbeit herausfinden. Dies hier sah wie eine Art krankes Abendmahl aus und die Zahl elf schien dabei eine tragende Rolle zu spielen.

Zehn Schüsseln und dazu der Torso – das machte summa summarum elf … damit schieden religiöse Motive vermutlich aus. Sonst hätten es zwölf Teile sein müssen. Aber sicher konnte man bei Psychopathen halt auch nie sein, vorschnelle Schlussfolgerungen verboten sich grundsätzlich. Vielleicht hatte dieser Wahnsinnige sich in seiner Erregung nur verzählt.

Hatte es mehrere Mittäter gegeben, ließ sich die Anzahl der Schüsseln vielleicht auf diese Weise erklären? Doch war es wirklich denkbar, dass sich sage und schreibe elf Personen an diesem Verbrechen beteiligt hatten?

Eine Sekte, Teufelsjünger … was weiß ich, welche Gestörten hier meinten, in der Nacht zum ersten Mai eine Frau opfern zu müssen … ich werde die Kollegen fragen müssen, ob sie hier in der Gegend schon mit Kulthandlungen von Satanisten zu tun hatten. Das ist der Nachteil, wenn man als Zugereister keine Ahnung von der hiesigen Volksseele hat.

Und welche Rolle spielte der kaputte Besen? Sein Gehirn weigerte sich, das Naheliegende in Erwägung zu ziehen. Eine beim Fliegen abgestürzte Hexe, die von ihren skrupellosen Artgenossinnen verspeist wird … eine solchermaßen alberne Idee schien ihm selbst für die kranke Fantasie eines oder mehrerer Psychopathen überzogen zu sein.

Kommissar Mader unterdrückte aufkommende Übelkeit, entfernte sich ein Stück weit vom blutigen Menschenfrikassee. Er wollte sich in der näheren Umgebung nach den Klamotten des Opfers umsehen, denn schließlich war die Frau in dieser Kälte sicher nicht unbekleidet hierhergekommen, bevor sie auf ihren Mörder getroffen war.

Er fand nichts dergleichen, obwohl er sein Suchgebiet immer mehr ausweitete. Der Irre musste die Kleidung mitgenommen und woanders entsorgt, oder als Trophäe behalten haben – was dann doch wieder für einen Einzeltäter gesprochen hätte. Bei dieser gestörten Sorte Mensch musste man mit allem rechnen.

Mader stieß, einige Meter vom Tatort entfernt, unverhofft auf eine verwitterte Schautafel aus Holz, die den Touristen die Sehenswürdigkeiten des Brockenplateaus erläutern sollte. Genauer gesagt, wäre er im Nebel fast dagegen geprallt. Er studierte die Aufschrift:

Hier im Bereich der Teufelskanzel und des Hexenaltars verbrachte Goethes Dr. Faust die Walpurgisnacht. Die Walpurgisnacht ist die Nacht zum 1. Mai, in der Hexen ganz Deutschlands den Winter vertreiben, indem sie mit ihren Reisigbesen den letzten Schnee vom Brocken fegen.

Nun ja, diese Hexe würde jedenfalls nie wieder irgendwo fegen. Aber die Symbolhaftigkeit der Tatumstände konnte man kaum übersehen. Ein direkter Bezug zur Walpurgisnacht schien Mader nach alledem mit hinreichender Sicherheit zu bestehen. Diese Erkenntnis machte die Sache allerdings nicht einfacher.

Er las weiter, auf der Tafel fand sich nämlich auch ein Reim:

Die Hexen zu dem Blocksberg ziehn, die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün, dort sammelt sich der wilde Hauf, Herr Urian sitzt oben auf.

Herr Urian? Wer, zum Teufel, war Herr Urian? Er würde später eine Menge an Informationen aus dem Internet googeln müssen, um bei der ersten Dienstbesprechung nicht gleich als völliger Depp dazustehen. Zudem musste er schleunigst eine Sonderkommission ins Leben rufen, um schnelle Fahndungserfolge vorweisen zu können.

Um sich die Reaktionen der Presse auf die blutige Brockensensation vorzustellen, brauchte es nur wenig Vorstellungsvermögen. Dieser höchst mysteriöse Fall würde zweifellos bundesweit Beachtung finden, was natürlich ihn und seine Leute noch zusätzlich unter Erfolgsdruck setzte. Eine zügige und lückenlose Aufklärung dieses außergewöhnlich abscheulichen Verbrechens tat not, keine Frage.

An diesem Fall würde sich seine weitere Karriere entscheiden, das war Mader sonnenklar. Dieser Punkt war für sein Ego nicht minder von Bedeutung, er konnte als ehrgeizig gelten und wollte nicht vor einem Haufen verschworener Provinzler kapitulieren. Er war damals aus purem Idealismus zur Polizei gegangen – und der wollte, nein, musste auch heute noch unverändert befriedigt werden. Ein Bernd Mader war eben keineswegs der Typ Polizist, der sich auf seinen Lorbeeren ausruhte.

Katastrophe oder goldene Chance zur Bewährung im Revierkommissariat Wernigerode? Bislang wusste Mader noch nicht, wie er diesen ersten und zugleich sehr komplexen Mordfall in seiner neuen Wahlheimat einschätzen sollte.

Eine seiner Befürchtungen hatte sich damit jedenfalls erledigt. Er würde in dieser beschaulichen Ecke Deutschlands keine ruhige Kugel schieben und sich langweilen müssen, wie seine Dresdner Kollegen grinsend prophezeit hatten.

*

2. Mai 2016

Das Revierkommissariat Wernigerode lag im Sonnenschein, nur ein paar harmlose Schönwetterwolken schoben sich wie eine Schafherde über den blassblauen Himmel. Auf dem Nicolaiplatz tummelten sich rund um den Göbelbrunnen, den eine riesige Steinkugel zierte, schon am frühen Vormittag eine Menge Leute. Vermutlich hatten viele Arbeitnehmer frei genommen und den Feiertag Christi Himmelfahrt dazu genutzt, sich in dieser Woche einen Urlaubstag einzusparen.

Die Temperaturen sollten heute über fünfzehn Grad hinaus klettern, und so rüstete sich die angrenzende Gastronomie für sonnenhungrige Gäste, indem die Außentische eilig abgewischt und für das Mittagsgeschäft einladend hergerichtet wurden. Eine flinke Bedienung verteilte gerade cremefarbene Sitzpolster auf den hellbraunen Korbstühlen.

Bernd Mader konnte die Frühlingsidylle nur durch sein Bürofenster betrachten. An Urlaub brauchte er wegen des Brockenmordes nicht im Traum zu denken. Dabei hätte er den für seine Renovierungsarbeiten benötigt und sich das Städtchen Wernigerode gerne etwas näher angeschaut. Auf der Fensterbank lag ein Farbprospekt, den das Revier im vergangenen Jahr anlässlich eines Jubiläums zum Tag der offenen Tür hatte drucken lassen. Das Dienstgebäude war auf der Titelseite abgebildet und auf Seite zwei gab es Erläuterungen für auswärtige Besucher:

Mit ihren rund dreiunddreißigtausend Einwohnern hat die Stadt Wernigerode eine überschaubare Größe, bietet aber dennoch Vielfalt. Die zahlreichen Fachwerkhäuser verleihen dem Stadtkern einen historischen Anstrich und es gibt sogar ein neugotisches Märchenschloss zu bestaunen. Es thront markant über dem Stadtbild und ist schon aus der Ferne gut zu erkennen. Durch die günstige Lage auf der Regenschattenseite des Harzes ist die Stadt begünstigt; es fällt verhältnismäßig wenig Regen und gelegentlich profitiert sie von Föhnwetterlagen, ähnlich dem Voralpenland.

Das heutige Revierkommissariat befindet sich in einem Gebäudekomplex auf dem Gelände des ehemaligen Nicolaihospitals, das beim großen Stadtbrand 1851 vernichtet worden war. Das denkmalgeschützte, dreigeschossige Hauptgebäude wurde an seiner Stelle im klassizistischen Baustil mit einfachem, funktionalem Fachwerk errichtet.

Bis zum Jahr 1873 hatte sich direkt davor noch die Nicolaikirche befunden, die aber komplett abgerissen wurde. Noch heute sind deren einstige Grundrisse im Pflaster des heutigen Nicolaiplatzes zu erkennen.

»Stimmt, von außen sieht die Dienststelle gut aus. Aber innen ähneln sich wahrscheinlich alle Polizeibehörden. Kaltes Neonlicht, unmoderne Büromöbel … ich wollte, man würde für die Sicherheit der Bürger ein wenig mehr Steuergelder locker machen. Finanzminister Schäuble soll sich seine heilige ›schwarze

Null‹ sonst wohin stecken«, brummte Kommissar Mader. Momentan weilte er alleine im Zimmer und in solchen Momenten verfiel er oft in sarkastische Selbstgespräche.

Er riss sich aus seinen negativ angefärbten Gedankengängen, trat vom Fenster zurück und griff missmutig nach seiner frisch angelegten Fallakte, die bis dato lediglich einen Bericht und ein paar Fotos enthielt. In fünf Minuten musste er sich im Besprechungsraum einfinden und sich über die ersten Ermittlungsergebnisse der Spurensicherung aufklären lassen.

Bei dieser Gelegenheit konnte er auch gleich die Sonderkommission ins Leben rufen. Er würde einige ausgewählte Beamte ausschließlich auf den mysteriösen Brockenmord ansetzen und sie von ihren übrigen Pflichten befreien, damit sie sich ungestört darauf konzentrieren konnten. In Dresden war sowas gang und gäbe, meistens mit effektiven Ergebnissen gesegnet gewesen.

Sein Vorgesetzter Walter Remmler hatte zwar bei der Berichterstattung heute Morgen die Stirn ob dieses Ansinnens gerunzelt, aber er hatte ihn von der Notwendigkeit überzeugen können. Jener Chef würde bei der Besprechung höchstpersönlich anwesend sein; vermutlich wollte er sich ein schärferes Bild von seinem Neuzugang aus der Großstadt machen. Das sorgte bei Mader im Vorfeld für eine gewisse Anspannung.

Er musste jetzt los. Die stark profilierten Sohlen seiner Boots erzeugten auf dem lindgrünen Linoleumboden Knarzgeräusche, als er über den Flur zum Besprechungsraum eilte. Er trat nichtsahnend ein – und viele Köpfe fuhren herum, Augenpaare hefteten sich, unverhohlen neugierig, auf ihn. Dem Anschein nach waren alle anderen Teilnehmer bereits vollzählig eingetroffen.

Scheinen durch die Bank von der überpünktlichen Sorte zu sein, meine werten Kolleginnen und Kollegen. Muss ich mir unbedingt merken.

Er postierte sich vor der großen Magnettafel, die die gesamte Rückseite des Raumes einnahm und begann unverzüglich damit, über die bislang bekannten Fakten zu referieren. Er pinnte Tatortfotos auf die noch schneeweiße Fläche und schrieb routiniert ein paar Bemerkungen darunter. Ein entsetztes Aufstöhnen ging durch die Reihen seiner Kollegen, als die Fotos mit den Schüsseln dran waren.

»Nach diesen ersten Erkenntnissen müssen wir davon ausgehen, dass der Täter … sagen wir mal, psychisch nicht gesund ist. Der Sinn seiner sorgfältigen Inszenierung verschließt sich mir bislang noch, aber die Darstellung weist auf einen Zusammenhang mit der Walpurgisnacht hin.«

Gemurmel machte sich breit, manch einer tuschelte mit seinem Sitznachbarn. Auf Maders Stirn bildete sich eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.

»Leute, bitte! Wenn es zum Fall etwas zu sagen gibt, würde ich es ebenfalls gerne erfahren. Über das heutige Mittagessen in der Kantine können Sie sich auch nach der Besprechung unterhalten«, rügte er, nur halb im Scherz.

Eine der eifrigsten Schwätzerinnen meldete sich zu Wort, eine junge Frau von vielleicht Anfang dreißig. Sie besaß eine süße Himmelfahrtsnase und braune Kulleraugen, trug ihr langes Haar zum Pferdeschwanz gebunden.

»Ja?«

»Marit Schmidbauer, ich bin Ihnen bislang noch nicht vorgestellt worden. Wir … ähm … haben uns gefragt, ob Sie mit den Sagen und Legenden dieser Gegend hier schon genauer vertraut sind. Weil Sie doch nicht aus dem Harz stammen … «

»Sie meinen diesen Hexenblödsinn? Ich habe davon gehört. Ob der zerbrochene Besen überhaupt zum Tatort gehört oder einfach nur von einer Feiernden dorthin geworfen wurde, müssen wir erst noch herausfinden«, antwortete Mader in abfälligem Tonfall.

Die Schmidbauer verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

»Dann wissen Sie also auch, was es, jedenfalls der Sage nach, mit den Schüsseln auf sich hat?«, fragte sie trotzig.

»Nein, aber Sie anscheinend. Dann mal raus mit der Sprache«, sagte Mader, jetzt etwas freundlicher. Er durfte es sich mit der Belegschaft keinesfalls gleich zu Beginn verderben.

»Also gut. Ich gebe eine Geschichte wieder, die bei uns in der Region bereits jedes Kleinkind kennt. Klar, es ist nur eine Sage, aber sie scheint auf frappierende Weise zu unserem Tatortszenario zu passen. Eventuell könnte das ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass der Täter aus der näheren Umgebung des Brockens, zumindest aber aus dem Harz stammt. Also:

Jährlich findet in der letzten Nacht des Aprils eine schauerliche Zusammenkunft auf dem Brocken statt. Der Teufel höchstpersönlich lädt seine Hexenund Zauberdiener zum wichtigsten Hexensabbat ein. Daher nennt man den Berg auch Blocksberg.

Sobald Mitternacht vorbei ist, kommen von allen Himmelsrichtungen die teuflischen Bundesgenossen auf ihren Untieren, Mistforken und Besen herbeigeritten. Sind alle beisammen, tanzt die Gesellschaft unter lautem Jauchzen bis zur Erschöpfung um ein loderndes Feuer. Anschließend begibt sich der Regent der Unterwelt zur Teufelskanzel, von wo er über Gott, dessen Lehre und die Engel lästert. Danach lädt er die Anwesenden zu einem teuflischen Mahl, das auf dem Hexenaltar zubereitet wird.

Das Mahl besteht nur aus einer einzigen, scheußlichen Zutat. Jene Hexe, welche zuletzt den Brocken erreicht, muss wegen sträflicher Vernachlässigung der teuflischen Etikette nach einer letzten glühenden Umarmung mit dem Höllenfürsten sterben. Dann wird ihr in Stücke gerissener Körper in die Hauptschüsseln des Festessens verteilt und den Gästen vorgesetzt.

Sobald sich der Morgen ankündigt, bricht die Schar der Hexen überhastet in alle Windrichtungen auf. Die Menschen, die rund um den Brocken wohnen, schützen sich in diesen Tagen, indem sie drei Kreuze an Haustüren und Ställen anbringen. Die bösen Geister sollen so auf ihrem Hinund Rückflug von Zaubereien an Unschuldigen abgehalten werden.«

Anstelle einer Äußerung drehte sich der Kommissar zur Magnettafel um, schrieb die Worte Hexensabbat: zerbrochener Besen, 11 Portionen Hexenfleisch neben die Tatortfotos. Um die Zahl 11 zog er schwungvoll einen roten Kreis. Danach wandte er sich wieder Marit Schmidbauer zu.

»Ich muss sagen, Ihre Theorie klingt insoweit logisch. Aber wieso ausgerechnet elf? Ist diese Zahl mythologisch belegt?«

Die Angesprochene schüttelte ratlos den Kopf und er sah aus dem Augenwinkel auch andere Kollegen die Schultern zucken.

»Okay, dann lassen wir das mal so stehen. Sobald wir die Identität der Toten geklärt haben, müssen wir nachforschen, ob sie vielleicht mit einem hiesigen Heimatkulturverein in Verbindung stand oder welchen Bezug sie sonst zu dieser Hexensage gehabt haben könnte.«

Maders Blick wanderte in den hinteren Teil des Raumes, wo Revierleiter Remmler, gleich einem unbeweglichen Felsbrocken, dasaß und zuhörte. Seiner Miene konnte man weder Zustimmung noch Ablehnung entnehmen. Scheinbar war das bei ihm normal, er hatte neulich Kollegen auf dem Flur schon scherzhaft über eine sehr wahrscheinliche Gesichtslähmung spekulieren hören. Nun wusste er warum.

Plötzlich überkam ihn eine Eingebung.

»Herr Müller, haben Sie die Leiche eigentlich auf Spuren einer Vergewaltigung untersucht? Wenn die Hexensage buchstabengetreu nachgestellt wurde, dann könnte es vor ihrem Tod noch

›eine letzte glühende Umarmung mit dem Höllenfürsten‹ gegeben haben. Nicht wahr, Frau Schmidbauer?«

Anstelle einer Antwort hielt die Schmidbauer nur einen Daumen hoch, strahlte über das ganze Gesicht.

»Wir sind mit der Obduktion noch nicht fertig, das werden wir überprüfen. Momentan kann ich Ihnen nur den Todeszeitpunkt nennen. Das Opfer muss in den frühen Morgenstunden des ersten Mais, so zwischen zwei und drei Uhr, verstorben sein, und zwar durch dreizehn Messerstiche in den Rücken. Die Lunge wurde total perforiert. Danach wurden die Verstümmelungen vorgenommen, und zwar unprofessionell. Welche Art von Messer oder Säge der Täter hierfür verwendet hat, müssen wir erst noch ermitteln. Die Auswertung der Spuren wird ein Weilchen dauern, wie Sie wissen«, referierte der Gerichtsmediziner.

Die Spurensicherung kam zum Zuge.

»Wir haben am Tatort jede Menge DNA-Material gesammelt, auch Fingerabdrücke am Besenstiel und den Schüsseln … aber ob da etwas Verwertbares dabei ist, steht bislang in den Sternen.

Vermutlich haben zahllose Touristen diesen Hexenaltar besucht und ihr Genmaterial hinterlassen, was selbstverständlich auch für die Fußabdrücke rund um die Felsformation gilt. Der Tatort war verunreinigt. Na, mal sehen, ob es in der Datenbank Treffer gibt. Eine Wiederholungstat ist ja nicht auszuschließen.«

Mader brachte die entsprechenden Notizen auf der Tafel an.

»Gut, dann warte ich auf Ihren Bericht. Nun zu unserem letzten Punkt für heute. Ich habe mich entschieden, eine Soko zu bilden. Es versteht sich von selbst, dass ich in diesem Team nur sehr erfahrene Ermittler gebrauchen kann. Herr Remmler hat mir freundlicherweise bis zu fünf Personen genehmigt, mich selbst als Leiter eingeschlossen. Meldet sich jemand freiwillig?«

Im Besprechungsraum herrschte Totenstille. Remmler spielte immer noch den kalten Felsblock. Mader begann zu schwitzen. Er kannte die Kollegen noch zu wenig, um deren ermittlungstechnische Fähigkeiten einschätzen zu können.

Da schnellte Marit Schmidbauers Arm nach oben.

»Ich würde sehr gerne mitwirken, das Rätsel zu lösen. Und ich empfehle Ihnen, die Herren Schröck, Jablonski und Beckert mit ins Boot zu holen.«

Dafür erntete sie missbilligende Blicke der genannten Beamten. Als er diese direkt ansah, einen nach dem anderen, nickten sie jedoch alle.

Feiges Pack.

»Einverstanden«, sagte er erleichtert.

»Wie soll unsere frisch gegründete Soko eigentlich heißen?«, fragte die Schmidbauer neugierig. Ihr hellwacher Blick erinnerte an den eines Erdmännchens.

»Sie werden lachen, aber darüber habe ich mir gestern Abend schon Gedanken gemacht. Wie wäre es mit Urian?«

Wieder entstand Gebrabbel. Was hatten diese Unsympathen nun schon wieder auszusetzen? Er hatte nach seiner Rückkehr vom Brocken extra noch gegoogelt und herausgefunden, dass Urian einfach ein anderer, altmodischer Ausdruck für den Teufel war. In früheren Tagen nannte man wohl auch ungebetene Gäste manchmal ›Herr Urian‹.

»Keine gute Idee«, widersprach Marit schnell.

»Wieso? Der Teufel wird hier doch als vorgeschobener Täter missbraucht«, konterte der Kommissar.

»Zu DDR-Zeiten wurde die gesamte Bergkuppe des Brockens für Überwachungsund Spionagezwecke genutzt. Es gab zwei leistungsfähige Abhöranlagen, wovon die eine dem sowjetischen Geheimdienst gehörte. Sie hießen Jenissej und Urian … manche Leute sind auf diese Vergangenheit nicht gut zu sprechen, also könnte der Name in der Bevölkerung Unwillen erwecken.«

»Ich sehe schon, Sie sind ein wandelndes Lexikon und haben einen klassischen Heimvorteil. Wie gut, dass ich Sie in der Soko habe«, lachte Mader. »Alternative Vorschläge?«

Das viel zitierte Schweigen im Walde wäre vermutlich lauter gewesen, dachte Mader frustriert. Er drehte sich wieder zum Magnettafel um und da traf ihn der Einfall wie ein Blitz.

»Die Würfel sind gefallen, um mit Julius Cäsar zu sprechen.«

Er griff nach dem roten Marker und brachte über den Fotos in Großbuchstaben den Schriftzug BROCKOPATH an.

»Wir haben es mit einem Psychopathen zu tun, der am Brocken mordet. Welcher Begriff läge also näher?«

Diesmal klang das Gemurmel zustimmend. Vielleicht tauten jetzt allmählich die Ersten auf, was ja auch Zeit wurde. Mit frischem Elan fuhr er fort:

»Frau Schmidbauer, Sie checken bitte noch heute die Vermisstenanzeigen, ob sich unser Opfer dort finden lässt – bei uns und in benachbarten Revieren. Es könnte ja sein, dass dort gerade erst eine Anzeige eingegangen ist, die sich noch nicht im System befindet. Falls dem nicht so sein sollte, warten wir noch einen Tag, ob etwas hereinkommt. Andernfalls müssten wir eine Fotografie der Toten in der Zeitung abdrucken lassen und darauf hoffen, dass die Frau hier in der Region wohnte und sie irgendjemand erkennt. Sie wissen schon – vorher noch eine Abgleichung von Zahnstatus und Fingerabdrücken … allem eben, was zur Identifizierung beitragen kann.«

Marit Schmidbauer nickte gehorsam, nahm eine Fotografie entgegen. Das hübsche Gesicht des Mordopfers wirkte darauf zwar unnatürlich blass, aber man hätte annehmen können, dass die Frau nur friedlich schlafe. Einzig die blutverkrusteten blonden Haarsträhnen wiesen auf eine Gewalttat hin.

»Klar, die übliche Vorgehensweise halt«, entgegnete sie grinsend. Der Angeber aus der Stadt musste sich schon was anderes einfallen lassen, wenn er hier Eindruck schinden wollte. Scheinbar meinte er, sie hätten drüben in Dresden die Weisheit mit Löffeln gefressen, während hier ermittlungstechnisch noch tiefste Steinzeit herrschte. So ein Schnösel, aber das würden sie ihm bestimmt noch austreiben. Schließlich hatte es im Raum Wernigerode 2012 und 2015 Morde gegeben, so unbefleckt war dieser Landstrich nun auch wieder nicht.

»Prima, damit ist für den Moment alles gesagt. Wir warten die Ergebnisse der Gerichtsmedizin ab und bis dahin macht sich bitte jeder Gedanken über mögliche Mordmotive, den genauen Tathergang und diesen teuflischen Inszenierungs-Unsinn. Das Briefing ist für heute zu Ende. Ich entlasse Sie jetzt in Ihre tägliche Tretmühle – oder in die wohlverdiente Mittagspause.«

Letztere in Anspruch zu nehmen, hatte auch Bernd vor. Er wollte im Baumarkt noch ein paar Utensilien besorgen. Doch kaum hatte er die Fallakte Brockopath im Dienstzimmer auf seinen Schreibtisch geknallt und nach seiner Lederjacke gegriffen, öffnete sich die Tür. Walter Remmler schien seine Starre überwunden zu haben, stand in voller Lebensgröße vor ihm. Wobei diese Lebensgröße höchstens eins zweiundsiebzig betrug.

»Wohin so eilig, Kollege Marder? Wir müssen noch die Statements für die morgige Pressekonferenz durchgehen. Da möchte ich Sie besser dabeihaben. Wir müssen da sehr genau abwägen, welche Details wir preisgeben und welche wir der Öffentlichkeit vorläufig vorenthalten. Ich möchte vermeiden, dass die Angst umgeht und die Gastronomie oben am Brocken unter dem Vorfall leiden muss. Oder schlimmer noch, die HSB. Der Bahnbetreiber ist ein wichtiger Steuerzahler.«

Der Angesprochene setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches, atmete tief durch. Provinzieller Klüngel. Auch das noch.

»Der Name ist Mader, nicht Marder.«

»Auch recht. Also auf geht’s, wir verkrümeln uns in mein Büro. Dort sind wir ungestört.«

Erst zehn Minuten vor acht schaffte es der Kommissar, fliegenden Fußes das Polizeirevier zu verlassen. Der Baumarkt lag in der Halberstädter Straße und somit außerhalb des Stadtkerns. Er würde ein paar Geschwindigkeitsbeschränkungen ignorieren müssen, um noch rechtzeitig vor Ladenschluss dort einzutreffen. Die Uhr lief gegen ihn.

Die Zeitanzeige am Armaturenbrett stand auf 19.58 Uhr, als er endlich auf den Parkplatz des Bauund Heimwerkermarktes eintraf. Respekt, wer’s selber macht, prangte in riesigen Lettern über dem Eingang. Nur noch vereinzelt standen Autos in den Parkbuchten.

Im Laufschritt rannte Mader zum Eingang – und prallte fast gegen die Schiebetür, weil die sich entgegen seiner Erwartung nicht mehr automatisch öffnete.

»So eine Scheiße!«, fluchte er frustriert.

Und dabei heißt es immer, Beamte würden überpünktlich den Stift fallen lassen. Kundenfreundlichkeit sieht ganz anders aus. Drecksprovinz! Wenn die könnten, würden sie nachts wahrscheinlich auch die Bürgersteige hochklappen.

»Entschuldigung, kann ich Ihnen weiterhelfen? Heute haben wir leider ausnahmsweise schon geschlossen«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihm.

Er fuhr herum, blickte in ein offenes, freundliches Gesicht. Die ungefähr vierzigjährige Dame lächelte ihn achselzuckend an. Mit ihren aschblonden, knapp schulterlangen Haaren, der etwas unreinen Haut und den zu kleinen, runden Augen war sie zwar keine Venus, doch die Schönheitsfehler wurden durch ihre nette Wesensart wett gemacht. Ihre kleine Handtasche trug sie fest unter den Arm geklemmt, so als befürchte sie jeden Augenblick einen Überfall.

»Seit wann ist es üblich, die Kunden schon vor Ende der Öffnungszeiten auszusperren? Ich hätte heute noch so einiges kaufen wollen, aber nun kann ich daheim nicht mehr weiterarbei-

ten«, moserte der Kommissar. Er brauchte dringend einen Blitzableiter, um diesen beschissenen Tag zu kompensieren.

Doch die Frau blieb souverän, ließ sich nicht provozieren.

»Das kommt normalerweise nicht vor. Aber heute hatten wir um sieben einen Feueralarm, mussten den gesamten Markt evakuieren. Dieser stellte sich zwar am Ende als Fehlalarm heraus, aber die Feuerwehrleute haben eine Weile gebraucht, sich überall sorgfältig umzusehen. Die Entwarnung kam erst gegen 19.40 Uhr. Da hätte es keinen Sinn mehr gemacht, die Kunden noch für ein paar Minuten herein zu lassen«, erklärte sie.

»Auch wieder wahr«, räumte Mader ein.

Sie zog die Handtasche unter ihrem Arm hervor, griff zielstrebig hinein und förderte einen Briefumschlag zutage. Dem entnahm sie einen Rabattcoupon.

»Hier, weil Sie vergeblich hergefahren sind. Zwanzig Prozent auf alles.«

» … außer auf Tiernahrung, ich weiß Bescheid. Die hätte ich zwar ebenfalls gebraucht, aber trotzdem vielen Dank.«

Nun musste auch Bernd lachen. Er steckte den Coupon in seine Brieftasche.

»Das ist der Slogan unserer Konkurrenz. Wir führen hingegen überhaupt keine Tiernahrung«, konterte die Dame augenzwinkernd. Sie trug klassische Bürokleidung, wahrscheinlich stand er vor der Filialleiterin höchstpersönlich.

»Was für ein Tier haben Sie denn?«

»Einen fetten Kater. Ich müsste ihn zwar auf Diät setzen, aber er soll auch nicht leben wie ein Hund«, scherzte Mader.

Ihre grünen Augen strahlten wie Smaragde.

»Ich liebe Katzen. Keine kommt an mir vorbei, ohne sich ein paar Streicheleinheiten einzuhandeln. Leider kann ich mir selber keine halten, weil ich ja fast nie zu Hause bin.«