Verbrannte Erde - Marie Kastner - E-Book

Verbrannte Erde E-Book

Marie Kastner

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Beschreibung

Ein verheerender Waldbrand versetzt die Harzbevölkerung in Angst und Schrecken. Neben dem alten Baumbestand droht auf unbestimmte Zeit der Tourismus in der Region Schaden zu nehmen. Noch unter dem Eindruck dieser vermeintlichen Naturkatastrophe stehend, fährt Kommissar Mader in Urlaub an die Costa Blanca - und findet sich dort mitten in einem Mordfall wieder. Eine Engländerin ist getötet worden, und das ausgerechnet in der Ferienhaussiedlung. Nach seiner Rückkehr geht es rund im Revier, denn auch der Brand in seiner Wahlheimat hat ein Menschenleben gefordert. Im Wald wurde zwischenzeitlich eine verkohlte Leiche gefunden. Schnell stellt sich heraus, dass das Feuer nicht ursächlich für den Tod von Tristan Ahlheim gewesen sein kann. Kommissar Maders Soko ermittelt und stößt auf die unglaublichen Machenschaften eines Konzerns. Gibt es Parallelen zwischen dem spanischen und dem deutschen Mordfall? Es sieht auf den ersten Blick fast danach aus …

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Seitenzahl: 384

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Verbrannte Erde
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Liebe Leserinnen und Leser,
Die Autorin

Verbrannte Erde

Marie Kastner

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-022-4

E-Book-ISBN: 978-3-96752-522-9

Copyright (2019) XOXO Verlag Umschlaggestaltung: Grit Richter

© Ulrich Guse, Art Fine Grafic Design, Orihuela (Costa)

© Fotos/Grafiken: Lizenz von www.dreamstime.com

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Rechtlicher Hinweis:

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diesen Roman sind, abgesehen freilich von real existierenden Ortschaften, frei erfunden.

Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge bei Behörden sowie anderen Institutionen oder Firmen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sowie deren Vereinigungen sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig. Selbstverständlich gilt letzteres nicht für ›Öffentliche Personen‹ aus der Politik.

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Für meinen Sohn Cedric

Kapitel 1

Harzer Inferno

Juli 2018, Elend

Kommissar Bernd Mader und seine frisch angetraute Ehefrau Julia saßen auf der Terrasse vor ihrem Haus. Eigentlich hatten sie nur einen Teil des mit Kopfsteinen gepflasterten Hofbereiches mit Blumenkübeln und einem Stück Palisadenwand abgeteilt, um diese beschauliche kleine Privatoase zu erschaffen, aber das Endergebnis war schier überwältigend ausgefallen. Stilvolle Gartenmöbel aus robustem Teakholz sowie apfelgrüne Stuhlkissen nebst gleichfarbigem Sonnenschirm hatten ein Übriges getan. Die üppige Blütenpracht rosafarbener Geranien umrahmte die schöne Sitzecke, machte sie vollends zur lauschigen Idylle.

Jenes alte, einst halb verfallene Bauernhäuschen am Fuße des Brockens, welches Bernd von seiner Oma geerbt hatte, konnte sich dank aufwändiger Renovierungsarbeiten mittlerweile sehen lassen. Über zwei Jahre hatte es gedauert, diese Phase zu erreichen. Julia war sich für nichts zu fein gewesen, hatte tatkräftig überall mit angepackt und über ihren Job im Baumarkt günstiges Material besorgt, ansonsten wäre all das kaum zu verwirklichen gegangen. Allein schon Steine, Putz, Rohre und Fliesen kosteten ein kleines Vermögen, sofern man beim Einkauf keine Prozente bekam und das ganze Zeug voll bezahlen musste.

Jetzt fehlte im Außenbereich nur noch ein auf antik getrimmter Ziehbrunnen, um das entstandene Ambiente perfekt zu gestalten. Julia bestand hartnäckig darauf, den wollte sie unbedingt haben. Im Baumarkt, wo sie als Filialleiterin arbeitete, hatte es letzte Woche ein entsprechendes Angebot gegeben, das sie sich nicht entgehen lassen wollte. So standen die sperrigen Einzelteile bereits im Schuppen, harrten ihrer Verwendung.

»Denk nicht mal dran«, hatte Bernd lachend gestöhnt, als der sperrige Bausatz zu Julias Freude vorgestern per Lkw angeliefert worden war. »Keine Chance, dass ich vor unseren hart erkämpften Flitterwochen auch nur einen Finger rühre. Das Teil muss warten, bis wir zurück sind. Mit dem Zusammenbau werde ich kein solches Tempo vorlegen wie neulich bei unserer Hochzeit. Der Brunnen kann mir ja schließlich nicht davonlaufen«, merkte er schwarzhumorig an.

Julia nickte schuldbewusst. Sie und ihr Angetrauter hatten erst vor wenigen Wochen eine ernste Beziehungskrise überstanden. Aus Freude hierüber und zum Beweis, dass er sich ihr genauso zugehörig fühlte wie seinen zwei Kindern aus erster Ehe, hatte er ihr nach der reumütigen Versöhnung kurzentschlossen einen Heiratsantrag gemacht. Im Wernigeröder Standesamt war schon wenige Tage später aus Julia Kröger eine Julia Mader geworden. Die Hochzeitsfeier war klein, aber fein ausgefallen.

Bin ich froh, dass wir trotz sämtlicher Schwierigkeiten nochmal die Kurve gekriegt haben, sinnierte Julia. Sie fühlte sich pudelwohl. Kaum zu fassen, in welchem Ausmaß so eine Heiratsurkunde mit Zuversicht und Lebensfreude beglücken konnte.

Selbst das Wetter spielte momentan mit, bescherte den frischgebackenen Eheleuten an diesem Freitagmorgen ein waschechtes Urlaubsfeeling.

Üblicherweise herrschten in den Harzer Tallagen selbst während der drei Sommermonate lediglich Temperaturen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Grad. Heuer schien die Klimaerwärmung aber auch hier, in einer der kühleren Ecken Deutschlands, angekommen zu sein. Eine moderate Hitzewelle mit reduzierten Regenfällen, so hätte man dieses Phänomen wohl am ehesten bezeichnen können. Schon das Frühjahr 2018 war ungewöhnlich warm und viel zu trocken ausgefallen. Deutschlands Bauern jammerten, sie sorgten sich zunehmend um ihre Ernteerträge.

Julia hielt genüsslich das Gesicht in die Sonne, ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Auf dem freien Stuhl zu ihrer Linken räkelte sich Kater Felix, versuchte, die bequemste Liegeposition unter den wärmenden Strahlen zu finden. Einen gemütlichen Schlafplatz und leckeres Futter – mehr brauchte es nicht, um einen Stubentiger rundum glücklich zu machen.

»Herrlich, oder? So azurblau ist der Himmel selten. Geradezu mediterran, möchte ich mal behaupten. Ich bin schon richtig in Urlaubsstimmung. Wie gut, dass wir uns heute frei genommen haben, damit wir in Ruhe packen können. Ich würde vorschlagen, wir verschieben die restlichen Reisevorbereitungen auf die Abendstunden. Es bleibt dann immer noch Zeit genug, Badehose, Sonnencreme und Bikinis in den Koffer zu schmeißen. Notfalls könnten wir das auch morgen noch erledigen, der Flug geht ja erst abends. Ich möchte momentan einfach nur stinkfaul hier sitzenbleiben und die pure Vorfreude genießen.«

»Klar, das machen wir so. Diese Auszeit haben wir beide redlich verdient. Die vergangenen Monate haben uns einiges abverlangt. Glaubst du, der Kaffee könnte inzwischen durchgelaufen sein?«, gähnte Bernd und streckte lässig alle Viere von sich. Der gestresste Kommissar war es nicht gewohnt, auszuschlafen, und so fühlte er sich noch ein bisschen benommen. Immerhin war schon elf Uhr vorbei.

Julias Schmunzeln wurde noch eine Spur breiter. Ihr Liebster war ein Meister der Suggestion. Der fragte nicht einfach, ob sie jetzt bitte den Kaffee aus der Küche holen könnte, geschweige denn, dass er selber den Hintern hochgehoben hätte. Innerlich amüsiert kopfschüttelnd, raffte sie sich auf und schlenderte ins Haus. Genau wie Bernd legte sie wenig Wert auf ein Frühstück, schon weil sie normalerweise kaum Zeit dafür fanden, aber eine gute Tasse Kaffee war quasi lebensnotwendig.

Wenige Minuten später trat Julia mit einem Tablett aus der Haustür, hielt kurz inne, schnupperte irritiert.

»Sag mal, riechst du das auch? Es stinkt penetrant nach verbranntem Holz, ungefähr so wie bei einem Lagerfeuer. Drinnen habe ich schon nachgesehen, im Haus ist alles in Ordnung.«

»Du und deine Feuerphobie! Du kriegst doch schon bei jeder brennenden Kerze eine mittelschwere Panik, würdest dich am liebsten mit einem Feuerlöscher danebenstellen. Jetzt entspanne dich und lass lieber den Kaffee rüberwachsen, bevor er kalt ist. Da wird halt einer unserer Nachbarn Gartenabfälle verbrennen oder bei diesem tollen Wetter den Grill angeschürt haben, sowas kommt auf dem Land durchaus öfters vor«, zog er sie auf.

Aber seine Frau hielt immer noch die Nase in die Luft, schielte zum Dach des Schuppens und blieb wie angewurzelt stehen.

»Das weiß ich doch selber, Mensch! Aber dies hier riecht irgendwie … intensiver, ungewöhnlich stark, eher wie ein riesiges Sonnwendfeuer. Aber dafür wäre heute der falsche Tag.«

Mader erhob sich nun doch von seinem Gartenstuhl.

»Jetzt entspann dich bitte endlich mal, der unangenehme Gestank wird bestimmt gleich vollständig verflogen sein. Hauptsache, bei uns fackelt nichts ab. Du bist wirklich übernervös, vermutest hinter jeglichem Brandgeruch gleich eine Feuersbrunst.«

Julia ließ sich von ihm das Tablett aus den Händen nehmen, sah sich aber immer noch prüfend nach eventuell aufsteigenden Rauchwölkchen um.

»Du hast gut reden! Bei uns daheim hat der Weihnachtsbaum in Flammen gestanden, als ich gerade fünf Jahre alt war. Meine Eltern und ich mussten aus dem Haus rennen, ich hatte Todesangst. Die schrecklichen Bilder verfolgen mich manchmal heute noch im Traum, obwohl ich damals so klein gewesen bin. Die gesamte Wohnung meiner Familie wurde durch das Feuer zerstört, auch all meine Spielsachen. Das Erlebnis muss ein Trauma verursacht haben, was meine ohnehin ziemlich gestörte Beziehung zu diesem gefährlichen Element wohl uferlos verstärkte«, grummelte Julia betreten.

»Oh, entschuldige bitte, davon hattest du mir noch gar nichts erzählt. Dann ist mir klar, wieso du panisch auf Feuer reagierst. Wir trinken jetzt in Ruhe unser Käffchen. Und wenn sich der Brandgeruch bis dahin immer noch nicht verzogen haben sollte, sehe ich gründlich in der gesamten Umgebung des Hauses nach. Einverstanden?«, schlug Bernd versöhnlich vor.

»Okay, ist in Ordnung«, nickte sie. Aber mit der unbeschwerten Heiterkeit dieses Spätvormittags war es erst einmal vorbei.

Bernd versuchte nach Kräften, sie abzulenken, sprach von der geplanten Urlaubsreise an die Costa Blanca und davon, wie sich in den vergangenen Wochen doch Vieles zum Besseren gewendet habe, und zwar privat wie beruflich. Aber Julia blieb angespannt, fast schon wie jemand, der voller Angst auf das Eintreffen eines unabwendbaren Schicksalsschlages wartet.

»Luca findet es übrigens sehr schade, dass wir dieses Wochenende keine Zeit haben und er nicht herkommen kann. Seit seine zickige Schwester nicht mehr mit von der Partie ist und du mit ihm stundenlang diese Adventure-Games zockst, stehen wir bei ihm anscheinend hoch im Kurs.«

»Klar, jetzt ist er der Platzhirsch und hat Papa für sich alleine. Mich nimmt er dabei halt billigend in Kauf. Aber du hast schon Recht, er ist auch mir gegenüber aufgetaut. Mit dieser Kategorie von Spielen kann ich ihn wenigstens eine Weile von seinen blutrünstigen Ego-Shootern abhalten.

Was ist eigentlich mit deiner pubertierenden Tochter, bockt sie etwa immer noch? Es ist schon ein Weilchen her, dass wir sie zuletzt gesehen haben. Die hat scheinbar ihre eigenen Lügengeschichten noch nicht verdaut.«

Bernd winkte seufzend ab. Sie sprach da einen wunden Punkt an, den er momentan zu verdrängen suchte.

»Vroni rebelliert momentan gegen Gott und die Welt, interessiert sich nur noch für Jungs, Schminke und Klamotten. Ich bin nicht der Einzige, der dafür durchs Raster fällt. Mit ihrer Mutter kommt sie neuerdings auch schlechter klar.«

»Na, wenn das so ist … lassen wir einfach noch ein wenig Zeit vergehen, die kommt von selber wieder auf dich zu. Spätestens dann, wenn sie etwas will oder braucht«, prophezeite Julia.

»Du sagst es, insofern bin ich inzwischen viel entspannter als früher. Wer nicht will, der hat schon. Soll Sabine sich einstweilen alleine mit ihr herumärgern.«

»Genau, so sehe ich das auch. Übrigens, ich finde es total nett von deiner Kollegin, dass sie während unseres Urlaubs den Kater betreut. Ist bestimmt aufwändig für sie, jeden Tag nach der Arbeit extra hier herüber zu fahren.«

»Allerdings, und ich musste Marit nicht mal darum bitten. Sie hat sich von selbst angeboten. Dabei mag sie angeblich Hunde lieber, aber unseren stinkfaulen Bettvorleger kann sie anscheinend trotzdem ganz gut leiden«, grinste ihr Gatte.

»Das ist überhaupt kein Wunder. Hätte Felix damals am Küchenfenster kein derart auffälliges Theater veranstaltet, wäre sie dich vermutlich nicht rechtzeitig suchen gegangen und du wärst dem Brockopath zum Opfer gefallen. Dann müsste sie jetzt mit einem anderen Chef leben und der wäre bestimmt nicht ganz so nett und zuvorkommend wie du«, schlussfolgerte Julia augenzwinkernd.

Sie wusste, wie vernarrt die junge Beamtin in ihren Mann war, auch wenn er das selbst nicht wahrhaben wollte. Sie hatte es auf dem Polterabend zur Kenntnis nehmen müssen, war glatt ein bisschen eifersüchtig geworden. Aber nun gut, geheiratet hatte er schließlich sie und nicht Marit. Wenn er bis dato deren Reizen nicht erlegen war, würde sie sein Herz trotz der engen Zusammenarbeit auch künftig nicht erobern. Hoffentlich unterlag sie da keinem Irrtum. Aber Bernd konnte ein rechter Ignorant sein, was zwischenmenschliche Signale anging, und in diesem speziellen Fall war das gut so.

Julia schüttelte den Anflug von Eifersucht ab und reckte wieder ihre Charakternase in die Luft.

»Du … es tut mir leid, das anmerken zu müssen, aber es riecht immer noch verbrannt, sogar stärker als vorher. Was immer da brennen mag, der Wind treibt den Rauch in unsere Richtung.«

Er schlüpfte knurrend in seine ausgetretenen Birkenstocks, die unter dem Gartentisch herumlagen, ließ das letzte Schlückchen Kaffee durch die Kehle rinnen und erhob sich.

Auf einmal wirkte auch er besorgt, runzelte die Stirn.

»Das stimmt, die Luft wird rauchig. Sieh mal! Man erkennt die Laubbäume auf der anderen Straßenseite jetzt nur noch als verschwommene Umrisse, ähnlich wie durch eine Nebelbank. Allmählich mache ich mir auch Gedanken, normal ist das jedenfalls nicht. Ich gehe besser kurz nachsehen, denn vorher gibst du ja sowieso keine Ruhe. Ich bin gleich wieder da, versprochen.«

Kaum war ihr Mann um die Ecke verschwunden, rannte Julia ins Haus, holte ihre Handtasche und den Ordner mit den wichtigsten Papieren, nur für alle Fälle. Sie hegte ein seltsames Gefühl, ein Anflug von Panik suchte sie heim. Im Ernstfall müsste man schnellstens von hier verschwinden können.

Schon trübte sich das Sonnenlicht und der soeben noch blaue Himmel wirkte dunstig-grau, wie mit einem Schleier verhangen. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie in einem riesigen Waldgebiet wohnten. Brennbares Material gab es zweifellos in Hülle und Fülle.

Schweiß stand auf ihrer Stirn. Die Fragen im Kopf überschlugen sich. Diese brachiale Hitze … war sie nur klimatisch bedingt, oder gab es weitere Ursachen? Und falls der Wald tatsächlich brannte, wie weit mochte dann das Feuer momentan noch entfernt sein?

Könnte Bernd womöglich in Gefahr geraten?

Dieser Gedankengang jagte eine Portion Adrenalin durch ihre Adern, was sie gleich noch mehr schwitzen ließ. Irgendwo bellte ein Hund, er wollte gar nicht mehr aufhören.

Denk bloß nicht an sowas, Julia. Das führt zu nichts Vernünftigem, du machst dich nur selber verrückt. Vielleicht gibt es doch eine harmlose Erklärung für den Brandgeruch. Bernd ist ein erfahrener Kripobeamter, kann sehr gut auf sich selbst aufpassen, redete sie sich ein.

Angstvoll wartete sie auf seine Rückkehr, zählte die Minuten. Wie lange konnte man höchstens brauchen, um die nähere Umgebung des Weilers zu erkunden? Ihr kam die Wartezeit schon jetzt wie eine halbe Ewigkeit vor. Vielleicht hätte sie lieber mitgehen sollen, anstatt wie ein Angsthase hier auszuharren.

Den Kater hielt sie vorsichtshalber auf ihrem Schoß mit intensivem Streicheln fest, aber auch Felix wurde zunehmend unruhig, schnupperte ständig intensiv. Das brachte sie umgehend zur nächsten ungeklärten Frage.

Was, wenn seine angeborenen Katzeninstinkte ihn vor einem herannahenden Unglück warnten und er panisch davonrennen würde, wie sollte sie ihn wiederfinden und retten? Tiere besitzen bekanntlich viel feinere Antennen als Menschen, dieser Tatsache war sie sich in jenem sorgenvollen Augenblick vollauf bewusst. Wenn ihr Felix sich fürchtete, hatte auch sie allen Grund dazu.

Kurze Zeit später war Julia vollends überzeugt, dass sie augenblicklich aus Elend verschwinden mussten. Aus der Ferne trug der jetzt auffrischende Wind das Sirenengeheul mehrerer Einsatzfahrzeuge herüber. Sie schob kurzerhand Kater Felix auf die Rückbank ihres Škodas, warf den Ordner nebst Handtasche in den Kofferraum und eilte fliegenden Fußes ins Wohnhaus, um wenigstens ein paar Klamotten für sich und Bernd zusammenzuraffen.

Ein Glück, dass sie solch ein organisierter Mensch war. Schon vor Tagen hatte sie im Kleiderschrank mehrere Häufchen mit Kleidung und Kosmetikartikeln angelegt, die sie mit in den Urlaub nehmen wollten. All das Zeug stopfte sie nun ohne Rücksicht auf Verluste in zwei nagelneue Schalenkoffer, die sie eigens für ihre erste gemeinsame Reise angeschafft hatten. Vor lauter Aufregung wollte es ihr kaum gelingen, die Reißverschlüsse zu schließen.

Gerade, als sie die Gepäckstücke mit Schwung in den Kofferraum beförderte, keuchte plötzlich jemand neben ihr. Bernd. Sie hatte ihn nicht kommen sehen, so blickdicht waren inzwischen die gelblich-grauen Rauchschwaden über der Straße.

»Wie gut, dass du gepackt hast! Wir müssen hier weg, oben im Elendstal brennt der Wald lichterloh. Ich glaube sogar, die Brockenstieg-Apartments hat es schon erwischt. Die Feuerwehr ist auf dem Weg. So wie es aussieht, wird das Gebiet unterhalb des Brandes weiträumig evakuiert«, quetschte er hustend hervor.

Der sonst so abgeklärte Kriminalkommissar war völlig außer sich, geradezu hysterisch. Im Auto gebärdete sich Felix mittlerweile wie ein Verrückter, maunzte und kratzte am Seitenfenster.

Julia war vor Angst wie paralysiert. Auch sie plagte jetzt Hustenreiz, die Augen tränten. Unscharf sah sie, wie Bernd fahrig nach dem Gartenschlauch griff, Hausund Schuppendach kurz nass spritzte, die Haustür abschloss und zum Auto eilte.

»Los, hinten einsteigen! Worauf wartest du noch? Wir müssen hier auf der Stelle weg! Und versuch, den durchgedrehten Kater zu beruhigen. Der springt mir sonst womöglich beim Fahren ins Genick«, brüllte er und riss die Wagentür auf.

Während Bernd mit quietschenden Reifen vom Hof fuhr und die Ortsverbindungsstraße 27 in Richtung Elbingerode entlangraste, warf Julia einen wehmütigen Blick aus dem Heckfenster. Es schien ihr gut möglich zu sein, dass sie jenes mit viel Hingabe renovierte Schmuckstück, welches in den letzten Monaten zu ihrem Zuhause geworden war, jetzt zum letzten Mal in diesem Zustand sah. Schon quollen Rauchwolken hinter dem Anwesen hervor, waberten über den Hof und hüllten den Sonnenschirm in Dunkelheit. Funken stoben die Landstraße entlang, der böige Wind trieb sie vor sich her.

Sie brach in Verzweiflungstränen aus.

Das Anwesen der Maders lag ein wenig außerhalb. Der Škoda passierte zuerst das Hotel Waldmühle, raste durch den Kreisel in der Ortschaft, am Forstamt vorbei und erreichte schließlich das Hochwasser-Schutzbecken ›Kalte Bode‹ auf der gegenüberliegenden Seite von Elend.

Der Anblick von Wasser hatte etwas Beruhigendes. Hier wurde der Qualm merklich dünner, dafür nahm der Verkehr stetig zu. Die Evakuierung war inzwischen in vollem Gange. Überall luden Leute hektisch ihre Autos voll, um wohlbehalten das Weite zu suchen. Die Blechkolonne kannte nur eine Richtung, weg von den Bäumen, und das auf kürzestem Wege.

Bei jedem Stückchen Wald, das sie durchqueren mussten, war Julia mulmig zumute. Wer konnte schon genau wissen, welchen Weg die Feuersbrunst nahm. Sie erinnerte sich an Dokus über Waldbrände in Kalifornien, wo die Bewohner auf ihrer Flucht urplötzlich vom Feuer eingeschlossen worden, qualvoll in ihren Fahrzeugen verbrannt waren. Nichts dünkte ihr unheimlicher, als wenn Bäume bei einem Waldbrand links und rechts bis an die Straße heranreichten, einem die hochlodernden Flammen im schlimmsten Fall den Fluchtweg abschneiden konnten.

Sie trafen kurz darauf in Königshütte ein und erst da atmete Julia ein wenig auf. Von diesem Ort ab führte die 27 nicht mehr durch dicht bewaldetes Gebiet, sondern passierte ausgedehnte Wiesenund Ackerflächen, schlängelte sich schließlich am Kalksteintagebau Hornberg vorbei.

In Braunlage hielt Bernd erst einmal an, öffnete die Autotür und atmete Sauerstoff in seine Lungen. Anschließend stellte er die Lüftung des Wagens sofort wieder von Umluft auf Frischluftzufuhr um. Er war vorhin trotz der Eile noch geistesgegenwärtig genug gewesen, die beißenden Rauchschwaden aus dem Fahrzeuginneren fernzuhalten.

Sie hatten es geschafft, waren dem Feuer entkommen. Löschzüge rasten mit zuckendem Blaulicht und ohrenbetäubend jaulenden Martinshörnern an den Maders vorbei, einige Krankenund Polizeiwagen folgten. Ein Hubschrauber kreiste am Himmel. Wahrscheinlich wurden neben den Feuerwehren aus dem Altkreis Wernigerode gerade Löschtrupps aus der weiteren Umgebung zur Brandbekämpfung zusammengezogen, nämlich die Einheiten aus Quedlinburg, Thale, Ballenstedt und Harzgerode, wie er aus den behördlichen Katastrophenschutzplänen wusste.

Vielleicht beteiligten sich auch Löschzüge aus Niedersachsen, das Einsatzgebiet lag ja direkt an der Grenze zu diesem Bundesland. Flammen machen nun mal vor Landesgrenzen nicht Halt. Das Technische Hilfswerk musste mit Gerät und Einsatzkräften mittlerweile ebenfalls schon vor Ort sein, um die Feuerwehren tatkräftig zu unterstützen.

Was mochte nur dieses Mal das Feuer ausgelöst haben? Häufig waren Glasscherben im Wald oder achtlos von Spaziergängern weggeworfene Zigaretten schuld, oder vielmehr die Idioten, die sowas leichtfertig entsorgten. Waldbrände waren hier im Harz leider keine Seltenheit, kleinere flammten nahezu jährlich auf. Doch nie zuvor war einer Bernds Wohnhaus derart nahegekommen, seit er aus Dresden hierher umgezogen war.

Hoffentlich fordert der Waldbrand keine Toten und Schwerverletzten. In unserer entfernteren Nachbarschaft gibt es ältere Leute, die gar kein Auto besitzen, ging dem Kommissar durch den Kopf. Jetzt im Nachhinein bedauerte er, nicht nach ihnen gesehen zu haben. Bis zu drei Personen hätten sie auf der Rückbank mitnehmen können. Vielleicht hätten sie nicht ganz so kopflos abhauen sollen, aber Julia hatte ihn mit ihrer jähen Panik offenbar angesteckt.

Im Grunde verstand er sie. Sah man die Flammen erst lodern, war es meistens schon zu spät zum Verschwinden.

»Und was machen wir jetzt, wo sollen wir einstweilen hin?«, riss ihn seine kreidebleiche Ehefrau aus den Überlegungen. Sie trug den verstörten Kater immer noch auf dem Arm. Die, im wahrsten Sinne des Wortes, brenzlige Situation erschien ihr hier, einige Kilometer entfernt und unter dem strahlenden Himmelszelt eines wolkenlosen Sommertages, total grotesk.

»Wir fahren als Erstes hinüber nach Wernigerode, zum Revier. Dort könnten wir herausfinden, wie schlimm das Ganze überhaupt ist. Dann sehen wir hoffentlich klarer, wann wir in unser Häuschen zurückkehren können – beziehungsweise, ob es heute Abend überhaupt noch steht«, entschied der Kommissar niedergeschlagen. Er wollte keinesfalls davon ausgehen, dass das Anwesen bereits in diesem Moment bis auf die Grundmauern niedergebrannt sein könnte, dies sogar recht wahrscheinlich war.

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

An Bordkarten, Reisepässe und sonnige Urlaubsfreuden wagte erst recht keiner der beiden Unglücksraben zu denken. Auch die heiß ersehnte Reise würde dem Harzer Inferno zum Opfer fallen, daran gab es nach Lage der Dinge wenig zu zweifeln.

*

Die Gänge des Wernigeröder Revierkommissariats wirkten wie leergefegt. Wo sich üblicherweise jede Menge Kollegen tummelten, herrschte heute gähnende Leere. Jeder halbwegs abkömmliche Polizist wurde zur Unterstützung der Feuerwehr gebraucht. Die Beamten mussten Straßen absperren, Evakuierungen unterstützen und starrsinnige Anwohner mit Nachdruck dazu bewegen, bedrohte Häuser rechtzeitig zu verlassen.

Die meisten Dienstzimmer lagen verwaist in der hereinblinzelnden Mittagssonne. Manch ein angebissenes Brötchen kompostierte auf den Schreibtischen langsam vor sich hin. Der Einsatzbefehl musste Maders Kollegen auf dem kalten Fuß erwischt haben. Im flotten Stechschritt marschierte er zu Marit Schmidbauers Büro, Julia konnte ihm kaum folgen.

Was für ein Glück, sie war anwesend, telefonierte gerade. Mit einer Handbewegung lud sie die Maders ein, sich zu setzen.

» … was, inzwischen schon bis zum Scherstorweg? Das darf doch alles nicht wahr sein! Ich verstehe ja, dass Sie noch Leute brauchen, aber unsere Kapazitäten sind erschöpft! Tut mir leid, aber da müssen Sie leider andere Reviere bemühen, wir können keinen einzigen Polizisten und kein Fahrzeug mehr entbehren«, sagte Marit bedauernd. Sie legte stöhnend auf.

»So weit hat sich der Brand innerhalb dieser kurzen Zeit ausgebreitet? Dann existiert unser Häuschen bestimmt nicht mehr«, jammerte Julia. Sie hielt sich beide Hände vors Gesicht.

Marit sah sie mitleidig an, zuckte mit den Schultern.

»Kann ich wirklich schlecht sagen, die Ereignisse überschlagen sich. Der Ortskern von Elend steht jedenfalls noch, das hat mir ein Kollege erst vor ein paar Minuten durchgegeben. Das Feuer breitet sich momentan eher nach Nordost aus, weil der stürmische Wind in diese Richtung gedreht hat.«

Sie sah Bernd lange und tief in die Augen. Viel zu lange und viel zu tief für Julias Geschmack.

»Wenigstens seid ihr heil davongekommen. Ich hatte mir bereits Sorgen gemacht, weil ich dich weder am Handy noch über Festnetz erreichen konnte.«

»Kein Wunder. Wir saßen entspannt auf der Terrasse, als es losging. Mein Smartphone ist mittlerweile vermutlich zu einem Plastikklumpen zerschmolzen, es lag daheim auf dem Schreibtisch«, entgegnete Mader voller Sarkasmus.

»Wie dem auch sei … zurück nach Hause dürft ihr fürs Erste sowieso nicht. Ich hätte eine bequeme Klappcouch anzubieten, wo ihr übernachten könntet. Mein Apartment ist klein, aber für ein paar Tage müsste es erträglich sein. Wobei … geht euer Flug nicht morgen Abend?«

Bernd musste kurz und trocken lachen. Diese Marit! Als ob ihm jetzt noch nach Urlaub zumute gewesen wäre.

»Sehr witzig. Die Bordkarten sind genau wie unsere Reisepässe abgefackelt. Außerdem, wofür hältst du mich? Die Urlaubslaune ist mir gründlich vergangen. Nie im Leben würde ich euch in einer solchen Situation hier im Stich lassen. Allerdings ... Felix kann nicht auf Dauer im Revier bleiben. Ich frage sehr ungern, aber könnten wir diesen pelzigen Kerl einstweilen bei dir in der Wohnung unterbringen? Er wird jetzt allmählich unruhig. Für gewöhnlich kratzt er nicht an Möbeln, keine Sorge.«

Sie schob der unglücklich dreinblickenden Julia einen Schlüsselbund über den Schreibtisch.

»Klar! An meiner alten Einrichtung kann man ohnehin nicht mehr viel ruinieren, ich bin schon zweimal damit umgezogen. Ich würde sagen, du besorgst eine Transportbox und die Zutaten für ein provisorisches Katzenklo und quartierst den Stubentiger schon mal bei mir ein, die Adresse ist Sägemühlengasse 12. Du findest sie in der Nähe des Westerntorturms, falls du den kennst. Und wir beide versuchen derweil bei unseren Kollegen vor Ort neueste Infos über Elend zu kriegen, okay?«

Julia zögerte für einen Moment. Eigentlich war es ihr gar nicht recht, die beiden alleine zu lassen. Täuschte sie sich, oder wollte Marit sie loswerden? Abgesehen hiervon, musste Felix wirklich irgendwo untergebracht werden, obgleich er momentan friedlich auf ihrem Schoß döste. Eine Katzentoilette tat früher oder später ebenfalls not. Sie würde das Angebot also annehmen müssen, obwohl es ihr nicht recht schmecken wollte.

Katzenklo macht Katze froh, wie Helge Schneider zutreffend gesungen hat. Na schön, vielleicht lenkt mich das Einkaufen ein bisschen ab. Ich werde sonst echt noch wahnsinnig. Kaum glaubt man, dass endlich alles in Butter ist und freut sich auf eine kleine Auszeit mit seinem Liebsten, passiert sowas Fatales. Den Verlust an Lebensqualität kann uns keine Versicherungssumme dieser Welt ausgleichen, haderte Julia.

»Vielen Dank für das nette Angebot. Aber die Sache mit dem Urlaub sollten wir uns nochmals überlegen, Bernd. Unsere Koffer mit den notwendigsten Utensilien liegen im Auto. Außerdem sind die wichtigsten Papiere im Kofferraum, inklusive Brandversicherungspolice. Also … falls unser Häuschen erwartungsgemäß abgebrannt sein sollte, hätten wir wenigstens für die nächsten Wochen ein Dach über dem Kopf und könnten den lästigen Versicherungskram in Ruhe von Spanien aus regeln. Schließlich fallen innerhalb der EU keine Roaming-Gebühren mehr an.«

Bernd wirkte ob so viel Pragmatismus ehrlich verblüfft.

»Du hast das Zeugs trotz heller Panik tatsächlich noch mitgenommen? Respekt … dann besitzen wir wenigstens Klamotten zum Wechseln. Aber nach einem Spanienflug ist mir trotzdem nicht ansatzweise zumute, wie du dir vielleicht denken kannst. Jetzt bring du erstmal unseren Kater unter. Wir müssen in dieser beschissenen Situation von einer Minute zur anderen entscheiden, können momentan absolut keine Urlaubspläne schmieden«, entschied der Kommissar kopfschüttelnd. Er widmete sich wieder seiner Kollegin, welche konzentriert den Polizeifunk mithörte. Die beiden steckten die Köpfe zusammen.

Julia fühlte sich überflüssig. Sie trollte sich, nahm sich jedoch vor, dass in der Spanien-Angelegenheit das allerletzte Wort noch nicht gesprochen war. Sie hatte da ja wohl ebenfalls mitzureden.

Vierzig Minuten später war Bernds frischgebackene Ehefrau mit ihren Einkäufen zurück. Sie verfütterte Leckerlis an Felix und befüllte das Katzenklo mit Streu, dann eilte sie zu den Anderen an den Schreibtisch. Sie hatte sich nicht dazu entschließen können, gleich zu Marits Wohnung zu fahren.

»Gibt’s was Neues?«

Bernd kratzte sich stirnrunzelnd am Hinterkopf.

»Ja … und nein. Schau, die Crew des Aufklärungshubschraubers hat vor fünf Minuten das Brandgebiet auf dieser Karte rot eingezeichnet. Danach liegt unser Haus haargenau auf der roten Linie, es könnte theoretisch also mit abgebrannt sein. Genaueres konnten wir leider nicht herausfinden, weil diese Straße mit als erstes evakuiert wurde und seither niemand mehr vor Ort gewesen ist. Außerdem ist das Feuer bislang nicht unter Kontrolle, wird sich voraussichtlich noch ausbreiten. Glücklicherweise sind für heute Nacht Gewitter mit starken Regengüssen vorhergesagt und die könnten bei der Brandbekämpfung helfen. Hoffen wir also das Beste.«

»Immer optimistisch bleiben, ja? Ihr beide fahrt jetzt bitte zur Wohnung, während ich hier weiter die Stellung halte. Ruht euch aus, bedient euch nach Belieben am Kühlschrank. Sobald ich was Neues erfahre, rufe ich euch auf meiner eigenen FestnetzNummer an. Ihr könnt also ruhig ans Telefon gehen.

Und Bernd, du darfst mich gerne heute Nacht hier ablösen. Remmler hatte eh schon angeregt, dich aus dem Urlaub zurückzupfeifen«, meinte Marit gähnend.

»Als ob ihr nicht gewusst hättet, dass ich mit neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit ohnehin im Revier aufkreuzen werde«, brummte der Kommissar augenrollend.

»Genau das habe ich dem Alten prophezeit. Sogar mit denselben Worten«, grinste die junge Polizistin verschmitzt.

Julia spürte einen weiteren schmerzhaften Stich der Eifersucht in ihrer Herzgegend. Die harmonische Übereinstimmung in der geistigen Wellenlänge dieser beiden fand sie schlicht und einfach zum Kotzen.

In Marits Wohnung angekommen, nahm der Kater sogleich sein neues Revier in Augenschein. Julia klappte die Couch aus, verstaute die Koffer im Flur und brachte Waschzeug ins winzige Badezimmer.

Bernd saß derweil auf einem Stuhl und stierte mit leerem Blick vor sich hin. Nach wenigen Minuten erhob er sich abrupt.

»Ich weiß nicht, wie es dir damit geht, aber ich kann jetzt keinesfalls tatenlos rumsitzen und entspannen. Mach’s dir bequem mit Felix, ich fahre jedenfalls zurück ins Revierkommissariat.«

Julia seufzte resigniert.

»Dann iss wenigstens was, bevor du gehst.« Er drückte ihr einen eiligen Kuss auf.

»Ich nehme mir an der Döner-Bude was mit, ich werde schon nicht verhungern.«

Und schon war er aus der Tür. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass sie heute Nacht alleine hier übernachten durfte.

Die innere Unruhe ließ sie nicht stillsitzen. Schließlich griff sie nach der Fernbedienung und schaltete auf Marits Fernseher den gewohnten Nachrichtensender ein.

Rote Breaking News Schlagzeilen zogen sich am unteren Bildrand entlang. Es lief gerade ein News Spezial zum Harz-Inferno, wie sich die Brandkatastrophe inzwischen wohl offiziell nannte. Atemlos starrte Julia auf den Bildschirm, sah, wie sich grell lodernde Flammenwalzen über das bergige Gelände schoben, wie Feuerwehrleute bis zur totalen Erschöpfung dagegen ankämpften, hektisch Feuerschneisen schlugen und Glutnester bekämpften. Starker Wind ließ die Flammen rasant von Baum zu Baum überspringen. Der Brand schien außer Kontrolle zu sein.

An den ortsnahen Waldrändern schickten sich etliche Bauern an, mit wassergefüllten Güllewagen bei den Löschbemühungen zu helfen, um wenigstens ihre Kornfelder und Höfe zu retten. Die teils verwackelten Live-Videos stammten offensichtlich von Handykameras, sie wurden in Endlosschleifen gezeigt und fortlaufend neu kommentiert.

Nach einer Viertelstunde hilflosen Gaffens drückte Julia den Ausschalter des Fernsehers. Sie konnte einfach nicht mehr.

*

Juli 2018, Wernigerode

Stundenlang hatte Julia kein Auge zugetan, obwohl sie fix und fertig gewesen war. Eine nervenzerreißende Mischung aus Eifersucht, Sorge um das Wohnhaus und Ärger wegen des versauten Urlaubs zeichnete hierfür verantwortlich. Irgendwann war orkanartiger Wind aufgekommen und sie hatte in ihrem unruhigen Halbschlaf befürchtet, dass er die Feuersbrunst noch weiter anfachen und womöglich in Richtung von Wernigerode treiben könnte. Es blitzte und grollte zwar unablässig am Horizont, aber es schien sich nur um ein Wolkengewitter zu handeln. Regenfälle blieben vorläufig aus. Die Luft war mitten in der Nacht noch unerträglich schwülwarm.

Bei Marit Schmidbauers Ein-Zimmer-Apartment handelte es sich um eine Dachwohnung. Dementsprechend fielen die Temperaturen aus. Das Wandthermometer neben dem Küchentisch zeigte schweißtreibende neunundzwanzig Grad an. Durchlüften war leider unmöglich, die Dachgauben gingen allesamt zur selben Seite hinaus und die Fenster ließen sich nicht kippen.

Julia verdampfte, jedenfalls gefühlt, unter dem Baumwollbettlaken, das sie wie eine hauchdünne Decke benutzte. Dass Kater Felix schnurrend auf ihrem Unterleib lag, machte die Sache kein bisschen besser.

So gegen sieben Uhr erwachte die Polizistengattin desorientiert, stellte verblüfft fest, dass sie irgendwann offenbar doch eingeschlafen sein musste. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Felix saß auf der Fensterbank einer Dachgaube und versuchte eifrig, die außen an der Scheibe herunterlaufenden Tropfen mit seinen Vorderpfoten einzufangen.

An regnerischen Tagen war dies auch zu Hause seine erklärte Lieblingsbeschäftigung, schon weil der pelzige Geselle äußerst wasserscheu war und nicht einmal unter Gewaltanwendung zu bewegen gewesen wäre, nach draußen zu gehen.

Endlich ließ das müde, von der Hitze weichgekochte Gehirn etwas immens Wichtiges in Julias Bewusstsein durchsickern.

Regen! Ich muss im Revier anrufen und fragen, ob der Brand gelöscht ist! Sie kramte in der Handtasche, stellte jedoch schnell fest, dass sie ihr Mobiltelefon vergessen hatte, vermutlich im Wagen. Im selben Moment sperrte jemand die Wohnungstür auf. Sie fuhr sich hektisch mit einer Hand durch die verschwitzten Haare und steuerte den Flur an. Erst im Vorübergehen gewahrte sie, dass Marit einen riesigen Standventilator besaß. Das Gerät hatte die ganze Zeit über in einer Ecke gestanden und auf seinen Einsatz gewartet. Sie musste es in ihrem Frust übersehen haben. Bernd betrat die Wohnung, er wirkte geradezu euphorisch.

»Ich bringe gute Nachrichten, auch wenn es für Entwarnung noch viel zu früh wäre. Der Waldbrand ist mancherorts eingedämmt. An etlichen Stellen brennt es allerdings weiter. Die Feuerwehr meint aber, dass die ausgiebigen Regenfälle ein Wiederaufflammen der bereits gelöschten Stellen verhindern, weil Wasser die Hitze im Boden eindämmt und unterirdische Glutnester eliminiert. So weit, so gut.

Trotzdem der Hammer, was für eine ausgedehnte Fläche den Flammen zum Opfer gefallen ist, und dies innerhalb einer derart kurzen Zeitspanne! Man geht in Feuerwehrkreisen nach vorläufigen Erkenntnissen davon aus, dass es sich höchstwahrscheinlich um Brandstiftung gehandelt hat. Dieses Phänomen ist nämlich nur zu erklären, wenn an mehreren Stellen gleichzeitig, oder zumindest kurz hintereinander, Feuer gelegt wurde. Ein sachkundiger Brandermittler ist schon vor Ort.«

»Unfassbar, dass in unserer ruhigen Ecke ein Feuerteufel umgehen soll. Und unser Haus?«

»Das steht noch, wir haben unglaubliches Schwein gehabt! Ein Feuerwehrmann, der im Gebiet rund um Elend zur Brandwache abkommandiert ist, hat auf Marits Drängen extra nachgesehen. Er gab vorhin durch, dass der Wind gestern gerade noch rechtzeitig auf Nordwest gedreht haben muss. Die Flammenwand ist zirka bis auf hundertfünfzig, zweihundert Meter ans Wohnhaus herangerückt, inzwischen in diesem Bereich jedoch vollständig gelöscht.

Schon möglich, dass die brachiale Hitzeeinwirkung auf unserem Grundstück dennoch so einiges in Mitleidenschaft gezogen hat, aber wir müssen künftig wenigstens auf keiner Brandruine leben«, grinste Bernd schwarzhumorig.

»Hurra! Das hatte ich kaum mehr zu hoffen gewagt.«

Ihr kamen vor Erleichterung unwillkürlich Tränen. Erst jetzt bemerkte sie seine dunklen Augenringe. Die vergangene Nacht musste ihm einiges an Kraft abverlangt haben. Und sie grämte sich hier, nur wegen ein bisschen Schweiß und ein paar Stunden Schlafdefizit. Auf einmal fühlte sie sich irgendwie schuldig.

»Mensch, ist das eine Bruthitze hier drin! Wieso hast du denn die Fenster nicht aufgemacht?«, wunderte sich Bernd und holte das Versäumte nach. Frische, feuchte Luft strömte ins Zimmer. Der charakteristische Geruch nach Regenwasser, das auf heißem Asphalt verdampft, erfüllte den Raum.

Die wochenlange Hitzewelle im Harz war scheinbar vorüber.

»Weil … ach, das ist jetzt auch schon egal. Wann kommt denn Marit, wird sie im Revier bald abgelöst?«

»Die besorgt uns gerade beim Bäcker frische Brötchen, müsste jeden Moment eintreffen. Und sie besteht darauf, dass wir unsere Flitterwochen heute Abend planmäßig antreten.«

In Julia keimte ein kleines Fitzelchen Hoffnung auf. Sie wusste aus leidvoller Erfahrung, wie suggestiv Bernds Lieblingskollegin sein konnte. In diesem Fall wäre das allerdings sogar hilfreich.

»Dann schlage ich vor, dass wir deine Kollegin nicht verärgern und der Aufforderung besser Folge leisten. Vorher sollten wir aber noch mal schnell daheim nach dem Rechten sehen und die Gartenmöbel in den Schuppen räumen. Wir haben ja alles liegen und stehen lassen«, schlug Julia vor.

»Das geht leider nicht. Die Brandwache dauert drei Tage. Das ist anscheinend eine strikte Vorschrift bei der Feuerwehr, Regenguss hin oder her. Solange darf leider keiner der Bewohner in sein angestammtes Zuhause zurückkehren. Die Straße bleibt einstweilen abgesperrt, nicht zuletzt wegen möglicher Plünderer. Marit hat mir versprochen nach dem Rechten zu sehen, sobald es wieder möglich ist. Sie wird deine heißgeliebten Gartensachen schon in den Schuppen räumen, wenn du sie darum bittest. Was man mit Geld kaufen kann, ist ohnehin ersetzbar.«

»Apropos … sind alle anderen Bewohner ebenfalls rechtzeitig weggekommen, gab es Tote oder Verletzte?«

»Das ist noch nicht sicher. Vor bösen Überraschungen ist man bei Waldbränden eines solchen Ausmaßes leider nie gefeit. Verletzte gab es zwar zu beklagen, aber weit überwiegend handelt es sich dabei um mehr oder minder ausgeprägte Rauchvergiftungen. Die kann man relativ schnell behandeln.

Vermisst wird, bislang jedenfalls, offenbar niemand. Am oberen Ende des Elendstals, an den bis auf die Grundmauern niedergebrannten Brockenstieg-Apartments, wurden Touristen und Personal rechtzeitig über Schierke in Sicherheit gebracht.

Hoffen wir also, dass es bei diesen Infos bleibt, und, dass die letzten Brandnester schnell in den Griff zu kriegen sind. Falls es den mutmaßlichen Brandstifter wirklich gibt, besteht zumindest die abstrakte Gefahr, dass dieser gewissenlose Widerling weiterzündelt. Das käme ganz darauf an, ob er sein anvisiertes Ziel bis dato schon erreichen hat können. Man weiß schließlich nie, was in den kranken Gehirnen solcher Unholde vorgeht. Aber denken wir vorerst positiv, betrachten wir die Katastrophe als nahezu überstanden. Für uns persönlich ist sie es jedenfalls.«

»Dann ist das Naturschutzgebiet, abgesehen von den begrenzten Schäden an Teilen des Baumbestandes, vermutlich nochmal mit einem dunkelblauen Auge davongekommen, wenn auch die schwarzen Brandnarben im Wald noch lange zu sehen sein werden«, meinte Julia erleichtert.

»Jein. Während die Brände an den Waldrändern im Griff sind, lodern die Flammen an den schlechter zugänglichen Berghängen weiter. Es wird bestimmt noch einige Tage dauern, bis die Feuerwehren an sämtliche Brandherde vorgedrungen sind«, dämpfte Bernd ihren Optimismus.

Marit schaffte es zu Julias Freude tatsächlich beim gemeinsamen Frühstück, ihren sturen Chef zum Urlaubsantritt zu bewegen.

»Sehr gut, dass du dein Smartphone daheim hast liegenlassen, Bernd. So kannst du uns wenigstens nicht dauernd mit dienstlichen Fragen auf den Wecker gehen, stattdessen deine Frau und den Urlaub genießen. Der verrückte Polizeialltag wird dich noch früh genug wieder einholen, verlass dich drauf.

Ich kümmere mich derweil zuverlässig um alles Notwendige, versprochen. Euer Tiger scheint bereits dabei zu sein, sich einzugewöhnen. Der kann gerne bis zum Schluss hier in der Wohnung bleiben. Und sollte ich eines Tages wegfliegen wollen, passt im Gegenzug dann ihr auf meine Bude auf«, verfügte die junge Beamtin selbstbewusst.

Julias grüne Augen strahlten, jegliche Erschöpfung schien auf wundersame Weise von ihr abgefallen zu sein. Bernd wiederum gab sich murrend geschlagen. Wie hätte er gegen zwei selbstbewusste Amazonen ankommen sollen? Dazu fühlte er sich viel zu geschlaucht.

*

Rund zweieinhalb Stunden vor Abflug der ausgebuchten Ryan Air Maschine checkten Bernd und Marit ihre Koffer am Terminal des Flughafens Berlin Tegel ein, quälten sich durch die unvermeidliche Sicherheitskontrolle und saßen erwartungsvoll vor dem Gate. Erst jetzt fiel die Anspannung ein wenig ab; müde aber glücklich, sahen sich die Flitterwöchner in die Augen.

»Ich bin dermaßen erledigt … ich glaube, den Start werde ich gar nicht mehr in wachem Zustand mitbekommen«, prophezeite Bernd, gähnend wie ein Höhlenbär vor dem Winterschlaf.

Er sollte Recht behalten. Was immer die engagierten Flugbegleiterinnen der irischen Billigairline an Bordverkäufen durchzogen, es ging völlig an den Maders in der dritten Sitzreihe vorbei. Erst während des Landeanflugs kamen beide allmählich wieder zu sich, weil das Flugzeug in den Turbulenzen über einem kahlen Gebirgszug ein bisschen ruckelte.

Julia sah neugierig aus dem kleinen Fenster zu ihrer Rechten. Sie flog zum ersten Mal nach Spanien, hatte ihre Urlaube vorher ausschließlich in der Türkei und in Kroatien verbracht, bevor sie Bernd kennengelernt hatte.

»Man könnte beinahe annehmen, da unten hätte ebenfalls ein Waldbrand gewütet. Spärlicher Bewuchs auf den Hügeln, kaum bebaute Felder … die Landschaft wirkt so … gelblich. Sieh mal, diese riesigen türkisfarbenen Wasserspeicher. Dies ist scheinbar eine extrem trockene Gegend hier«, murmelte sie schlaftrunken.

»Hm«, brummte ihr Gatte. Zu mehr war er noch nicht fähig.

Ein paar Minuten später setzte die Boeing 737-800 überpünktlich am Flughafen Alicante-Elche auf. Einige der älteren Passagiere klatschten höflich, während die Maschine auf ihre Parkposition am Terminal zurollte und die Fanfare der Airline ertönte.

Die Abendsonne schickte sich gerade an, mit einem leuchtenden Farbenspiel in Rosa, Gelb und Orange hinter dem Horizont zu versinken. Was für eine verschwenderische Pracht.

Julia Mader beobachtete das Naturschauspiel fasziniert, freute sich erwartungsvoll auf ein paar unbeschwerte Tage am Mittelmeer. Voller Optimismus betrat sie die Gangway.

*

09. Juli 2018, Revierkommissariat Wernigerode

Der Großbrand im Harz war seit dem Mordfall Waldlichtung das erste Ereignis gewesen, welches dazu geeignet war, das Revierkommissariat Wernigerode in den Ausnahmezustand zu versetzen. Bis dahin war der Dienst gemächlich vonstattengegangen, fast so etwas wie Langeweile aufgekommen. Einige Ladendiebstähle, gelegentliche Anrufe wegen Ruhestörung oder häuslicher Gewalt, ein paar Körperverletzungsdelikte, jugendliche Kiffer, Trunkenheitsfahrten – das übliche Alltagsgeschäft eben, womit man sich bei der Polizei ständig zu plagen hatte.

Revierleiter Remmlers geplanter Weggang im November war schon eher dazu prädestiniert, die Gemüter zu erhitzen. Anstatt erst 2019 von der Bildfläche zu verschwinden, so wie es angekündigt gewesen war, hatte er Knall auf Fall beschlossen, seinen Dienst ein ganzes Jahr früher zu quittieren. Mit der Begründung, dass er den Rest seines Lebens zukünftig ohne Mord und Totschlag genießen wolle. Dafür nähme er einige Einbußen bei der Beamtenpension gern in Kauf, hatte er behauptet. Ein seltsames Statement, das ihm gar nicht ähnlich sah. Charaktertypen wie er klebten gemeinhin an ihren exponierten Posten.

Seine Ankündigung war sehr überraschend gekommen, selbst für seine Sekretärin Christa, aber böse war ihm niemand gewesen. Bis die Belegschaft feststellen musste, dass er es vor seiner anstehenden Pensionierung noch einmal richtig krachen lassen wollte, vermutlich um sich abschließend ein Denkmal zu setzen. Mit blindem Aktionismus und überheblicher Besserwisserei ging er den Kollegen und Kolleginnen mächtig auf die Nerven, und zwar schlimmer als jemals zuvor.

Sein Nachfolger aus dem Revier Naumburg stand schon parat, kam mehrere Stunden pro Woche vorbei, um sich langsam einzuarbeiten. Schließlich musste er, neben örtlichen Gegebenheiten, die Strukturen und Mitarbeiter seiner neuen Wirkungsstätte kennenlernen, um von der ersten Sekunde an voll einsteigen zu können. Ein sympathischer Typ, dieser Thomas Wolters, wenn auch extrem ehrgeizig. Das war jedenfalls der Eindruck, der bei Marit Schmidbauer hängengeblieben war.

Je mehr sich Remmler zum großen Zampano aufspielte und versuchte, dem Neuen seinen fragwürdigen Führungsstil aufzudrängen, desto intensiver fielen die Bestrebungen seiner Untergebenen aus, ihm tunlichst aus dem Weg zu gehen. Einige hatten Maßbänder in den Schubladen ihrer Schreibtische liegen, an denen sie an jedem überstandenen Tag feierlich einen Zentimeter abschnitten.

Noch waren die Überreste mehr als einen Meter lang.

An diesem Morgen ertappte Marit ihre Kollegin Verena Kant beim Abschneiden. Das gestutzte Maßband verschwand blitzartig in deren Jackentasche.

»Mensch, hast du mich erschreckt! Nicht auszudenken, wenn der Alte ins Zimmer gekommen wäre und mich erwischt hätte. Da wäre ich ganz schön in Erklärungsnöte gekommen«, stöhnte die Beamtin erleichtert.

Marit zuckte grinsend mit den Schultern.

»Der ist doch selber schuld. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück. Mir ist inzwischen scheißegal, wie er über mich denkt. Der Wolters ist aus einem anderen Holz geschnitzt

obwohl auch der seine Macken hat. Aber wahrscheinlich muss man rücksichtslos beide Ellbogen benutzen, wenn man auf der Karriereleiter ganz nach oben klettern will.«

»Das stimmt. Und bedauerlicherweise ist er ein Mann, wenn auch ein ansehnlicher. Man könnte denken, Testosteron verneble die Denkprozesse. Eigentlich sollte keiner von denen aufsteigen dürfen, in welche Führungsposition auch immer. Männer sind für die schlimmsten Erfindungen und Ereignisse der Weltgeschichte verantwortlich, hast du darüber schon einmal nachgedacht? Die römischen Eroberungsfeldzüge, die Erfindung der Atombombe, der Zweite Weltkrieg, Giftgasangriffe in Syrien – und so weiter und so fort. Wann und wo immer du in der Weltgeschichte nachforschst, stets waren Männer für die allergrößten Katastrophen verantwortlich.

Gut, wir Frauen können natürlich auch fies werden, aber auf völlig andere Weise und nicht in diesem desaströsen Ausmaß für ganze Volksgruppen«, philosophierte Verena grimmig.

Marit fand es insgeheim frappierend, dass eine, die mit ihrem kantigen Körperbau und dem Herrenkurzhaarschnitt selber fast wie ein Mann aussah, diskriminierende Sprüche über die Herren der Schöpfung von sich gab. Nicht zum ersten Mal hatte Verena heute dieses Thema angeschnitten. Sie musste wohl schon einige negative Erfahrungen mit dem stärkeren Geschlecht hinter sich haben. Oder es lag daran, dass auch sie zum Opfer von Remmlers ekelhaften Grabsch-Attacken geworden war. Vielleicht hatte sie deswegen die Nase von Männern gestrichen voll.

Noch immer ahnte niemand im Revier, dass Verena Kant eine Lesbe war. Als solche verspürte sie das Bedürfnis, der hübschen Marit ein wenig näher zu kommen, ach was, sehr viel näher. Sie hatte mitgekriegt, dass die schlanke Brünette seit längerer Zeit keinen festen Freund an ihrer Seite hatte und gedachte ein paar Testballons zu starten.

Fürs Erste rückte sie ihr auf die Pelle, indem sie sich neben ihr vor einer monströsen Landkarte an der Wand postierte, die die Harzregion zeigte. Mithilfe von Stecknadeln und roten Wollfäden war ein Gebiet eingegrenzt. Es handelte sich um die abgebrannte Fläche. Sie reichte von der Ortschaft Torfhaus, gelegen im Vogelschutzgebiet und westlich der Landesgrenze zu Niedersachsen, bis zur Straße L 100 im Osten, wo es den Feuerwehren zumindest im nördlichen Teil gelungen war, eine Feuerschneise zu schlagen und die Flammen zurückzudrängen.

Bedauerlicherweise hatte es das idyllisch gelegene Hotel Der Kräuterhof noch mit erwischt, es war dem Feuer zum Opfer gefallen. Die Brockenstieg-Apartments waren Geschichte, genauso wie der bei Touristen wie Einheimischen beliebte Campingplatz am Schierker Stern. Wie durch ein Wunder waren die Ortschaften Elend und Schierke knapp verschont geblieben.

»Ist das jetzt der endgültige Stand?«

»Ja. Ein riesengroßes Waldstück, nicht wahr? Keine Ahnung, wie viele Hektar es sind. Ich könnte heulen, wenn ich das sehe. Noch jetzt hängt eine graue Rauchglocke über Wernigerode, es stinkt zum Himmel. Ich bin wirklich gespannt, was der Brandermittler herausfindet.«

Verena rückte, wie zufällig, auf Tuchfühlung heran und zeigte gezielt auf einen Punkt in der Karte.

»Sieh mal einer an, die kleine Waldlichtung hinter dem Schierker Bahnhof, auf der letztes Jahr Rüdiger Müller ermordet wurde, ist mit abgefackelt. Weiß man mittlerweile eigentlich schon, ob bei dem Brand die Gleisanlagen der Brockenbahn in Mitleidenschaft gezogen wurden? Vorhin hat mich eine aufgebrachte Anruferin danach gefragt.«

Marit trat einen halben Schritt zur Seite. Zu viel Nähe war ihr unangenehm, egal ob sie nun von Männlein oder Weiblein hergestellt wurde. Sie brauchte ihren Dunstkreis für sich alleine.

»Nein, das muss zuerst alles sorgfältig durchgecheckt werden. Der Bahnbetrieb dieses Streckenabschnitts bleibt bis auf weiteres eingestellt. Die Harzer Schmalspurbahnen gehen kein Risiko ein. Das Brockenplateau ist am Freitag sowieso prophylaktisch mit evakuiert worden, damit niemand vom Feuer eingeschlossen wird. Wer, außer ein paar gestörten Katastrophentouristen vielleicht, sollte momentan schon freiwillig da hochfahren wollen«, merkte sie sarkastisch an.

»Auch wieder wahr«, nickte die Kant. »Wobei man genau hieraus wahrscheinlich richtig viel Profit generieren könnte. Mancherorts ist Ähnliches zum Geschäftsmodell geworden. Hast du gewusst, dass auf dem Gelände des havarierten Atomreaktors in Tschernobyl inzwischen Führungen stattfinden? Die Touris aus aller Welt rennen dort mit Geigerzählern herum und freuen sich über jeden Ausschlag der Nadel. Meines Erachtens könnte man diese Idioten hinterher geschlossen in die Psychiatrie einweisen, es würde bestimmt keinen Verkehrten treffen.«

»Wohl wahr, geistig normal können solche Leute kaum sein. Aber zurück zu unserer heimischen Feuersbrunst. Wie du mitbekommen hast, besteht der dringende Verdacht auf Brandstiftung. Ein einziger Brandherd hätte eine so schnelle Verbreitung der Flammen nie zugelassen, so viel steht schon zum jetzigen Zeitpunkt fest. Es sieht also eher nach einer konzertierten Aktion von einem oder mehreren Feuerteufeln aus.

Sämtliche niedergebrannten Gebiete werden in den nächsten Tagen so gründlich wie möglich nach eventuellen Brandopfern durchforstet. Sollten sich hierbei Tote finden und sich der Verdacht der Feuerwehren somit bestätigen, müsste man von Mord, mindestens jedoch von fahrlässiger Tötung ausgehen. Der oder die Brandstifter hätten ja zumindest billigend in Kauf genommen, dass aufgrund dieser Aktion irgendwer zu Tode kommen könnte. Und damit hätten wir, die Mordkommission, wieder mal den Schwarzen Peter in Händen und müssten gegen Unbekannt ermitteln.

Ganz ehrlich, Verena … ich hoffe, dass sich doch noch eine andere Brandursache findet und keine Opfer zu beklagen sind. Der Bürgermeister ist schon jetzt auf hundertachtzig, weil er um seinen heiligen Tourismus fürchtet. Schwarze Baumgerippe sind nun mal kein schöner Anblick. Ich möchte nicht wissen, was los wäre, wenn die letzten verbleibenden Touris noch mit der Angst vor einem unheimlichen Brandstifter leben müssten. Die örtliche Hotellerie stünde wohl bald vor dem Aus. Ich würde jedenfalls sofort stornieren, wenn mir sowas über meinen Urlaubsort bekannt werden würde.«

»Ich ebenfalls«, bestätigte Verena.