9,99 €
Tod & Tierarzt! Ein morbid-witziger Krimi mit jeder Menge tierischer Nebenfiguren – vom Riesenpferd mit Angststörung bis hin zum verräterischen Zwergohreulenküken. Oh nein. Wie kann man bitte aus Versehen zum Mörder werden? Aber genau das passiert dem schüchternen Tierarzt Severin Herr. Dabei wollte er seinen Chef nicht umbringen. Nicht wirklich, jedenfalls. Es war ein Unfall. Nur wird ihm das kein Mensch glauben. Denn sein Chef, allseits beliebter Medienstar und «Tierfreund der Nation», hat Spendengelder veruntreut und es Severin in die Schuhe geschoben. Jetzt muss Severin nicht nur den Mord vertuschen, sondern auch schnellstens an Geld kommen, um den zur Praxis gehörenden Gnadenhof zu retten. Von unerwarteter Seite kommt der Vorschlag, ins Auftragskillergeschäft einzusteigen. Ein sanfter Tierarzt als Mörder? Allein die Idee erscheint Severin absurd. Aber was tut man nicht alles für seine Tiere?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2025
René Anour
Ein Tierarzt-Krimi
Tod & Tierarzt!
Oh nein. Wie kann man bitte aus Versehen zum Mörder werden? Aber genau das passiert dem schüchternen Tierarzt Severin Herr. Dabei wollte er seinen Chef nicht umbringen. Nicht wirklich, jedenfalls. Es war ein Unfall. Nur wird ihm das kein Mensch glauben. Denn sein Chef, allseits beliebter Medienstar und «Tierfreund der Nation», hat Spendengelder veruntreut und es Severin in die Schuhe geschoben. Jetzt muss Severin nicht nur den Mord vertuschen, sondern auch schnellstens an Geld kommen, um den zur Praxis gehörenden Gnadenhof zu retten. Von unerwarteter Seite kommt der Vorschlag, ins Auftragskillergeschäft einzusteigen. Ein sanfter Tierarzt als Mörder? Allein die Idee erscheint Severin absurd. Aber was tut man nicht alles für seine Tiere?
René Anour studierte Veterinärmedizin in Wien, wobei ihn ein Forschungsaufenthalt bis an die Harvard Medical School führte. Während seines Studiums spezialisierte er sich auf Zoo- und Wildtierkrankheiten und «One Health», die Interaktion der Gesundheit von Mensch, Tier und Ökosystem. Für seine historischen Romane wurde er sowohl mit dem Goldenen Homer für den besten deutschsprachigen historischen Roman als auch mit dem Homer Publikumspreis ausgezeichnet. Nun schlägt er mit dem humorvollen Krimi «Der Doktor und der liebe Mord» schriftstellerisch neue Wege ein. Weitere Informationen sind auf seiner Homepage (reneanour.com) zu finden und auf Instagram sowie TikTok (@reneanour_autor).
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Nadia Al Kureischi
Zitat auf Seite 160 aus dem Lied «Schau mal herein» von Helene Fischer und Florian Silbereisen; Melodie von Nicholas Barry Chinn und Michael Donald Chapman; Text von Peter Orloff
Covergestaltung zero-media.net, München, unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock AI
Coverabbildung FinePic®, München
ISBN 978-3-644-01900-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
www.rowohlt.de
Das Ungetüm würde ihm die Kehle durchbeißen und sich an seinen Eingeweiden satt fressen. Aber immerhin, wer konnte schon von sich behaupten, so verwegen gestorben zu sein?
Seltsamerweise beruhigte ihn der Gedanke nicht wirklich.
Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, und die Fichtenkronen rauschten, sonst war nichts zu hören. Der Wind blies glitzernde Eiskristalle von den Zweigen. Severin fröstelte, als sie in seinen Nacken rieselten.
Man konnte leicht glauben, dass er das einzige lebende Wesen in diesem Wald war – aber Severin wusste es besser.
Er war irgendwo dort draußen. Eine zottelige Bestie mit schwarzem Fell und gelben Augen beobachtete ihn in genau diesem Moment, während er mit dem Gewehr im Anschlag zwischen den Fichtenstämmen hindurchschlich. Und eines stand fest: Für einen von ihnen würde diese Sache übel ausgehen – und Severin betete, dass das nicht er sein würde.
Er hatte das Biest schon einmal zu Gesicht bekommen, schwerer als Severin selbst war es der größte Timberwolf, den er je gesehen hatte. Unwillkürlich hatte er bei seinem Anblick an die übergroßen Schattenwölfe denken müssen, Fabelwesen aus der Serie Game of Thrones.
Vor ihm im Schnee konnte er seine Pfotenabdrücke sehen. Kaum kleiner als Severins Hand. Ein Knacken im Unterholz. Rasch sah er sich um. Oh ja … Er war in der Nähe – und lauerte auf ihn. Severin hob das Gewehr. Gleich würde er …
Lautes Handyklingeln ertönte – irgendein Song von Helene Fischer. Severin zuckte zusammen.
«Ja, Gisela, was gibt’s?», tönte eine laute Stimme zu ihm von der Anhöhe herunter.
Er hob den Blick. «Professor», flüsterte er. «Wir müssen leise sein, sonst …»
Professor Siegfried Thalheim hob abwehrend die Hand, ohne Severin anzusehen. Er stand auf der Aussichtsplattform über dem Wolfsgehege mit einem teuren Merinomantel und einer Pfeife im Mundwinkel.
«Haha, was? Let’s Dance? Wirklich?»
«Professor, wo ist der Wolf?», flüsterte Severin.
Siegfried Thalheim hielt den Lautsprecher des Smartphones mit seinem Lederhandschuh zu und blickte ungehalten zu Severin herunter.
«Irgendwo dort wird er schon sein.» Er wedelte in eine unbestimmte Richtung.
«Wo genau?»
«Ein guter Veterinär muss seine eigenen Entscheidungen treffen.» Thalheim nahm das Telefon wieder auf. «Entschuldige, Gisela. Ja. Ach, ich weiß nicht, ob ich für so ein Format der Richtige bin … Na gut, ich mach’s, bevor du mich noch länger anbettelst.» Er hob den Zeigefinger. «Aber nur wegen der Tiere auf meinem Gnadenhof natürlich.»
Severin schluckte und wandte sich wieder dem Gehege zu. Er kannte Thalheim noch nicht gut genug, so kurz, wie er für ihn arbeitete. Aber eins wusste er: Wenn es hart auf hart kam, war er auf sich allein gestellt.
Ein staubiges Betäubungsgewehr hatte Thalheim ihm in die Hand gedrückt. Keine Ahnung, wie das funktionierte, er hatte noch nie vorher eines bedient. Aber das Internet war in solchen Fällen hilfreich.
«Tun Sie so, als wären Sie ein verletztes Reh, dann kommt der Rudi bestimmt», rief Thalheim ihm von der Plattform aus zu. Severin ignorierte ihn und spähte durch den winterlichen Wald.
Noch immer ließ sich der schwarze Leitwolf nicht blicken, während Severin das graue Fell der Wölfinnen immer wieder zwischen den Stämmen hindurchhuschen sah.
«Aber über die Gage müssen wir noch reden», fuhr der Professor am Telefon fort. «Nicht dass ihr mich wieder mit einer C-Promi-Rate abspeist, ihr Schlingel.»
Wo versteckte Rudi sich bloß?
Severin schlich unter einem größeren Felsbrocken hindurch. Gestern hatte er beobachtet, dass die Wölfe diese Route gern verwendeten. Wie gern hätte er auch heute diese schönen Tiere einfach nur aus der Ferne beobachtet.
«Oh, kleinen Moment, Gisela …» Der Professor hielt den Lautsprecher erneut zu. «Doktor Herr? Drehen Sie sich doch einfach mal um, um Himmels willen … Jaaa, Gisela, da bin ich wieder, also wegen der Gage …»
Langsam wandte Severin sich um. Ein leises Knurren verriet ihm bereits, was er sehen würde. Über ihm, auf dem Felsbrocken, stand der schwarze Wolf. Seine gelben Augen fixierten Severin reglos. Dann sprang er.
Mit einem Schrei riss Severin das Betäubungsgewehr in die Höhe. Ein Knall. Dann sauste der Pfeil los. Schrilles Jaulen durchschnitt die Luft. Der Wolf prallte gegen Severin und riss ihn zu Boden. Gleich würde der reißende Schmerz einsetzen, wenn der Wolf die Fänge in seine Kehle schlug.
Aber Rudi blieb reglos auf ihm liegen.
Severin stöhnte und kroch hastig unter dem Leitwolf hervor.
Rasch checkte er Puls und Atmung. Gott sei Dank. Rudi schlief tief und fest. Trotz allem hätte Severin es nicht ertragen, wenn er ein so schönes Tier verletzt hätte.
«Großartig!» Der Professor hatte endlich aufgelegt und klatschte in die Hände. «Das nenne ich Teamwork! Ich fahre den Wagen vor, damit wir ihn in die Praxis bringen.» Er deutete auf Severin. «Sie fahren mit Rudi im Kofferraum … falls er aufwacht.»
Severins Blick fiel auf den schlafenden Wolf.
Täuschte er sich, oder drang wieder ein leises Knurren aus seiner Kehle?
«Wie, falls er aufwacht?»
Severin sah auf die Uhr. Die Praxis hatte längst geschlossen, aber es war in letzter Sekunde noch eine Frau mit einem kranken Chinchilla aufgetaucht, und den hatte er nicht abweisen wollen. Aber nun war endlich Feierabend.
Mit einem Seufzen nahm er die große Merci-Schachtel vom Untersuchungstisch, die die Besitzerin dagelassen hatte. Nicht für ihn, wohlgemerkt. Sondern für Professor Thalheim. So wie die meisten Kundinnen war sie enttäuscht, Severin in der Praxis anzutreffen und nicht «den Tierfreund der Nation». In Wahrheit kam der Professor so gut wie nie vorbei. Aber jeder sollte glauben, dass er hier arbeitete. Damit sie weiterhin kamen und ihr Geld daließen.
Severin ging zu einem der Regale im Untersuchungsraum, öffnete es und legte die Schachtel auf einen Stapel von zehn weiteren.
Er beschloss nachzusehen, ob draußen noch jemand wartete, und öffnete die Tür. Im hellen Wartezimmer herrschte gähnende Leere. Nur Cassy, die Sprechstundenhilfe, saß mit Kopfhörern im Ohr hinter dem Tresen und starrte auf ihr Handy. Jedna, die Putzfrau, war bereits gekommen und hatte begonnen, den Eichenholzboden im Wartebereich zu wischen. Über einen Bildschirm an der Wand flackerte in Dauerschleife die Dokumentation Mein Paradies der Tiere, die die Entstehung von Gut Thalheim von einem ramponierten Landgut zu einem Gnadenhof für Tiere aller Art beleuchtete. Gerade folgte man dem Professor, wie er sich in eine Scheune stahl, um dem Kameramann dort einen Wurf von zehn jungen Kaninchen zu zeigen, manche schwarz gesprenkelt, manche braun, andere ganz weiß.
Während Thalheim ein panisch zappelndes Babykaninchen aus dem Nest fischte und an sich drückte, stieg Severin Nikotingeruch in die Nase. Er rümpfte die Nase und sah sich um. Jedna hatte eine brennende Zigarette im Mund, während sie wischte. Für einen Moment war er versucht, sie auf das Rauchverbot hinzuweisen, aber ließ es sein. War doch eh niemand mehr hier.
«Cassy?»
Die Sprechstundenhilfe reagierte nicht.
«Cassy!»
Sie nahm sich einen der Kopfhörer aus dem Ohr. «Was?»
«Waren das alle Termine für heute?»
«Ähm.» Sie wies auf das leere Wartezimmer. «Jaaaa?!»
«Du hast gar nicht auf die Liste geschaut.»
«Sorry.» Cassy schniefte leise. «Hab gerade ein echt verstörendes Video gesehen. Megatraumatisierend. Meine Lieblingsbeautytokerin hat confessed, dass sie nicht nur Naturprodukte benutzt, sondern seit drei Jahren Botox spritzt, kannst du dir das vorstellen?»
«Dann schau bitte nach … und Botox ist ein Naturprodukt. Wird von Bakterien gemacht.»
«Echt? So wie Joghurt?»
«Nein.»
Cassy seufzte und versuchte, den Kalender zu öffnen. Aus den Augenwinkeln erkannte er, wie Jedna sich aufgerichtet hatte und den Bildschirm anstarrte.
«Es ist wirklich immer ein Wunder, wie sie einem vertrauen, wenn sie spüren, dass man ihnen nur Gutes will!», erklärte der Professor, während er das Babykaninchen mit einer Hand streichelte und mit der anderen unauffällig die Kehle würgte, damit es nicht mehr strampelte.
Jedna schnaubte abfällig und krächzte etwas Unfreundliches mit undefinierbarem osteuropäischem Akzent. Obwohl Severin kaum je mit Jedna sprach – auch, weil er sich ehrlicherweise ein bisschen vor ihr fürchtete –, herrschte zwischen ihnen beiden etwas, was man am besten als wohlwollendes Husten zusammenfassen konnte. Wenn der Professor sich vom Gut her näherte, hustete Jedna immer übertrieben laut, vermutlich, damit Severin Bescheid wusste.
Kam der Professor durch den Hintereingang, hustete wiederum Severin, damit Jedna rechtzeitig so tun konnte, als würde sie arbeiten, und im Fall des Falls ihre Zigarette wegwarf. Er betrachtete sie verstohlen, während sie den Bildschirm mit unverhohlener Abscheu anstarrte, auf dem der Professor gerade ein Hängebauchschwein streichelte. Während die meisten Menschen versuchten, ihr Alter zu kaschieren, jünger und hübscher zu wirken, trug Jedna das ihre wie einen Schild – als würde sie zarten und jungen Gemütern damit zeigen wollen, wie grausam und unerbittlich das Leben sie behandeln würde, nur um sich danach an ihrem Unwohlsein zu erfreuen.
Zu Severins Schrecken bemerkte sie, dass er sie beobachtet hatte, und starrte ihn aus ihren hellen Augen an.
«Was gibt’s da zu glotzen?»
«Ähm, also ich …»
«Keine Termine mehr heute», trillerte Cassy und rettete Severin damit vielleicht zum ersten Mal aus einer unangenehmen Situation. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass Jedna sich wieder gebückt hatte und weiterwischte.
«Gut. Du kannst dann nach Hause fahren. Ich drehe noch eine kurze Runde drüben im Gut Thalheim.»
«Finally», seufzte Cassy. «Will mich noch herrichten, falls Sigi noch was unternehmen will.»
Severin unterdrückte einen Schauder, während Cassy ihn verträumt ansah.
«Er ist so ein süßer Teddybär, weißt du, er schlägt mir keinen Wunsch ab.»
… bis er dich in spätestens zwei Wochen austauscht und ich seine neue Flamme anlernen darf, dachte Severin.
Jedna hustete im hinteren Teil des Wartezimmers, oder hatte sie wieder mal ausgespuckt?
«Ich wollte immer schon einen Sugardaddy, aber Sigi ist echt mehr als das – ein echter DILF, ich sag’s dir, wie’s ist.»
«Ein was?»
«Das steht für ‹Daddy I’d like to f…›».
«Stopp! Ich fürchte, ich kann’s mir denken.»
Cassy zuckte mit den Schultern und begann, ihre Tasche zu packen, während Jedna ohne Rücksicht auf Verluste begann, hinter dem Tresen zu wischen.
«He», protestierte Cassy, als Jedna mit Schwung mit dem Mopp gegen ihre Beine stieß.
«Los, mach Platz! Ich will fertig werden.»
Cassy schnappte entrüstet nach Luft und sprang auf. «Echt jetzt?» Sie wandte sich Severin mit offenem Mund zu.
«Ähm … ich muss jetzt los.» Severin lief an den beiden vorbei zum Ausgang.
«Heul draußen weiter, Flittchen!», schimpfte Jedna. «Vielleicht machst du ja ein paar Männerbekanntschaften.»
«Wait, what?» Wieder drehte sich Cassy zu ihm um. «Hast du gehört, wie die Alte mit mir redet? Das ist slutshaming, das werd ich …», rief sie ihm nach.
Hastig schloss Severin die Tür hinter sich und atmete erleichtert auf. Ein bisschen wunderte er sich, dass Jedna sich so offen mit Cassy anlegte. Ja, die durchschnittliche Halbwertszeit der Vorzimmerfreundinnen des Professors betrug nur ein paar Wochen. Aber während sie gerade aktuell waren, sollte man sich ihnen gegenüber besser ein wenig zurückhalten, wenn man seinen Job liebte – und das tat Severin.
Meistens durfte er alle Behandlungsentscheidungen selbst treffen, weil der Professor einfach nicht da war. Und welcher Tierarzt konnte schon behaupten, in seinem täglichen Beruf mit so einer breiten Palette an Tieren arbeiten zu dürfen? Vom Wolf bis zum Wellensittich. Und was die Nutztiere auf dem Gut anbelangte, die Kühe, Schweine und Hühner, mochte Severin am meisten, dass er diese Tiere behandelte, damit sie gesund wurden – nicht gesund genug für die Schlachtung.
Severin sog die frische Abendluft ein und ging die wenigen Schritte zum Gut Thalheim hinüber.
Das Gut lag malerisch in eine bewaldete Hügellandschaft eingebettet. Kaum zu glauben, dass man von hier aus die nächste Großstadt mit dem Auto in dreißig Minuten erreichen konnte oder wie in Severins Fall mit dem Regionalzug in einer Stunde. Neben der mittlerweile unbesetzten Besucherkasse und dem Drehkreuz war ein Holzkasten mit einem Schlitz angebracht. Darauf befand sich das Bild eines Kälbchens, eines Kükens und eines Kätzchens mit einer Sprechblase: Was kannst du für mich entbehren? Darunter stand exemplarisch, wie viel Futter es für zwanzig, fünfzig oder hundert Euro zu kaufen gab.
Severin mochte, dass es bereits am Eingang nach Heu und Stall roch, und es half ihm, nach einem langen Tag runterzukommen. Er ging an dem alten Bauernhof vorbei. Wie viele Generationen von Landwirten hatten hier gelebt, bevor sie das Gebäude aufgeben mussten und der Professor es für einen Spottpreis erstanden hatte? Jetzt befand sich eine kleine Gaststätte und ein großer Souvenirshop darin. Severin flanierte den Kiesweg an der Rinderweide entlang, auf der ein paar ausgediente Milchkühe grasten. Die kleine Herde bestand aus fünf unterschiedlichen Rassen, schwarzbunte Holsteiner mit ihren Rieseneutern, Pinzgauer Kühe aus den Alpen, Fleckvieh, schottisches Hochlandrind und ein Exemplar seiner Lieblingsrasse, eine wunderschöne milchkaffeefarbene Jerseykuh mit ausdrucksstarken Rehaugen. Außer wegen ihres hübschen Äußeren waren Jerseykühe auch für ihre besonders gehaltvolle Milch berühmt. Aber das Schöne an Gut Thalheim war: Hier hatten die Tiere keinerlei Pflichten.
Severin schwang sich über den Zaun und stieß einen kleinen Pfiff aus. Die Jerseykuh hob den Kopf und sah wiederkäuend zu ihm herüber, dann setzte sie sich in Bewegung und kam auf ihn zu getrottet.
«Da bist du ja, Jane Austen!» Severin klopfte ihr den Hals ab, dann gab er ihr ein paar Heupellets, die sie ihm mit ihrer rauen Zunge von der Hand schleckte.
Severin strich ihr den Körper entlang und tastete ihr Euter ab. Die Mastitis, die Euterentzündung, war fast ganz ausgeheilt. Weil ihre ehemaligen Besitzer diese nicht in den Griff bekommen hatten, hatte auf Jane Austen bereits der Schlachter gewartet. Doch es hatte sich herausgestellt, dass die Kuh nur etwas Geduld, Medikamente und gute Gesellschaft auf einer schönen Weide gebraucht hatte, schon war sie vital wie eine junge Kalbin.
Severin verließ die Rinderweide, ging vorbei an den Ziegen- und Schafkoppeln, den Kaninchen- und Meerschweinchengehegen. Das Bächlein, das durch das Anwesen floss, bildete mehrere kleine Teiche, in denen sich Enten tummelten, während ein paar Hausgänse an den Ufern grasten und sich allmählich zum Schlafen niederließen. An den Rändern der Kieswege pickten Hühner unterschiedlichster Rassen im Gras nach gerade ausschwärmenden Ameisen. Ein weißes Seidenhuhn, das aussah wie ein riesiger Wattebausch, führte eine Schar von sechs piependen Küken über den Weg zum Hühnerstall, wo sie die Nacht verbringen würden. Weiter vorn posierte Arthuro, einer ihrer weißen Pfauen, gerade vor einem Weibchen. Während er ein Rad schlug, hallte sein gellender Schrei durch den Abend. Die Pfauenhenne musterte ihn eher desinteressiert. Bisher hatte sie sich nur mit blauen Hähnen gepaart und schien von ihrer Vorliebe nicht abzurücken.
«Nicht aufgeben, Kumpel», murmelte Severin im Vorbeigehen.
Der Weg wurde schattiger, und scharfer Raubtiergeruch stieg ihm in die Nase. Das Wolfsgehege umfasste ein größeres Waldstück, das nicht vollständig einsehbar war, sodass die fünf Timberwölfe sich zurückziehen konnten, wenn sie wollten. Tatsächlich erblickte Severin nur einen von ihnen. Rudi, der Leitwolf, stand auf seinem Aussichtsfelsen. Völlig schwarz und riesengroß war er eine beeindruckende Erscheinung. Kaum hatte Severin zu ihm hingesehen, wandte er sich ab und verschwand mit ein paar lautlosen Sprüngen zwischen den Fichten. In Anbetracht dessen, was er mit Severin erlebt hatte, konnte der Tierarzt es ihm nicht völlig verübeln.
Severin komplettierte seine Runde, vorbei an ihren Alpakas, den beiden Emus Norbert und Ludmilla, den Vogelvolieren und den beiden Scheunen zurück zum Ausgang.
«Ah, Severin!»
Er wandte sich um.
Leopold, der Cheftierpfleger, kam vom Besucherparkplatz her auf ihn zugelaufen. Es war verblüffend, wie fit er mit seinen sechzig Jahren wirkte. Erst jetzt bemerkte Severin den großen Transporter, der vorgefahren war und dessen Motorengeräusch leise tuckernd zu ihm herüberdrang.
«Abend, Leopold.» Er runzelte die Stirn. «Neuzugang?»
«Ja, genau. Hab gesehen, dass du noch da bist. Vielleicht willst du einen Blick drauf werfen?»
«Gerne!» Gemeinsam marschierten sie in Richtung Parkplatz, wobei Severin Mühe hatte, mit Leopolds raschem Schritt mitzuhalten.
«Wer ist denn da gekommen? Ein Elefant?»
«So ähnlich.» Leopold sprang behände ins Cockpit und betätigte einen Hebel, der die Heckklappe öffnete. «Wäre sonst heute geschlachtet worden. Hab’s dem Professor weitergeleitet, aber der hat zuerst Nein gesagt. Erst, als ich den Kerl ein bisschen präziser beschrieben habe, war er einverstanden. Hofft wahrscheinlich, dass er Publikum bringt.»
«Jetzt bin ich neugierig», lachte Severin und folgte Leopold zum Heck des Transporters.
Er kniff die Augen zusammen, während Leopold im Inneren verschwand. Dort war es dunkel, aber Severin glaubte, einen riesenhaften Umriss zu erkennen. Ein lautes Schnauben drang nach draußen.
«Ja, ja», sagte Leopold ruhig, dann hörte Severin ein Geräusch, das an viel zu große Hufe erinnerte.
Mit dem Schweif voran kam etwas die Rampe herunter. Severin hielt den Atem an, während Leopold das größte Pferd, das er je gesehen hatte, vorsichtig aus dem Transporter dirigierte.
«Wow», flüsterte er und betrachtete das rotbraune Fell, das in der Abendsonne zu leuchten schien. «Was für eine herrliche Kreatur.»
«Ist auch nur ein Pferd», erwiderte Leopold grinsend.
«Ein Shire Horse, oder?» Severin war begeistert. Shires waren die größte Pferderasse der Welt, und dieser Wallach hier schien sogar dafür zu groß zu sein. Severin schätzte sein Stockmaß auf über zwei Meter. Die mit langem, weißem Fell bedeckten Hufe waren größer als Severins Kopf. Der Kerl musste über eine Tonne wiegen.
Ein riesiger Kopf mit durchschossener Blesse wandte sich ihm zu und musterte ihn vorsichtig.
«Gestatten, das ist Tyrion», erklärte Leopold, der das Shire Horse an einer Leine führte.
«Wie der Kleinwüchsige aus Game of Thrones?»
«Genau! Die Besitzer fanden das wohl witzig. Echte Unsympathen. Haben extra einen Antrag auf Schlachtung gestellt, weil die für Reitpferde normalerweise nicht gelten.»
Severin betrachtete Tyrion genauer. Das weiße Fell auf seinen Hufen reichte weit bis über die Fesselgelenke hinauf.
«Wieso um Himmels willen wollten sie ihn bloß schlachten?», fragte er fassungslos und näherte sich dem Pferd vorsichtig. «Er sieht noch ziemlich jung aus. Drei, würde ich sagen.»
«Kommt hin», erklärte Leopold und strich Tyrion vorsichtig über die Nüstern. «Leider hat er immer gelahmt, wenn jemand versucht hat, ihn zu reiten. Der Tierarzt dort konnte nichts finden. Und anscheinend hat er keinen reinen Stammbaum, also kann man ihn nicht zur Zucht verwenden. Frisst sie nur arm, haben seine Besitzer gemeint.»
Severin streckte die Hand aus, um Tyrion seitlich am Kopf zu streicheln, doch das Pferd zuckte ängstlich zusammen und tänzelte zwei Schritte rückwärts.
«Ho», meinte Leopold beruhigend. «Er ist total lieb, aber die größte Memme, die ich je gesehen habe. Man muss ihn kommen lassen.»
Severin zuckte mit den Schultern und ließ seine Hand erhoben. Tyrion schnaubte verängstigt, dann stellte er die Ohren auf und näherte sich Severin vorsichtig, bis seine breiten Nüstern die Handfläche berührten.
«Freut mich auch», meinte Severin, während er über die weiche Haut streichelte. «Er scheint keine Schmerzen zu haben. Das mit der Lahmheit sehe ich mir mal genauer an, wenn er sich eingelebt hat. Kommt er auf die Pferdeweide?»
«Oh nein.» Leopold lachte. «Der ist viel zu nett, den machen unsere Haflinger fertig. Ich dachte, ich stell ihn auf die Mühlenwiese am Bach.»
«Zu Merkel?», fragte Severin überrascht. «Tyrion ist mehr als zehnmal so schwer.»
«Dafür ist Merkel mehr als zehnmal so schlau, das tut ihm gut, denke ich, auch wenn sie kein Pferd ist.»
Das Motorengeräusch eines Wagens war zu hören, und Severin hob den Kopf. Ein silbergrauer Kombi kam die schmale Zufahrtsstraße heraufgefahren, bog aber nicht auf den Besucherparkplatz von Gut Thalheim, sondern rollte weiter bis zur Praxis.
«Oh nein», murmelte Severin. Diesen Kombi kannte er. Er schluckte. «Ich glaube, ich werde gebraucht», sagte er beklommen.
«Geh nur, ich komm zurecht.»
Severin joggte zur Praxis zurück, während der Kombi vor dem Eingang des heimeligen Holzhauses hielt. Eine ältere Dame stieg aus.
«Herr Doktor», keuchte sie. «Ich bin so froh, dass ich Sie erwische.»
Das Tierarztstudium schloss man zwar nicht mit einem Doktor ab, aber den Leuten das «Herr Doktor» abzugewöhnen, hatte Severin bald sein lassen. Die Leute reagierten meist eher irritiert und hatten verständlicherweise Probleme, ihn anzureden, denn das machte ihn, der mit vollem Namen Severin James Herr hieß, zu, nun ja, Herrn Herr.
«Frau Bachmayr», begrüßte Severin sie und schüttelte ihr die Hand. «Was ist passiert?»
Tränen traten ihr in die Augen. «Ich glaube, es ist so weit. Er fällt ständig um, und er atmet so schwer.»
Severin nickte. Es war klar gewesen, dass das bald geschehen würde, deshalb hatte er ihr auch seine private Telefonnummer gegeben, trotzdem versetzte ihm die Nachricht einen schmerzhaften Stich. Frau Bachmayr öffnete die hintere Tür und gab den Blick auf die Rückbank frei, auf der ein Bernhardiner lag. Der Hund hob den Kopf. Severin konnte das Rasseln seines Atems bis nach draußen hören.
«Hallo, Apa, wie geht’s dir, mein Freund?», murmelte er und streckte dem Hund seine Hand entgegen, die der sofort hingebungsvoll abschlabberte. «Bitte öffnen Sie schon mal die Eingangstür und die zum Behandlungsraum, ich trage ihn hinein.»
«Ja, ja natürlich … Meinen Sie, Sie schaffen das?»
«Wird schon gehen.»
Frau Bachmayr eilte voraus, während Severin sein Bestes tat, Apa so weit aus dem Auto zu ziehen, dass er ihn gut heben konnte. Einen Moment dachte er, seine Bandscheiben würden dabei unter dem Gewicht zerquetscht. Offensichtlich war heute Tag der Riesentiere. Beim letzten Wiegen hatte Apa bei stolzen fünfzig Kilogramm gelegen. Jetzt konnte es nur unwesentlich weniger sein. So schnell wie möglich taumelte Severin durch die Praxistür.
Cassy war bereits gegangen, aber Jedna war noch da und hob überrascht den Kopf, als er keuchend an ihr vorbeilief. Gott sei Dank war der Untersuchungstisch auf die richtige Höhe eingestellt, er hätte Apa keinen Augenblick länger halten können. Vorsichtig setzte er den Bernhardiner ab. Erleichtert atmete Severin durch und schüttelte seine schmerzenden Arme aus.
«Bitte, streicheln Sie ihn ganz fest am Kopf», erklärte er. «Damit er weiß, dass Sie da sind.»
«Natürlich», flüsterte Frau Bachmayr den Tränen nah und begann, den Kopf des Bernhardiners zu kraulen und ihm gut zuzureden.
Apa gehörte zu den Patienten, die Severin am meisten am Herzen lagen. Er war ein derart liebenswerter Hund, man musste ihn einfach mögen. Die Herzinsuffizienz behandelte Severin schon seit einigen Monaten, dabei hatte es sich abgezeichnet, dass es nicht mehr lange dauern würde bis zu Apas Ende. Egal, um welche Uhrzeit, Severin hätte ihn und Frau Bachmayr auf jeden Fall bei der letzten gemeinsamen Reise begleiten wollen.
Er verschwand kurz im Lager hinter dem Röntgenraum und kam mit einem kleinen Futtersäckchen wieder. «Seine Lieblingsleckerlis, oder?»
«Ja», wisperte Frau Bachmayr überrascht. «Die hattet ihr doch gar nicht im Sortiment?»
«Jetzt schon», erklärte Severin und reichte ihr das Säckchen, das er in Wahrheit vor drei Tagen auf eigene Rechnung gekauft hatte. «Geben Sie sie ihm, ich bereite inzwischen alles vor.»
Es mochte seltsam klingen, aber Severin ging bei keiner anderen tierärztlichen Tätigkeit sorgfältiger vor als bei einer Euthanasie, und über die richtige Mischung für Apa hatte er sich auch schon ein paar Gedanken gemacht. Es gab verschiedene Präparate zum Einschläfern – meist eine Kombination aus einem starken Narkotikum, Muskelrelaxantien, die die Atemmuskulatur lähmten, und einem Lokalanästhetikum, damit das Tier nichts spürte. Eines davon hieß Relieve und war so etwas wie der Rolls-Royce unter den Euthanasiemitteln. Verdammt einfach, einfach tot – so hatte ihm ein Pharmavertreter das Produkt einmal angepriesen.
Severin fand, dass es gut funktionierte, zumindest wenn man davor einen kleinen Wohlfühlcocktail aus Schmerz- und Betäubungsmitteln verabreichte. Sonst konnte es bereits zu Krämpfen kommen, bevor der Patient das Bewusstsein verlor. Dazu gab Severin auch noch gern ein Medikament gegen Übelkeit. Die letzten wachen Momente mit dem Besitzer sollten schließlich von lästigen Nebenwirkungen ungetrübt bleiben. Erst wenn Severins Wohlfühlcocktail seine Wirkung voll entfaltete und das Tier eingeschlafen war, folgte das Relieve. Und er würde diesen Cocktail so gestalten, damit Apas letzte Reise eine möglichst angenehme werden würde.
Während Frau Bachmayr ihre Stirn gegen Apas presste und ihm gut zuredete, kam Jedna in den Untersuchungsraum und begann, diesen aufzuwischen. Dass dieses Unterfangen während des Besuches eines Bernhardiners mit dichter Unterwolle vollkommen sinnlos war, schien sie nicht zu kümmern, aber Severin war ja schon erleichtert, dass sie ohne Zigarette erschien. Für einen Moment hielt sie inne, richtete sich auf und beobachtete Severin, während er gerade die Fläschchen mit dem Relieve, dem Opioid und dem Narkosemittel aus dem Kühlschrank holte und sie säuberlich auf einem kleinen Tablett anordnete. Interessiert stützte Jedna sich auf ihren Mopp, während er in einer Spritze Opioid und Narkosemittel mischte: Medetomidin zur Beruhigung, Buprenorphin dagegen wirkte schmerzstillend und euphorisierend.
Severin schnippte gegen die Spritze, damit sich darin alles zu einem wunderbaren, goldgelben Wohlfühlmix vermischte. Aus den Augenwinkeln sah er ein leuchtend pinkes Post-it auf dem Buprenorphin-Fläschchen, das er beim Herausnehmen übersehen hatte.
Der Professor.
Immer wieder kam er außerhalb der Öffnungszeiten und kontrollierte, ob Severin Medikamente verabreicht hatte, die «nur» dem Tierwohl dienten, aber nicht zwingend notwendig waren. Offenbar war er dahintergekommen, dass er gestern schon bei einer Euthanasie das starke Schmerzmittel verwendet hatte.
Unerträglich! So eine unnötige Verschwendung! Daneben ein weinendes Smiley und die Initialen S.T.
Severin widerstand der Versuchung, das Post-it abzureißen. Wenn er es draufließ, würde der Professor vielleicht nicht dahinterkommen, dass er es wieder verwendet hatte.
In einer zweiten Spritze zog er genug Relieve für einen fünfzig Kilogramm schweren Bernhardiner auf und legte sie neben die erste. Jedna brummte etwas, senkte den Blick und widmete sich wieder dem Boden.
«Bitte einfach weiterstreicheln und füttern, ich werde ihm einen Venenkatheter setzen», erklärte Severin an Frau Bachmayr gewandt.
Sie runzelte die Stirn. «Können Sie das denn allein?»
«Bei Apa schon, er ist wirklich ein Braver.»
Severin holte einen Katheter, eine Stauschlaufe und ein paar Klebestreifen aus einer Lade, dann die Rasiermaschine, mit der er eine Stelle an Apas flauschiger Vorderpfote ausrasierte, während der Bernhardiner ein paar Leckerli aus Frau Bachmayrs Hand schlabberte. Normalerweise brauchte man tatsächlich jemanden, der das Tier fixierte und die Vene staute, aber Severin hatte lernen müssen, allein zurechtzukommen. Nachdem alles bereit war, schob er den Katheter zügig in flachem Winkel durch die Haut in die Vena Cephalica hinein. Sobald er die Nadel aus dem Katheter zog, folgten ein paar Blutstropfen. Bingo! Das Ding saß. Und Apa hatte nicht das Geringste gespürt. Severin lächelte erleichtert. Sofort fixierte er den Katheter mit Klebeband und holte die Spritze mit dem Wohlfühlcocktail.
«Das hier wird ihn einschlafen lassen», erklärte er sanft. «Wichtig ist, dass wir jetzt möglichst ruhig sind. Stresshormone interagieren mit der Narkose und verzögern die Wirkung.»
«Hier, mein Großer», murmelte Frau Bachmayr und ließ den Bernhardiner die restlichen Leckerlis von ihrer Hand schlecken, während sie ihn weiterkraulte.
Severin musste sich kurz abwenden, so nah ging ihm die Sache. Auf der Uni hatte man ihnen in Kommunikationsseminaren beigebracht, bei trauernden Tierbesitzern die richtigen Worte zu finden. Für Severin war das keine Hilfe, er brach beim Einschläfern immer selbst in Tränen aus.
«Wenn er schläft, bekommt er das eigentliche Euthanasiemittel.»
Er hörte nur ein leises Schluchzen, dann nickte Frau Bachmayr, während sie ihr Gesicht in Apas Fell vergrub. Langsam verabreichte Severin seinen Wohlfühlcocktail über den Katheter in die Vene. Bis auf Jednas Wischen und das Schluchzen von Frau Bachmayr war es still geworden, während Apa allmählich schläfrig zu werden begann und Severin ihm zusätzlich ein Mittel gegen Übelkeit verabreichte.
Plötzlich war das Aufheulen eines herannahenden Motors zu hören. Apa zuckte zusammen und hob erschrocken den Kopf. Jedna stieß einen knurrenden Fluch in ihrer Muttersprache aus und tauschte einen Blick mit Severin. Der unterdrückte ein Augenrollen. Sie beide kannten das Auto, das dieses Geräusch verursachte. Es gab Männer, für die war es eine «emotionale Sache», das Gaspedal so durchzudrücken, dass der Motor laut aufheulte, unangenehm laut, wie Severin fand. Ein Auto, das sich dafür eignete, derartige Bedürfnisse zu befriedigen, war ein Porsche 911 Carrera S, und ein Mann, der diese Bedürfnisse verspürte, Professor Siegfried Thalheim.
Apa winselte, während Severin ihn festhielt. Das Summen eines elektrischen Garagentors ertönte. Der Professor parkte nie vor der Praxis oder auf dem Parkplatz vor Gut Thalheim. Er befürchtete, die Leute würden vielleicht weniger spendenbereit sein, wenn sie den Wagen sahen, den der Eigentümer des Gnadenhofs fuhr. Außerdem hatte er Severin gegenüber einmal erwähnt, dass er herumlaufende Kinder für ein Risiko hielt – für den Lack seines Autos.
Jemand sperrte die Hintertür zur Praxis auf, es folgten rasche Schritte durch Lager- und Röntgenraum. Kurz darauf betrat Siegfried Thalheim den Raum, wie meistens in einem seiner Trachtenanzüge, mit rosa Hemd und Stecktuch. Severin hatte sich immer gefragt, warum er Tracht trug, soweit er wusste, stammte der Professor aus einer Frankfurter Bankerfamilie – und auch hier in der Gegend war diese Kluft nicht üblich. Vielleicht ging es seinem Chef auch damit wieder um seine Marke, seine Brand, die ihm wichtiger als alles andere war. Sehen Sie her, hier steht ein bodenständiger Mensch mit traditionellen Werten, der vertrauenswürdig genug für Ihre Spende ist.
Der Professor wirkte etwas blass, ein paar Strähnen hingen ihm in die Stirn. Er war der einzige Severin bekannte Mensch, der immer mit einer Pfeife herumlief, wenn er unterwegs war – so auch jetzt. Ein schönes Modell aus rotbraunem Holz mit einem goldenen Mundstück. Severin hasste Zigarettengeruch, doch das, was der Pfeife entströmte, roch süßlicher und etwas weniger störend, das musste er dem Professor lassen.
Dessen hektischer Blick streifte Severin und Jedna und blieb an Frau Bachmayr und Apa hängen.
«Professor Thalheim?», fragte Frau Bachmayr verwirrt.
Die Ansprache aktivierte auf Knopfdruck Thalheims joviale Fernsehpersona. Er lächelte herzlich und breitete die Arme aus.
«Einen wunderbaren guten Abend.» Er ging zu Frau Bachmayr hinüber und drückte ihre Hände. «Verzeihen Sie bitte, dass ich erst jetzt komme, ich war wegen eines Notfalls unterwegs.»
Von dieser Selbstverständlichkeit hätte Severin sich schon öfters gern ein Scheibchen abgeschnitten. Da Apas Narkose langsam ihre Wirkung zu entfalten schien, wagte er es, den Hund loszulassen und sich aufzurichten. Der Professor räusperte sich, runzelte konzentriert die Stirn und rückte seine Pfeife zurecht, sodass er einen Moment wie eine Art Sherlock der Veterinärmedizin wirkte, während er Apa fachmännisch musterte.
«Doktor Herr, Diagnose?»
Severin unterdrückte ein Augenrollen. «Fortgeschrittene Linksherzinsuffizienz, Flüssigkeitsstau in Lunge, chronische Hypoxie.»
«Prognose?»
«Infaust.» Das war der schöne medizinische Begriff dafür, dass Hopfen und Malz verloren waren. «Frau Bachmayr war gerade dabei, sich zu verabschieden.»
Der Professor seufzte und schüttelte mitleidig den Kopf. «Was für ein trauriger Tag.» Er legte Apas Besitzerin die Hand auf die Schulter. «Es tut immer weh, wenn ein Familienmitglied geht. Mein tief empfundenes Beileid.»
«Danke», murmelte Frau Bachmayr ein wenig verwirrt.
Professor Thalheim wandte sich kurz ab und fuhr sich über das Gesicht. «Verzeihen Sie», murmelte er. «Manchmal wird mir das alles ein bisschen zu viel.» Er räusperte sich erneut. «Welches Euthanasieprotokoll haben Sie gewählt, Doktor Herr?»
Severin presste die Lippen zusammen. «Sedierung mit Medetomidin und Buprenorphin. Ich wollte gerade Relieve verabreichen.»
Der Professor hatte sich meist sehr gut im Griff, trotzdem erkannte Severin den Anflug von Ärger genau, der jetzt über seine Miene huschte.
«Na, da bin ich ja gerade noch rechtzeitig gekommen», erklärte Thalheim, während Severin rot anlief. «Ich kann es dem Doktor Herr nicht vorwerfen, er praktiziert ja erst seit Kurzem, da fehlt einfach die Erfahrung.»
«Verzeihung, Professor». Frau Bachmayr richtete sich ein wenig auf. «Dr. Herr behandelt Apa seit einem Jahr. Ich kenne keinen Tierarzt, der sich besser gekümmert hätte. Sogar bei uns daheim hat er einmal vorbeigeschaut und wirklich immer das Beste für meinen Hund getan.»
«Ach ehrlich?», meinte der Professor mit einem kurzen Seitenblick, dann legte er zu Severins Schrecken den Arm um ihn und drückte ihn kurz an sich. «Und genau wegen dieser Hingabe wollte ich ihn auch unbedingt einstellen. Das mit der Erfahrung, das bekommen wir auch noch hin. Wichtig ist, dass das Herz am rechten Fleck ist. Das Protokoll des Kollegen zieht das Einschläfern nur unnötig in die Länge. Manchmal ist das Einfachste das Beste. Einfach sofort eine schöne Dosis Relieve, und wir bekommen eine ganz sanfte Reise in den Hundehimmel, meinen Sie nicht?»
Severin wäre am liebsten aufgefahren, aber es gelang ihm gerade noch, sich zu beherrschen und kurz zu lächeln.
«Meine liebe Frau …»
«… Bachmayr.»
«Würden Sie bitte kurz draußen warten? Ich möchte Herrn Doktor ein paar Dinge beibringen und natürlich den leider ganz falschen Einstieg in die Euthanasie korrigieren, den er initiiert hat.»
«S-sie wollen, dass ich meinen Hund allein lasse? Jetzt?»
Ihre Finger krallten sich in Apas weiches Fell.
«Er ist in den besten Händen», bestätigte der Professor. «Und ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie ausreichend Gelegenheit bekommen werden, sich von ABBA …»
«Apa!»,
«Genau … sich von ihm zu verabschieden.»
Frau Bachmayrs wandte sich hilfesuchend an Severin. Jedna hatte aufgehört zu wischen und schien ihnen zu lauschen.
«Ich pass auf ihn auf», erklärte Severin. «Ich versprech’s Ihnen.»
Frau Bachmayr nickte, kraulte Apa noch einmal fest und verließ dann den Untersuchungsraum.
«Sie auch», erklärte Thalheim an Jedna gewandt, ohne dass er sich bei ihr die Mühe machte, freundlich zu klingen. «Wir haben hier etwas zu besprechen.»
Jedna starrte den Professor aus ihren hellen Augen an. Für einen seltsamen Moment hoffte Severin, sie würde sich weigern, aber dann zuckte sie nur mit den Schultern und schlurfte Frau Bachmayr hinterher. Bevor sie den Raum verließ, konnte Severin ein wenig freundliches Murmeln aus ihrer Kehle hören. Dann schloss sie die Tür ein wenig zu heftig.
Großartig. Der Professor hatte ihn dabei erwischt, wie er Medikamente verschwendet hatte. Die Standpauke würde für Severin nicht angenehm werden. Vielleicht entließ er ihn auch. Aber auf der anderen Seite, es würde wahrscheinlich nicht so leicht sein, jemanden zu finden, der den Job für so wenig Geld machte. Aber was nun folgte, war viel schlimmer, als Severin es sich ausgemalt hatte. Der Professor lächelte breit und nahm ihn in die Arme.
«Mein lieber Doktor Herr, ich muss Ihnen gratulieren. So ein inniges Verhältnis zwischen Ihnen und der Tierbesitzerin, vermutlich ist sie ganz verliebt in Sie.» Er löste sich wieder und hob den Zeigefinger. «Glauben Sie mir, das passiert mir ständig, damit muss man als Mann erst mal umgehen lernen.»
«Ähm. Frau Bachmayr hat eine Partnerin.»
«Die wohl gerade ziemlich eifersüchtig ist.»
Severin warf einen Blick auf den glücklicherweise ruhig vor sich hindämmernden Apa.
«Professor, ich möchte …»
«Sagen Sie nichts! Glauben Sie mir, heute ist Ihr Glückstag.»
«Wie meinen Sie das?»
Der Professor hob die Hände und schloss die Augen. «Doktor Herr, wie lange arbeiten Sie schon bei mir?»
«Eineinhalb Jahre.»
«Gott, wie die Zeit verfliegt.»
Allerdings. Severin wusste noch genau, wie die ersten Wochen verlaufen waren. Die Praxis war ein komplettes Chaos gewesen, Medikamente, Spritzen – einfach alles war nur irgendwie in die Regale geschmissen. Severin vermutete einen Racheakt seiner Vorgängerin, die nach nur drei Wochen ihren Dienst quittiert hatte. Vielleicht hatte sie den Sauhaufen aber auch so übernommen und deshalb das Handtuch geworfen.
«Wieder einer.» So hatten ihn die wenigen Stammkunden der Praxis lange begrüßt.
«Ich habe Ihnen ja damals zugesagt, dass Ihr Verdienst mit der Erfahrung steigen würde.»
Das stimmte. Der Professor hatte eine Einschulungsphase von sechs Monaten vereinbart, nach der er ihm mehr bezahlen wollte. In dieser Zeit hatte sich Severin fast alles selbst beigebracht, weil Thalheim kaum je dagewesen war. Und als er nach sechs Monaten seinen Mut zusammengenommen hatte, um Thalheim danach zu fragen, hatte dieser das unwirsch abgetan. Was wollen Sie denn, Sie haben ja noch gar nichts von mir gelernt!
«Heute ist es endlich so weit, und Sie haben sich das auch wirklich verdient, das muss ich sagen.»
«Oh, danke Professor.» Severin fühlte eine unerwartete Freude in sich aufsteigen. Endlich war seinem Chef aufgefallen, mit wie viel Herzblut er seine Arbeit verrichtete.
Für einen Moment streifte Thalheims Blick das Tablett mit den Spritzen und den Medikamentenfläschchen, dann öffnete er seine Raulederumhängetasche und kramte nach ein paar Akten.
«Ich Schussel», brummte er. «Ich habe meinen Füller im Wagen liegen lassen, den werde ich brauchen.»
«Oh, ich habe genug Stifte hier.» Severin lief zu seiner kleinen Büroecke hinüber und hob einen Ständer mit Kugelschreibern hoch.
«Wichtige Dinge unterzeichne ich nur mit meinem Füller. Wären Sie so freundlich?»
Thalheim warf Severin den Autoschlüssel zu. Geistesgegenwärtig fing er ihn auf und runzelte die Stirn. «Sollten wir nicht zuerst Frau Bachmayr zurückholen und Apa euthanasieren?»
«Dauert nicht lang.» Der Professor spielte nervös mit den Fingern. «Sie müssen sich nur beeilen.»
Severin maß Apa mit einem kritischen Blick. Der Bernhardiner döste entspannt vor sich hin. Das Röcheln aus seiner Kehle war kaum noch zu hören.
«Gut», murmelte er. «Sehen Sie nach dem Patienten, wenn man bei der Mischung zu lange wartet, kann es manchmal …»
«Ich weiß», erwiderte der Professor milde lächelnd.
«Natürlich!» Severin wandte sich ab und lief zum Hinterausgang, der direkt mit der Garage verbunden war.
Der silbergraue Porsche des Professors schien ihn zu erwarten. Severin sperrte die Beifahrertür auf und steckte den Kopf ins Innere des Wagens. Es roch nach einer Mischung aus Leder und Kokos-Vanille-Pflegeöl. Doch leider war der Beifahrersitz leer. Severin seufzte und schüttelte den Kopf. Nach kurzem Zögern öffnete er das Handschuhfach, das außer ein paar Markensonnenbrillen nichts weiter enthielt, sah auf die Rückbank, wo ebenfalls nichts zu finden war, und ging schließlich zum Kofferraum, wo er endlich ein edles Etui mit den Initialen des Professors fand.
«Entschuldigung», hauchte Severin, sobald er zurückgehastet kam, «hat ein bisschen länger gedauert.»
Ein Blick verriet ihm, dass Apa immer noch ruhig vor sich hindöste, Gott sei Dank.
Der Professor stand gerade vor der Edelstahlarbeitsfläche und inspizierte die Spritzen, die Severin schon vorbereitet hatte, als er hastig aufblickte.
«Alles gut, alles gut», hauchte er und rieb sich den Arm. «Alles … bestens.» Er lächelte entspannt.
Seltsam, im Vergleich zu vorhin wirkte er nun weniger hibbelig. Wer weiß, vielleicht hatte er wieder derart viele Pressetermine gehabt, dass er danach eine gewisse Zeit gebraucht hatte, um runterzukommen.
«Also», erklärte Thalheim lächelnd und reichte ihm ein Klemmbrett mit einem Blatt Papier. «Wir wollen etwas machen, das sich auch für Sie lohnt. Immerhin, wenn ich Ihnen das Gehalt erhöhe, frisst die Steuer das meiste davon weg.» Er legte die Hand auf Severins Schulter.
«Aha.»
«Am besten geht das mit einer besonderen Art von Bonus.»
«Ein Bonus? Aber eine Gehaltserhöhung wäre mir ehrlich gesagt schon …»
«Tatatat!» Professor Thalheim hob die Hand. «Warten Sie doch erst mal ab, Sie Schlingel, bevor Sie mit mir verhandeln.» Er lachte und klopfte Severin etwas zu fest auf den Rücken. «Ich rede von einem Bonus, der Ihr fesches Gesicht schmelzen lassen wird. Was halten Sie von fünfundzwanzigtausend Euro … und bevor Sie jetzt meckern, steuerfrei.»
Severin riss überrascht die Augen. «Oh, das ist, wow …» Er fuhr sich durch die Haare. «Aber soviel ich weiß, sind Boni ebenfalls steuerpflichtig.»
Nicht dass Severin mal einen bekommen hätte, vielmehr hatte er das in den Nachrichten über unverhältnismäßig hohe Managerboni gelesen.
«Gut, dass Sie das ansprechen, deshalb werden wir das anders regeln.» Thalheim klopfte mit dem Zeigefinger auf das Klemmbrett vor Severins Brust. «Wir machen das über Gegengeschäfte, passen Sie auf: Wir unterzeichnen beide dieses Papier. Es besagt lediglich, dass Sie Spendengelder für Gut Thalheim entgegengenommen und betreut haben. Sie erbringen damit eine Leistung für den gemeinnützigen Verein. Der ist von der Steuer ausgenommen. Danach zahlt Ihnen der Verein einen Bonus, für den Sie keinen Cent Abgaben leisten müssen.»
Severin zögerte. «Sind Sie sicher, dass das so funktioniert?»
«Aber ja. Einfach war das nicht, mir das für Sie auszudenken, das kann ich Ihnen sagen.»
Thalheim nahm ihm das Klemmbrett aus der Hand, holte seinen Füller aus dem Etui und unterschrieb. Severin sah währenddessen besorgt zu Apa hinüber. Das Ganze dauerte schon viel zu lange. Was, wenn Apa aufwachte und Angst bekam, weil seine Besitzerin nicht da war? Thalheim reichte Severin Blätter und Füller zurück.
«Bitte schön, ich leite dann gleich alles in die Wege, und nächste Woche haben Sie Ihren Bonus, was sagen Sie?»
«Ähm.» Severin schüttelte den Kopf. Die verwirrenden Details von Thalheims Vorschlag schwirrten ihm im Kopf herum. «Das klingt ja alles ganz wunderbar. Kann ich mir das mit nach Hause nehmen?»
«Mit nach Hause?» Thalheim lachte. «Ich wünschte, ich hätte die Zeit, Ihnen in den nächsten Tagen deswegen hinterherzulaufen. Mir wäre wirklich recht, wenn wir das heute noch erledigen könnten.»
«Gut, dann lese ich es mir einfach hier durch?»
«Ja, ja gern, aber bitte denken Sie an den Patienten, wir wollen ihn hier nicht unnötig lang liegen lassen, den Armen.»
«Natürlich.»
Severin überflog die Seiten. Draußen hörte er leises Gemurmel. Telefonierte Frau Bachmayr? Vermutlich hielt sie es kaum aus zu warten, während Apa hier drin war. Jedna hustete. Ein Zeichen, dass er sich beeilen musste.
Das Schreiben wirkte nicht wie von einem Juristen aufgesetzt, sondern als hätte der Professor es hastig heruntergetippt, ohne Referenz auf irgendein Gesetz. Mit seiner Unterschrift bestätigte Severin tatsächlich, Gelder übernommen zu haben, aus dem Verkauf von Gut-Thalheim-Merchandise-Produkten und aus Einzel- und Abonnementsspenden. Er fuhr die Zeilen mit seinem Zeigefinger entlang, der mit jedem Buchstaben stärker zitterte.
«Professor, ich soll hier unterschreiben, dass ich zwei Millionen Euro an Spendengeldern übernommen habe?»
«Ja, natürlich. Wie gesagt, der Bonus muss natürlich der Verantwortung entsprechen. Deshalb müssen wir suggerieren, dass Sie eine entsprechend große Summe verwaltet haben.»
«Hier steht nur übernommen.»
«Das ist juristisch das Gleiche!»
«Aber …» Ein leises Winseln drang aus Apas Kehle. Severin schluckte. «Ich meine, wird da niemand Fragen stellen? Zum Beispiel, ob es dieses Geld wirklich gibt? Oder wo es ist?»
«Bei einem gemeinnützigen Projekt schert das niemanden.»
«Ich glaube, damit würde ich mich strafbar machen.»
Professor Thalheim seufzte und griff sich an die Brust. «Sie meinen also, ich würde Ihnen auf so schändliche Weise mitspielen?»
«Nein, nein, aber ich glaube nicht, dass irgendjemand das einfach so unterschreiben würde.» Es sei denn, die Person wäre sehr betrunken, aber Severin wollte nicht respektlos wirken.
«Dabei haben wir so viel gemeinsam erlebt», insistierte Thalheim. «Erinnern Sie sich noch, als wir gemeinsam unsere Wölfe kastriert haben?»
«Schwer zu vergessen.» Sie hatten damals die ziemlich gefährlichen Timberwölfe eines Zoos übernommen und verhindern wollen, dass sie sich unkontrolliert vermehrten. Der Professor hatte sich dazu bereit erklärt, Severin bei der Kastration zu «helfen». Theoretisch. Praktisch stand Severin allein da. Es war eine Nacht, die er nie vergessen würde.
«Was für ein wunderbares Erlebnis, nicht wahr?» Der Professor klopfte Severin auf die Schulter.
«Ja, aber ich muss …» Severin schaute schnell zu Apa, dem er endlich sein Frauchen an die Seite holen wollte.
«Und daher ist es mir eine besondere Freude, dass wir unsere Zusammenarbeit heute auf eine neue Stufe stellen.»
Severin blinzelte verwirrt, dann besann er sich. «Danke für Ihre Mühen, aber Ihren Vorschlag verstehe ich nicht gut genug. Mit zweihundert Euro brutto mehr wäre ich wirklich zufrieden.»
Thalheim sah ihn aus blutunterlaufenen Augen an. «Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?», flüsterte er. «Wissen Sie, wie viel ich geopfert habe, damit ich Ihnen dieses Angebot machen kann?»
«Das ist sehr freundlich, aber …»
«Sie verstehen einen Scheiß …», murmelte Thalheim und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Ich will, dass Sie das unterschreiben!», presste er zwischen seinen Zähnen hervor, und seine Finger bohrten sich schmerzhaft in Severins Schulter. «Nun machen Sie schon!» Seine Stimme bebte, als könnte er sich nur mühsam beherrschen.
Jetzt, wo er ihm so nah war, nahm Severin den Pfeifengeruch noch intensiver wahr. Da schwang eine chemische Note mit, die ihm noch nie aufgefallen war.
Aus Apas Richtung drang wieder ein Winseln, dann ein leises Röcheln zu Severin. «Vielleicht ist heute kein besonders guter Tag dafür.» Er entwand sich Thalheims Griff. «Ich kümmere mich um den Patienten und bringe das Formular morgen mit.»
«Morgen?» Der Professor lachte nervös. «Morgen ist viel zu spät!»
«Dann muss ich leider passen.»
Thalheim starrte ihn eine Weile an. Sein Teint wirkte ungewöhnlich blass, sein Gesicht geschwollen, fast teigig. Er schniefte ein paar Mal und rieb sich die Nase. «Schön!», meinte er schließlich und klatschte in die Hände. «Sehr schön!»
Severin wollte sich gerade wieder Apa zuwenden, als sich sein Leben von einem Augenblick zum nächsten in einen wirren Albtraum verwandelte. Der Professor griff in die Innentasche seines Trachtensakkos, und im nächsten Moment starrte Severin in den Lauf einer schlanken, nagelneu wirkenden Pistole.
«Wer hätte denn erwartet, dass Sie so ein Theater machen würden?»
Severin schluckte. «Was machen Sie da?»
«Das haben Sie sich selbst eingebrockt!»
«Sind Sie wahnsinnig? Frau Bachmayr und Jedna warten draußen.»
«Glauben Sie, das juckt mich noch?» Thalheims Augen flitzten nervös zur Tür. «Das ist alles Ihre Schuld, ich dachte wirklich, Sie unterschreiben … Sie machen doch sonst immer brav alles, was man Ihnen sagt.»
Severin konnte den Blick nicht vom Pistolenlauf wenden. Gleichzeitig wurde Apas bemitleidenswertes Röcheln immer lauter.
«Still du», zischte der Professor und gab Apa einen Klaps auf den Hinterkopf. Severin unterdrückte eine Welle an Wut, die in ihm bei dem Anblick emporschwappte.
«Professor, die rufen sicher die Polizei und kommen rein, wenn Sie schießen.»
So sicher war sich Severin allerdings nicht. Jedna würde wahrscheinlich einfach um seine Leiche herumwischen, damit sie endlich fertig würde, aber wenigstens war da noch Frau Bachmayr.
Der Professor lachte schrill auf. «Das kratzt mich nicht mehr. Wenn Sie das nicht unterschreiben, bin ich am Ende. Ob ich Sie abknalle oder nicht, ist dann auch schon egal.»
«Ich bin nicht sicher, ob eine mit Pistole erzwungene Unterschrift vor Gericht standhalten würde», wandte Severin ein.
«Dafür sorgen dann meine Anwälte», erklärte der Professor grinsend. «Ausgerechnet der junge Tierarzt, den ich wie einen Sohn behandelt habe, der gar mein Nachfolger hätte werden können, veruntreut die Spenden der letzten beiden Jahre, stiehlt das Geld, das unsere Tiere zum Überleben brauchen.»
Severin runzelte die Stirn. «Wovon reden Sie da?»
Der Professor lächelte spöttisch. «Es ist doch so … Keine Sau kennt Sie, und Sie sind dem Gut sehr nahe, nah genug, um so ein Ding drehen zu können, das ist ideal für mich. Denn mir werden alle glauben, müssen Sie wissen. Ihnen dagegen …» Er zeigte mit einer halbherzigen Geste auf Severin und setzte seine betroffene Fernsehmiene auf. «Gewiss ist Dr. Herr kein schlechter Mensch. Ich fühle mich so elend. Wenn er doch nur mit mir geredet hätte, jetzt sind es vor allem unsere Tiere, die den Preis zahlen.» Der Professor seufzte ergriffen.
«Dieses Geld hat es tatsächlich gegeben», murmelte Severin. «Spendengelder für Gut Thalheim. Was haben Sie damit gemacht?»
«Sie haben keine Ahnung, wie die sind …» Die Miene des Professors erstarrte. «Unterschreiben Sie!»
Er machte einen Schritt auf Severin zu, der ebenso weit zurückwich, ehe er das kalte Metall des Arbeitstisches in seinem Kreuz spürte.
Der Professor folgte ihm in aller Ruhe. So unglaublich es auch war, sein Vorgesetzter befand sich in einem Extremzustand, und Severin war sicher, er würde ihn erschießen, wenn er um Hilfe rief oder versuchte davonzulaufen, egal, welche Konsequenzen das für Thalheim hätte. Wahrscheinlich würde er es sogar aussehen lassen, als hätte er in Notwehr gehandelt. Denn wer würde dem allseits geliebten Gründer von Gut Thalheim so eine Gräueltat schon zutrauen?
Sein Chef drückte ihm die Mündung gegen die Kehle. «Jetzt sei ein guter Bub und unterschreib. Vielleicht helfe ich dir danach sogar, dass die Sache für dich gar nicht so schlimm wird.»
Severin schluckte. «Ich hab Sie mal bewundert», murmelte er, während der Professor ihm den Stift und den Vertrag in die Hand drückte.
«Und damit hatten Sie natürlich recht – los jetzt!»
Severin hob den Stift und setzte an.
Plötzlich drang aus Apas Kehle ein durchdringendes Jaulen.
«Oh nein», flüsterte Severin. «Er bekommt keine Luft mehr, er …»
Wie aufs Stichwort wurde draußen eine ängstliche Stimme laut. Vielleicht hatte er Glück und jemand würde hereinkom…
Der Professor fuhr herum und funkelte Apa an.
«Bitte lassen Sie mich ihm etwas ge…»
Doch noch bevor Severin den Satz zu Ende bringen konnte, schoss die freie Hand des Professors nach vor und drückte dem röchelnden Apa die Kehle zu. «Sei endlich still, du Scheißvieh», zischte er.
Severin blinzelte. Für einen Moment betrachtet er alles vor ihm wie ein seltsames Stillleben. Die Pistole an seiner Kehle. Das wutverzerrte, von Schweißperlen bedeckte Gesicht des Professors. Dessen starrer Blick auf den erbärmlich winselnden Apa. Die Hand am Kehlkopf.
Es fühlte sich an, als hätte jemand den Auslöser einer Bombe betätigt. Der Zorn, den Severin spürte, fegte alles hinweg, die Panik, die Vernunft, seine Unentschlossenheit … Er drehte sich zur Seite und packte die Spritze mit dem Relieve. Aus dem Augenwinkel musste der Professor die Bewegung bemerkt haben und wandte sich um. Für einen winzigen Moment schien er zu ahnen, was gleich passieren würde.
Dann rammte Severin ihm die Spritze in die Brust.
Ohne sich zu verbiegen, glitt die Kanüle am linken Rand des Trachtenjacketts vorbei und drang unter einem auf sein Hemd gesticktes Edelweiß in Siegfried Thalheims Brust ein. Einen Zentimeter, zwei, drei, vier. Im Bruchteil einer Sekunde spürte Severin, wie er den Widerstand der Brustwand durchdrang und sein Ziel erreichte.
Der Professor stieß ein überraschtes Röcheln aus, wollte die Nadel herausziehen. Aber durch unzählige Injektionen bei widerspenstigen Tieren hatte Severin gelernt, schnell zu sein, wenn es sein musste, und drückte Thalheim das Relieve in den Körper, bevor dieser die Spritze zu fassen bekam. Dann entwand er ihm geistesgegenwärtig die Pistole.
«Es brennt», zischte Thalheim. «Es brennt so!» Er zog die Spritze aus der Brust.
O Gott! O Gott! Was hatte er da gerade getan? Severin schluckte.
«Das ist die mangelnde Prämedikation», erwiderte er erschrocken. «Deshalb soll man Relieve nicht direkt injizieren!»