Julie Müller muss sterben - Marie Kastner - E-Book

Julie Müller muss sterben E-Book

Marie Kastner

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Beschreibung

Rüdiger Müllers geliebte Frau verstirbt früh an Krebs. Dem attraktiven Witwer bleibt nur die vierjährige Julie, auf die er nun seine gesamte Aufmerksamkeit konzentriert. Vater und Tochter bilden in den folgenden Jahren ein unzertrennliches Duo. Eines Tages heiratet Papa eine befreundete Immobilienmaklerin. Sie bringt zwei Teenie-Töchter in die Ehe ein - und schon beginnt ein Eifersuchtsdrama, das in einer blutigen Tragödie enden wird. Aber ist die Stiefmutter hier wirklich die Böse? Kommissar Mader und sein Soko-Team müssen genau das schleunigst herausfinden … Wieder bildet der Harz eine stimmige Kulisse, diesmal für die moderne Interpretation zweier wohlbekannter Märchenstoffe. Die Autorin Marie Kastner hat ein Faible für mystisch angehauchte Orte, die sie auch liebend gerne aufsucht.

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Seitenzahl: 406

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Julie Müller muss sterben
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Quellenangabe
Die Autorin

Julie Müller muss sterben

Marie Kastner

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-022-4

E-Book-ISBN: 978-3-96752-522-9

Copyright (2019) XOXO Verlag Umschlaggestaltung: Grit Richter

© Ulrich Guse, Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa)

© Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Rechtlicher Hinweis:

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diesen Roman sind, abgesehen freilich von real existierenden Ortschaften, frei erfunden.

Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge bei Behörden sowie anderen Institutionen oder Firmen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sowie deren Vereinigungen sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig. Selbstverständlich gilt letzteres nicht für ›Öffentliche Personen‹ aus der Politik.

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Für meine Tochter Suzann

Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst. Als diese

einmal ihren Spiegel fragte:

»Spieglein, Spieglein an der Wand … wer ist die Schönste im ganzen Land?«

so antwortete er:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier … aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.«

Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund‘ an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum – so hasste sie das Mädchen.

Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte.

Aus dem Märchen Schneewittchen und die sieben Zwerge der Gebrüder Grimm

Kapitel 1

Plötzlich und unerwartet

28. Dezember 2017, Wernigerode

Wie ein Märchenschloss thronte Wernigerodes aufwändig renoviertes Wahrzeichen über der Stadt. Seine steilen Dachflächen und Türmchen ragten zwischen blattlosen Bäumen hervor, verliehen dem verschneiten Ort am Fuße des Brockens ein romantisch-pittoreskes Flair.

Nach traumverlorener Romantik war den schwarzgekleideten Damen und Herren jeden Alters, die an diesem wolkenverhangenen Winternachmittag zum städtischen Friedhof am Eichberg strebten, allerdings weniger zumute. Der Sensenmann hatte ein geliebtes Familienmitglied aus ihrer Mitte gerissen; plötzlich und unerwartet, wie es in der Todesanzeige trocken formuliert worden war. Doch was hätte man angesichts dieser Tragödie auch Trefflicheres hineinschreiben sollen …

Nach dem Trauergottesdienst pilgerten die Angehörigen und Freunde über sorgfältig geharkte Kieswege zur Begräbnisstätte.

Hier, im neueren Teil dieses Friedhofs, sind die Gräber terrassenartig in den Hang gebettet. Das Gelände fällt steil zur sogenannten Himmelspforte und dem Hasseröder Tal hin ab. Aber für diese einmalige Kulisse hatte kaum jemand aus der Trauergemeinde einen Blick übrig. Zu tief saß noch der Schock über den Verlust dieses wertvollen Menschen. Jedenfalls war das der Eindruck, den man nach außen hin zu vermitteln wusste.

Große Schneeflocken schwebten gemächlich zu Boden, als der polierte Eichenholzsarg in die mit grünen Matten ausgekleidete Grube hinabgelassen wurde. Einige der engeren Verwandten schnieften, andere weinten hemmungslos, während sich der Schnee auf den Schulterpartien ihrer Mäntel in glitzernde Wassertropfen verwandelte. Die Lufttemperatur stagnierte seit den frühen Morgenstunden bei knapp über null Grad.

»Mögest du heimkehren ins Haus unseres Herrn«, deklamierte der evangelische Gemeindepfarrer, der selber aussah, als würde er bald den letzten Gang antreten müssen.

Eine blasse, hochgewachsene Frau schien sich gar nicht mehr beruhigen zu können. Nur selten nahm sie ihr Papiertaschentuch von den verweinten Augen – aber höchstens, um sich zu schnäuzen. Niemand ahnte, dass sie an diesem Grab hauptsächlich ihr eigenes Schicksal beweinte.

Ein betagtes Ehepaar hatte sich hinsetzen müssen, nachdem der Frau plötzlich die Knie weich geworden waren. Es handelte sich wohl um die Eltern des Todesopfers.

Die Szenerie vor dem Grab wurde aus gebührender Entfernung von zwei Polizeibeamten des Revierkommissariats Wernigerode beobachtet. Den beiden oblag die schwierige Aufgabe herauszufinden, wie der leibhaftige ›Sensenmann‹ mit Vorund Zunamen hieß, um ihn zeitnah einlochen zu können. Den Polizisten steckte noch die bittere Erinnerung an ihren letzten Mordfall in den Knochen, bei dessen Aufklärung Ermittlungspannen und andere Widrigkeiten für Verzögerungen gesorgt hatten.

Diesmal musste, nein, würde es besser laufen.

»Tja, nun bekommt Elke Müller Gesellschaft in ihrem Familiengrab, muss nicht mehr bis in alle Ewigkeit ganz alleine dort drinnen liegen«, philosophierte Kriminalbeamtin Marit Schmidbauer beim Anblick des breiten Grabsteins. Neben die verwitterten Messingbuchstaben war der Name des vor einer Woche verblichenen Neuankömmlings in nagelneuen, glänzenden Lettern hingesetzt worden. Die Gerichtsmedizin hatte den Leichnam nach einer akribischen Obduktion zur Bestattung freigegeben. An der Todesursache gab es nichts zu rütteln.

»Stimmt wohl. Aber allzu viel wird von ihrem Körper inzwischen nicht mehr übrig sein. Wann ist die gute Frau gestorben?

Ungefähr vor elf oder zwölf Jahren?«, gab Kriminalhauptkommissar Bernd Mader pragmatisch zu bedenken.

»Mensch, bist du unsensibel! Ich meinte das mehr metaphorisch. Wenn ein Ehemann schon in jungen Jahren dafür sorgt, dass er nach dem Tod mit seiner geliebten Familie zusammen in einer Grabstätte liegen kann, finde ich das einfach total romantisch. Das muss wahre Liebe sein«, beharrte Marit seufzend.

»Kann sein, ja. Als hätte er etwas geahnt«, lenkte ihr Chef ein. Da Mader bis heute unter den Nachwehen seiner schmutzigen

Scheidung nebst Sorgerechtskrieg litt, konnte er diesbezügliche Gefühlsduselei schlecht nachvollziehen.

Auch in seiner neuen Beziehung lief zuweilen nicht alles rund. Die Vergangenheit holte ihn immer wieder ein, meist in Form von fragwürdigen Aktionen seiner Exfrau, die sich unmittelbar auf die neue Partnerin auswirkten. Julia setzte das Theater rund um die Scheidungskinder oft dermaßen zu, dass es in der Beziehung zu offenen Konflikten und Eifersüchteleien kam. Sie bemühte sich redlich um Neutralität, keine Frage, stieß dabei jedoch oft an ihre Toleranzgrenzen. Besonders, seit sie ihre eigene Wohnung aufgegeben hatte und bei ihm eingezogen war.

»Bernd? Träumst du schon wieder?«

Marit boxte ihren elf Jahre älteren Kollegen sanft in die Seite. Er wirkte abwesend und es war schwer zu sagen, ob er über den Fall nachgrübelte oder einfach bloß abgelenkt war.

Geistesgegenwärtig überspielte er die Exkursion in seine privaten Gedankengänge mit einer Gegenfrage.

»Sag mal, hast du die Kleine irgendwo entdecken können?«

»Nein, und das finde ich ziemlich merkwürdig. Angeblich sind die beiden doch ein Herz und eine Seele gewesen. Wieso bleibt dann aber ausgerechnet sie der Beerdigung fern?«

»Gute Frage und der werden wir später unbedingt nachgehen müssen. Bis dahin nehmen wir die Trauergäste genauer unter die Lupe, beobachten sie. Mimik und Gestik sagen manchmal mehr als tausend Worte. Wahrscheinlich wiederhole ich mich, aber in Dresden haben mich intensive Friedhofsbeobachtungen mehr als einmal auf die Spur der Täter gebracht.«

»Ich weiß und du hast ja Recht. Zum Beispiel die Frau dort drüben, die verhält sich merkwürdig. Das ist die Stiefmutter von Julie, wenn ich nicht irre. Entweder handelt es sich bei ihr um eine begnadete Schauspielerin oder sie ist wirklich untröstlich, geradezu am Boden zerstört. Schwer zu sagen.«

»Genau. Diesen spitznasigen Kleiderständer hatte ich ebenfalls ins Visier genommen«, brummte Mader anerkennend.

Für die Kripobeamten begann jetzt ein Wettlauf mit der Zeit. Revierleiter Walter Remmler, der Bürgermeister und die besorgten Einwohner der Harzregion würden auf erste Ermittlungsergebnisse drängen, noch bevor das Blumenmeer auf dem Familiengrab der Müllers verwelkt und beseitigt wäre.

Bei Kommissar Mader ging es hierbei nicht zuletzt auch um seine Karriere in Sachsen-Anhalt. Bei der Aufklärung des ersten großen Falles in Wernigerode hatte man ihm noch gewisse Anfangsschwierigkeiten zugestanden und gnädig ins Kalkül gezogen, dass er beim Showdown auf dem Brockenplateau in erheblichem Maße verletzt worden war, um ein Haar sogar durch die Hand des ›Brockopathen‹ ums Leben gekommen wäre. Seither verunzierte ein vernarbter Schriftzug seine Brustpartie, eingebrannt durch einen Lötkolben.

Ja, er war vergleichsweise glimpflich davongekommen. Aber diesmal? Diesmal musste er sich bewähren … und mit ihm seine lieb gewonnenen Kollegen.

*

Noch am selben Nachmittag rief der Kommissar seine Sonderkommission ins Leben, in nahezu unveränderter Besetzung wie beim letzten Fall. Timo Schröck durfte leider nicht mehr mit von der Partie sein, ihn hatte Remmler zu den Diebstahlsdelikten abkommandiert. Eine empfindliche Strafe für einen Perfektionisten wie ihn, Mader fand die disziplinarische Maßnahme ein wenig zu hart. Aber es stimmte schon … hätte Schröck damals über den Tellerrand hinausgeschaut, wäre der Verdacht erheblich früher auf den wahren Täter gefallen.

Binnen weniger Minuten fanden sich Marit Schmidbauer, der dürre Fred Jablonski, Schönling Steffen Beckert und eine etwa vierzigjährige Kriminalhauptmeisterin namens Verena Kant im Besprechungsraum des Reviers am Nicolaiplatz ein. Marit hatte diese Kollegin empfohlen, sie ihm als umgängliche ›Spürnase‹ beschrieben. Sie musste es ja wissen, hatte zwei Jahre mit ihr im selben Dienstzimmer verbracht. Aufreibender Zickenterror, wie er unter gleichrangigen Damen gelegentlich vorkam, war durch diesen Neuzugang somit eher nicht zu erwarten.

Bevor Mader loslegte, nahm er Marit kurz beiseite.

»Und du bist dir sicher, dass du das packen wirst? Ich meine, wieder so eng mit mir zusammenarbeiten zu müssen?«, fragte er mit gesenkter Stimme.

Die hübsche Vierunddreißigjährige mit dem braunen Pferdeschwanz verzog ihr mädchenhaftes Gesicht zu einem erst bittersüßen, dann ins Schelmische gleitenden Lächeln.

»Weil du mich im Krankenhaus schnöde abgewiesen hattest und ich dir ein paar Wochen aus dem Weg gegangen bin? Ach Bernd, das ist kalter Kaffee, ich bin längst drüber weg. Ich tröste mich mittlerweile mit dem Gedanken, dass ich dich im Dienst viel länger sehen darf als deine Lebensgefährtin daheim. Außerdem gibt es da momentan jemanden … mal sehen, ob was draus wird. Du bist nicht der einzige Mann auf dieser Welt.«

»Dann bin ich beruhigt, hätte auch ungern auf dich verzichtet. Willkommen in der Soko«, atmete Mader auf.

Der Kommissar nahm den Platz an der Stirnseite des Raumes ein, zwischen Flipchart und Magnettafel. Wer ihn etwas besser kannte, bemerkte auf Anhieb, wie sehr er unter Druck stand. Er wirkte unruhig, konnte keinen Augenblick stillstehen.

Glücklicherweise verzichtete Remmler dieses Mal darauf, dem Briefing persönlich beizuwohnen. Der hatte sich beim morgendlichen Dienstantritt darauf beschränkt, Mader einen aufmunternden Klaps auf die Schulter mitzugeben und sarkastisch zu witzeln: »Man könnte glatt annehmen, Sie hätten aus Dresden ein paar kriminelle Elemente mitgebracht. So kurz hintereinander hat es hier noch nie zuvor Mordfälle gegeben.«

Dabei wusste dieser selbstgefällige Dampfplauderer haargenau, dass der Brockenmörder aus Wernigerode gestammt hatte.

Hoffentlich traf zu, was man sich in der Kantine erzählte und der Chef liebäugelte tatsächlich damit, Ende 2019 in den Vorruhestand zu gehen. Es hätte insbesondere die jüngeren Damen in der Dienststelle gefreut. Remmlers Hände neigten leider häufig dazu, sich selbständig zu machen und, wie zufällig, Körperteile zu betatschen, die ihn partout nichts angingen. Mader rechnete es seinen taffen Kolleginnen hoch an, dass sie sich trotz allem nicht befleißigt fühlten, sich der selbstdarstellerischen #Me Too Kampagne anzuschließen, die momentan durch die Nachrichten geisterte.

Vier Augenpaare nahmen den Kommissar erwartungsvoll ins Visier. An der Magnettafel pinnte bislang nur das Foto der Leiche. Es würde Engagement, Zeit und Nerven kosten, die leere Fläche mit Daten, Querverbindungen und weiteren Fotografien zu füllen. Diesmal verzichtete er auf einen fantasievollen Namen, um die Soko zu benennen. Es gab im Revier eh nur diese eine. So schrieb er einfach Waldlichtung an den oberen Rand der Tafel, denn auf einer solchen war das Opfer gefunden worden.

»Was wir bis jetzt wissen, ist mehr als dürftig. Wir kennen die Identität des Mordopfers, dessen Beruf und auch die Todesursache – Ende der Aufzählung. Zumindest auf den ersten Blick zeichnet sich nicht die Spur eines Tatmotivs ab. Angesichts der großen Verwandtschaft wird es wahrscheinlich ein Mammutprojekt werden, all diese Leute abzuklopfen. Das wird eure Hauptaufgabe in den nächsten Tagen sein, angefangen bei der Kernfamilie«, erklärte Mader achselzuckend.

»Ich weiß schon … wieder überall hausieren gehen«, brummte Beckert mit einem kaum merklichen Augenzwinkern. Obgleich er solche Tätigkeiten immer noch wenig prickelnd fand, meinte er das nicht mehr so bierernst wie noch vor eineinhalb Jahren. Die beiden Alphamännchen hatten sich mittlerweile angefreundet, was dem Dienstklima ausgesprochen guttat.

»Wenn einer zu deinem Lebensretter wird, siehst du ihn mit anderen Augen«, so hatte Mader seinen Gesinnungswandel Marit erklärt. Beckert war zwar immer noch ein Aufschneider und Frauenheld, doch diese Neigungen konnte man mit ein bisschen gutem Willen auch als liebenswerten Spleen ansehen. Hinter der top gestylten Fassade des Blonden steckte ein mutiger, selbstloser Draufgänger, wenn es darauf ankam.

In den folgenden Tagen stellte sich heraus, dass sie mit Verena Kant offenbar einen guten Fang gemacht hatten. Diese Frau arbeitete wie ein Uhrwerk, zuverlässig und ohne Allüren. Befragungen schienen ihr sogar Spaß zu machen. Bei einigen davon war Mader anfangs dabei gewesen, um einen Eindruck von ihrer Arbeitsweise zu erhalten. Die unscheinbare Brünette mit dem ultrakurzen Herrenhaarschnitt besaß eindeutig ein großes Talent dafür, die gewünschten Informationen auf subtile Weise herauszulocken. Am besten aber gelangen die ausführlichen Protokolle, die sie im Nachgang anfertigte. Hier paarte sich ihre analytische Beobachtungsgabe mit stilistischem Geschick.

Kein Zweifel, Verena passte bestens ins Team der Soko, bildete einen ruhenden Pol. Marit Schmidbauer hatte ihr Gespür für Menschen aufs Neue unter Beweis gestellt.

*

April 2002, Wernigerode

Regenschwanger hingen düstere Wolkenbänke über dem städtischen Friedhof. In Rüdiger Müllers Seele sah es ähnlich trist aus. Wäre das stille kleine Mädchen an seiner Seite nicht gewesen, hätte er an jenem Vormittag seinen Lebensmut vollends verloren.

Wie sollte es ohne Elke nur weitergehen? Sie war sein Lebenszweck gewesen, sein Halt, seine Inspiration, Freundin und Liebhaberin zugleich. Er hatte mit ihr in einer perfekten Symbiose gelebt. Sein Verstand weigerte sich mit aller Macht, die furchtbare Tatsache anzuerkennen, dass der Körper seiner geliebten Frau leblos in einem Sarg lag, soeben begraben worden war. Für immer und ewig.

Der Rest der Trauergesellschaft hatte sich längst vom Grab entfernt. Seine Angehörigen warteten wahrscheinlich schon vor der Gaststätte, in der die Trauerfeier stattfinden sollte. Er hatte all das Kondolieren bereitwillig über sich ergehen lassen, doch seinen Schmerz konnte ohnehin nichts und niemand lindern.

Die unvermeidliche Trauerfeier … danach war ihm ebenso wenig zumute. Weder seiner vierjährigen Tochter Julie noch ihm selbst stand der Sinn danach, sich jetzt unter Menschen zu begeben, sich mit ihnen befassen zu müssen. Am liebsten wäre er einfach hier stehen geblieben, in der törichten Hoffnung, seine Elke werde ihm von hinten auf die Schulter tippen und fröhlich fragen, wieso er so ein trauriges Gesicht ziehe. Er habe all das nur geträumt. Die Krebserkrankung, den zermürbenden Kampf gegen die heimtückische Krankheit und den Tod im Alter von nur zweiunddreißig Jahren.

Kein Mensch sollte so früh sterben müssen, schon gar nicht so ein lieber, haderte er zum x-ten Male. Das Wirken der Schicksalsmächte, welcher auch immer, empfand er als ungerecht, was ihn zuweilen verzweifeln, an anderen Tagen wütend werden ließ.

Falls die Annahme diverser Esoteriker zutraf, dass sich manche Seelen nach dem Ableben noch eine gewisse Zeit lang unter die Lebenden mischen, bevor sie sich endgültig vom irdischen Dasein zu trennen vermögen, war sie vielleicht noch auf irgendeine Weise hier präsent. Deshalb wollte er in der Nähe bleiben, ihr Gesellschaft und Beistand leisten, nonverbale Zwiesprache halten. Er klammerte sich an jeglichen Strohhalm und wenn es bei nüchterner Betrachtung noch so aussichtslos war. Alles erschien ihm besser als sie endgültig zu verlieren.

Elke und er hatten damals gemeinsam den Hollywoodstreifen Ghost – Nachricht von Sam angeschaut und beide hatten sie geheult wie die Schlosshunde, so ergreifend war der sentimentale Gedanke gewesen, dass wahre Liebe manchmal sogar über den Tod hinaus Bestand haben könnte. Ein tröstlicher Gedanke, der ihm allerdings jetzt, so kurz nach ihrem Fortgang, wenig weiterhalf. Die Wunde, die dieser schwere Verlust in seine Seele gerissen hatte, würde sich wohl lebenslang nicht mehr schließen.

Der Himmel öffnete seine Schleusen. Große, schwere Regentropfen fielen wie Tränen herab. Es roch modrig, nach feuchter Erde. Die kalte Dusche erinnerte den frischgebackenen Witwer an seine Verantwortung. So gerne er weiterhin hier verweilt und sich an gemeinsame Momente erinnert hätte, er musste sich auf der Stelle um seine Kleine kümmern, dafür sorgen, dass sie ins Trockene kam.

Er hatte Elke auf dem Sterbebett versprochen, bestens auf sie aufzupassen. Diese Aufgabe fiel ihm zu und er würde ihr gerecht werden, anstatt seine Verantwortung auf Großeltern oder sonstige Betreuer abzuschieben. Wie das in Zukunft funktionieren sollte, wusste er allerdings selber noch nicht. Sein Beruf als selbständiger Innenausstatter hielt ihn auf Trab, feste Arbeitszeiten gab es wegen der anhaltend guten Auftragslage eher selten. Doch wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, daran glaubte er.

Eine kleine, warme Hand schob sich zaghaft in die seine.

»Jetzt sind wir ganz alleine auf der Welt, weil Mama bei den Engeln wohnt«, wisperte Julie.

Ihre Tapferkeit, geboren aus kindlicher Unschuld und einem unerschütterlichen Grundvertrauen, brach ihm schier das Herz.

*

Rüdiger fand nur schleppend in sein Alltagsleben zurück. Monatelang nahm er Antidepressiva ein, um überhaupt arbeitsfähig zu bleiben. Oft mangelte es ihm an Inspiration, einer unabdingbaren Grundvoraussetzung in seinem Beruf. Es gelang ihm mehr schlecht als recht, dieses Manko zu überspielen. In der Woche nach der Beerdigung verlor er dadurch zwei gut betuchte Kunden, die ihre Villen nun anderswo aufmöbeln ließen.

Die stornierten Aufträge drückten seine Stimmung weiter zu Boden. Einzig seine Tochter verankerte ihn jetzt noch fest im irdischen Dasein, verhinderte durch ihre bloße Existenz, dass er etwas Dummes anstellte.

Ihre sanfte, liebevolle Art tat ein Übriges. Nach ein paar Wochen stellte der Trauernde überwältigt fest, dass es ihr gelungen war, ein hauchdünnes Pflaster über seine seelischen Wunden zu kleben. Dafür liebte er sie gleich noch mehr. Natürlich, er war seit dem Tag der Geburt total in das Mädchen vernarrt gewesen, doch Elkes Tod schweißte ihn und seine Tochter dermaßen eng zusammen, wie er sowas niemals für möglich gehalten hätte.

Wenn er das Kind ansah, erkannte er seine geliebte Frau in ihr wieder. Julie Müller besaß die gleichen Gesichtszüge wie einst ihre Mutter. Allein bei der Vergabe der Haarfarbe hatte die Natur gestreikt, sich eindeutig bei seinen Genen bedient. Rüdigers Mutter Giulietta stammte ursprünglich aus Süditalien, genauer gesagt von Korsika. Ihre Familie lebte bereits in dritter Generation in Deutschland. Ein feuriges Temperament und das südländische Aussehen waren daher die einzigen Attribute, die bis heute an ihre eigentliche Herkunft erinnerten.

Julies außergewöhnlich helle Haut bildete einen starken Kontrast zum annähernd schwarzen Haar und den faszinierend veilchenblauen Augen, die unter langen dunklen Wimpern hervorleuchteten. Man kam nicht umhin, sie mit dem Schneewittchen aus Grimms altem Märchen zu vergleichen. Schwarz wie Ebenholz und weiß wie Schnee … die blutroten Lippen würden sich bestimmt in ein paar Jahren dank Kosmetikindustrie auch noch dazugesellen.

Der Innenausstatter war stolz wie Oskar. Seine Kleine würde eines Tages zu einer wunderschönen jungen Dame heranwachsen. Sie hatte sich aus dem Genpool das Beste herausgegriffen. Bis sie eigene Wege einschlug, wollte er sie hüten wie seinen Augapfel, jegliches Unheil von ihr fernhalten. Der Gedanke, sie irgendwann an einen Freund verlieren zu können, schmerzte ihn schon jetzt.

Die ersten Arbeitstage mit seiner Tochter im Schlepptau stellten sich als hart heraus. Das Mädchen langweilte sich schnell, musste sich erst allmählich an den veränderten Tagesablauf gewöhnen und vor allem akzeptieren lernen, dass Papa seine Aufmerksamkeit auf fremde Leute zu konzentrieren hatte. Oft weinte sie unvermittelt los, weil sie Mama vermisste. In solchen Momenten kämpfte auch er mit den Tränen.

Er nahm das Kind überall mit hin, zu Ortsterminen genauso wie ins Büro oder zu Preisverhandlungen mit den durchwegs wohlhabenden Kunden. Im Kofferraum seines Mercedes Benz Kombis befand sich neben Musterbüchern, Holzpaneelen und Stoffund Planrollen nun auch jede Menge Spielzeug. Termine wurden meist nach den Bedürfnissen des Kindes vereinbart.

Julie lernte sehr schnell, wie sie sich bei Papas vermögenden Auftraggebern geschickt in den Vordergrund spielen konnte. Er staffierte sie wie eine kleine Prinzessin aus, und so benahm sie sich auch. Kokettierte, zeigte mit entwaffnendem Lächeln auf ihre eigenen Favoriten in den Musterbüchern und ließ sich nach Strich und Faden verwöhnen. Wo immer sie auftauchten, Julie war der bezaubernde Star. Ihr verzieh man alles.

Wenn sie zwischendurch bei ihren Großeltern weilte, fragten die Kunden nach ihr, zeigten sich enttäuscht, wenn er sie ausnahmsweise mal nicht dabeihatte. Ein begeistertes Millionärsehepaar ließ sie sogar Teppich, Tapeten und Vorhänge für das künftige Kinderzimmer der eigenen, noch ungeborenen Tochter auswählen. Julie fühlte sich angesichts dessen bereits selbst wie eine angehende Raumausstatterin, wurde immer selbstbewusster. Wo andere Kinder noch unbeschwert mit Puppen und Bauklötzchen spielten, hantierte sie mit Stoffen und Musterdrucken, redete altklug daher und ließ sich dafür ausgiebig feiern.

Rüdigers Eltern bereitete das allzu frühreife Verhalten ihres Enkelkindes zunehmend Sorge. Giulietta nahm ihren Sohn beiseite, nachdem Julie wegen einer fiebrigen Erkältung drei Tage in ihrer Obhut gewesen war. Das kleine Mädchen saß derweil, dick eingepackt, im Fond des Mercedes.

»Meinst du nicht, dass es für Julchens Entwicklung förderlich wäre, mit anderen Kindern zu spielen, anstatt den lieben langen Tag unter lauter Erwachsenen festzusitzen? Ich würde dir gerne helfen, einen passenden Kindergarten für sie auszusuchen, am besten in unserer Nähe. Es wird höchste Zeit dafür.«

»Kommt überhaupt nicht infrage«, entgegnete Rüdiger kopfschüttelnd. »Wir zwei sind ein eingespieltes Team, sie fühlt sich pudelwohl bei mir. Auf diese Weise haben wir es während des vergangenen Jahres geschafft, uns gegenseitig einigermaßen über Elkes Tod hinwegzutrösten. Wieso sollte ich also plötzlich etwas verändern wollen? Never change a running system …

Außerdem weißt du ganz genau, dass sie Julie heißt und nicht etwa Julchen. Sie mag es gar nicht, wenn man sie so nennt. Wir rufen dich ja auch bei deinem richtigen italienischen Vornamen und nicht ›Julia‹.«

Er sprach den klangvollen Namen seiner Tochter in französischer Manier aus, sodass er wie Schülie klang, mit überzogener Betonung auf der zweiten Silbe.

Giulietta stemmte resolut die Fäuste in die Hüften, ihre dunklen Augen verschossen Blitze.

»Ach so, ja? Und wie soll die Umstellung funktionieren, wenn Schülie nächstes Jahr in die Schule muss, hast du mal daran gedacht? Sie wird dort zur Außenseiterin werden, schon weil sie bislang kaum Kontakte zu Gleichaltrigen hatte. Du tust ihr keinen Gefallen, wenn du sie dermaßen eng an dich bindest. Sie ist dein Kind, Rüdiger. Du kannst Elke nicht mit ihr ersetzen. Das Trauerjahr ist um. Vielleicht wäre es besser, du würdest dir wieder eine erwachsene Lebensgefährtin suchen und das Kind endlich Kind sein lassen. Sie ist erst fünf Jahre alt.«

»Das kannst du alles getrost mir überlassen. Erstens irrst du dich, denn sie spielt öfters mit Kindern von Kunden, jedenfalls soweit die welche haben. Und zweitens könnte man im Zweifelsfall immer noch darüber nachdenken, ob sie bei einem Privatlehrer womöglich doch besser aufgehoben wäre. Sie hat ihre Mutter viel zu früh verloren, braucht besondere Rücksichtnahme. Es ist mir ein leichtes, an entsprechende Adressen zu kommen und ihr eine individuelle Betreuung zu ermöglichen.«

»Na klar, und sie dadurch noch weiter verziehen! Ich wollte es dir mit Rücksicht auf deine … auf die Situation nicht so schonungslos sagen, Rüdiger, aber deine Tochter entwickelt sich zu einer hochnäsigen, verwöhnten Zicke. Sie hört kaum mehr auf uns, weiß alles besser und gibt sich oberschlau. Wie soll das in der Pubertät werden, frage ich mich.

Es ist extrem anstrengend, sie hier bei uns zu haben, einen ganzen Tag lang mit ihr umzugehen. Selbst Opa kommt inzwischen schlecht mit ihr klar und du weißt, wie sehr er an seinem einzigen Enkelchen hängt. Merkst du wirklich nicht, wie schädlich der ständige Tanz ums goldene Kind für Julies Charakterbildung ist?«

Die Miene des Vierzigjährigen versteinerte. Dass er in diesem Moment nur noch bodenlose Verachtung für seine Mutter empfand, war deutlich erkennbar.

»Ach, derart schlecht denkst du also über uns. Und es ist dir offenbar zu anstrengend, für ein paar Tage auf Julie aufzupassen. Na, wenn das so ist … nächstes Mal bitte ich Elkes Eltern darum oder nehme mir eben selber frei. Keine Sorge, wir werden euch so schnell nicht wieder belästigen. In einem Punkt hast du übrigens vollkommen Recht. Elke lässt sich in meinem Leben nie und nimmer durch eine neue Frau ersetzen, ergo versuche ich es gar nicht erst«, sagte er kalt.

Er drehte sich um und eilte zu seinem Wagen, aus dem Julies blaue Augen ihm fragend entgegenblickten.

»He! Ich habe das doch nicht böse gemeint«, rief Giulietta hinter ihm her, aber er drehte sich nicht einmal mehr um.

*

Juni 2007, Braunlage im Harz

Rüdiger Müller hatte das Restauranthotel Viktoria mit Bedacht ausgewählt. Es lag einige Kilometer von Wernigerode entfernt, auf der südwestlichen Seite des Vogelschutzgebietes Hochharz und jenseits der Landesgrenze zu Niedersachsen. Der bei Touristen sommers wie winters sehr beliebte Luftkurort versprach ein Mindestmaß an Anonymität.

Der Witwer wollte einerseits vermeiden, dass ihn Bekannte oder Familienmitglieder in attraktiver Damenbegleitung sahen, andererseits aber bei selbiger punkten. Natürlich hätte er sich als ungebundener Mann in den besten Jahren öffentlich zu Karola Landauer bekennen können, aber irgendwie wollte er sich nicht hierzu entschließen, obwohl der Tod seiner geliebten Frau bereits über fünf Jahre zurücklag. Der Grund war vermutlich, dass er die selbstbewusste Eventmanagerin erst vor knapp einer Woche kennengelernt hatte und an eine feste Beziehung derzeit gar nicht zu denken brauchte, geschweige denn eine führen wollte. Insofern war er skeptisch. Egal, eine heiße Affäre tat es in seiner Situation fürs Erste auch.

In bester Stimmung schlenderte er, gut eine Viertelstunde zu früh natürlich, auf das auffällige Eckgebäude zu, das im unteren Drittel cremefarben, oben in einem dezenten Rotton gestrichen war. Ein Türmchen ragte aus der Dachfläche, verlieh dem Haus eine romantische Note. Innen versprach das gediegen eingerichtete Restaurant laut Webseite wahre Gaumenfreuden, kulinarische Genüsse auf hohem Niveau.

Genau danach war ihm jetzt zumute: einem unverbindlichen Gourmetessen in angenehmer Gesellschaft.

Na, wer weiß … vielleicht kommt Karola in Stimmung und wir könnten anschließend spontan ein Zimmer buchen. Wie lange ist es her, dass ich mit keiner Frau mehr geschlafen habe? Bestimmt über ein Jahr … meist ist Julie zu Hause und da verbietet es sich, dass ich ausgehe. Aber solange sie im Schullandheim ist, darf Papa sich ruhig auch was gönnen, überlegte der Neununddreißigjährige voller Vorfreude.

Zu seiner Überraschung saß sein Date bereits am reservierten Zweiertisch und nippte an einer Kaffeetasse. Man hätte schon blind sein müssen, um sie nicht auf Anhieb zu entdecken. Hautenges Etuikleid in flammendem Rot, blond gesträhntes, langes Seidenhaar, auffälliger Goldschmuck – nein, es war schlichtweg unmöglich, mit dieser Frau inkognito unterwegs zu sein.

Sie begrüßten sich wie gute Freunde, Küsschen links, Küsschen rechts. Dann setzte sich Rüdiger ihr gegenüber und stellte den Serviettenfächer zur Seite. Dieser war kunstvoll aus Damast gefaltet, schon das verriet die Klasse des Hauses. Kristalllüster und dezente Farben taten ein Übriges.

Er beglückwünschte sich innerlich zu der Entscheidung, das

›Viktoria‹ ausgewählt zu haben. Es bot den passenden Rahmen für einen gelungenen Abend.

Rüdiger bewegte sich beruflich öfters in der sogenannten besseren Gesellschaft, wusste sich deshalb entsprechend zu verhalten. So war er es, der die Speisen für beide beim Kellner orderte, den Wein zuerst probierte, bevor er die ganze Flasche bestellte, und am Ende wie selbstverständlich die Rechnung übernahm.

Das opulente Essen, das stimmige Ambiente und der Alkohol verfehlten ihre Wirkung nicht. Karola Landauer und ihr Wernigeröder Gentleman flirteten bereits bei der Vorspeise so heftig, dass er es wagte, beim Dessert eine gemeinsame Hotelübernachtung vorzuschlagen. Vorgeblich, damit niemand angeschickert zurückfahren müsste. Sie schien nur darauf gewartet zu haben und nickte, Begehren glänzte in den azurblauen Augen.

In eine wie Karola könnte ich mich ernstlich verlieben. Sie hat Stil, ist ein selbständiger, organisierter Mensch und helle obendrein. Aber wäre sie eine gute Mutter? Eine Frau, für die ich mich entscheide, muss zwangsläufig auch meiner Julie gefallen, schoss es Rüdiger durch den Kopf.

Gleich darauf beschloss er, diese Gedanken vorläufig ad acta zu legen. Es ging heute ja lediglich um eine sexuell befriedigende Nacht, von der er eine Weile zehren könnte – weiter nichts.

Geradezu hastig verließ das Paar das Restaurant, schlenderte Arm in Arm zur Rezeption und ließ sich eines der besten Zimmer aufschwatzen. Zurzeit, in der Vorsaison zwischen Pfingsten und Sommerurlaub, war das edle Haus zum Glück noch nicht ganz ausgebucht.

Schäkernd erreichten sie das Zimmer im ersten Stock. Karola kriegte sich kaum mehr ein, als sie die frei im Raum platzierte Badewanne gewahrte, die, auf einem Podest stehend, in eine mit Natursteinklinkern ausstaffierte Nische des Zimmers eingebaut war. Auch hier oben dominierten Naturfarben, die hervorragend zum modernen Design passten und stimmig mit einer Fototapete neben dem Bett abgerundet wurden. Diese zeigte eine Naturszenerie aus dem Wald, zwei Hirsche inklusive. Zweifellos sollte dieses Detail eine Hommage an den Harz darstellen, man war hier stolz auf seine geografische Lage.

Die Blonde fackelte nicht lange, nahm mit einer Hand anmutig ihr Haar über die rechte Schulter nach vorne und hielt es dort fest. Ihn traf ein schmachtender Blick aus halb geschlossenen Lidern. Er sollte den Reißverschluss ihres Kleides öffnen.

Rüdiger kam dieser Aufforderung nur zu gerne nach, atmete dabei genüsslich ihr Parfüm ein. Wenn ihn nicht alles täuschte, trug sie den Klassiker Chanel No. 5. Jawohl, sie hatte Stil.

Die indirekte, warmtonige Beleuchtung des Raumes ließ ihre feinen Nackenhärchen schimmern. Deren Farbton schien eine Nuance heller als die leicht gewellte Mähne zu sein. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es sich um eine echte und keine gefärbte Blondine handelte.

Genau wie bei Elke, dachte er wehmütig.

Der bombastische Anblick von Karolas wohlproportioniertem, makellos schlankem Körper katapultierte ihn ins Hier und Jetzt zurück. Sie stieg dekorativ aus dem Kleid, so als hätte sie diese Bewegungen tausendfach eingeübt. Nun, vielleicht hatte sie das ja tatsächlich … egal. Es ging ihn im Grunde nichts an.

Während sie heißes Wasser in die Wanne laufen ließ, rollte sie, aufreizend langsam, ihre halterlosen schwarzen Seidenstrümpfe über die festen Schenkel und ließ die zarten Gespinste achtlos auf ihre hochhackigen Lackpumps fallen.

Rüdiger konnte kaum mehr an sich halten.

»Was ist, kommst du mit rein?«

Und wieder traf ihn ihr intensiver Blick, hervorgezaubert unter seidigen Wimpern, das leuchtende Blau ihrer Augen teilweise verhüllt durch eine vorwitzige Haarsträhne. Er hatte noch niemals zuvor mit einer Frau in derselben Wanne gesessen, freute sich tierisch auf die Premiere.

»Klar, liebend gerne.«

»Dann würde ich sagen, wir entfernen als erstes diese lästigen Textilien«, gurrte sie und machte sich gekonnt an seinem Hosenstall zu schaffen. Er merkte, wie sich auf der anderen Seite der Stoffschicht etwas regte, was ihm ein wenig peinlich war. Vorsichtshalber verzichtete er in diesem Augenblick darauf, sich ihre schwarze Spitzenunterwäsche näher zu betrachten. Mehr trug sie inzwischen nicht mehr und das kostspielig anmutende Set war aufreizend semitransparent. Eine kleine Blüte aus Strass funkelte zwischen ihren Brüsten, er registrierte es aus den Augenwinkeln.

Im Gegensatz zu ihren intimen Körperteilen befand sich sein bestes Stück nun ganz im Freien, stand steif wie eine Siegessäule ab. Er war nicht prüde oder sowas, aber auch nicht gerade exhibitionistisch veranlagt. Daher empfand er es als Erleichterung, als sie, geradezu herrisch, verfügte:

»Ab in die Fluten, das Wasser ist ideal temperiert. Du zuerst!«

Er hatte sich gerade erst in die schillernden Schaumwolken gesetzt, da kam sie nach, splitternackt, und hockte sich rittlings auf seinen Schoß. Noch bevor er wusste wie ihm geschah, stahl sich ihre weiche Zunge in seinen Mund, fordernd und leidenschaftlich. Sie bewegte ihren Unterleib in rhythmisch-zuckenden Stößen, gelenkig wie eine Bauchtänzerin.

In seinem Hirn legte sich unwillkürlich ein Schalter um, der Verstand kam vollends zur Ruhe.

Innerhalb der nächsten zwei Stunden sorgte die blonde Sirene dafür, dass letzterer sich gar nicht erst wieder meldete. Kaum lagen sie im Doppelbett, atemlos und trockengerubbelt, läutete Karola die zweite Runde ein. Sie verschwand einfach unter der Zudecke und bearbeitete sein Gemächt auf eine Weise, dass er die Engel singen hörte und kurz darauf zum zweiten Mal kam.

Erst als sie danach erschöpft neben ihm lag, bekam die Sache auf einmal einen schalen Beigeschmack. Ihre rot lackierten Nägel wühlten sich zärtlich durch seine gelockten Brusthaare, verschwitzte, feuchte Haarsträhnen lagen auf seinem Hals. Sie rochen nach dem süßlichen Vanille-Badezusatz.

Was, zum Teufel, tue ich hier überhaupt?

Sicher, er war ausgehungert gewesen und hatte auch mal ein Recht auf Zweisamkeit. Aber was würde morgen sein, hatte er sich Karola mit diesem Techtelmechtel ans Bein gebunden? Für übermorgen erwartete er Julie aus dem Schullandheim zurück und wie sollte er sich dann mit dieser Frau treffen? Er konnte sich normalerweise nicht über Nacht in irgendwelchen sündhaft teuren Landhotels herumtreiben und bei halb fremden Damen den heißblütigen Lover geben. Für sowas lief sein Alltag viel zu stressig und geordnet ab.

»An was denkst du gerade?«, flüsterte die Frau in seinem Arm. Ihr war offenbar nicht entgangen, dass er seine Aufmerksamkeit komplett von ihr abgezogen hatte.

»An nichts weiter. Wir sollten allmählich eine Runde schlafen, meinst du nicht? Morgen früh ist die Nacht zu Ende.«

Karola zog vorwurfsvoll einen Schmollmund, was er in dieser Situation unpassend und reichlich kindisch fand. Jetzt, so ganz ohne Schminke, fand er sie auch gar nicht mehr so schön. Unter der Augenpartie und auf dem Nasenrücken entdeckte er Rötungen und Äderchen, außerdem sahen die Brüste künstlich aus. Wenn sie auf dem Rücken lag, rutschten die Dinger kein Stück auf die Seite, ragten immer noch wie straff gefüllte Ballons in die Höhe.

Er mochte eigentlich nichts Unnatürliches, sah genauer hin. Und tatsächlich – gut verheilte Narben an der Unterseite der Brustansätze verrieten, dass hier ein Schönheitschirurg am Werk gewesen sein musste. Von Natur aus war die sexy Geschäftsfrau vorne wahrscheinlich platt wie ein Bügelbrett.

Diese unangenehme Erkenntnis ließ das letzte bisschen Blut aus dem Schwellkörper entweichen und seinen Penis auf Normalgröße schrumpfen. Auch das bemerkte sie sofort, schließlich lag eine ihrer Hände darauf. Der ganze Mann lag wie ein Stück Holz neben ihr im Bett, starrte gedankenverloren an die Decke.

Die Hand zog sich zurück. Karola rutschte ein Stück weg, zog demonstrativ die Bettdecke über ihren Oberkörper.

»Könntest du mir bitte verraten, was plötzlich mit dir los ist, habe ich was falsch gemacht? Oder bist du in Gedanken schon wieder bei deiner geheiligten Tochter?«

Er verschränkte die Arme, wirkte vollends abweisend.

»Was soll das nun wieder heißen? Ich bin kein Sexroboter. Wir haben beide unseren Spaß gehabt und sollten es dabei belassen. Morgen gehen wir ohnehin getrennte Wege, was uns vorher klar gewesen war, oder etwa nicht? Und selbstverständlich denke ich hin und wieder an meine Kleine. Väter tun sowas nun mal, ich trage seit dem Tod meiner Frau die alleinige Verantwortung für Julie«, entgegnete Rüdiger mit harter Stimme. Es klang in ihren Ohren eher wie eine Zurechtweisung denn wie eine Erklärung.

»Das mag ja sein! Aber dass du nicht einmal eine Nacht lang du selbst sein und die Vaterrolle außen vor lassen kannst, enttäuscht mich durchaus. Ich habe es hingenommen, als du vorhin beim Essen ständig mit leuchtenden Augen über die verwöhnte Göre erzählt hast. Habe mich halbwegs zusammengerissen und versucht, mir nichts anmerken zu lassen. Aber das jetzt schlägt dem Fass den Boden aus. Fickst mich von allen Seiten durch um mir gleich anschließend zu signalisieren, dass ich ohnehin bloß die zweite Wahl und ab sofort wieder uninteressant bin, sowas geht gar nicht.

Weißt du was? Leck mich am Arsch, Rüdiger Müller! Ich werde gehen, tue mir das keinesfalls länger an. Dein Herz ist bereits vergeben, was willst du also von mir?«, wetterte sie, sprang abrupt aus dem Doppelbett und kleidete sich mit fahrigen Handgriffen an. Jegliche Damenhaftigkeit schien die Fünfunddreißigjährige in ihrem jähen Zorn abgestreift zu haben.

»Du hast es nötig, über Benimmregeln zu sprechen! In Wirklichkeit wolltest du mich unbedingt verführen, deshalb hast du dir die Geschichten über mein Leben mit Julie angehört. Mir ist freilich aufgefallen, dass du mit Kindern nicht das Geringste am Hut hast. Also sind wir quitt«, konterte er bissig.

Sie warf den Kopf in den Nacken und verschwand, ohne seine Ausführungen zu kommentieren. Sonst hätte er womöglich ihre Tränen gesehen, und das gönnte sie ihm nicht.

Er saß immer noch reglos im Bett, bemitleidete sich selbst. Na fein. Eine klassische Fehlinvestition, finanziell und emotional, wie auch sämtliche vorherigen Dates. Ob er sich seine temporären Begleiterinnen nun sporadisch im Internet über Partnerportale heraussuchte oder einfach den Zufall Regie führen ließ, das Ergebnis war stets dasselbe. Keine Frau dieser Welt schien vorbehaltlos akzeptieren zu wollen, dass er nur im Doppelpack zu haben war.

Nach dieser gründlich missglückten Liebesnacht stand für Rüdiger Müller felsenfest, dass für ihn künftig höchstens noch Damen infrage kamen, die selbst Kinder hatten und seine Vatergefühle verstehen konnten. Wenn überhaupt.

Meine rechte Hand macht mir nach dem Sex wenigstens keine Vorwürfe, dachte er grimmig.

*

06. Januar 2018, am Ortsrand von Elend

Vor dem teilweise renovierten Bauernhäuschen hielt ein 1999er Ford Cougar. Dies konnte nur eines bedeuten: Bernd Maders Freund und langjähriger Partner von der Kriminalpolizei Dresden war endlich angekommen.

Maiks alte, aber heiß geliebte Individualisten-Karre verfügte über kein Navigationsgerät. Deswegen hatte er sein Smartphone zwischen die Oberschenkel klemmen müssen, um das abgelegene Anwesen per Routenplaner zu finden.

Der muskelbepackte, glatzköpfige Sachse stieg aus dem Auto, strebte mit seinem federnden Gang der Haustür zu. Dort erwarteten ihn bereits die Bewohner. Seit Maders Wegzug aus Dresden hatten die einstigen Partner lediglich ein paarmal telefoniert, sich aber nicht mehr persönlich gesehen. Jedes Mal war etwas anderes dazwischengekommen, meist Dienstliches.

»Daach, lange Ladde! He … wo issn deene Wambe?«, fragte Maik, musterte Mader von oben bis unten. Zu Dresdner Zeiten hatte sein um einen halben Kopf größerer Ex-Kollege noch gut und gern zwanzig Kilos mehr auf die Waage gebracht.

»Wäch«, grinste Mader und strich langsam über seinen jetzt flachen Bauch, nicht ohne Stolz.

»Kommt erstmal rein, es ist eisig hier draußen. Bernd hat mir schon so viel von dir erzählt«, lachte Julia, schüttelte dem Dresdner die Hand und scheuchte die beiden ins Wohnzimmer.

Bei Bier und selbstgemachter Pizza tauschten die beiden Polizisten gemeinsame Erinnerungen aus. Maik erzählte gestikulierend über anhängige Fälle und mehr oder weniger witzige Kollegenanekdoten. Anschließend fragte er seinen ehemaligen Partner, Julia zuliebe, in leidlichem Hochdeutsch:

»Jetzt bin ich aber echt gespannt. Wie kann man es hier, am äußersten Ende der Welt, überhaupt aushalten? Es gibt angenehmere Ecken in Deutschland. Ich dachte beim Herfahren ab und zu, ich würde jeden Moment vom Rand der Scheibe fallen, weil die Erde eben doch keine Kugel ist. Himmel, ist das stockfinster! Und es muffelt sogar nach Moder. Ich glaube, hier würde ich mich nach ein paar Wochen deprimiert wegräumen.«

»Das ist doch bloß an Tagen wie heute, wo die Sonne kaum durch den Dunst kommt. Für mich riecht es am Waldrand würzig nach Laub und Moos, nicht vermodert. Auf jeden Fall ist das erheblich gesünder als stinkende Abgasschwaden«, verteidigte Bernd seine neue Heimat zu Julias heimlichem Vergnügen.

»Du solltest lieber mal im Hochsommer herkommen. Während ihr euch in der Stadt halb tot schwitzt, herrschen im Harz meist angenehme Temperaturen. Nee, echt wahr – ich hab mich nach ein paar Anfangsschwierigkeiten voll akklimatisiert. Große Städte sind mir mittlerweile zu anonym und zu hektisch geworden. Ich weiß inzwischen kaum mehr, wie mir das Leben dort jemals gefallen konnte«, fügte er hinzu.

»Wer’s glaubt … und deine Dienststelle in Wernigerode? Hast du den Kulturschock halbwegs verkraftet?«

»Die ist überschaubar, aber irgendwie heimelig.«

»Mensch, nu lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen! Ich will natürlich erzählt kriegen, wie deine neuen Provinzkollegen so drauf sind. Von eurem Brockenmörder haben wir zwangsläufig auch in Dresden gehört. Ist es wahr, dass das gestörte Arschloch dir einen unfertigen Spruch eingebrannt hat?«

Mader knöpfte anstelle einer Antwort sein blaukariertes Holzfällerhemd auf. Seine vernarbte Brust hatte er schon öfters entblößen müssen, allmählich nervte ihn diese Form der Aufmerksamkeit. Jeder, der irgendwie von der Geschichte wusste, wollte neugierig die wulstigen Narben begaffen. Es wunderte ihn selber, aber Maik Koßnitz und seine schnoddrige Macho-Art, alles und jeden gnadenlos ins Lächerliche zu ziehen, waren ihm ein bisschen fremd geworden.

»Boah … da kannst du vergessen, mit nackigem Oberkörper rumzulaufen«, meinte Maik mitleidig, der in seiner Freizeit regelrechten Körperkult betrieb, seinen ansehnlichen Body mithilfe von Eiweißdrinks und Fitnessstudio in Form hielt. Das Gehabe erinnerte unangenehm an dasjenige von Steffen Beckert – aber bevor ihm der zum Freund geworden war.

»Ach, was soll’s, ich will ja nicht als Model arbeiten. Mit der Zeit werden die rotblauen Narbenränder flacher, das hat jedenfalls mein Hautarzt behauptet. Ich bin heilfroh, dass ich wenigstens keine Schmerzen mehr spüre, höchstens noch ein gelegentliches Spannen. Und das auch nur, wenn wir ein anderes Wetter kriegen«, relativierte Bernd sein Ungemach. Die oberflächliche Konversation fing an, ihm auf den Wecker zu gehen.

Kater Felix, der auf seinem Lieblingskissen auf der Fensterbank in der Küche gepennt hatte, streckte sich genüsslich und gähnte herzhaft. Dann tappte er gemächlich zur Futterschüssel, schlug sich den Wanst voll. Es wurde höchste Zeit, dass er den fremden Besucher beschnupperte, der frech in sein Revier eingedrungen war und ihm Herrchens Aufmerksamkeit stahl.

Auf leisen Pfoten tigerte er ins Wohnzimmer.

»Och nee … du hast dir einen Zeckenteppich angelacht? Ich wundere mich schon die ganze Zeit, weshalb mir die Nase läuft und die Augen jucken! Unter diesen Umständen kann ich wohl doch nicht über Nacht bleiben. Ich habe eine Katzenallergie«, stöhnte Maik und wich dem Kater aus, als trage der die Pest in sich. Mindestens. Es wirkte ein wenig lächerlich, wie das gestandene Mannsbild die Beine auf die Couch zog und angewidert bis panisch dreinblickte.

»Tut mir leid, ich hatte keine Ahnung davon. Deswegen habe ich vorhin nichts erwähnt«, erwiderte Mader schulterzuckend.

»Kannst du das Vieh nicht rauswerfen, solange ich hier sitze? Die Katze ist sowieso ziemlich fett. Es würde ihr kaum schaden, wenn sie draußen ein paar Mäuse jagt, anstatt überall angesabberte Haare zu verteilen«, maulte Maik.

Julia klemmte sich den schnurrenden Kater unter den Arm, noch bevor er dem Gast zu nahekommen konnte, und verließ wortlos mit ihm das Zimmer. Bei ihr und Felix hatte der Besucher es sich mittlerweile gründlich verdorben.

Überhaupt befasste sich Maik auffallend wenig mit Bernds Lebensgefährtin, ließ sie desinteressiert links liegen. Die war ihm offenkundig nicht attraktiv genug, ansonsten wäre er längst auf seiner eigenen Schleimspur ausgerutscht, genau wie früher bei seiner Geschiedenen Sabine. Die beiden hatten mitunter heftig geflirtet und sich anschließend über seine Eifersucht amüsiert.

Klar, Julia war ein wenig mollig und litt an einer Hautkrankheit, die ihr Gesicht hin und wieder mit Pickelchen verunzierte, aber diese kleinen Schönheitsfehler wurden durch einen intensiven, intelligenten Blick, profunde innere Werte und eine frauliche Sanduhrfigur nach seiner Ansicht mehr als ausgeglichen.

Ja, Maik hielt sich für einen tollen Hecht, der wählerisch sein durfte. Wenn er also ausschließlich auf dürre Bohnenstangen mit Pfirsichhaut stand, deshalb alle anderen Frauen als hässlich betrachtete und sie das unumwunden spüren ließ, dann sollte er das eben weiterhin tun. Julia konnte mit sowas zum Glück souverän umgehen.

Als Maiks Cougar eine halbe Stunde später vom Hof bretterte war Mader längst bewusstgeworden, dass ihn sein alter Partner höchstwahrscheinlich zum ersten und letzten Mal in Elend besucht hatte. Traurig war er darüber nicht. Die Chemie stimmte nicht mehr, etwas Maßgebliches musste sich in der Zwischenzeit verändert haben.

Tja, Bernd … sieh den Tatsachen lieber gleich ins Auge … der Harz hat dich mit Haut und Haar in Besitz genommen. Du bist ruhiger geworden, geradezu bieder. In Dresden hättest du jetzt alles drangesetzt, um in Maiks Augen gut dazustehen, den starken Mann markiert und notfalls hierfür sogar deine Frau vor den Kopf gestoßen, dachte der Kommissar verblüfft, während er die Tür schloss und zu Freundin und Kater in die behagliche Ofenwärme der Wohnstube zurückkehrte. Maik und Dresden konnten ihn mal kreuzweise.

Hier im Harz hatte er einen neuen kniffligen Mordfall zu lösen, und der würde ihm einiges abverlangen.

*

September 1997, Saint-Nazaire, Südfrankreich

Die untergehende Sommersonne schickte letzte Lichtfinger über die Begrenzungsmauer des Grundstücks. Die Müllers saßen auf der Terrasse eines etwas heruntergekommenen Häuschens aus den 1960er Jahren, in einer Hollywoodschaukel mit halb verrostetem Gestell. Rüdiger hatte seinen linken Arm zärtlich um Elkes Schultern gelegt.

Sie schloss lächelnd die Augen, atmete genüsslich den intensiven, betörenden Duft unzähliger Jasminblüten ein. Die zugehörigen Büsche hatten nicht nur die schadhafte Mauer überwuchert, sondern sich zusätzlich über das halb eingedrückte Dach eines alten Geräteschuppens ausgebreitet. Wann das stark beschädigte Nebengelass vollständig einfallen würde, war vermutlich bloß noch eine Frage von wenigen Monaten. Schade drum, denn von der anderen Seite war die Fassade des winzigen Häuschens mit fuchsiafarbenen Bougainvilleas bewachsen, was ihm ein wildromantisches, verwunschenes Aussehen verlieh.

Das Anwesen gehörte einer Arbeitskollegin von Elke. Weitläufige Verwandte hatten es ihr mangels eigener Nachkommen vererbt. Nun wusste die neue Besitzerin nicht so recht, was sie damit anfangen sollte. Sicher, das kleine Haus lag wunderschön am Ortsrand von Saint-Nazaire, aber es war eben recht baufällig. Zur kommerziellen Vermietung taugte es in diesem Zustand keinesfalls und das Herrichten von Gebäuden und Grundstück hätte eine schöne Stange Geld verschlungen – welches Eigentümerin Maja bedauerlicherweise nicht besaß.

Daher verfiel das einstige Schmuckstück wegen der salzhaltigen Meeresluft immer rapider, wurde nur gelegentlich durch sie und einige ihrer besten Freunde genutzt. Sie überließ jedem, der auf modernen Komfort verzichten konnte und am Mittelmeer kostengünstig Urlaub machen wollte, den Schlüssel zum Nulltarif. Besser als Camping war es allemal, auch wenn die Wasserhähne ratterten und ständig der Strom ausfiel.

Diese verschwenderische Blütenpracht unter einem azurblauen Himmel … Elke konnte sich kaum sattsehen. Da war aber noch etwas, das sie momentan zur glücklichsten Frau der Welt machte. Doch das wusste außer einem Arzt und ihr selbst noch kein Mensch. Heute sollte sich das grundlegend ändern.

»Wollen wir reingehen? So schön es hier draußen auch ist, ich kriege allmählich Hunger«, suggerierte Rüdiger.

»Ach bitte, nur einen Moment noch, Schatz. Ich muss dir was äußerst Wichtiges sagen«, lächelte Elke hintergründig.

»Was denn? Hoffentlich nichts Schlimmes.«

»Ganz und gar nicht. Rüdi … es ist so weit, wir werden Eltern!«, strahlte Elke von innen heraus.

»Was?! Du … du bist … Wahnsinn! Ich freue mich so«, jubilierte Rüdiger und drückte sie an sich. Endlich hatte es geklappt, er hatte jegliche Hoffnung schon aufgeben wollen. Seit Jahren nahm Elke keine Antibaby-Pille mehr und dennoch war sie nie schwanger geworden. An ihrer Gesundheit lag es laut Frauenarzt nicht. Er hatte wiederholt darüber nachgedacht, sein Sperma auf Fruchtbarkeit untersuchen zu lassen. Die peinliche Angelegenheit erübrigte sich jetzt, Gott sei Dank.

»Wann … ich meine, wie weit ist es … ?«, stammelte er vor lauter Aufregung.

»Vierter Monat. Ich wollte es dir lieber nicht früher sagen, weil mein Frauenarzt meinte, in den ersten Wochen sei die Gefahr eines Abgangs noch ziemlich hoch. Du weißt doch, ich leide an Bluthochdruck. Aber es ist alles in Ordnung und wir dürfen uns langsam tatsächlich auf unser erstes Kind freuen«, erzählte sie und legte eine Hand auf ihren Unterbauch.

Rüdiger wusste vor Freude gar nicht, was er sagen sollte. Tränen der Rührung standen in den braunen Augen.

»Möchtest du gerne vorher wissen, was es wird? Der Doktor konnte das Geschlecht des Babys bei der letzten Untersuchung auf dem Ultraschallbild erkennen, auch wenn noch eine kleine Fehlerwahrscheinlichkeit besteht«, schwärmte Elke.

»Ja … nein … oder doch? Ach ja, bitte sage es mir«, bettelte er erwartungsvoll.

Sie eilte ins Haus, kramte in ihrer Tasche und kam mit einem ausgedruckten Ultraschallbild in Schwarzweiß zurück. Die Umrisse des Fötus waren halbwegs zu erkennen, jedenfalls für den geübten Betrachter. Rüdiger sah nur monochrome Schatten.

»Darf ich vorstellen? Deine kleine Tochter!«

An jenem Abend liebte er seine Gefährtin so heiß und innig, dass er vor Glück schier hätte vergehen können. Ab sofort würde alles noch schöner werden, kaum zu fassen.

Rüdiger hatte seine spätere Ehefrau schon im Alter von fünfzehn Jahren kennengelernt, oder vielmehr hatte er ihr an einem dunstigen Winternachmittag des Jahres 1983 das Leben gerettet. Das damals dreizehnjährige Mädchen war beim Schlittschuhlaufen auf dem Köhlerteich urplötzlich ins Eis eingebrochen, wäre ohne seine Hilfe wohl verloren gewesen.

Damals war das stehende Gewässer noch nicht Teil des Bürgerparks Wernigerode. Die ortsansässigen Kinder hatten diesen und die benachbarten Teiche rege für Winteraktivitäten genutzt. An sonnigen Wochenenden pilgerten während der achtziger und neunziger Jahre sogar ganze Familien dorthin, um Spaß zu haben, Eishockey zu spielen und Freunde zu treffen. Erst mit dem Beginn der Erdarbeiten zur geplanten Landesgartenschau wurde dem fröhlichen Treiben ein jähes Ende bereitet.

An jenem Nachmittag war bei den Teichen wenig los gewesen, weil es leicht schneite und die Eisschicht an manchen Stellen noch verhältnismäßig dünn war, ganz besonders in Ufernähe. Auch Rüdiger und Elke waren von ihren jeweiligen Eltern ermahnt worden, Vorsicht walten zu lassen und im Zweifelsfall lieber aufs Schlittschuhlaufen zu verzichten. Sie hatten die Warnungen selbstverständlich ignoriert und wer hätte ihre Aktivitäten auch kontrollieren sollen? Sowohl Elkes als auch Rüdigers Elternteile waren beide voll berufstätig.

Elke wusste gar nicht wie ihr geschah, als die Eisfläche mit einem Knirschen nachgab und sie bis zum Hals im Teich steckte. In eiskaltem Wasser kann man sich nicht sehr lange bewegen. Gerät man erst mit dem Kopf unter Wasser oder gar unter die Eisfläche, dann kommt jede Hilfe meist zu spät.

Rüdiger hatte Elkes verzweifelte Hilferufe von weitem gehört, sich geistesgegenwärtig bäuchlings bis zum Eisloch vorgearbeitet, ihre Jacke am Kragen zu fassen bekommen und sie unter Aufbieten sämtlicher Kräfte herausgezogen. Es grenzte an ein Wunder, dass das richtige Verhalten in einer solchen Situation erst in der vergangenen Woche in Rüdigers Klasse thematisiert worden war. Dennoch, er galt bei Freunden und den Eltern des geretteten Mädchens als Held, und das, obwohl er die Entscheidung zu helfen gar nicht bewusst gefällt hatte.

Außer einer hartnäckigen Erkältung war ihr nichts passiert. Er hatte sie täglich zu Hause im Pappelweg besucht, bis sie wieder ganz gesund gewesen war, und seither galten die beiden als unzertrennlich. Bis heute. Mit Erreichen ihrer Volljährigkeit war Elke Zimmermann sogleich zu Frau Müller geworden.