Dunkelsonne - Marie Kastner - E-Book

Dunkelsonne E-Book

Marie Kastner

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  • Herausgeber: XOXO-Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Eine mörderische Auswanderergeschichte Anlässlich einer Autopanne trifft die zweifache Mutter und Ehefrau Greta Lindenhardt auf den hilfreichen Motorradfahrer Kalle, der sie über alle Maßen fasziniert. Der undurchsichtige Typ aus dem Nürnberger Biker-Milieu plant, nach Mallorca auszuwandern und sich dort mit einer Bar selbständig zu machen. Greta ist zwischen der Liebe zu ihrer Familie und dem Wunsch nach einem neuen, abenteuerlichen Leben hin- und hergerissen. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als sie dem neuen Mann in ihrem Leben folgt und realisieren muss, dass auf der Lieblingsinsel der Deutschen keineswegs alles eitel Sonnenschein ist. Schon bald zeigt Malle-Kalle sein wahres Gesicht.

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Seitenzahl: 403

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Dunkelsonne
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Epilog
Quellenangaben
Die Autorin

Dunkelsonne

Ein Mallorca-Krimi

Marie Kastner

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche

Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-020-0

E-Book-ISBN: 978-3-96752-520-5

Copyright (2019) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung:

© Ulrich Guse, Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa)

© Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com

Buchsatz:

Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Prolog

Das Mittelmeer glitzert im strahlenden Sonnenlicht. Sanfte Wellen umspülen meine nackten Füße. Sie locken mich, verführen zum Baden. Doch mir ist nicht danach, ganz im Gegenteil. In meiner Seele hockt ein schwarzer Felsblock, der den wolkenlosen Sonnenschein in eine gleißende Hölle, das azurblaue Meer in ein zerstörerisches Bassin aus Wasser verwandelt.

Touristen in Badekleidung rennen strahlend an mir vorbei. Sie freuen sich des Lebens und genießen ihren Urlaub im Paradies. Und ich, ich sitze mit angewinkelten Beinen, um die ich meine Arme geschlungen habe, mitten im Frohsinn und schiebe finstere Gedanken vor mir her. Niemals zuvor schien mir das Symbol der schwarzen Sonne passender, so als wäre es zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung geworden.

Wie hat es nur so weit kommen können?

Alles begann im Spätsommer 2014 so vielversprechend. Hier auf Mallorca wollte ich ein neues Leben, eine lebenswerte Existenz aufbauen, und das mit einem tollen Mann an meiner Seite. Ich war damals total in ihn verknallt, muss trotz meiner fünfundvierzig Lebensjahre eine rosarote Brille getragen haben. Ohrfeigen könnte ich mich heute dafür!

Ich hasse ihn mit jeder Faser meines Herzens. Er muss weg. Nur – wie soll ich das bewerkstelligen? In meiner Gedankenwelt habe ich dieses versoffene, egoistische, kranke Arschloch schon tausendfach erwürgt, erstochen, in monströsen Wellen am Riff zerschellen lassen, von oben bis unten aufgeschlitzt …

Während ich all diese Gräueltaten wie einen morbiden Reigen der Mordlust genüsslich vor meinem inneren Auge Revue passieren lasse, trägt der laue Sommerwind die rüden Klänge des Klassikers Highway To Hell von AC/DC an meine Ohren. Ich wollte, ich könnte Kalle endlich auf diese rasante Reise in die Hölle schicken. Am liebsten mit meinen eigenen Händen.

Kapitel 1

Finstere Gesellen

Sonntag, 16. Februar 2014

00:38 Uhr. Stille lag über dem spärlich erleuchteten Gelände, das früher eine kleine Spedition beherbergt hatte. Noch vor ein paar Minuten war hier, am Rande des Nürnberger Industriegebiets, der Teufel los gewesen. Jetzt jaulte in der Ferne Sirenengeheul von mehreren Einsatzfahrzeugen, die kontinuierlich näher kamen. Der siebenundsechzig Jahre alte Nachtwächter eines benachbarten Gebrauchtwagenhändlers hatte die Polizei zu Hilfe gerufen.

Mit quietschenden Reifen bogen drei Einsatzfahrzeuge auf das asphaltierte Gelände ein. Die gut zwei Meter hohen Flügel eines Metalltors, das die Einfahrt auf das komplett umzäunte Grundstück normalerweise versperrte, hingen verbeult an ihren massiven Pfosten. Jemand musste das Tor gewaltsam aufgedrückt haben, vermutlich mit einem Lkw.

Autotüren klappten, Beamte stiegen im Blaulichtgewitter aus, sicherten sich gegenseitig. Aber alles blieb ruhig, vielleicht sogar zu ruhig. Die Szenerie wirkte fast schon gespenstisch.

»Da kommt ihr ja endlich! Die Galgenvögel sind ausgeflogen, ihr seid viel zu spät dran!«

Vorsichtig näherte sich der offenbar einzige Ohrenzeuge der Schießerei der Polizistengruppe, blieb mit verschränkten Armen unter einer Straßenlaterne nahe dem zerstörten Tor stehen. Er trat von einem Fuß auf den anderen, vermutlich fror er. Einer der Beamten nahm sich seiner an, während die restlichen das quadratische Steingebäude umstellten, das inmitten des Geländes stand.

»Sie hatten die Notrufnummer angerufen? Dann bräuchte ich jetzt als allererstes bitte Ihre vollständigen Personalien«, sagte der Polizist routiniert. Er zückte Kugelschreiber und Block.

Der ältere Herr fummelte umständlich seinen Personalausweis aus dem abgegriffenen Ledergeldbeutel.

»Sie haben sich zum Zeitpunkt der Schießerei da drüben beim Autohändler aufgehalten, Herr … Schilling?«, fragte der Beamte, während er die Daten mit klammen Fingern auf seinem Notizblock notierte.

»Jawohl, ich saß in dem kleinen Verkaufscontainer, den man schemenhaft von hier aus erkennen kann. Ich bessere mit dem Nachtwächterjob meine beschissen geringe Rente auf. Wissen Sie, ich bin ja schon einiges gewohnt. Die gottverdammten Rocker machen einen Höllenlärm mit ihrer Musik, und die Motorräder hört man natürlich auch ständig anund abfahren. Aber sowas wie heute … ! Und das ausgerechnet in unserem beschaulichen Nürnberg. Franken ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Wir sind hier doch nicht in Berlin oder Hamburg!«

»Was ist denn passiert, und wann genau?«

Der Zeuge kratzte sich unter seiner schwarzen Wollmütze, auf der ein aufgenähtes Emblem des Fußballvereins Greuther Fürth prangte. Mutig, damit in Nürnberg herumzulaufen.

»Mal überlegen. Meinen letzten Rundgang auf dem Hof habe ich kurz vor ein Uhr beendet. Danach brauchte ich dringend eine Tasse Tee aus der Thermoskanne, um mich aufzuwärmen. Ich denke mal, so um fünf nach eins hörte ich die Motorräder kommen. Was ich ungewöhnlich fand, weil das wilde Treiben im Clubhaus sonst um diese Uhrzeit längst voll im Gange ist. Zehn Minuten später hörte ich den ersten Schuss, gefolgt von einer wilden Schießerei und Gebrüll. Es hörte sich an, als würde eine ganze Gruppe das Gebäude stürmen wollen.«

»Aha. Also ist da wohl ein rivalisierendes Charter angekommen, oder? Waren die Hausherren überhaupt anwesend?«

»Bevor die Meute anrückte, war es drüben relativ ruhig. Vielleicht so zwei oder drei Rocker könnten sich im Haus befunden haben. Genau weiß ich es aber nicht. Ich habe besseres zu tun, als dauernd diese Verbrecher zu beobachten«, meinte Schilling achselzuckend.

Inzwischen waren die Kollegen des vernehmenden Polizisten bis zum Clubheim vorgerückt und hatten festgestellt, dass sich in der Fassade etliche Einschusslöcher befanden. Scheiben waren zerborsten. Die ebenfalls von Kugeln durchsiebte Tür stand sperrangelweit offen. Innen stellten sie wenig später fest, dass sämtliche Insignien des berüchtigten Rockerklubs entweder zerstört oder zumindest mit schwarzer Sprühfarbe besudelt worden waren. In diesen Kreisen war sowas mit einer Kriegserklärung gleichzusetzen.

Tote oder Verletzte fanden sich bei der Durchsuchung nicht. Jedenfalls noch nicht. Die Beamten wussten: Wenn eine Fehde zwischen zwei verfeindeten Clubs erst einmal eröffnet ist, kann man jeden Tag mit einer Eskalation rechnen.

Eine Anzeige wegen Sachbeschädigung würde trotz des hohen Schadens bei den Behörden hingegen wohl nie eingehen. Man pflegte solche Dinge in Rockerkreisen lieber unter sich zu regeln, meist mit Waffengewalt.

Die Beamten fotografierten prophylaktisch den Tatort und zogen wieder ab.

Montag, 17. März 2014

Kapitel 2

Im Hamsterrad

»Greta, kommst du mal bitte? Du hast Kundschaft!«

Na klar. Kaum ging man kurz in die Teeküche, um sich einen Pott Kaffee zu holen, musste auch schon die liebe Kollegin Auerbach nerven. Und das, obwohl sie inzwischen durchaus in der Lage hätte sein sollen, eine simple Kleinanzeige entgegen zu nehmen.

Seit drei Monaten arbeitete das wasserstoffblonde Biest in derselben Abteilung der örtlichen Tageszeitung, doch außer Fingernägel lackieren, ständig Facebook checken und privat im Web surfen hatte sie scheinbar wenig gelernt. Greta Lindenhardt konnte sich durchaus denken, welche triftigen ›Argumente‹ beim Personalchef zu ihrer Einstellung geführt hatten. Selbige waren unübersehbar, drohten den Knopf am Ausschnitt ihrer hautengen Bluse weg zu sprengen. Abteilungsleiter Müller dachte leider allzu gerne mit dem Schwanz, was sich insbesondere bei der alljährlichen Weihnachtsfeier zeigte.

»Ich bin gleich vorne!«, brüllte die Lindenhardt zurück, während sie eine Taste des Kaffeevollautomaten drückte und gleichzeitig zwei Süßstofftabletten in den Becher fallen ließ.

Eine Minute später stellte sie das dampfende Getränk neben dem polierten Marmortresen ab, der den Publikumsverkehr von ihrem überfüllten Schreibtisch trennte.

Zwei ältere Damen, von denen eine in der Handtasche wühlte. Aha. Todesanzeige oder entlaufene Katze, dachte sie angewidert. Immer dasselbe. Hierher in die Geschäftsstelle kamen, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, sowieso nur diejenigen Kunden, welche nicht in der Lage waren, ihre Anzeige online aufzugeben. Also zumeist alte Leute, unterbelichtete Hausfrauen oder Loser, die gegen Technik allergisch waren. Und genau dieses Klientel hatte sie jetzt, nach fünfzehn Jahren bei der Mittelfränkischen Rundschau, sowas von satt.

Tür auf, Tür zu. Tagaus, tagein. Acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche. Ohne Aussicht auf Entkommen, denn das Reihenhaus in der Vorstadt musste noch abbezahlt werden. Die Arbeitslosenquote in Nürnberg war hoch, und mit fünfundvierzig wurde man nicht mehr überall mit offenen Armen genommen. Klar, Dirk verdiente als Finanzbeamter ganz gut – dafür betäubte er seinen Frust über diesen öden Beruf aber mit teuren Belohnungen. Ein nagelneuer BMW, exklusive Uhren und kostspielige Urlaube gehörten für ihn untrennbar zum Beamtenleben. Im Grunde genommen war er in beruflicher Hinsicht ein mindestens genauso armes Schwein wie sie selbst. Gefangen in der Ödnis eines ungeliebten Berufs, was noch gut zwanzig Jahre so weitergehen würde.

Nastasia Auerbach wackelte gemächlich heran, reckte ihren schlanken Hals und sah ihr über die Schulter. Schwerer Parfümduft kitzelte Gretas Nase. Wie konnte man tagsüber nur Opium tragen? Routiniert nahm sie den Anzeigentext auf, zeigte den schwarz gekleideten Krähen verschiedene Designs für die Traueranzeige. Kreuz mit Rose, Rose mit Gebetsbuch, verschnörkeltes Kreuz – und so weiter. Stinklangweilig.

Nachdem die Kundinnen gegangen waren, drehte Greta sich zu Nastasia um, die mit kuhdummen Augen in die Gegend blinzelte.

»Die nächste Anzeige nimmst ausnahmsweise du auf, ist das klar?«, verfügte sie resolut.

Die Blondine schmollte indigniert. Na klasse. Und der Kaffee war mittlerweile auch nur noch lauwarm.

17:00 Uhr. Endlich. Greta Lindenhardt raffte die Papiere auf ihrem Schreibtisch zu einem Stapel zusammen, versendete noch zwei E-Mails, legte sich den schwarzen Daunenmantel über den Arm und griff nach ihrer Handtasche.

»Bis morgen dann!« Eine Antwort der auf dem Smartphone tippenden Auerbach wartete sie gar nicht erst ab, sondern glitt aus der Glastür und sperrte ab.

Es graupelte leicht, und das Mitte März, wo jeder schon sehnsüchtig auf den Frühling wartete. Mist, Dirk hatte letztes Wochenende auf ihrem uralten Opel Tigra twintop die Sommerreifen montiert! Sie liebte ihren metallicgelben Renner über alles, auch wenn ihr Mann sie ständig ermahnte, die anfällige Rostlaube Baujahr 1999 schleunigst loszuwerden.

Schnellen Schrittes eilte Greta in das benachbarte Einkaufszentrum, um noch ein paar frische Zutaten für das Abendessen zu besorgen. Sie kam an den Schaufenstern eines Textildiscounters vorbei, betrachtete sich im Vorübergehen. Sie konnte sich sehen lassen, kein Zweifel. Schulterlanges, glattes braunes Haar mit blonden Strähnchen, ein ebenmäßiges Gesicht mit gerader, nicht zu großer Nase, schlanke Figur, dezentes Makeup, schicke Stiefeletten … sie sah blendend für ihr Alter aus, wenn auch bei weitem nicht so aufgetakelt und künstlich wie die blöde Auerbach.

Greta blieb kurz stehen, betrachtete die Auslagen. Die leichten Sommerkleider in Royalblau wollten weder zu ihrer Stimmung noch zur Außentemperatur passen. Trotzdem, eine ausgedehnte Shoppingtour musste demnächst sein. Vorfreude war Trumpf. Am besten gleich am Freitag, wenn sie dank der Nachhilfestunden ihrer beiden Kinder etwas mehr Zeit zur Verfügung hatte.

*

Der Opel Tigra mühte sich durch den dichten Berufsverkehr. Um diese Uhrzeit war auf Nordwestring und Frankenschnellweg kein Vorwärtskommen, Greta war das bereits gewohnt. Es gehörte zum täglichen Trott. In Höhe der U-Bahnstation Rothenburger Straße würgte sie versehentlich an einer Ampel den Motor ab, brachte ihn nicht wieder in Gang. Schwitzend versuchte sie wieder und wieder, den Wagen zu starten, während um sie herum ein Hupkonzert aufbrandete.

Jemand klopfte an die Scheibe der Fahrerseite. Greta kurbelte sie hektisch herunter, wirkte aufgelöst.

»Na, streikt Ihr Auto?«, fragte eine angenehm tiefe Stimme in typisch fränkischem Dialekt. Ein breitschultriger Motorradfahrer nahm den mattschwarzen Helm ab und steckte seinen massigen Schädel herein.

Greta nickte voller Nervosität.

»Er springt nicht mehr an.«

»Vielleicht ist der Motor nur abgesoffen, das kommt bei älteren Autos gelegentlich vor. Dürfte ich mal probieren?«

Sie stieg aus, kramte in ihrer Manteltasche und zündete sich fahrig eine Zigarette an. Der Fremde drückte das Gaspedal für eine Weile komplett durch, betätigte mehrmals den Zündschlüssel und schüttelte den Kopf.

»Die Batterie ist es jedenfalls nicht, die Anzeigen funktionieren einwandfrei. Wenn Sie mich fragen, ist der Anlasser hinüber. Da kann man nix machen. Wir müssen den Wagen an den Straßenrand schieben. Ich erledige das schon, setzen Sie sich hinein und steuern.«

Erstaunlich behände bugsierte er seinen wuchtigen, in schwarzes Leder gekleideten Körper wieder ins Freie.

Fünf Minuten später stand das defekte Fahrzeug auf einem der breiten Gehsteige an der Rothenburger Straße. Der Biker hatte ihn vereinbarungsgemäß um die Ecke geschoben. Greta bedankte sich höflich, packte ihre Taschen und wollte in Richtung der UBahnstation davon gehen, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren.

»Halt, nicht so schnell, Lady. Ich kenne eine Opel-Werkstatt an der Siegelsdorfer Straße, das ist gar nicht weit von hier. Ein Stück Richtung Fürth und dann links. Ich könnte Sie schnell auf dem Sozius mitnehmen. Die Mechaniker schleppen Ihr Auto bestimmt gleich in die Halle, während Sie dort in Ruhe warten – und schon sind Sie alle Sorgen los. Hier kann es sowieso nicht auf Dauer stehen bleiben.«

»Auf dem Motorrad? Aber ich habe doch keinen Helm!« Der Typ grinste wie ein Honigkuchenpferd.

»Aber ich. Den setzen Sie auf. Für die paar Meter können wir riskieren, dass ich oben ohne fahre.«

Er zog die dunkle Kapuze seines Sweatshirts unter der Lederjacke hervor und streifte sie über.

»Sehen Sie? Fällt kaum auf.«

Greta Lindenhardt überlegte einen Augenblick, dann stellte sie spontan ihre Einkaufstüte in den Tigra zurück und hängte sich die Handtasche quer über den Oberkörper.

»Okay, vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen. Wissen Sie, ich hatte heute echt schon genügend Stress. Vielleicht können die Mechaniker in der Werkstatt den Anlasser sogar gleich austauschen, sodass ich morgen ganz normal zur Arbeit fahren kann.«

»Bingo. Bitte Helm aufsetzen, aufsteigen und gut festhalten.«

Zu ihrem eigenen Erstaunen genoss Greta die kurze Fahrt, fühlte sich glatt ein wenig wie eine verruchte Rockerbraut. Mit leicht zitternden Knien stieg sie auf dem Gelände des Opelhändlers vom Motorrad.

Sie reichte ihm den Helm.

»Wie soll ich Ihnen bloß danken? Man trifft heutzutage so selten auf hilfsbereite Menschen.«

Weichgespülter Dackelblick aus dunkelbraunen Augen.

»Ich wüsste da schon was. Gehen Sie mit mir einen Kaffee trinken.«

»Jetzt? Aber … aber ich muss mich doch um den Abtransport des Autos kümmern, und … !«

»Ach was! Morgen, wenn Sie mehr Zeit haben. Ich schreibe Ihnen einfach meine Telefonnummer auf. Abgemacht?«

Er zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke. Noch ehe sie antworten konnte, hatte er ihre linke Hand ergriffen und den Ärmel ihres Mantels ein Stück zurückgestreift. Er kritzelte ein paar Buchstaben und Zahlen auf die Haut an ihrem Gelenk.

Seine chromglänzende Harley Davidson blubberte gemächlich vom Parkplatz. Er winkte zum Abschied. Greta stand wie vom Donner gerührt vor dem Autohaus und schaute hinterher. So ein frecher Kerl, hielt sich wohl für total unwiderstehlich! Klar, er hatte ihr geholfen. Aber schließlich hatte sie sich dafür ordnungsgemäß bedankt. Wenn der meinte, dass sie ihm dafür jetzt auch morgen noch nachlaufen würde, täuschte er sich aber gewaltig.

Sie überprüfte ihr Gelenk. Tatsächlich. Er hatte seine Mobilnummer und den Namen Kalle verewigt. Noch immer weich in den Knien, ordnete sie ihre Frisur und begab sich zur Reparaturannahme.

*

Dienstag, 18. März 2014

Der düstere Vormittag wollte nicht vergehen. So sehr die Kundschaft auch manchmal nervte – wenn gar keiner hereinkam, war der Job noch viel schwerer zu ertragen. Greta blickte aus dem Schaufenster. Draußen in der Fußgängerzone am Weißen Turm regnete es seit Stunden in Strömen. Hin und wieder hasteten vereinzelte Passanten mit Regenschirmen vorbei, die sie gegen stürmische Windböen schräg vor die Oberkörper stemmten.

Im Raum Nürnberg herrschte das typische Erkältungswetter. Die Auerbach hatte sich am Morgen auch prompt krank gemeldet, was diese Schnepfe allerdings wegen jedem kleinen Schnupfen tat. Wahrscheinlich weil sich eine rote Nase schlecht wegschminken ließ.

Greta tippte Abrechnungen in den PC, ertappte sich jedoch immer wieder dabei, wie ihre Gedanken abschweiften. Sie betrachtete verträumt ihr linkes Handgelenk. Obwohl sie vor dem Schlafengehen ausgiebig geduscht hatte, war die blaue Tinte von Kalles Kugelschreiber noch schemenhaft zu erkennen. Wieso, um alles in der Welt, ging er ihr partout nicht aus dem Kopf? Sie war glücklich verheiratet und Mutter zweier Kinder, da verbot sich eigentlich der Gedanke an fremde Männer. Eigentlich …

Mehr als einmal hatte sie seit dem gestrigen Abend elektrisiert mit dem Gedanken gespielt, diesen Kalle anzurufen. Und was wäre schon dabei? Ein Kaffee, ein wenig Abwechslung im Alltagsgrau konnte kaum schaden. Sie würde ihm eben schon eingangs eröffnen, dass sie verheiratet sei, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte. Aber wieso beeindruckte sie diese flüchtige Begegnung dermaßen nachhaltig? Sein Blick … irgendetwas Fremdartiges, Wildes hatte sie in diesen braunen Bärenaugen gesehen, und das machte sie ganz kirre.

Vier Stunden noch bis Dienstschluss. Bis dahin musste sie eine Entscheidung treffen, das war die ultimative Deadline.

15:00 Uhr. Noch immer keine Kundschaft. Inzwischen klebte ein gelbes Post-It neben der Tastatur auf ihrem Schreibtisch. Der Notizzettel zog ständig ihren Blick an. Greta hatte Kalles Telefonnummer vorsichtshalber abgeschrieben, weil sonst die Gefahr bestanden hätte, dass sie unleserlich geworden wäre. Wer so etwas tut, der hat sich im Grunde doch schon entschieden, dachte sie kurz entschlossen und griff nach ihrem Smartphone.

»Manz«, meldete sich seine tiefe Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ja hallo, hier ist Greta Lindenhardt … Sie erinnern sich vielleicht, die Frau mit dem Opel, der Sie gestern freundlicherweise geholfen haben … ich könnte mich kurz nach 17 Uhr für ein halbes Stündchen abseilen und Ihnen den wohlverdienten Kaffee spendieren. Also, wie wäre es mit der Cafébar Black Bean am Ludwigsplatz?«, sprudelte sie heraus.

Kalle wirkte überrascht – und erfreut.

»Ja, logisch. Ich weiß, wo das ist. Muss nur zusehen, wo ich bei diesem Sauwetter das Bike parken kann. Alles klar, dann treffen wir uns kurz nach fünf. Bin schon mächtig gespannt, ob meine Fahrzeugdiagnose gepasst hat.«

Damit legte er auf.

Greta ärgerte sich zwar maßlos darüber, dass sie ihre Aufregung schlecht hatte verbergen können, fühlte sich aber quicklebendig. Von neuer Tatkraft beseelt, stellte sie die restlichen Abrechnungen in Windeseile fertig. Alle fünf Minuten sah sie auf ihre Armbanduhr. Noch eine Stunde, noch fünfundfünfzig Minuten …

*

Das Black Bean war an diesem regnerischen Nachmittag kaum besucht – um diese Jahreszeit ein völlig normales Bild. Vor allem in den Sommermonaten platzte die Café-Bar aus allen Nähten, dann gab es im Außenbereich nur selten freie Stühle. Neben einem Springbrunnen in der Fußgängerzone gelegen, luden die Sitzplätze an runden Holztischen unter riesigen, cremefarbigen Sonnenschirmen zum Sehen und Gesehen werden ein.

Zehn nach fünf stieß Greta Lindenhardt die Glastür des Lokals mit dem Fuß auf, schüttelte die Nässe vom Schirm und sah sich suchend um. Kalle schien noch nicht eingetroffen zu sein. Sie setzte sie sich ans Fenster, in die Nähe der Verkaufstheke. Voller Nervosität nahm sie die hochglänzende Karte aus dem Ständer in der Tischmitte, studierte sie halbherzig. Immer wieder schielte sie über den Rand hinweg zum Eingang, musterte mit kritischem Blick die Umgebung.

Das Black Bean war auch innen sehr ansehnlich. In warmen Braun-, Maisgelbund Beigetönen gehalten und mit roter Backsteinoptik akzentuiert, verströmte es heimelige und gleichzeitig moderne Gemütlichkeit. Dennoch fühlte sie sich ein bisschen unwohl. Wo blieb nur Kalle? Gedachte er sie zu versetzen?

Der Kellner schlenderte heran, balancierte geschickt ein rundes Tablett mit leeren Gläsern.

»Was darf es bei Ihnen sein?«

Greta zögerte einen Augenblick, blätterte hektisch in der Karte und bestellte einen Café Latte.

»Und mir einen Cappuccino, aber einen großen«, rief eine Bassstimme von der Tür her. Kalle. Sie hatte ihn gar nicht eintreten sehen. Der Kellner tippte die Bestellung in seinen mobilen Computer und schwirrte ab.

Greta erhob sich und schüttelte dem nach nassem Leder und Schweiß riechenden Biker die Hand.

»Hallo, freut mich, dass Sie kommen konnten. Und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Mensch Mädel, nun zieh dir den Stock aus dem Hintern! Wir sind gestern auf demselben Bike gesessen. Da ist man nicht mehr per Sie. Ich bin der Kalle, und du bist … ? Ich hab es mir vorhin am Telefon leider nicht gemerkt.«

»Greta Lindenhardt. Ein sehr altmodischer Name, ich weiß. Der kommt von meiner Großmutter.«

»Greta … ich finde ihn klasse. Hat was. Und, Greta Lindenhardt, ist dein Auto inzwischen repariert?«

»Ich bekomme es morgen zurück. Hat dank Ihrer … deiner Hilfe prima geklappt. Der Anlasser war tatsächlich kaputt. Du scheinst dich gut mit Fahrzeugen auszukennen.«

Sie setzten sich, die Getränke wurden geliefert. Es entstand eine beklemmende Gesprächspause. Was, zum Teufel, sollte sie mit Kalle eigentlich reden? Der Typ war ihr schließlich fremd. Er taxierte sie neugierig.

»Lass mich mal raten … du hast einen bodenständigen Job, wohnst mit Mann und Kindern in einem blitzsauberen Haus, fährst einmal pro Jahr in Urlaub und wartest gelangweilt auf die Rente, habe ich Recht?«

Greta war baff. Einerseits empfand sie seine Direktheit als unverschämt, denn eigentlich ging ihn das alles nichts an. Andererseits hatte er ihr ereignisloses Leben mit einem einzigen Satz auf den Punkt gebracht, was sie ziemlich verblüffte.

»Wenn du es so negativ ausdrücken willst. Ich habe tatsächlich Ehemann und zwei Kinder, elf und acht Jahre alte Jungs, arbeite Vollzeit in der Anzeigenredaktion der Mittelfränkischen Rundschau. Heuer waren wir für vierzehn Tage in Kroatien auf Urlaub.«

Es klang ein wenig pikiert.

»Tja, ich bin ein prima Analyst«, brummte er selbstgefällig. »Ich heiße eigentlich Karl-Heinz Herbert Manz, Familie Fehlanzeige, und arbeite dreißig Stunden pro Woche bei einem Shop für Motorradbekleidung. Der liegt ganz in der Nähe vom Autohaus, bei dem ich dich gestern abgesetzt habe. Statt einer Familie besitze ich eine Harley, die ist mein ganzer Stolz.«

»Klingt auch nicht viel aufregender«, bemerkte Greta.

»Stimmt. Aber ich habe im Gegensatz zu dir eine Perspektive«, fügte er spitzbübisch hinzu.

»Ah ja? Und die wäre?«

»Nur noch ein paar Monate, dann haue ich für immer nach Malle ab. Dort werde ich am Strand eine Kneipe eröffnen, habe schon ein passendes Lokal in Aussicht. Dann heißt es: Tschüs Deutschland – hallo Leben!«

»Du willst auswandern und in die Gastronomie gehen? Aber das ist riskant, am Ballermann gibt es doch schon jede Menge Kneipen.«

»Keine, in der zünftiger Heavy Metal gespielt wird. Die haben doch alle nur dieses beschissene Frohsinnund Schlagergedöns am Laufen. Nee, bei mir wird es tschechisches Bier und anständige Musik geben. Ich bin mir sicher, dass da unten genügend Leute sehnsüchtig auf sowas wie das Biker’s Beach warten.«

»Kann ich nicht beurteilen. Wann soll es losgehen?«

»Ich darf das Lokal leider erst Ende August übernehmen. Bis dahin muss ich hier in Mordor noch ausharren.«

»Aber dann ist die Saison 2014 bereits vorüber, die Sauregurkenzeit fängt an. Ich war mal in der Nachsaison für ein paar Tage in Paguera und habe das mitbekommen. So ab Mitte September wird die Wetterlage auf der Insel instabil, dann tummeln sich dort viel weniger Touristen. Nahezu alle Strandbars schließen über die kühlen Monate.

Und was meinst du überhaupt mit Mordor?« Kalle lachte schallend, verdrehte die Augen.

»Hast du etwa die Herr der Ringe Trilogie nicht gesehen? Da gibt es eine finstere, unwirtliche Gegend, die … «

»Doch, das habe ich. Ich weiß nur nicht, wieso du dieses finstere Höllenszenario mit Deutschland gleichsetzt«, unterbrach sie seine spöttische Erläuterung. Sie ärgerte sich über diesen selbstgerechten, respektlosen Kerl, doch gleichzeitig faszinierte sie seine ungehobelte Art. In seiner Gegenwart kam sie sich wie ein kleines, unerfahrenes Mädchen vor.

Dieser Kalle verhielt sich ganz anders als Dirk, ihr Ehemann. Letzterer war konservativ, zurückhaltend, verlässlich, berechenbar, Opern-Fan, dürr wie ein Spargel, bekam eine Glatze und liebte Gesetz und Ordnung über alles. Und dieses lederbezogene Exemplar? Überall behaart, breitschultrig, forsch, wagemutig und überaus selbstbewusst, an Rockmusik und Kneipen interessiert. Mehr Gegensatz ging kaum.

Er schien Gedanken lesen zu können.

»Weiß dein Macker, dass du dich hier mit mir triffst?«

»Äh … nein, warum sollte er? Ist doch kein Date, sondern nur ein ganz harmloses Kaffeetrinken zum Dankeschön sagen.«

»Ich wäre an seiner Stelle eifersüchtig. Man weiß nie. Könnte doch möglich sein, dass diese halbe Stunde der Anfang einer wunderbaren Freundschaft ist. Was mich angeht – ich würde dich gerne mal wieder sehen und dir das richtige Leben zeigen.«

»Das richtige Leben?«, echote Greta verunsichert.

»Genau.«

Kalle trank seine Tasse auf Ex leer, stand auf, griff nach seinem Helm.

»Danke für den Cappuccino – und bis bald.«

Weg war er. Es entstand ein seltsames Flair von öder Leere, das sich Greta nicht erklären konnte. Hatte sie ihn gelangweilt? Verdattert bestellte sie die Rechnung, wusste nicht, ob sie sich über Kalles ungehöriges Benehmen aufregen oder über seinen abrupten Abgang enttäuscht sein sollte. Sie nahm plötzlich ein prickelndes, kribbelndes Gefühl im Unterleib wahr, versuchte es erschrocken zu ignorieren.

Dummes Zeug, schalt sie sich selbst, erhob sich, nagelte einen Geldschein auf den Tisch und eilte zur U-Bahnstation. In ein paar Tagen würde sie den Biker vergessen haben.

*

»Mama, wann gibt es endlich Abendessen? Ich habe Hunger«, quengelte der neunjährige Malte.

»Gleich, mein Schatz. Bin heute etwas später dran. Dafür gibt es die leckeren Schmetterlingsnudeln mit Kräutersoße, die du so gerne magst. Hilfst du mir aufdecken?«

Der Junge nickte, öffnete die Besteckschublade. Greta plagte das schlechte Gewissen, weil sie heute ein Fertiggericht auftischte. Die halbe Stunde mit Kalle fehlte vorne und hinten. Ihr wurde wieder mal vollauf bewusst, wie eng ihr Arbeitsund Familienleben sie einschnürte. An Wochentagen gelang es ihr meistens erst gegen 21:30 Uhr, ein wenig abzuschalten und sich auf die Couch zu begeben, wo sie dann bis kurz vor Mitternacht träge liegen blieb und sich zusammen mit Dirk vom Fernsehprogramm berieseln ließ.

Manchmal beneidete sie ihre kinderlose Freundin, die einem 20-Stunden-Job bei einer Werbeagentur nachging. Kein Wunder, dass die fast jeden Nachmittag, bestens gelaunt und ausgeruht, auf Shoppingtour gehen konnte. Abends schwelgte sie mit ihrem wohlhabenden Mann in der Oper, auf Konzerten oder schlemmte beim Edel-Italiener. Sie führte das absolute Traumleben einer Prinzessin, jedenfalls stellte sich Greta das gerne so vor. Zugegeben, sie war ein bisschen neidisch.

Silke … was sie wohl zu ihrem Erlebnis von heute Nachmittag meinen würde? Wieder blieben ihre Gedanken unwillkürlich an Kalles bulliger Erscheinung hängen.

»Mama! Hast du gar nicht gehört, was ich sagte? Ich habe eine Zwei in der Englisch-Schulaufgabe bekommen!«

Im Türrahmen zur Küche stand ihr elfjähriger Sohn Sascha, verschränkte vorwurfsvoll die Arme vor der Brust.

Greta riss sich schuldbewusst zusammen, setzte ein liebevolles Lächeln auf.

»Wirklich? Oh, das ist toll. Ich sehe sie mir gleich nach dem Essen an. Solche Arbeiten unterschreibe ich natürlich gerne!«

So sehr sie sich auch bemühte, Kalle wollte ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen. Den Abend verbrachte sie wie in Trance, vom Fernsehprogramm bekam sie kaum etwas mit.

Einmal fragte Dirk verwundert, weshalb sie vor sich hin lächle – ausgerechnet in einem Augenblick, da in der Glotze ein Serienkiller auf bestialische Weise zuschlug. Er konnte ja nicht ahnen, dass seine Frau sich im Augenblick geistig auf dem Sozius einer Harley Davidson wähnte und mit wehendem Haar eine palmenbestandene Strandpromenade entlang cruiste.

Sie stammelte eine Erklärung über Probleme am Arbeitsplatz, zu denen ihr soeben eine sinnvolle Lösung eingefallen sei. Insgeheim jedoch wunderte sie sich über sich selbst. Wie konnte man sich bloß so pubertär verhalten, von einem Motorradfahrer träumen und den eigenen Ehemann anschwindeln? Im Grunde hatte sie doch gar nichts zu verbergen, verdammt noch mal! Wie zur Bekräftigung dieses Gedankens kuschelte sie sich an Dirks knochige Schulter.

*

Freitag, 22. März 2014

16:30 Uhr. Es ging mit Riesenschritten auf Feierabend und das Wochenende zu. Greta Lindenhardt saß an ihrem Schreibtisch in der Anzeigenredaktion, den Kopf in beide Hände gestützt, und grübelte. Das angenehm warme, schwebeleichte Gefühl, das sie anfangs empfunden hatte, wenn sie unwillkürlich an die Begegnungen mit Kalle Manz denken hatte müssen, verkehrte sich zunehmend in ein Konglomerat aus dumpfen, bohrenden Zweifeln. Ein undefinierbares Verlustgefühl machte sich breit, piesackte ihre Seele mit immer derselben Frage. In den vergangenen drei Tagen hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet … ob er das zum Abschied hingeworfene »bis bald« wohl ernst gemeint, oder das zweimalige Aufeinandertreffen bereits abgehakt hatte?

Ich kann ihn doch nicht anrufen, wie würde das für ihn aussehen? Schließlich bin ich eine verheiratete Frau mit zwei Kindern und überhaupt nicht an einer Affäre interessiert. Schon gar nicht mit einem unrasierten Verkäufer von Motorradklamotten, der Deodorants verweigert, betete sie sich selber vor.

Und dennoch – ihre Wunschgedanken schlüpften immer wieder unversehens unter der kühlen Beleuchtung durch Verstand und Gesellschaftskonformität hervor, stahlen sich davon und entwickelten ein geradezu anarchistisches Eigenleben.

Möchte er vielleicht anrufen, hat aber meine Nummer nicht? Unwahrscheinlich … sein Telefon müsste sie doch abgespeichert haben, sinnierte Greta mit gerunzelter Stirn. Der Gedanke, dass ein Treffen für die nächsten zwei Tage so oder so ein Ding der Unmöglichkeit wäre, schmeckte ihr überhaupt nicht. Sie musste, zusammen mit Dirk, ihren üblichen familiären Pflichten nachkommen. Großeinkauf, Malte zu seinem Freund fahren, Hausputz, Rasenmähen, Papiermüll wegbringen … und ehe man sich versah, war schon wieder Montagmorgen. Ein neuer öder Tag im Hamsterrad ihres Lebens.

»Was hat dir denn die Petersilie verhagelt?«

Nastasia Auerbach zog sich die vollen Lippen mit bordeauxroten Lipgloss nach, klappte den kleinen Schminkspiegel zu und verstaute beides in ihrer monströsen Handtasche. Ihr Schreibtisch sah bereits mustergültig aufgeräumt aus, dabei war erst in einer halben Stunde Dienstschluss.

»Nichts. Bin nur in Gedanken«, behauptete Greta abweisend. Wenn man der geschwätzigen Kollegin etwas anvertraute, konnte man es genauso gut gleich in die Zeitung schreiben. Sie verspürte keine Lust auf ein Gespräch mit dieser Hohlbirne. Falls deren Kopf zwischen den Ohren überhaupt irgendetwas beherbergen sollte, könnten es höchstens rollende Dornbüsche sein. Die Vorstellung amüsierte sie. Ihr entglitt ein Lächeln, welches sogleich fehlinterpretiert wurde.

»Siehst du, ich muntere jeden auf. Schon mein Vater meinte früher immer, ich sei wie ein kleiner Sonnenschein, der alle verzaubert. Apropos Sonnenschein. Das Wetter soll endlich besser werden. Ich werde mit meinem neuen Freund an den Brombachsee fahren. Was planst du fürs Wochenende?«

»Familienkram.«

Greta blätterte demonstrativ in einem Stapel Blätter, um die lästige Nervensäge loszuwerden. Ganz kurz war am Horizont ihrer verborgenen Sehnsüchte nämlich ein zarter Silberstreif, ein Ideenfragment aufgepoppt. Und das wollte sie in Ruhe weiter verfolgen.

Fünf Minuten später war der Entschluss gefasst. Sie würde auf dem Heimweg bei jenem Motorradshop vorbeifahren, in welchem Kalle arbeitete. Nicht hineingehen, oh nein, wie hätte sie das auch begründen sollen, ohne das Offensichtliche preiszugeben … aber vielleicht gelänge es ihr, wenigstens einen kurzen Blick auf ihn zu erhaschen. Schon der Gedanke, dass sie dem Biker so auf wenige Meter nahe kommen konnte, verursachte ein angenehmes Kribbeln.

Und, kühner Beschluss Nummer zwei: Falls er sie bis spätestens Dienstag nicht anrief, würde sie es tun. Unter dem Vorwand, dass sie ihm noch persönlich Glück für seine Auswanderung wünschen wolle. Ein warmer Energieschwall durchströmte ihren Körper bis zu den Zehenspitzen.

Die Tür öffnete sich. Mist, der übliche 16:59 Uhr Kunde, der auf den letzten Drücker aufzutauchen pflegte. Den konnte sie heute gar nicht gebrauchen! Ohne vom Schreibtisch aufzusehen, schaltete sie genervt den bereits herunter gefahrenen Computer wieder ein.

»Schönes Wochenende, bis Montag!«

Nastasia Auerbach glitt eilig aus der Tür. Typisch. Nur keine Überminuten riskieren.

Der verspätete Kunde trat an den Tresen, stützte die Ellbogen auf. Ein leises Knarzen, wie von steifem Leder.

»Kann ich bei Ihnen eine Kontaktanzeige aufgeben?«

Rumms! Ein Blitz schien geradewegs in Gretas Scheitel einzuschlagen, ihr wurde heiß und kalt. Röte schoss in ihr Gesicht. Sie riss den Kopf herum, blickte in freundliche Teddybärenaugen. Was ihr Herz längst hüpfen und jubilieren ließ, konnte ihr Gehirn noch gar nicht fassen.

»Kalle … äh … was tust du denn hier?«, stammelte sie linkisch. Ihre Fingernägel krallten sich in die Handballen.

»Sagte ich doch schon. Ich fühle mich einsam und suche nach Anschluss. Wie sieht es aus, könntest du mir da weiterhelfen? Zum Beispiel mit einem gemeinsamen Käffchen? Dann müsste ich dir auch keine Arbeit mit einer Kontaktanzeige aufhalsen. Würde vielleicht sowieso ein bisschen albern klingen … MalleKalle sucht Rockerbraut«, grinste er augenzwinkernd.

Sie fühlte sich überrumpelt. Freilich, sie hatte ihn sehen wollen, sehnlich auf ein Treffen gehofft – aber dass er gleich derart selbstbewusst die Initiative übernahm und keinen Zweifel daran ließ, dass er mehr von ihr wollte, erschreckte sie nun doch. Trotzdem

… diesen heimlich herbei gewünschten Augenblick ungenutzt verstreichen zu lassen, schien ihr keine Option zu sein. Sie packte ihre Bedenken am Wickel, warf sie kurzerhand über Bord.

»Eigentlich müsste die vermeintliche Rockerbraut nach Hause. Aber weil du es bist, kommt sie auf einen Sprung mit.«

Er strahlte aus allen Knopflöchern, hielt zuvorkommend die Tür auf. Greta zog mit pochendem Herzen ihre Jacke über. Ihr zitterten die Finger, als sie nach Schlüssel und Handtasche griff.

»Vergiss bloß nicht, aufs Knöpfchen zu drücken, sonst ist der Rechner übers Wochenende an. Wie gesagt, die doofe Kontaktanzeige brauche ich jetzt nicht mehr. Ist mir auch viel lieber so.« Noch niemals zuvor hatte Greta vergessen, ihren Computer auszuschalten. Aber was ging heute nur mit ihr ab? Verstand ade.

Körper, Geist und Seele befanden sich im Ausnahmezustand.

Eine Viertelstunde später ließ Kalle im Black Bean die Katze aus dem Sack. Wieder traf er sie völlig unvorbereitet.

»Jetzt mal ohne Scheiß, Greta … ich habe mich von der ersten Minute an voll in dich verguckt. Obwohl ich weiß, dass du verheiratet bist, konnte ich nicht dagegen ankämpfen. Litt seit unserem Date an Schlaflosigkeit und Unruhe. Ständig habe ich überlegt, wie ich es dir beibringen soll.

Nun ja, hier bin ich, der schwer verknallte Karl-Heinz Manz – und habe die Hosen quasi bis zu den Knien heruntergelassen. Bitte sag mir jetzt bloß nicht, dass ich es gefälligst vergessen soll. Du willst es doch auch, das sehe ich genau.«

Seine braunen Augen bettelten um Bestätigung, um Erlösung. Gefühlter Herzstillstand. Totale Sprachlosigkeit, staubtrocke-

ner Mund. Die Umgebung verschwamm vor Gretas Augen bis zur Unkenntlichkeit, löste sich in gleißendes Nichts auf. Seine Worte tanzten Polka durch ihre glühenden Gehirnwindungen und erzeugten eine glasklare Resonanz, die ihr eine Heidenangst einjagte. Immer noch dieser abwartende, flehende Dackelblick. Verdammt, sie musste etwas sagen!

»Ich bin … also … das geht keinesfalls, Kalle. Du hast schon Recht, irgendwas empfinde ich für dich. Aber vielleicht ist das bloß eine gewisse Faszination … ach, ich weiß doch auch nicht!« Sie sah unglücklich drein und hasste sich für das, was sie gerade von sich gegeben hatte. Ihr Herz rebellierte, doch der Verstand feierte sie dafür. Sie vermied tunlichst den Blickkontakt, starrte aus dem Fenster. Dort balgten sich drei Spatzen zeternd um ein paar Brotkrümel.

Er bemerkte ihre innere Zerrissenheit.

»Das ist nicht dein Ernst. Du hast nur Angst – wegen deiner Ehe und deinen Kindern. Da wird sich mit der Zeit eine Lösung finden. Schau, wir könnten es erst mal langsam angehen lassen und sehen, was herauskommt. Echte Liebe lässt sich sowieso niemals unterdrücken. Wenn du deine Gefühle für mich einfach ignorierst und eisern so weitermachst wie bisher, wirst du jedenfalls verkümmern. Eine supertolle Frau wie du gehört mitten ins pralle Leben, nicht in eine Zwangsjacke aus Pflichten. Ich würde dir helfen, sie auszuziehen.«

Was für eine tiefe, wohlklingende Stimme er doch besaß. Bei ihm wirkte sogar der breite fränkische Dialekt sehr angenehm. Sie selbst versuchte hingegen stets, ein klares Hochdeutsch zu sprechen, obwohl sie in Nürnberg geboren war. Es klang ihrer Ansicht nach edler, gebildeter.

Er hatte sie im Nullkommanichts in seinen Bann gezogen. Aber war das gut? Sie durfte ihm keinesfalls überstürzt nachgeben, nicht gleich jetzt. Und überhaupt. Die Zwangsjacke ausziehen, hatte er gesagt … also ging es ihm wohl vorrangig um schnellen Sex, wie den meisten Männern!

Nicht mit ihr. Sie war kein billiges Motorradluder, das man nach dem zweiten Date mal eben so flach legen konnte. Was dachte der sich!

Malte und Sascha tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Das Gewissen meldete sich mit erhobenem Zeigefinger.

Zusammenreißen, bloß keine Tatsachen schaffen, die du hinterher bereuen würdest, schoss ihr spontan durch den Kopf. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.

»Ich fahre besser nach Hause. Danke für deine Gesellschaft, war nett, dass du mich abgeholt hast. Wenn du willst, können wir Freunde bleiben und uns hin und wieder mal hier treffen.«

Kalle erstarrte förmlich zu einer Salzsäule, er schnappte nach Luft. Die unterkühlte Antwort schien ihm nahe zu gehen. Er blickte drein wie ein getretener Hund.

»Au weia … habe ich etwas Falsches gesagt? Falls ich dich aus Versehen beleidigt haben sollte, dann tut mir das leid. Ich bin manchmal zu direkt und ein wenig unbeholfen in meiner Ausdrucksweise. Bitte geh nicht!«

Er legte seine behaarte Pranke auf ihre Hand, doch sie zog sie zurück. Nervös schaute sie sich nach dem jungen Kellner um. Panik überschwemmte ihr Bewusstsein, löste einen Fluchtreflex aus. Nur bezahlen und weg von hier.

»Ich verstehe … du brauchst Zeit, um darüber nachzudenken. Hätte ich mir eigentlich denken können. Ich alter Trampel bin dir mitsamt der Tür ins Haus gefallen. Na gut, das muss ich wohl einsehen. Greta, mir liegt wirklich viel an dir. Wirst du mich in den nächsten Tagen anrufen?«

Sie sah bewusst an ihm vorbei.

»Nein … nun ja – vielleicht.«

Da der Kellner sich immer noch nicht blicken ließ, ging sie zum Tresen, um ihren Kaffee zu bezahlen. Nur ihren. Sie nickte Kalle zum Abschied kurz zu – und weg war sie.

Den Weg zum Auto legte Greta im Laufschritt zurück. Mehrmals drehte sie sich hektisch um, so als würde sie verfolgt. Aber da war kein schnaufender Kalle Manz, der ihr hinterher rannte. Vermutlich saß er immer noch, völlig perplex und bitter enttäuscht, am Fenstertisch im Black Bean.

Sie erreichte das Parkhaus, warf sich seufzend in den Autositz, klammerte die Hände ums Lenkrad und lehnte die Stirn dagegen. Ihr Atem ging stoßweise. Was war da gerade passiert, wieso hatte sie derart überreagiert? Zwei gegensätzliche Gefühle stritten in ihrer Brust um die Vorherrschaft. Einerseits war sie froh, der Versuchung widerstanden zu haben, auf der anderen Seite plagte sie ein diffuses Verlustgefühl.

Was um alles in der Welt wollte sie eigentlich wirklich … hatte Kalle mit seiner frechen Einschätzung recht? War es an der Zeit, die Fesseln ihres allzu durchorganisierten Lebens loszuwerden? Aber das ging doch nicht, trotz aller Unzufriedenheit. Sie musste ihrer Verantwortung für zwei Kinder gerecht werden, verdammt noch mal. Und Dirk – der war zwar weder ein Adonis noch bemühte er sich noch besonders um sie, doch sie waren halt auch schon seit fünfzehn Jahren verheiratet. Eine gewisse Ödnis kam nach dieser Zeitspanne wohl in der besten Ehe auf. Kein Grund, einfach hinzuschmeißen.

Soll ich Kalle am Montag anrufen, mich für meinen überstürzten Abgang entschuldigen und ihn zu einem Versöhnungs-Käffchen einladen? Ach, diese Entscheidung vertage ich besser auf später. Jetzt fahre ich erst einmal nach Hause, entschied Greta und startete den Motor.

Trotzdem, sie fühlte sich immer noch wie verzaubert. Es gab jemanden, der sich für sie interessierte, den sie scheinbar über die Maßen reizte. Das schmeichelte ihr. Klar, es hatte nach ihrer Heirat hin und wieder kleine, harmlose Flirts gegeben. Komplimente

heimste sie auch des Öfteren ein. Sowas Unverblümtes wie heute war ihr allerdings noch nie passiert.

Erstaunt spürte sie Feuchtigkeit zwischen ihren Oberschenkeln, die den Steg des Höschens durchtränkt hatte. Kopfschüttelnd, mit einem zarten Lächeln auf den Lippen, bog sie in den Feierabendverkehr ein.

*

Dirk Lindenhardt lehnte mit Leichenbittermiene an der Küchenzeile, eine Tasse Tee in der Hand. Greta fiel wieder mal auf, dass er keinen Arsch in der Hose hatte. Seine Rückansicht bildete vom Nacken bis zu den Fersen quasi eine glatte Fläche.

»Hallo Schatz!«

Greta stellte schwungvoll eine prall gefüllte Tüte auf die Arbeitsfläche neben dem Herd, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Er stand weiterhin nur stocksteif da, reagierte kaum. Sie stutzte.

»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

Tiefer Seufzer aus dem hintersten Winkel seiner Seele.

»Sieht man mir das an, ja? Im Büro war heute alles wieder total nervig. Du weißt doch, wir haben einen neuen Dienststellenleiter. Und der hat … blablabla, blablabla … «

Greta hörte nicht mehr zu. Es war immer dasselbe. Ihr Gatte konnte sich im Amt wegen seiner allzu duldsamen, harmoniesüchtigen Wesensart schlecht durchsetzen. Regelmäßig übervorteilten ihn Kollegen, nutzten seine Gutmütigkeit skrupellos aus. Anstatt sich endlich zu wehren, hielt er am Abend ihr endlose Monologe, um sich auszukotzen. Nein, er hatte wirklich in keiner Hinsicht einen Arsch in der Hose. Manchmal verachtete sie ihn für seine weibische Schwäche.

Unwillkürlich verglich sie ihn mit Kalle. Der würde sich vom neuen Chef garantiert nichts bieten lassen, dem blöden Beamtenpack vermutlich eins auf die Zwölfen geben. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Manz, wie er lässig durch die Behörde walzte und Backpfeifen verteilte. Und er hatte sehr wohl einen Arsch in der Hose, wie ein richtiger Mann. Neben ihn hingestellt, sähe Dirk aus wie ein windiger Schulbub mit Haarausfall. Um einen halben Kopf kleiner war er auch.

»Findest du meine Erzählung zum Lachen, oder wie darf ich das verstehen?«

Dirk warf ihr einen waidwunden Blick zu, wartete keine Antwort ab und verließ mit hängenden Schultern die Küche.

Greta wusste genau, was nun folgte. Er würde in den Keller gehen, sich in seinem Arbeitszimmer an den Computer setzen und dort so lange im Selbstmitleid schwelgen, bis sie ihn zum Essen rief. Er war ja so schrecklich berechenbar!

*

Mittwoch, 27. März 2014

Ganze vier Tage hatte es Greta geschafft, ihren Vorsatz, Kalle zu vergessen und sich stattdessen mehr um ihren Mann zu bemühen, durchzuhalten. Jedenfalls den zweiten Teil. Der Familienausflug am Sonntag ins Erlebnisbad Palm Beach war nett gewesen, mehr aber auch nicht. Nahezu keine Stunde verging, in der sie nicht an den Biker gedacht hätte. Dabei wäre ihr fast entgangen, dass Sascha seinen jüngeren Bruder bei einer der üblichen Raufereien brutal unter Wasser drückte, was diesen husten und japsen ließ.

Was mag er jetzt gerade machen, wie sähe er wohl in einer knappen Badehose aus, baggert er womöglich außer mir noch andere Frauen an …

Es war wie eine bittersüße Sucht, gegen die sie nicht anzukämpfen vermochte. Zudem schien sie empfindsamer geworden zu sein. Jeder Song im Autoradio, in dessen Text es um Liebe und Schmerz ging, drang ihr tief ins Gemüt, berührte etwas in ihrem Inneren.

Auf der Arbeit fiel sie durch atypische Unkonzentriertheit auf. Es war äußerst peinlich gewesen, als sie gestern ausgerechnet von Nastasia Auerbach auf einen Flüchtigkeitsfehler hingewiesen worden war und Kollegen das mitbekamen. Ein schöner Triumph für diese dumme Kuh, die selber nichts auf die Reihe brachte.

Jetzt war Mittagspause, und Greta vertrat sich in der belebten Nürnberger Fußgängerzone die Beine. Ausnahmsweise schien heute die Sonne schwach durch einen milchigen Dunstschleier, ein Hauch von Frühlingsluft streifte um die kahlen Bäume.

Es half leider alles nichts. Sie musste anrufen, um nicht vollends verrückt zu werden. Längst haderte sie mit ihrem feigen Rückzug von vergangenem Freitag.

Ob er sehr böse auf mich ist? Vielleicht will er mich inzwischen gar nicht mehr sehen, fragte sie sich besorgt, während sie auf die Wahltaste ihres Smartphones tippte. Die Fünfundvierzigjährige hielt vor Anspannung die Luft an, blieb stehen. Wie ein Fels in der Brandung stand sie inmitten vorüber hastender Passanten, die ihre Mittagspause für schnelle Besorgungen nutzten, und presste das Handy ans Ohr.

Ein Piepton in kurzen Intervallen ertönte. Scheiße, besetzt. Doch kaum hatte sie enttäuscht auf den kleinen roten Telefonhörer gedrückt, klingelte ihr neues I-Phone. Dirk hatte es ihr vergangenes Weihnachten geschenkt.

»Ja … ähm … hier ist Kalle. Bitte leg nicht gleich auf, Greta. Ich musste mich jetzt einfach vergewissern, ob ich es neulich für immer und ewig versaut habe«, stammelte eine verlegene Bassstimme.

»Das muss sowas wie Gedankenübertragung gewesen sein. Ob du es glaubst oder nicht, ich wollte dich auch gerade anrufen. Du warst nur schneller«, gestand Greta gerührt. »Und ich hätte heute nach der Arbeit ein Stündchen Zeit für dich. Das heißt, wenn du darauf noch Wert legst«, fügte sie hastig hinzu.

»Ob ich … na, du bist gut! Liebend gerne sogar. Dann sehen wir uns kurz nach 17 Uhr im Black Bean?«

»Ich würde lieber ein paar Schritte spazieren gehen, das Wetter ist heute so schön. Aber nicht hier in der Stadt. Wie wäre es mit dem Dutzendteich?«

»Prima Idee. Weißt du was? Wir könnten gemeinsam mit dem Bike dorthin fahren. Ich bringe einen zweiten Helm mit, sitze ja gewissermaßen an der Quelle.«

Gretas Herz geriet bei der Vorstellung, wie sie sich wieder eng an Kalles Rücken schmiegte, kurzfristig aus dem Takt.

»Warum nicht? Aber bitte parke die Harley ums Eck und warte dort, komm nicht wieder in die Anzeigenredaktion. Das fällt sonst zu sehr auf. Ich möchte dummes Gerede vermeiden, meine lieben Kollegen sind alle so sensationslustig. Wahrscheinlich eine bei Zeitungsleuten durchaus übliche Berufskrankheit«, entgegnete Greta, gespielt ironisch.

»Versteht sich von selbst. Und eines wollte ich dir noch sagen. Ich werde dich nicht mehr in Verlegenheit bringen oder dich in irgendeiner Form bedrängen. Du entscheidest, wie weit es mit uns beiden kommen wird.«

»Einverstanden. Aber jetzt muss ich schleunigst ins Büro zurück, sonst ist womöglich der pünktliche Feierabend passé. Speziell heute würde mir das gar nicht in den Kram passen«, lachte Greta und setzte sich in Bewegung.

Sie konnte natürlich nicht ahnen, dass sie soeben innerhalb weniger Sekunden die Weichen für den Rest ihres Lebens gestellt hatte. An diesen Schlüsselmoment sollte sie später noch lange zurückdenken.

*

Kalle bog mit Schwung auf den Parkplatz des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände ein. Greta bedauerte, dass die Fahrt bereits zu Ende war. Sie setzten synchron die Helme ab, und Greta schüttelte ihre Frisur in Form.

»Hier bin ich schon lange nicht mehr gewesen«, bemerkte Kalle, während sein Blick über die monströse Kongresshalle aus der Nazi-Zeit streifte. »Aber ich staune jedes Mal über die Ausmaße dieses Bauwerks. Glaub mir, das Ding wird noch stehen, wenn das restliche Nürnberg längst in Schutt und Asche liegt.«

»Genau das war ja auch Adolfs Absicht«, bemerkte Greta in abfälligem Ton. »Sich und seinen kranken Größenwahn immer und überall in Erinnerung zu bringen. Wie man sieht, ist ihm das auch bestens gelungen. Fast jeden Abend gibt es Dokus bei den Nachrichtensendern. Hitlers Sekretärin, Obersalzberg, Bunkeranlagen in der Normandie, Blitzkrieg in Polen … man kann diesem Thema bis heute kaum ausweichen. Jedes noch so triviale Zeitzeugendokument ist wohl bereits aus der angestaubten Kiste der Abscheulichkeiten gezerrt und gesendet worden.

Ich habe mich fast schon gefragt, ob sie Adolf und seine finsteren Schergen irgendwann beim gemeinsamen Schneiden der Zehennägel zeigen. Ach, ist doch wahr!«, echauffierte sie sich.

Kalle musste lachen. Es klang rau und dröhnend.

»So ungefähr denke ich darüber ebenfalls. Scheinbar merken jene ständigen Mahner gar nicht, dass dieser Wahnsinnige auf solche Art und Weise auf ewig im Gedächtnis der Bevölkerung haften bleibt – und damit eben auch sein Gedankengut. Man sieht vor allem in Ostdeutschland, dass die Nazis nicht kleinzukriegen sind. Nun ja, wir Deutschen werden noch lange mit der Erbsünde leben müssen.«

Sie schlenderten jetzt am Wasser entlang, gingen mit einem halben Meter Abstand nebeneinander her, ohne sich zu berühren. Einige Spaziergänger betrachteten das ungleiche Paar neugierig, manche riskierten gar einen zweiten Blick.

Er war in verschlissene Billigjeans, ein verknittertes kariertes Flanellhemd und die unvermeidliche, an den Ärmelkanten abgestoßene schwarze Rindslederjacke gekleidet. Sie trug im Gegensatz dazu ausschließlich Designerklamotten.

Zwar hatte sie an diesem Morgen mit einem Date gerechnet, beziehungsweise inständig darauf gehofft, und daher im Kleiderschrank bewusst ebenfalls zu Jeans gegriffen. Aber man sah auf den ersten Blick, dass es sich dabei um ein teures Stück von Hilfiger handelte. Die feuerrote, taillierte Lederjacke mit silberglänzenden Zippern stammte wiederum von Guess. Auch dabei handelte es sich um ein Geschenk von Dirk, der ausgesprochen markenaffin einkaufte. Schicke schwarze Stiefel mit Absatz, die perfekt zur Handtasche passten, rundeten das edle Outfit ab.

Er musterte sie von der Seite.

»Echt, du siehst zum Anbeißen aus, Greta. Deswegen gaffen die Leute alle so. Sie beneiden mich.«

»Danke.«

Keiner von beiden wagte es, das brisante Thema von vergangenem Freitag anzuschneiden. So unterhielten sie sich angeregt über die Weltpolitik, Gretas Arbeit und Kalles Auswanderungspläne, während sie gemächlich den Großen Dutzendteich umrundeten. Mehrfach musste der Biker dem drängenden Impuls widerstehen, nach der Hand seiner attraktiven Begleiterin zu greifen oder einen Arm um die Schultern zu legen. Es hätte sich für ihn zwar goldrichtig angefühlt, aber er befürchtete eine neuerliche Überreaktion.

Insgeheim staunte Greta über ihren Gesprächspartner. Welches Bild hatte sie eigentlich von Bikern gehabt, bevor sie Karl-Heinz Manz kennengelernt hatte? Dumm, brutal, skrupellos? Dieser Mann wollte jedenfalls nicht ins Klischee passen. Er war unkonventionell, keine Frage, wirkte aber auch weltoffen, intelligent und einfühlsam. Jetzt wühlte er in der Innentasche seiner Motorradjacke, zog einen USB-Stick hervor.

»Ich habe dir etwas mitgebracht. Die Musik wird dir helfen, nach der Arbeit runterzukommen und dich ein wenig zu erholen. Sind allesamt Lieblingssongs von mir. Ich habe extra die ruhigeren ausgewählt. Du magst doch Rockballaden?«

»Klar! Normalerweise dudelt bei mir zu Hause zwar das Radio, aber ich werde mir deine Auswahl natürlich gerne anhören«, versprach Greta lächelnd und versenkte den Stick in den Tiefen ihrer Handtasche.

Inzwischen versank die Sonne am Horizont, färbte die feinen Nebelschwaden am See rötlich. Es wurde merklich kühler, der Wind frischte auf. Greta fröstelte in ihrer dünnen Lederjacke. Sie blickte auf den Chronometer. 18:21 Uhr.

»Meine Güte, wie schnell die Zeit vergangen ist … ich muss schleunigst nach Hause!«