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Ernst Fraenkels 'Doppelstaat' ist ein Standardwerk über die Politik, die Justiz und das Recht im Nationalsozialismus. Fraenkels These ist, dass im Nationalsozialismus zwei Formen der Herrschaft nebeneinander bestehen: Im "Normenstaat" gelten die bisherigen Rechtsvorschriften in dem Umfang weiter, wie es zur Funktionsfähigkeit des fortexistierenden kapitalistischen Wirtschaftssystems erforderlich ist. Im "Maßnahmenstaat" wird nicht nach rechtlichen Regeln, sondern nach Kriterien politischer Opportunität entschieden, um die Herrschaft des Regimes zu sichern und um seine spezifischen Ziele – wie die Judenverfolgung - durchzusetzen. Im Zweifel entscheidet der Maßnahmenstaat nach seinem Interesse, ob eine Angelegenheit nach den Regeln des Normenstaates oder nach den Bedürfnissen des Maßnahmenstaates behandelt wird. Das Buch fand seit Mitte der siebziger Jahre in der wissenschaftlichen Literatur und der Publizistik eine breite Resonanz. Der "Doppelstaat" erreichte den Rang eines Klassikers.
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Seitenzahl: 507
Veröffentlichungsjahr: 2021
Ernst Fraenkel (1898 – 1975)
Hanna Fraenkel, geb. Pickel (1904 – 1975)
November 1940 in den USA
Ernst Fraenkel
4. Auflage
Mit einem Nachwort von Horst Dreier
Herausgegeben von Alexander v. Brünneck
Rückübersetzung aus dem Englischenvon Manuela Schöps in Zusammenarbeitmit dem Verfasser (1974)
E-Book (ePub)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: +malsy, Bremen
Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)
ePub:
ISBN 978-3-86393-588-7
Auch als gedrucktes Buch erhältlich:
4. Auflage CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2019
© Europäische Verlagsanstalt/Rotbuch Verlag, Hamburg 1974, 2001
Print: ISBN 978-3-86393-019-6
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www.europaeische-verlagsanstalt.de
Meiner Frau,ohne deren hingebungsvolle Fürsorge und unermüdlicheErmutigung dieses Buch nicht entstanden wäre,in Erinnerung an die gemeinsam erlebten, schwerenJahre der bürokratisierten Rechtlosigkeit
E. Fr.
Alexander v. Brünneck
Vorwort des Herausgebers zur 2. Auflage (2001)
Vorwort des Herausgebers zur 3. Auflage (2012)
Vorwort des Herausgebers zur 4. Auflage (2019)
Dokumente in Faksimile 1934 bis 1940
Abkürzungen
Vorwort zur deutschen Ausgabe (1974)
Vorwort zur amerikanischen Ausgabe (1940)
Einleitung zur amerikanischen Ausgabe (1940)
Teil I
Die Rechtsordnung des Doppelstaates
Kapitel I: Der Maßnahmenstaat
1.Die Entstehung des Maßnahmenstaates
2.Die Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten
a.Allgemeine Zuständigkeitsregelung
b.Die Staatspolizeibehörden
3.Die Auflösung des Rechtsstaates
a.Geschichtliche Vorbemerkung
b.Die Auflösung des Rechtsstaates im Spiegel der Rechtsprechung
1.Die Beseitigung der verfassungsrechtlichen Schranken
2.Die Beseitigung der sonstigen gesetzlichen Schranken
3.Die Beseitigung der polizeirechtlichen Schranken
4.Die Beseitigung der gerichtlichen Nachprüfung
a.Vorbemerkung
b.Nachprüfung durch Verwaltungsgerichte
c.Nachprüfung durch Zivilgerichte
d.Nachprüfung durch Strafgerichte
5.Die Partei als Organ des Maßnahmenstaates
6.Das Politische als Objekt des Maßnahmenstaates
4.Der Maßnahmenstaat in Aktion
a.Die Ablehnung der formalen Rationalität
b.Die Verfolgung der Ketzer
Kapitel II: Die Grenzen des Maßnahmenstaates
Kapitel III: Der Normenstaat
1.Doppelstaat und Gewaltenteilung
a.Maßnahmenstaat und Regierung
b.Normenstaat und Verwaltungsermessen
2.Die Garanten des Normenstaates
a.Der Nationalsozialismus als Garant des Normenstaates
b.Die Gerichte als Garanten des Normenstaates
3.Der Normenstaat als Hüter der Rechtsinstitutionen
a.Die Gewerbefreiheit
b.Die Vertragstreue
c.Das Privateigentum
d.Die Lauterkeit des Wettbewerbs
e.Das Arbeitsrecht
f.Das immaterielle Güterrecht
4.Der Normenstaat und das Parteiprogramm
a.Gemeinnutz geht vor Eigennutz
b.Der Rassegedanke
c.Der Status der Juden
5.Die Stände als Organe des Normenstaates
a.Die wirtschaftliche Selbstverwaltung
b.Die Deutsche Arbeitsfront
Teil II
Die Rechtslehre des Doppelstaates
Kapitel I: Die Ablehnung des rationalen Naturrechts durch den Nationalsozialismus
Kapitel II: Der Nationalsozialismus im Kampf gegen das Naturrecht
1.Das christliche Naturrecht
2.Das weltliche Naturrecht
Kapitel III: Nationalsozialismus und gemeinschaftliches Naturrecht
1.Gesellschaftliches und gemeinschaftliches Naturrecht
2.Gemeinschaftliches Naturrecht und »Konkretes Ordnungsdenken«
Teil III
Die Rechtswirklichkeit des Doppelstaates
Kapitel I: Die Rechtsgeschichte des Doppelstaates
1.Der Doppelstaat und der dualistische Staat
2.Die Geschichte des Doppelstaates in Preußen und Deutschland
a.Die Begründung der absoluten Monarchie
b.Der aufgeklärte Absolutismus
c.Die absolute Bürokratie
d.Der Rechtsstaat
Kapitel II: Die ökonomischen Grundlagen des Doppelstaates
Kapitel III: Die Soziologie des Doppelstaates
1.Betriebsgemeinschaft und Werkschar
2.Volksgemeinschaft und Rüstungskonjunktur
3.Der Begriff des Politischen in der nationalsozialistischen Theorie
Anhang I:
Verfahren vor dem Reichsarbeitsgericht (Delatowsky und Genossen gegen Neue Deutsche Bestattungskasse)
Anhang II:
Verfahren vor dem Amtsgericht Berlin (»Alter Käse«)
Anhang III:
Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (RGBl. I, S. 83)
Liste der Entscheidungen
Horst Dreier
Nachwort: Was ist doppelt am »Doppelstaat«?
Zu Rezeption und Bedeutung der klassischen Studie von Ernst Fraenkel
Personenregister
Sachregister
Ernst Fraenkel (1898-1975) gehört zu den wichtigsten deutschen Politikwissenschaftlern. Er schrieb bis heute grundlegende Arbeiten zu vier politischen Systemen: über die Weimarer Republik, über den Nationalsozialismus, über die USA und über die Bundesrepublik Deutschland. Alle seine Schriften entstanden aus der unmittelbaren Anschauung eines theoretisch gebildeten, praktisch engagierten und politisch sensiblen Zeitgenossen. Fraenkels Gesammelte Schriften erscheinen seit 1999 als Gesamtausgabe in sieben Bänden.1
Fraenkel promovierte 1923 in Frankfurt am Main bei Hugo Sinzheimer, einem der Begründer des deutschen Arbeitsrechts. 1927 wurde er Anwalt in Berlin. Er war Syndikus des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes und vertrat die SPD in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten. In vielen Publikationen stritt er leidenschaftlich für die Erhaltung der Demokratie der Weimarer Republik.2 In einer dieser Veröffentlichungen formulierte Fraenkel als erster Autor das Konzept des konstruktiven Mißtrauensvotums, das 1949 in Art. 67 GG geltendes Verfassungsrecht wurde.
Die Nationalsozialisten beließen Fraenkel wegen seiner freiwilligen Teilnahme am ersten Weltkrieg – in immer beschränkterem Umfang – die Möglichkeit zur Ausübung des Rechtsanwaltsberufes. Er vertrat Gegner des Regimes und beteiligte sich an der Widerstandsarbeit des »Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK)«. Für dessen in Paris erscheinende Zeitschrift »Sozialistische Warte« schrieb er sechs Artikel, die z.T. in Deutschland als Flugblätter verteilt wurden. Rechtzeitig gewarnt floh Fraenkel am 20. September 1938 aus Berlin in die USA. Das bleibende Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus3 ist das hier in einer neuen Einzelausgabe vorgelegte Buch »Der Doppelstaat«.
Von 1939 bis 1941 absolvierte Fraenkel ein Studium des amerikanischen Rechts an der Law School der University of Chicago. Während des Krieges publizierte er in den USA zwei Bücher: die englische Fassung des hier vorgelegten Werkes unter dem Titel »The Dual State«4 und die im Blick auf die bevorstehende Besetzung Deutschlands verfaßte Studie »Military Occupation and the Rule of Law«.5 Von 1945 bis 1950 arbeitete Fraenkel als Rechtsberater bei amerikanischen Behörden in Korea.6
1951 kehrte Fraenkel nach Deutschland zurück. Seitdem lehrte er Politikwissenschaft am späteren Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Über zwanzig Jahre lang entwickelte er eine ungewöhnlich erfolgreiche Publikations- und Vortragstätigkeit zu zentralen Themen der Politikwissenschaft: In umfangreichen Amerikastudien vermittelte er der deutschen Öffentlichkeit die Prinzipien, Institutionen und Verfahren der amerikanischen Demokratie.7 Grundlegend für das Selbstverständnis der deutschen Demokratie wurden seine verbreiteten Arbeiten zur Theorie und Verfassung des Pluralismus. Sein zuerst 1964 publizierter Sammelband »Deutschland und die westlichen Demokratien« erschien in acht Auflagen.8 Fraenkels Pluralismusstudien bilden bis heute einen zentralen Bezugspunkt für die Debatten über die Konkretisierung des Demokratiegebotes des Grundgesetzes. In allen seinen neueren Arbeiten kam es Fraenkel entscheidend darauf an, Deutschland in den Kreis der westlichen Demokratien einzuführen, als deren Gegenbild er den Doppelstaat der NS-Zeit erlebt und erlitten hatte.
Die These des Doppelstaates9 ist, daß das nationalsozialistische Herrschaftssystem in zwei große Bereiche zerfällt: Im Normenstaat gelten alte und neue Vorschriften in dem Umfang, wie es zur Funktionsfähigkeit des auf Berechenbarkeit angelegten, im Prinzip weiter privatkapitalistisch strukturierten Wirtschaftssystems erforderlich ist. Im Maßnahmenstaat handeln die nationalsozialistischen Funktionsträger unabhängig von allen formalen Regeln und inhaltlichen Gerechtigkeitsvorstellungen so, wie es ihnen zur Erhaltung ihrer Macht und zur Durchsetzung ihrer spezifischen politischen Ziele – z.B. der Judenverfolgung – zweckmäßig scheint. Im Zweifel setzen sich die Prinzipien des Maßnahmenstaates gegen die des Normenstaates durch. Dieser Bezugsrahmen hat sich in vielen empirischen und theoretischen Studien als plausibel erwiesen.10
Das Spezifische des Ansatzes von Fraenkel besteht in der besonderen Form seines empirischen Zuganges: Er beschreibt die Funktionsweise des nationalsozialistischen Herrschaftssystems aus der unmittelbaren Anschauung eines Mitlebenden und Mitleidenden. Er greift aus der Fülle der politischen, administrativen und judikativen Vorgänge die typischen Beispiele heraus, wie sie nur einem wissenschaftlich und praktisch erfahrenen Autor erkennbar sind. Die von ihm ausgewählten Fälle und Tatsachen analysiert er exemplarisch im Hinblick auf ihre verallgemeinerungsfähigen Hintergründe und Konsequenzen.
Das Phänomen des Doppelstaates erklärt Fraenkel auf mehreren Ebenen: Er leitet den Doppelstaat aus sozialen, ökonomischen und politischen Interessenlagen ab. Er entwickelt den Doppelstaat aus der deutschen Staatstradition und aus den deutschen antidemokratischen Ideologien, wie sie maßgeblich bei Carl Schmitt ihren Ausdruck gefunden hatten.
Der Ansatz der Argumentation im Doppelstaat hebt sich deutlich von der Pluralismustheorie ab, die Fraenkel im Kern schon vor 1933, in ausgearbeiteter Form nach 1960 vertrat. Das ist jedoch keine theoretische Inkonsequenz, sondern notwendiger Ausdruck der unterschiedlichen Problemlagen. Der Pluralismus ist bei Fraenkel ein normatives Konzept zur Ausfüllung der Demokratiegebote der Weimarer Verfassung und des Grundgesetzes. In diesen Kategorien konnte der Nationalsozialismus nicht erfaßt werden. Im Doppelstaat ging es darum, die Erscheinungsformen und Gründe für die Vernichtung des Pluralismus zu untersuchen. Für diese Fragestellung liefert der im Doppelstaat entwickelte Ansatz ein bis heute gültiges originäres Konzept.
Ernst Fraenkels Doppelstaat ist ein Standardwerk über die Politik, die Justiz und das Recht im Nationalsozialismus. In den USA, in Deutschland und Italien erlangte der Doppelstaat den Rang eines Klassikers in der Literatur über die nationalsozialistische Epoche.
Die erste Fassung des Doppelstaates schrieb Fraenkel in Berlin in den Jahren 1936 bis 1938 unter den demütigenden Umständen, die ihm als Juden und bekannten sozialdemokratischen Gegner des Regimes auferlegt wurden.11 Er bezeichnete das 1938 abgeschlossene Manuskript selbst als den Urdoppelstaat.12 Veröffentlicht wurde der Urdoppelstaat von 1938 erstmals 1999 in Ernst Fraenkels Gesammelten Schriften, Bd. 2, S. 267 bis 473.13
Wie Fraenkel selbst bemerkte,14 beruht die Argumentation des Urdoppelstaates ganz wesentlich auf den Erfahrungen seiner Anwaltstätigkeit von 1933 bis 1938.15 Fraenkel verstand die heimliche und mühevolle Ausarbeitung des Urdoppelstaates nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als politische Aufgabe. Das Buch sollte die damals in Deutschland verbreiteten Illusionen über die Möglichkeiten einer jedenfalls teilweisen Erhaltung des herkömmlichen Rechtssystems bekämpfen. Es sollte den hinter der Aufrechterhaltung traditioneller Fassaden verborgenen wahren Charakter des Regimes entschleiern.
Im formalen Aufbau und in der Gliederung bildet der Urdoppelstaat von 1938 weitgehend die Vorlage für die als Bücher publizierten Fassungen des Dual State von 1941 und des Doppelstaates von 1974. Im Vergleich mit dem Doppelstaat von 1941/74 ist der Urdoppelstaat leidenschaftlicher, in den Formulierungen pointierter, in den Schlußfolgerungen zugespitzter. Man merkt der Urfassung noch deutlicher als den späteren Fassungen an, daß sie Fraenkel unter dem übermächtigen Druck der »bürokratisierten Rechtlosigkeit« niedergeschrieben hatte, wie er seine damaligen Lebensbedingungen in der Widmung des Doppelstaates an seine Frau Hanna Fraenkel, geb. Pickel, im Jahre 1974 charakterisierte.16 In der Sprache und der Begrifflichkeit des Urdoppelstaates schlägt sich noch mehr als in der Fassung von 1941/74 das Bemühen Fraenkels nieder, den Zeitgenossen die Augen über das Regime zu öffnen und einen eigenen Beitrag zum Widerstand gegen das Unrecht zu leisten.
Vor allem ist hervorzuheben: Der Urdoppelstaat von 1938 ist ein singuläres historisches Dokument. Er ist – was bisher in der Literatur nicht bemerkt wurde – die einzige innerhalb Deutschlands während der nationalsozialistischen Zeit ausgearbeitete umfassende kritische Analyse des Regimes.17 Nur Fraenkel selbst wies darauf hin, daß der Urdoppelstaat »die einzige wissenschaftliche Untersuchung ist, die in der ›inneren Emigration‹ entstanden ist«.18
Der Urdoppelstaat ist ein Beleg dafür, daß es bis 1938 in Deutschland möglich war, anhand der allgemein zugänglichen Informationen das nationalsozialistische Herrschaftssystem empirisch zu untersuchen und es in praktisch-politischer Absicht theoretisch zu analysieren. Der Urdoppelstaat zeigt, daß es auch unter den Bedingungen des Nationalsozialismus die Möglichkeit gab, auf rechts- und sozialwissenschaftlichem Gebiet unabhängig zu arbeiten. – Aber niemand außer Ernst Fraenkel schrieb ein vergleichbares Werk.
Es gelang Fraenkel, das Manuskript des Urdoppelstaates von 1938 in französischem Diplomatengepäck aus Deutschland ins westliche Ausland bringen zu lassen. Nach seiner Flucht am 20. September 1938 aus Berlin in die USA arbeitete Fraenkel das Manuskript für eine englische Übersetzung um. Weil das Buch jetzt nicht mehr für deutsche Leser, sondern für die amerikanische und englische Öffentlichkeit bestimmt war, trat der Charakter einer wissenschaftlichen Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems stärker hervor. Viele Passagen wurden abgemildert oder ergänzt. Neue Gedankengänge wurden eingefügt, die dem angelsächsischen Leser das Verständnis erleichtern sollten. Um die englische Übersetzung des Begriffes Maßnahmenstaat in »Prerogative State« plausibel zu machen, fügte Fraenkel z.B. eine Abgrenzung zum Begriff der »Prerogative« bei John Locke ein.19 Durch diese Überarbeitung gewann der Doppelstaat an analytischer Schärfe und Überzeugungskraft.
Die englische Übersetzung von E. A. Shils erschien um die Jahreswende 1940/41 unter dem Titel »The Dual State« in der Oxford University Press, New York. Der Dual State fand sofort große Aufmerksamkeit in der amerikanischen und englischen Öffentlichkeit.20
Bereits 1942 veröffentlichte Franz Neumann in New York mit dem »Behemoth« die zweite große Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Er widersprach darin offen der zentralen These des Doppelstaates.21 Über den »Behemoth« publizierte Ernst Fraenkel 1942 eine Rezension, in der er sich Franz Neumanns theoretischem Ansatz weithin anschloß.22
Aus heutiger Sicht stellt sich das Verhältnis zwischen »Dual State« und »Behemoth« so dar: Während sich die Untersuchung Fraenkels auf die Zeit bis 1938 beschränkt, steht bei Franz Neumann das Dritte Reich der unmittelbaren Vorkriegs- und der Kriegszeit im Mittelpunkt. Man kann den Behemoth als historische Fortentwicklung des Doppelstaates verstehen. Unter dem Eindruck der Vorbereitung und Durchführung des Krieges erweiterte sich der Maßnahmenstaat zu dem alles verschlingenden Unstaat, den Franz Neumann mit dem Namen des alttestamentarischen Ungeheuers Behemoth kennzeichnete. Die beiden großen Bücher der Freunde23 Ernst Fraenkel und Franz Neumann über den Nationalsozialismus stehen nicht in einem unauflösbaren Gegensatz. Sie ergänzen sich, weil sie unterschiedliche Entwicklungsphasen des Regimes analysieren.
Der Doppelstaat war in seiner englischen Fassung nach 1945 nur in wenigen Exemplaren in Deutschland verfügbar, die meist nur mit Schwierigkeiten über die Fernleihe zu beschaffen waren.24 Unter diesen Umständen blieb die Rezeption des Doppelstaates zunächst begrenzt. Karl Dietrich Bracher z.B. bezeichnete in seinem zuerst 1969 erschienenen Standardwerk »Die deutsche Diktatur« Ernst Fraenkels Doppelstaat zwar – in einer Fußnote – als »grundlegend«, setzte sich damit aber nicht inhaltlich auseinander.25 In entsprechender Weise erwähnte das ebenfalls zuerst 1969 erschienene, weitverbreitete Taschenbuch von Martin Broszat »Der Staat Hitlers« den Doppelstaat lediglich an einer Stelle.26
Fraenkel befaßte sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahre 1951 nur noch am Rande seiner umfassenden wissenschaftlichen Tätigkeit mit dem Nationalsozialismus. Seit den sechziger Jahren schlugen ihm viele Kollegen und mehrere Verlage eine deutsche Ausgabe des Doppelstaates vor.27 Er sträubte sich lange Zeit dagegen. Möglicherweise fürchtete er, daß aus den historischen und theoretischen Teilen des Doppelstaates, insbesondere aus seiner Kapitalismuskritik, Einwände gegen die von ihm seit Ende der fünfziger Jahre entwickelte Pluralismus-Konzeption abgeleitet werden könnten. Vor allem scheute er die Wiederbegegnung mit der nationalsozialistischen Epoche, unter der er so gelitten hatte.
Nachdem 1969 ein unveränderter Nachdruck des Dual State bei Octagon Books, New York, erschienen war, vereinbarte Fraenkel auf vielfaches Drängen 1971 mit der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt am Main eine deutsche Ausgabe des Doppelstaates. Da die deutsche Vorlage für die Übersetzung ins Englische von 1940 nicht erhalten war, mußte eine Rückübersetzung des englischen Textes angefertigt werden. Fraenkel wollte diese Aufgabe auf keinen Fall selbst übernehmen, wie er in einem Brief vom 8. April 1970 schrieb:
»Von einem können Sie mich nicht abbringen: ich werde diese Übersetzung nicht selber vornehmen. Dies ist nicht nur ein Zeit-, sondern auch ein seelisches Problem. Ich habe mehr als 5 Jahre unter dem Naziregime in Berlin als Anwalt praktiziert und ich habe mir, was ich damals auf dem Herzen hatte, im Doppelstaat aus der Seele geschrieben. Als der Krieg ausbrach, habe ich einen Strich unter meine bisherige Beschäftigung mit dem Dritten Reich gezogen und in den verflossenen drei Jahrzehnten nichts mehr über diesen Fragenkomplex veröffentlicht und auch nicht über Nationalsozialismus gelesen. Ich glaube, durch Abfassung des Dual State das meine zur theoretischen Klärung dieses Problemkreises beigetragen zu haben, ich habe die einschlägige Literatur bis zum physischen Ekel gelesen und kann es nicht über mich bringen, nochmals in diese ›Materie‹ hineinzusteigen. Dies wäre aber unvermeidlich, wenn ich die Übersetzung vornähme oder auch nur maßgeblich an ihr beteiligt wäre.«28
Es gelang schließlich, für die Übersetzung die damalige Studienrätin Manuela Schöps zu gewinnen, die am Otto-Suhr-Institut bei Fraenkel studiert hatte und mit seinem Werk und seiner Denkweise vertraut war. Je mehr die Übersetzung voranschritt, desto mehr befaßte sich Fraenkel wieder selbst mit dem Doppelstaat. Er redigierte schließlich den gesamten Text sehr sorgfältig. Bis zur Überprüfung vieler Anmerkungen wirkte er an allen Detailproblemen der Erstellung der deutschen Fassung mit.
Inhaltlich nahm Fraenkel nur geringe, von ihm auf S. 40 dieser Ausgabe bezeichnete Veränderungen der englischen Vorlage vor. Er strich insbesondere die oben erwähnten Ausführungen über die »Prerogative« bei Locke, weil er meinte, daß sie für den deutschen Leser nicht nachvollziehbar seien. Auf S. 191 dieser Ausgabe entfiel eine kurze Passage über das Verhältnis von Ferdinand Tönnies zu Thomas Hobbes und zu Henry Maine’s These »From Status to Contract«. Einige Literaturnachweise stellte Fraenkel auf neuere, leichter zugängliche Ausgaben um. Mehrere Anmerkungen wurden durch neuere Literaturangaben ergänzt,29 andere entfielen, weil sie für den deutschen Leser überflüssige Nachweise enthielten.30
Die – oft von Krankheitsperioden unterbrochene – intensive Beschäftigung mit der deutschen Ausgabe des Doppelstaates wurde zu Fraenkels letzter großer wissenschaftlicher Aufgabe. Je mehr er wieder an dem Doppelstaat arbeitete, desto mehr sah er darin ein Kernstück seines wissenschaftlichen Vermächtnisses. Drei Monate, nachdem der Doppelstaat im Dezember 1974 auf deutsch erschienen war, starb Fraenkel am 28. März 1975 in Berlin.
Die deutsche Fassung des Doppelstaates fand große Verbreitung und Anerkennung.31 Die Begriffe Doppelstaat, Normenstaat und Maßnahmenstaat wurden in der wissenschaftlichen Literatur über den Nationalsozialismus umfassend rezipiert. Das Bundessozialgericht übernahm Fraenkels Begrifflichkeit in einem Grundsatzurteil vom 11. Sept. 1991, in dem es die Todesurteilspraxis der Wehrmachtsgerichte dem Maßnahmenstaat zuordnete.32 1984 erschien ein – inzwischen vergriffener – unveränderter Nachdruck im Fischer Taschenbuch Verlag. Eine italienische Übersetzung erschien unter dem Titel »Il doppio Stato« mit einer Einführung von Norberto Bobbio 1983 in Turin bei Einaudi.33
Die hier vorgelegte 2. Auflage gibt den Doppelstaat in der Fassung wieder, die für Bd. 2 der Gesammelten Schriften von Ernst Fraenkel 1999 erarbeitet wurde. Um die Benutzung für wissenschaftliche Zwecke zu erleichtern, wurden der Satzspiegel und die Paginierung des Doppelstaates aus Bd. 2 der Gesammelten Schriften S. 39 bis 266 ohne Änderungen in diese neue Einzelausgabe übernommen. Auf der Grundlage der Register in Bd. 2 der Gesammelten Schriften erhielt diese Einzelausgabe ausführliche neue Register.
Der Text des Doppelstaates in Bd. 2 der Gesammelten Schriften von 1999 folgt der von Fraenkel selbst autorisierten 1. Auflage des Buches von 1974. Für die Veröffentlichung in den Gesammelten Schriften wurde die 1. Auflage von 1974 kritisch durchgesehen. Schreibfehler und offenkundige Versehen wurden ohne Nachweise korrigiert. Die Literaturangaben wurden an einigen Stellen ergänzt, um heutigen Lesern den Zugang zu erleichtern. Die Fußnoten wurden kapitelweise neu numeriert. Alle Querverweise wurden auf die Gesammelten Schriften umgestellt. Die Zusätze des Herausgebers wurden in eckige Klammern gesetzt.
Auf den S. 19 bis 34 dieser Ausgabe sind in Faksimile sieben Dokumente reproduziert, in denen sich Fraenkels Leben der Jahre 1934 bis 1940 widerspiegelt. Der Brief von 1934 gibt einen Eindruck von Fraenkels Tätigkeit als Verteidiger von Regimegegnern. Die übrigen Dokumente sind authentische Zeugnisse der Verfolgung und Vertreibung Ernst Fraenkels aus dem nationalsozialistischen Deutschland.
Dem Band vorangestellt ist ein Foto von Ernst und Hanna Fraenkel, das nach einem rückseitigen Stempel in den USA im November 1940 entstand, also kurz vor dem Erscheinen des Dual State, der ersten Publikation des Doppelstaates.
Frankfurt (Oder), im Januar 2001Alexander v. Brünneck
1Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Alexander v. Brünneck, Hubertus Buchstein, Gerhard Göhler, Bd. 1 bis 7, Baden-Baden 1999 ff. (bisher erschienen Bd. 1 bis 4); dazu: Hubertus Buchstein/Gerhard Göhler (Hrsg.), Vom Sozialismus zum Pluralismus, Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels, Baden-Baden 2000.
2Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 1, Recht und Politik in der Weimarer Republik, hrsg. v. Hubertus Buchstein unter Mitarbeit von Rainer Kühn, Baden-Baden 1999.
3Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Nationalsozialismus und Widerstand, hrsg. v. Alexander v. Brünneck, Baden-Baden 1999.
4Ernst Fraenkel, The Dual State, A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York 1941, Reprinted New York 1969.
5Ernst Fraenkel, Military Occupation and the Rule of Law, Occupation Government in the Rhineland, 1918-1923, London/New York/Toronto 1944.
6Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Neuaufbau der Demokratie in Deutschland und Korea, hrsg. v. Gerhard Göhler unter Mitarbeit von Dirk Rüdiger Schumann, Baden-Baden 1999.
7Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Amerikastudien, hrsg. v. Hubertus Buchstein und Rainer Kühn unter Mitarbeit von Cord Arendes und Peter Kuleßa, Baden-Baden 2000.
8Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Erweiterte Ausgabe (8. Auflage), mit einem Nachwort über Leben und Werk Ernst Fraenkels, hrsg. v. Alexander v. Brünneck, Frankfurt/M. 1991; zum Abdruck vorgesehen in Bd. 5 der Gesammelten Schriften von Ernst Fraenkel.
9Die folgenden Ausführungen beruhen auf dem Vorwort des Herausgebers zu Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 2 (Fn. 3), S. 8-22.
10So exemplarisch die Besprechung des Doppelstaates von Michael Stolleis, Juristenzeitung 1984, S. 1096 f.
11Dazu Ernst Fraenkel, in diesem Band, S. 41.
12Ernst Fraenkel, in diesem Band, S. 39.
13Weitere Einzelheiten zum Urdoppelstaat vgl. das Vorwort des Herausgebers zu Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 2 (Fn. 3), S. 13-22.
14Ernst Fraenkel, in diesem Band, S. 41.
15Zu Fraenkels Anwaltstätigkeit 1933 bis 1938: Vgl. die Personalakten des Preußischen Justizministeriums und des Reichsjustizministeriums betreffend Dr. Ernst Fraenkel, 1924 ff., Bundesarchiv (Dahlwitz-Hoppegarten) R 022/056082. Stefan König, Vom Dienst am Recht, Rechtsanwälte als Strafverteidiger im Nationalsozialismus, Berlin/ New York 1987, S. 53, 85/6, 91, 97/8,113; Tillmann Krach, Wie Ernst Fraenkel 1934 dem Berufsverbot entging, Recht und Politik 1991, S. 52-55; Tillmann Krach, Jüdische Rechtsanwälte in Preußen, Über die Bedeutung der freien Advokatur und ihre Zerstörung durch den Nationalsozialismus, München 1991, bes. S. 254-256, 351-353; Tillmann Krach, Strafverteidigung durch jüdische Rechtsanwälte in der NS-Zeit, NJW 1995, S. 1384-1390; Simone Ladwig-Winters, Anwalt ohne Recht – Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, Berlin 1998, bes. S. 39-41, 80/81, 125.
16Ernst Fraenkel, in diesem Band, S. 5.
17Die Untersuchung von Sebastian Haffner, Germany: Jekyll & Hyde 1939 – Deutschland von innen betrachtet, übersetzt aus dem Englischen von Kurt Baudisch, Berlin 1996, ist ebenfalls »ein herausragendes zeitgeschichtliches Dokument« (Hans Mommsen, Besprechung des Buches in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. November 1997). Haffner verfaßte diese Untersuchung aber erst nach seiner 1938 erfolgten Emigration aus Deutschland im Winter 1939/40 in England.
18Brief Ernst Fraenkels an Dr. Benseler vom 18.9.1969, Bundesarchiv, N 1274, Bd. 97.
19Ernst Fraenkel, The Dual State, A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York 1941, Reprinted New York 1969, p. 66/7.
20Vgl. die Nachweise von elf Rezensionen in der Tagespresse und in Fachzeitschriften in: Book Review Digest 1941, S. 318; sowie die dort nicht nachgewiesenen Rezensionen von Isabel Paterson, New York Times vom 7. Januar 1941, S. 17 und von Taylor Cole, An Interpretation of the Nazi Regime, The Review of Politics 1941, S. 254-256.
21Franz Neumann, Behemoth, The Structure and Practice of National Socialism, New York 1942; vgl. die deutsche Übersetzung der zweiten Auflage von 1944: Franz Neumann, Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, hrsg. und mit einem Nachwort von Gert Schäfer, Köln/Frankfurt am Main 1977, Neudruck Frankfurt am Main 1984 (Fischer Taschenbuch Nr. 4306), S. 509 und S. 541/2.
22Ernst Fraenkel, Gesammelte Schriften, Bd. 2 (Fn. 3), S. 576-579.
23Vgl. die Gedenkrede Ernst Fraenkels auf Franz L. Neumann in: Ernst Fraenkel, Reformismus und Pluralismus, Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Autobiographie, hrsg. von Falk Esche und Frank Grube, Hamburg 1973, S. 168-179; zum Abdruck vorgesehen in Bd. 6 der Gesammelten Schriften von Ernst Fraenkel.
24Helmut Ridder, Rezension des Neudrucks des Dual State von 1969, DIE ZEIT vom 12.6.1970; s. a. die Rezension des Verfassers, Kritische Justiz 1969, S. 319-321.
25Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur, 1. Aufl., Köln 1969, S. 235, Anm. 22.
26Martin Broszat, Der Staat Hitlers, 1. Aufl., München 1969, S. 404.
27Zur Vorgeschichte und den Einzelheiten der Entstehung der deutschen Ausgabe des Doppelstaates vgl. den Nachlaß Ernst Fraenkel im Bundesarchiv in Koblenz, N 1274, Bd. 97-98, 153-157.
28Brief Ernst Fraenkels an den Verfasser, Bundesarchiv, N 1274, Bd. 98.
29Z.B. S. 79 dieser Ausgabe, Anm. 70.
30Z.B. die Fundstelle des BGB in Anm. 186 der englischen Ausgabe.
31Vgl. mit weiteren Nachweisen Bernhard Blanke, Der deutsche Faschismus als Doppelstaat, Kritische Justiz 1975, S. 221-243; Wolfgang Luthardt, Unrechtsstaat oder Doppelstaat?, in: Hubert Rottleuthner (Hrsg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft Nr. 18, Wiesbaden 1983, S. 197-209; Ingeborg Maus, Juristische Methodik und Justizfunktion im Nationalsozialismus, in: ebda., S. 176-196 (190-192). Kritisch: Hubert Rottleuthner, Das Ende der Fassadenforschung: Recht in der DDR (Teil 2), Zeitschrift für Rechtssoziologie 1995, S. 30-64 (59).
32Entscheidungen des Bundessozialgerichts, Bd. 69, S. 211 (216/7).
33Zur Rezeption Ernst Fraenkels in Italien vgl. Angelo Bolaffi, Dalla »Kollektive Demokratie« al »doppio Stato« nell’analisi di Ernst Fraenkel, »Annali« della Fondazione Giangiacomo Feltrinelli 1983/1984, p. 1065-1091.
Vorwort des Herausgebers zur 3. Auflage (2012)
Die 3. Auflage von 2012 ist im Satzspiegel und in der Paginierung identisch mit der 2. Auflage. Die 3. Auflage ist erweitert durch ein Nachwort des Würzburger Staatsrechtslehrers Horst Dreier: »Was ist doppelt am ›Doppelstaat‹? Zu Rezeption und Bedeutung der klassischen Studie von Ernst Fraenkel.«
Frankfurt (Oder), im März 2012 Alexander v. Brünneck
Vorwort des Herausgebers zur 4. Auflage (2019)
Die 4. Auflage von 2019 folgt unverändert der 3. Auflage von 2012. Eine neue Ausgabe der englischen Fassung von Ernst Fraenkels »The Dual State« von 1941 erschien 2017 bei Oxford University Press. Der Herausgeber Jens Meierhenrich behandelt in seinem Vorwort »An Ethnography of Nazi Law: The Intellectual Foundations of Ernst Fraenkel‘s Theory of Dictatorship« auch die Rezeption des „Dual State“ in der englischen und amerikanischen Literatur.
Frankfurt (Oder), im April 2019 Alexander v. Brünneck
Vorbemerkung des Herausgebers
Im folgenden werden in verkleinertem Faksimile sieben Dokumente aus den Jahren 1934 bis 1940 wiedergegeben, die Ernst Fraenkels Anwaltstätigkeit, seine Vertreibung und seine Ausbürgerung aus Deutschland betreffen.
1.Brief Ernst Fraenkels in einer Strafsache wegen Vorbereitung zum Hochverrat vom 19. Januar 1934 (Vorlage im Archiv der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin). – Zur gemeinsamen Anwaltstätigkeit von Ernst Fraenkel und Franz Neumann, die am 2. Mai 1933 durch die gewaltsame Vertreibung Franz Neumanns beendet wurde, vgl. Ernst Fraenkels Gedenkrede auf Franz Neumann in: Ernst Fraenkel, Reformismus und Pluralismus, Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Autobiographie, zusammengestellt und hrsg. von Falk Esche und Frank Grube, Hamburg 1973, S. 168-179, zum Abdruck vorgesehen in Bd. 6 der Gesammelten Schriften von Ernst Fraenkel.
2.Belassung der Rechtsanwaltszulassung durch den Reichsminister der Justiz vom 8. April 1935 (Vorlage im Nachlaß Ernst Fraenkel, Bundesarchiv Koblenz, N 1274, Bd. 70.)
3.Rücknahme der Rechtsanwaltszulassung durch den Kammergerichtspräsidenten vom 20. Oktober 1938 (Vorlage im Nachlaß Ernst Fraenkel, Bundesarchiv Koblenz, N 1274, Bd. 70.)
4.Reisepaß ausgestellt durch den Polizeipräsidenten in Berlin vom 27. August 1938 (Vorlage im Nachlaß Ernst Fraenkel, im Besitz von Ludmilla und R. Wolfgang Müller, mit einigen handschriftlichen Eintragungen von R. Wolfgang Müller, die nach Angaben von Loni Steppat, der Schwester von Hanna Fraenkel, einzelne Umstände der Flucht aus Deutschland erläutern.)
5.Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamtes Tempelhof vom 12. November 1938 (Vorlage im Nachlaß Ernst Fraenkel, im Besitz von Ludmilla und R. Wolfgang Müller, mit einigen handschriftlichen Eintragungen von R. Wolfgang Müller, die nach Angaben von Loni Steppat, der Schwester von Hanna Fraenkel, einzelne Umstände der Flucht aus Deutschland erläutern.)
6.Antrag auf Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Berlin, vom 22. Dezember 1939 (Vorlage im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, Inland II A/B, 8376, Ausbürgerungen, R99869).
7.Bekanntmachung des Reichsministers des Innern über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit vom 15. Juli 1940, veröffentlicht im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger Nr. 168 vom 20. Juli 1940, Zweite Beilage (Wiedergabe von zwei Ausschnitten).
a.a.O.
am angegebenen Ort
Abs.
Absatz
Akademie Ztschr.
Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht
Anm.
Anmerkung
AOG
Arbeitsordnungsgesetz
Arb. R. S.
Arbeitsrechtssammlung, Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte
Arbeitsr. Entsch.
Arbeitsrechtliche Entscheidungen
Arch. d. öff. Rechts
Archiv des öffentlichen Rechts (ab Band 27)
Arch. f. öff. Recht
Archiv für öffentliches Recht (bis Band 26)
Arch. f. Rechts- u. Soz.- Phil.
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Arch. f. Rechts- u. Wirtsch.- Phil.
Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie
Arch. f. Szw.
Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik
Art.
Artikel
Aufl.
Auflage
Bad. Verw. Ztschr.
Badische Verwaltungszeitschrift
Bd.
Band
bes.
besonders
betr.
betreffend
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt
Bl. f. Gefk.
Blätter für Gefängniskunde
Bln.-Tempelhof
Berlin-Tempelhof
bzw.
beziehungsweise
D. Jstz.
Deutsche Justiz
D.A.Z.
Deutsche Allgemeine Zeitung
d.h.
das heißt
D.J.
Deutsche Justiz
D.J.Z.
Deutsche Juristenzeitung
DAF
Deutsche Arbeitsfront
DBG
Deutsches Beamtengesetz
DDR
Deutsche Demokratische Republik
dergl.
dergleichen
ders.
derselbe
Dr.
Doktor
Dt. Bergw. Ztg.
Deutsche Bergwerks-Zeitung
Dt. Rechtswissenschaft
Deutsche Rechtswissenschaft
Dtsch. Arb. R.
Deutsches Arbeitsrecht
Dtsch. Recht
Deutsches Recht
Dtsch. Rpfl.
Deutsche Rechtspflege
Dtsch. Rw.
Deutsche Rechtswissenschaft
Dtsch. Str.
Deutsches Strafrecht
Dtsch. Verw.
Deutsche Verwaltung
Dtsch.R.Z.
Deutsche Richter Zeitung
e.V.
eingetragener Verein
ebda.
ebenda
Ed.
Editor/Edition
ed. by
edited by
Entsch. des KG und OLG München
Entscheidungen des Kammergerichts und des Oberlandesgerichts in München
etc.
et cetera
ev. Rel.
evangelische Religion
f.
folgende
ff.
fortfolgende
Fft. Ztg.
Frankfurter Zeitung
Fn.
Fußnote
Frankfurt a. M.
Frankfurt am Main
geb.
geboren
Gestapo
Geheime Staatspolizei
gez.
gezeichnet
GG
Grundgesetz
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
H.
Heft
H.Z.
Historische Zeitschrift
Hans. R. u. Ger. Ztg.
Hanseatische Rechts- und Gerichtszeitung
Hg.
Herausgeber
HGB
Handelsgesetzbuch
HJ
Hitlerjugend
Höchst. R. Rspr.
Höchstrichterliche Rechtsprechung
Hrsg.
Herausgeber
hrsg. v.
herausgegeben von
Ib.
Ibidem
insbes.
insbesondere
ISK
Internationaler Sozialistischer Kampfbund
J.W.
Juristische Wochenschrift
Jahrb. f. Entsch. der freiw. Gbk.
Jahrbuch für Entscheidungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit
Jg.
Jahrgang
Kap.
Kapitel
Kart. Rundschau
Kartellrundschau
KPD
Kommunistische Partei Deutschlands
KZ
Konzentrationslager
Mbl. f. i. Verw.
Ministerialblatt für innere Verwaltung
MEW
Marx Engels Werke
Mr.
Mister
N.F.
Neue Folge
N.V.
Neue Volks-Zeitung
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
No.
Nummer
Nr.
Nummer
NS
Nationalsozialismus
NS Hago
Nationalsozialistische Handwerks-, Handel- und Gewerbeorganisation
NSBO
Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation
NSDAP
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei
NSKK
Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps
NSV
Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
OLG
Oberlandesgericht
op. cit.
opere citato/operum citatum
OVG
Oberverwaltungsgericht
p.
page
PGS
Preußische Gesetzessammlung
Pr. Gesetz über die Geh. Staatspolizei
Preußisches Gesetz über die Geheime Staatspolizei
Prof.
Professor
R. Verw. Bl.
Reichsverwaltungsblatt
R.A.G.
Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts in Arbeitssachen (Band und Seite)
RAG
Reichsarbeitsgericht
Reger
Entscheidungen der Gerichte und Verwaltungsbehörden auf dem Gebiete des Verwaltungs- und Polizeistrafrechts, begründet von Reger
RGBl.
Reichsgesetzblatt
RGSt.
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (Band und Seite)
RGZ
Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen (Band und Seite)
RM
Reichsmark
RV
Reichsverfassung
S.
Seite
s.
siehe
s.a.
siehe auch
s.S.
siehe Seite
SA
Sturmabteilung
SAP
Sozialistische Arbeiterpartei
Soz. Vers. Ges.
Sozialversicherungsgesetz
Sp.
Spalte
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
SS
Schutzstaffel
Stapo
Staatspolizei
Stenogr. Berichte
Stenographische Berichte
StGB
Strafgesetzbuch
StPO
Strafprozeßordnung
Str.
Straße
TU
Technische Universität
u.a.
unter anderem, und andere
USA
United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika)
usw.
und so weiter
v.
von/bei Gerichtsverfahren in den USA: versus (gegen)
V.B.
Völkischer Beobachter
v.H.
vom Hundert
Verf.
Verfasser
Verkehrsr. Abh.
Verkehrsrechtliche Abhandlungen
vgl.
vergleiche
z. B.
zum Beispiel
z. T.
zum Teil
Zentralblatt für Jgdr. u. Jgdwohlf.
Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt
Ztschr. f. ausi. öff. u. Völkerr
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Ztschr. f. Beamtenr.
Zeitschrift für Beamtenrecht
Ztschr. f. d. ges. Staatsw.
Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
Ztschr. f. d. ges. Staatswesen
Zeitschrift für das gesamte Staatswesen
Ztschr. f. d. ges. Stw.
Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
Ztschr. f. dtsch. Kult. Philos.
Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie
Mehr als ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seitdem ich am 15. Juni 1940 den Schlußpunkt unter die englische Fassung dieses The Dual State genannten Buchs gesetzt habe. The Dual State war eine Übersetzung der illegal im nationalsozialistischen Deutschland verfaßten und illegal aus dem nationalsozialistischen Deutschland geschmuggelten ersten Fassung des Doppelstaats, nachdem dieses Manuskript anläßlich meiner im Herbst 1938 erfolgten Emigration einer sorgfältigen Revision unterzogen worden war. Letztere war notwendig, um eine Anzahl von Mißverständnissen und Ungenauigkeiten zu beseitigen, die sich unschwer aus den ungewöhnlichen Umständen erklären lassen, unter denen das Manuskript entstanden war. Die erforderlichen Änderungen erstreckten sich zumeist auf Details. Im Aufbau und in den Schlußfolgerungen stimmen der Ur-Doppelstaat und die endgültige Fassung des Manuskripts überein. Dies gilt um so mehr, als sie sich auf die gleichen Quellen stützen.
Zur damaligen Zeit habe ich keinen Augenblick angenommen, daß das ursprünglich in deutscher Sprache abgefaßte Buch jemals in deutscher Sprache erscheinen werde. Dies mag erklären, weshalb ich zwar die erste, für mich einen Affektionswert darstellende, nicht aber die endgültige Fassung der deutschen Ausarbeitung aufbewahrt habe. Die vielfach angeregte Publikation einer deutschen Fassung des Buchs war daher nur möglich, wenn der ins Englische übersetzte Text ins Deutsche zurückübersetzt wurde. Dies ist inzwischen geschehen. Das vorliegende Buch ist diese Rückübersetzung.
Stößt eine Rückübersetzung ganz generell auf erhöhte Schwierigkeiten, so gilt dies insbesondere für einen juristisch-politologischen Text – namentlich, wenn dessen Abfassung nicht nur wissenschaftliche, sondern auch politische Ziele verfolgt. Bei der Herstellung des Manuskripts und seiner Übersetzung in die englische Sprache wurde besonderer Nachdruck darauf gelegt, die Herrschaftsstruktur des Dritten Reichs in wissenschaftlichen Kategorien zu erläutern, die dem sozialwissenschaftlich geschulten amerikanischen Leser vertraut waren – notfalls sie so zu umschreiben, daß sie ihm verständlich wurden. Ich verweise nur auf so grundlegende Begriffe wie »Ausnahmezustand« und »Martial Law«. Die Übersetzung des deutschen Textes ins Englische war aber nur dann sinnvoll, wenn sie zugleich eine Transponierung der Begriffe aus dem nationalsozialistischen in das amerikanische Regierungssystem enthielt.
Bei der Rückübersetzung war es daher unerläßlich, diesen Transponierungsprozeß rückgängig zu machen. Hieraus ergab sich jedoch die Notwendigkeit, an mehr als einer Stelle, unter Verzicht auf die Verwirklichung des Postulats einer tunlichst wörtlichen Übersetzung, den ursprünglichen Text unter Verwendung der angegebenen Fundstellen zu rekonstruieren. Dies war insbesondere bei einzelnen Abschnitten des ersten Teils des Buchs erforderlich, während diese Schwierigkeiten bei den nicht-juristischen Teilen des Manuskripts nur vereinzelt in Erscheinung traten.
So wurde denn der Abschnitt, der sich mit Fragen der gerichtlichen Nachprüfung polizeilicher Verfügungen beschäftigt, großenteils neu geschrieben, während auf den Abdruck des Abschnitts über Gewaltenteilung verzichtet wurde – basiert doch die deutsche Gewaltenteilungslehre primär auf Montesquieu, während in der amerikanischen Gewaltenteilungslehre der Einfluß Lockes überwiegt.
Die Arbeit hätte ohne die Hilfe von Frau Studienrat Manuela Schöps nicht durchgeführt werden können. Sie übernahm die ungemein schwierige Aufgabe der Rückübersetzung und hat in Angleichung an die Sprache des frühen deutschen Manuskripts (soweit dieses noch vorhanden war) einen der englischen Fassung entsprechenden deutschen Text hergestellt. Die Rückübersetzung machte es erforderlich, daß sie sich in Gedankengänge einarbeitete, die zu so verschiedenen Disziplinen wie der Jurisprudenz, Soziologie, Politologie und Nationalökonomie (von der Geschichte ganz abgesehen) gehören. Nur dank ihrer umfassenden Allgemeinbildung und methodischen Schulung war es ihr möglich, diese Aufgabe zu meistern. Ich spreche ihr meinen tiefempfundenen Dank aus.
Das Buch beschränkt sich darauf, Vorgänge zu behandeln, die sich vor meiner Emigration zugetragen haben. Eine Ausnahme besteht nur insoweit, als die Kristallnacht, die sich in den Wochen nach meiner Auswanderung abgespielt hat, mitberücksichtigt worden ist. Hieraus erklärt sich, daß in dem vorliegenden Buch lediglich das Dritte Reich der Vorkriegszeit analysiert worden ist.
The Dual State ist zur Jahreswende 1940/41 im Verlag der Oxford University Press in New York erschienen. Das Buch ist in zahlreichen amerikanischen und englischen wissenschaftlichen Zeitschriften rezensiert worden. Eine allerdings unvollständige Liste von Besprechungen findet sich in Book Review Digest 1941, S. 318. Etwa zehn Jahre nach seinem Erscheinen war das Buch vergriffen. Im Jahre 1969 kam ein unveränderter Nachdruck des Dual Stateheraus, der im Einverständnis mit der Oxford University Press von »Octagon Books« (New York) besorgt wurde.
Das Buch ist ein Produkt der inneren Emigration. Seine erste Fassung, die auch dem vorliegenden Text der deutschen Ausgabe zugrunde liegt, ist in der Atmosphäre der Rechtlosigkeit und des Terrors entstanden. Sie beruht auf Quellenmaterial, das ich im nationalsozialistischen Berlin gesammelt habe und auf Eindrücken, die sich mir tagtäglich aufgedrängt haben. Es ist aus dem Bedürfnis entstanden, diese Erlebnisse und Erfahrungen theoretisch zu erfassen, um mit ihnen innerlich fertig zu werden. Sie gehen weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Anwaltstätigkeit zurück, die ich in Berlin in den Jahren 1933-1938 ausgeübt habe.
Obwohl Jude, war ich wegen Teilnahme am Krieg auch nach 1933 zur Anwaltschaft zugelassen. Die Zwiespältigkeit meiner bürgerlichen Existenz machte mich für die Widersprüchlichkeit des Hitlerregimes besonders hellhörig. Dem Gesetze nach gleichberechtigtes Mitglied der Anwaltschaft war ich dennoch auf Schritt und Tritt Schikanen, Diskriminierungen und Demütigungen ausgesetzt, die ausnahmslos von der »staatstragenden Partei« ausgingen. Wer nicht die Augen vor der Realität der Verwaltungs- und Justizpraxis der Hitlerdiktatur verschloß, mußte von dem frivolen Zynismus betroffen sein, mit dem Staat und Partei für weite Lebensbereiche die Geltung der Rechtsordnung in Frage stellten und gleichzeitig mit bürokratischer Exaktheit in anders bewerteten Situationen die gleiche Rechtsvorschrift angewandt haben.
Gestützt auf den in Ausübung meiner Anwaltspraxis gewonnenen Einblick in das Funktionieren des Hitlerregimes glaubte ich, im Nebeneinander eines seine eigenen Gesetze im allgemeinen respektierenden »Normenstaats« und eines die gleichen Gesetze mißachtenden »Maßnahmenstaats« einen Schlüssel zum Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung gefunden zu haben.
Schon als ich begann, Materialien zu sammeln und zu sichten, mit dem Ziel, ausfindig zu machen, ob diese Arbeitshypothese geeignet sei, zu einem besseren Verständnis der Anatomie und Physiologie des Hitlerregimes zu gelangen, war ich mir voll bewußt, daß in einer auf Terror beruhenden totalitären Diktatur nur Apologeten dieses Herrschaftssystems sich ungestört der traditionellen wissenschaftlichen Methoden bedienen könnten, wenn sie sich an die Erforschung eines politisch brisanten Themas heranwagten. Jeder Versuch mutmaßlicher Gegner des Nationalsozialismus, die Bewegungsgesetze aufzudecken, die der Verfassungswirklichkeit des Dritten Reichs zugrunde lagen, stand unter dem Verdacht, den Tatbestand der »Vorbereitung zum Hochverrat« zu erfüllen. Als mutmaßliche Gegner des Dritten Reichs galten nicht nur alle Juden, sondern auch solche »Arier«, die in der »Kampfzeit« als »Gegner der Bewegung« hervorgetreten waren. Nach nationalsozialistischer Doktrin waren sie aufgrund ihrer Abstammung oder politischen Vergangenheit dazu prädestiniert, bei der Vornahme staatstheoretischer Studien notwendigerweise zu staatsfeindlichen Ergebnissen zu gelangen.
Der Gedanke, es sei bei der Klärung der mich bewegenden Fragestellung möglich, empirische Forschungsmethoden zu verwenden, hatte von vornherein auszuscheiden, weil ein solches Unterfangen vor der Geheimen Staatspolizei nicht hätte geheim gehalten werden können. Nicht durchführbar wäre aber auch der Versuch gewesen, mich primär auf eine Analyse von Rechtsfällen zu stützen, in denen ich als Anwalt tätig gewesen bin. Ganz abgesehen davon, daß eine solche Forschungsbasis viel zu schmal gewesen wäre, um relevante Schlußfolgerungen zuzulassen, hätte sie denkbarerweise die Sicherheit meiner ehemaligen Klienten gefährdet und kam schon allein aus diesem Grunde nicht in Betracht.
Nicht nur in Ausnahmefällen haben Leser des englischen Textes ihr Bedauern darüber ausgedrückt, daß ich aus den angegebenen Gründen unterlassen habe, wenigstens an ein oder zwei Fällen zu demonstrieren, wie sich bei Handhabung der Gerichtsbarkeit der doppelstaatliche Charakter der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung geltend gemacht habe. Ich glaube, dieser Anregung dadurch am besten nachkommen zu können, daß ich in einem »Anhang« die Prozeßgeschichten von je einem arbeitsrechtlichen1 und einem strafrechtlichen2 Fall vortrage. Der arbeitsrechtliche Fall, der zweimal das Reichsarbeitsgericht beschäftigt hat, gab mir den letzten Anstoß, das Phänomen des »Doppelstaats« theoretisch zu untersuchen; der strafrechtliche Fall gab mir Gelegenheit, die praktische Verwertbarkeit meiner Thesen zu erproben.
Hingegen schien es keineswegs abwegig, weit verstreute, in amtlichen Entscheidungssammlungen und Fachzeitschriften veröffentlichte Gerichtsurteile einer Durchsicht zu unterziehen und daraufhin zu prüfen, ob sie einen Einblick in gesellschaftliche Vorgänge ermöglichten, die sich im Dritten Reich abspielten und Rückschlüsse auf die Alltagspraxis der staatlichen Organe der nationalsozialistischen Exekutive und Judikative zuließen. Es handelt sich mit anderen Worten um die Frage, ob und inwieweit Gerichtsurteile als Quellenmaterial zur Erforschung der Verfassungswirklichkeit des Dritten Reichs zu verwerten sind.
Der naheliegende Einwand, vermutlich habe doch eine Zensur bestanden, die die Publikation von Gerichtsurteilen verhindern sollte, deren Bekanntgabe dem Regime unliebsam hätte werden können, trifft zwar für Urteile des Volksgerichts generell und für sonstige Urteile der politischen Strafgerichtsbarkeit zu, dürfte aber kaum für die Entscheidungen anderer Gerichte gelten. Vielmehr wurden relativ häufig in den Fachzeitschriften Urteile abgedruckt, die linientreue Anhänger des Regimes in ausgedehnten Anmerkungen einer scharfen Kritik unterzogen. So begrenzt auch der Einblick sein mag, den das Studium publizierter Gerichtsurteile in das Funktionieren eines diktatorischen Regimes ermöglicht, mag es sich doch als hilfreich erweisen, um das schablonenhaft konstruierte Bild der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung durch eine Vielzahl von Momentaufnahmen zu korrigieren. Letztere sind so realitätsnah, wie dies in einem Regime möglich ist, zu dessen kennzeichnendem Merkmal es gehört, seinen wahren Charakter zu verschleiern.
Das Vorwort zur englischen Ausgabe habe ich im Jahre 1940 mit dem Ausdruck des Bedauerns abgeschlossen, daß ich aus naheliegenden Gründen meinen in Deutschland verbliebenen Freunden nicht namentlich für die Hilfe danken könne, die sie mir bei Konzipierung und Vorbereitung des Buchs geleistet hatten. Es mußte bei einer pauschalen Danksagung verbleiben. Die Hilfe bestand vornehmlich in dem kritischen Interesse, das sie der Fragestellung, den Thesen und dem ihnen zugrunde liegenden theoretischen Ansatz entgegenbrachten. Es war von unschätzbarem Wert für mich, daß ich dies alles im Gespräch mit ihnen entwickeln, ergänzen und korrigieren konnte, bevor ich daran ging, es versuchsweise zu formulieren. Obwohl sie nur im engsten Kreise stattfinden konnten, waren diese Rücksprachen für uns ein Lebensbedürfnis. Sie dienten dazu, zu verhindern, daß wir in der Einsamkeit der inneren Emigration geistig und seelisch erstickten. Die Hilfe, die mir meine Gesinnungsgenossen angedeihen ließen, erstreckte sich auch auf ihre Bereitschaft, Materialien, Exzerpte und Manuskripte an sicheren Stellen aufzubewahren und bei ihrer »Verschickung« ins Ausland behilflich zu sein.
Es wäre eine leere Geste, die damals unterbliebene öffentliche Danksagung an meine Gesinnungsfreunde jetzt namentlich nachzuholen. Nur allzu viele von ihnen sind inzwischen verstorben, andere sind in alle Winde verstreut und zu manchen habe ich die innere Fühlung verloren. Ich möchte mich darauf beschränken, mit Dankbarkeit vor allem den Namen von Fritz Eberhardt und mit Wehmut den Namen von Martin Gauger zu nennen.
Das Buch wäre ohne die Ermutigung und ständige Unterstützung nicht zustande gekommen, die mir der in der illegalen Untergrundbewegung besonders aktive und vorbildlich disziplinierte Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK) hat zukommen lassen. Mit dessen »Inlandsleiter« Dr. Hellmut von Rauschenplat (Dr. Fritz Eberhardt), dem es oblag, die Arbeit der lokalen Widerstandsgruppen dieser Bewegung zu koordinieren und die Verbindung zu der in Paris domizilierten Emigrationsleitung aufrecht zu erhalten, habe ich jahrelang auf das engste zusammengearbeitet. Auf langen Spaziergängen haben wir unsere Gedanken über den Sinn und die Notwendigkeit der illegalen Arbeit miteinander ausgetauscht und versucht, uns größere Klarheit über das Phänomen des Nationalsozialismus zu verschaffen. Wiederholt habe ich im Anschluß an solche Aussprachen deren Ergebnisse in Form von kurzen Aufsätzen Fritz Eberhardt in das Stenogramm diktiert. Sie waren für die Publikation in der in Paris erscheinenden Zeitschrift des ISK Sozialistische Warte bestimmt und sind anschließend als illegale Flugblätter in Deutschland verbreitet worden. Einige von ihnen sind unlängst in meinem Buch Reformismus und Pluralismus abgedruckt worden. Einer dieser Artikel enthält die Urfassung des Doppelstaats. Er ist unter dem Pseudonym Conrad Jürges erschienen.
Fritz Eberhardt hatte Kontakt zu einem Beamten der französischen Botschaft, der sich bereit erklärte, ein antinationalsozialistisches Manuskript im Diplomatengepäck aus Berlin nach Paris zu befördern. Auf diese Weise hat die erste Fassung des Doppelstaats den Weg in die Freiheit gefunden.
In der letzten Phase meiner Anwaltstätigkeit habe ich im Freundeskreis meine Arbeit häufig als die eines Weichenstellers bezeichnet, d. h. ich habe es als einen wesentlichen Bestandteil meiner Bemühungen angesehen, darauf bedacht zu sein, daß der in Frage stehende Fall im »Normenstaat« behandelt werde, und nicht im »Maßnahmenstaat« lande. Befreundete Kollegen bestätigten mir, daß auch sie wiederholt bewußt darauf hingearbeitet haben, daß ihre Mandanten gerichtlich bestraft würden.
Mit Martin Gauger – dem im Jahre 1941 in Buchenwald ermordeten Justitiar des lutherischen Rats – bin ich im Jahre 1934 oder 1935 durch den Tegeler Gefängnispfarrer Harold Pölchau bekannt gemacht worden. Damals wurden Organisationen und Verbände, die zur Bekennenden Kirche gehörten oder mit ihr verbunden waren, den gleichen Verfolgungen und Drangsalierungen ausgesetzt wie einige Jahre zuvor die Verbände der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. Da ich die letzteren wiederholt juristisch beraten hatte, konnte ich gleichsam aus Erfahrung sprechen. Der im Nachtrag behandelte Fall Delatowsky und Genossen3 mag illustrieren, was sich im Verlauf eines solchen Prozesses abspielen konnte.
Mein Gedankenaustausch mit Martin Gauger erstreckte sich zunächst auf juristische Spezialfragen, die seit der Zuspitzung des Kirchenkampfs einen erheblichen Teil seiner Arbeitskraft in Anspruch nahmen. Unsere Aussprachen beschränkten sich nicht auf konkrete juristische Probleme. Es war unausweichlich, daß in unseren bis tief in die Nacht ausgedehnten Unterhaltungen auch die rechtstheoretischen, philosophischen und soziologischen Aspekte des Phänomens »Doppelstaat« zur Sprache kamen. Nicht ohne Erstaunen stellten wir fest, wie grotesk verzeichnet das Bild gewesen war, das sich jeder von uns von dem Menschentyp gemacht hatte, dem sein nunmehriger Gesprächspartner vor dem Umbruch angehört hatte. So haben wir denn in einer frühen Morgenstunde die »Einheitsfront der Naturrechtler« begründet – ein Vorgang, der in dem rechtstheoretischen Kapitel dieses Buches seinen Niederschlag gefunden hat.
Unvergeßlich ist mir der Abend, an dem Martin Gauger, dessen »Humor und Geschick mit Menschen umzugehen« Annedore Leber (in dem Buch Das Gewissen steht auf) hervorgehoben hat, von einer Rücksprache mit dem Justitiar der Gestapo Dr. Werner Best berichtete. Als es Gauger nach vielen Mühen gelungen war, bis zu Best vorzudringen, um die Freigabe von beschlagnahmten Geldern der Bekennenden Kirche zu erreichen, nahm er die Gelegenheit wahr, gleichsam im Plauderton Best die Theorie des Doppelstaats klarzumachen. Wir haben es als eine makabre Bestätigung unserer theoretischen Bemühungen angesehen, daß in einem Beitrag zum Jahrbuch der Akademie für Deutsches Recht4 Best weitgehend Gedankengänge entwickelte, die Gauger ihm dargelegt hatte.
Je unerträglicher nach dem »Anschluß« der Terror wurde, je rascher sich das »Großdeutsche Reich« dem Kriege näherte, desto problematischer wurde die Basis meiner Existenz. In der Endphase meiner anwaltlichen Tätigkeit habe ich den eigentlichen Nutzen meiner Zulassung zur Anwaltschaft im Besitz des Anwaltsausweises erblickt, der mir die Benutzung der Präsenzbibliothek des Kammergerichts und der Staatsbibliothek ermöglichte. In der »Oase« Staatsbibliothek trafen sich – rein zufällig natürlich – solch »zuverlässige Staatsfeinde«, wie Theodor Heuss, Otto Suhr, Ernst von Harnack, Heinrich Acker und andere. In der Rotunda auf und ab gehend, tauschten wir unsere Gedanken aus.
In diesen Bibliotheken habe ich die Exzerpte gesammelt, die ich zur Abfassung des Doppelstaates benötigte. Dort habe ich auch einen erheblichen Teil des Urdoppelstaats geschrieben.
In eingehenden Rücksprachen, die ich bei Ferienaufenthalten im Ausland mit meinen bereits vorher emigrierten Freunden Franz Neumann und Otto Kahn-Freund führte, ist zuerst der Plan aufgetaucht, in Vertiefung und Ergänzung der zunächst mehr skizzenhaften Ausführungen über den Doppelstaat eine systematische politikwissenschaftliche Analyse dieses Phänomens vorzunehmen.
Die Herausgabe der deutschen Ausgabe dieses Buchs geht auf Alexander von Brünneck, wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Wissenschaft von der Politik an der TU Hannover, zurück. Er hat sich unermüdlich dafür eingesetzt, daß das Buch ins Deutsche rückübersetzt und von der Europäischen Verlagsanstalt verlegt werden solle. Seine Bemühungen sind um so höher zu bewerten, als ich infolge wiederholter schwerer Krankheiten nicht in der Lage war, das Projekt so intensiv zu fördern, wie ich es gewünscht hätte. Für seine außergewöhnliche Einsatzbereitschaft, für sein Interesse und sein Verständnis bin ich ihm zu tiefem Dank verpflichtet.
Mein Dank richtet sich auch an die Europäische Verlagsanstalt, die in vorbildlicher Weise die Herausgabe des Buchs übernommen, gefördert und durchgeführt hat.
Frau Gerichtsreferendarin Hela Rischmüller-Pörtner und Frau stud. jur. Christiane Terveen haben sich durch Mitarbeit an der Überprüfung der bibliographischen Angaben um das Zustandekommen des Buches verdient gemacht.
1[In diesem Band, S. 260.]
2[In diesem Band, S. 263.]
3[In diesem Band, S. 260.]
4[Dazu mit Nachweis der Fundstelle in diesem Band, S. 118.]
Die Umstände, unter denen dieses Buch entstand, bedürfen einer kurzen Erläuterung. Es ist das Produkt der paradoxen Isolierung, die allen denen aufgezwungen wurde, die im nationalsozialistischen Deutschland lebten und ihre Arbeit fortsetzten, obwohl sie Gegner des Regimes waren. Es war die Absicht des Verfassers, die Grundprinzipien der Rechts- und Verfassungsentwicklung im Dritten Reich darzustellen. Seine Berliner Anwaltstätigkeit von 1933 bis 1938 stellte den engen und ununterbrochenen Kontakt mit dem Rechtssystem des Nationalsozialismus her, der notwendig war, um die Thesen immer wieder anhand der Praxis zu überprüfen.
Für die Arbeit an diesem Buch hatte der Verfasser alle für den Gegenstand relevanten nationalsozialistischen Publikationen zu seiner Verfügung, einschließlich aller einschlägigen Entscheidungen. Leider war es ihm unmöglich, in Deutschland nicht erhältliches Material zu verwenden, wie z. B. die Schriften der deutschen Emigranten und viele andere Publikationen des Auslandes. Im wesentlichen war das Manuskript abgeschlossen, bevor der Verfasser Deutschland verließ.
Der Arbeit an diesem Buch stellten sich viele Schwierigkeiten entgegen. Seine Veröffentlichung wäre ohne die großzügige Hilfe zahlreicher Freunde nicht möglich gewesen.
Für finanzielle Unterstützung dankt der Verfasser: Der American Guild for German Cultural Freedom; der Graduate Faculty of Political and Social Science organized by the New School for Social Research; dem International Institute of Social Research; Prof. Alfred E. Cohn, New York; Dr. Fritz Karsen, New York; und Dr. Frederick Pollock, New York.
Prof. Arthur Feiler, New School of Social Research, New York; Prof. C. J. Friedrich, Harvard University; Prof. Waldemar Gurian, University of Notre Dame; Prof. Friedrich Kessler, University of Chicago; Prof. Wolfgang Kraus, Smith College; Prof. Oskar Lange, University of Chicago; Dr. N. C. Leites, University of Chicago; Dr. Franz Neumann, New York; Prof. Max Rheinstein, University of Chicago; Prof. David Riesman, University of Buffalo und Prof. Albert Salomon, New School of Social Research, New York, haben das Manuskript gelesen und wertvolle Vorschläge gemacht.
Zu besonderem Dank ist der Verfasser Dr. Gerhard Meyer von der Universität Chicago für die freundliche Erlaubnis verpflichtet, sein unveröffentlichtes Manuskript über das Wirtschaftssystem des Dritten Reiches zu benutzen. Mein Dank gilt vor allem Prof. E. A. Shils von der Universität Chicago, der seine Zeit und Fähigkeiten so großzügig in den Dienst der ungemein schwierigen Übersetzungsaufgabe stellte.
J. Bryan Allin übernahm die Durchsicht des Manuskripts hinsichtlich solcher Punkte, die der Klärung für den mit der deutschen Rechtstradition nicht vertrauten amerikanischen Leser bedurften. J. B. Allin, A. Bell und I. Pool halfen dem Verfasser freundlicherweise jeweils mit einem Kapitel, das Buch diesen Bedürfnissen anzupassen. A. Bell half dem Verfasser außerdem bei der Abfassung einiger Abschnitte, die die spätere Entwicklung in Rechnung stellen. Der Verfasser möchte ihnen für ihre wertvolle Hilfe seinen herzlichen Dank aussprechen.
Um den Charakter des Buches nicht zu verändern, wurden nur nationalsozialistische Publikationen und einschlägige Gerichtsentscheidungen herangezogen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß das Buch die Rechts-, und Verfassungsentwicklung nur bis zum Ausbruch des Krieges behandelt.
Ich möchte George Rothschild, graduate student an der Law School der Universität Chicago für seine Hilfe bei der Vorbereitung der Veröffentlichung des Manuskripts danken.
Folgenden Verlagen dankt der Verfasser für Zitiererlaubnis:
G. P. Putnam’s Sons: A. J. Carlyle, A History of Medieval Political Theory in the West, Bd. I; D. Appleton Century Company: Raymond Gettel, History of American Political Thought; The MacMillan Company: Charles H. Mcllwain, The Growth of Political Thought in the West; J. R. Tanner, Constitutional Documents of the Reign of James I; John Neville Figgis, Studies of Political Thought from Gerson to Grotius; International Publishers Inc.: Frederick Engels, The Housing Question and Karl Marx, Critique of the Gotha Programme; Charles H. Kerr & Co: Karl Marx, Capital, Bd. I u. III und The Eighteenth Brumaire of Louis Bonaparte; Harcourt, Brace & Co: R. H. Tawney, Religion and the Rise of Capitalism.
Leider bin ich gezwungen, eine wichtige Hilfe bei der Arbeit an diesem Buch unerwähnt zu lassen. Starken Einfluß auf die Konzeption hatten die Diskussionen des Verfassers mit zahlreichen Freunden, die augenblicklich noch in Deutschland leben und infolgedessen ungenannt bleiben müssen.
Chicago, 15. Juni 1940.
Das Wort »totalitär« hat viele Bedeutungen, die zumeist nicht ausreichend scharf definiert werden. In diesem Buch habe ich versucht, ein wesentliches Element des deutschen totalen Staats isoliert zu betrachten; mit der detaillierten Untersuchung eines zentral wichtigen Aspekts des nationalsozialistischen Regimes hoffe ich, zur Klärung der Rechtswirklichkeit des Dritten Reichs beitragen zu können.
Ich habe nicht den Versuch unternommen, das neue Rechtssystem als Ganzes darzustellen; vielmehr habe ich mich bemüht, die beiden im nationalsozialistischen Deutschland nebeneinander existierenden Systeme, den »Maßnahmenstaat« und den »Normenstaat«, wie ich sie nennen werde, zu analysieren.
Unter »Maßnahmenstaat« verstehe ich das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist; unter »Normenstaat« verstehe ich das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen.
Ich werde versuchen, die Bedeutung des Nebeneinanders der beiden Systeme durch eine wissenschaftliche Untersuchung der Entscheidungen der Verwaltungs-, Zivil- und Strafgerichte zu klären und mich gleichzeitig bemühen, die Demarkationslinie aufzuzeigen, die sie trennt.
Da dieses Problem bisher noch nicht theoretisch erörtert worden ist, ist es nötig, die Originalquellen zu Wort kommen zu lassen. Eine Analyse der Rechtsprechung wird ergeben, daß es eine ständige Spannung gibt zwischen den traditionellen Instanzen, die den Normenstaat repräsentieren und den Organen der Diktatur, den Instrumenten des Maßnahmenstaats. Mit Beginn des Jahres 1936 war der Widerstand der traditionellen Institutionen, denen die Vollziehung der Gesetze obliegt, geschwächt; die Entscheidungen der Gerichte legen daher ein eindrucksvolles Zeugnis für die fortschreitende politische Radikalisierung in Deutschland ab.
Der erste Teil dieses Buchs handelt von der bestehenden Rechtsordnung. Ein zweiter theoretischer Teil versucht, den Nachweis zu führen, daß die abendländische Rechtstradition in ihrem Kern dadurch herausgefordert worden ist, daß die traditionellen rechtsstaatlichen Verfahren und die Methode, Entscheidungen lediglich aufgrund der Umstände des Einzelfalls zu treffen, nebeneinander bestehen.
In diesen Teilen versuche ich, die rechtliche Duplizität zu erklären, die für das gesamte private und öffentliche Recht im heutigen Deutschland kennzeichnend ist. Im dritten und letzten Teil stelle ich das Rechtssystem und die Rechtstheorie des Doppelstaats der Rechtswirklichkeit gegenüber. In diesem kritisch-soziologischen Teil weise ich auf die Beziehungen hin, die zwischen dem heutigen deutschen Kapitalismus und der Betätigung des Normen- und Maßnahmenstaats existieren. Ich werde der Frage nachgehen, ob die Rechtsstruktur, die ich als Doppelstaat bezeichne, die notwendige Folge einer Krisensituation ist, in der sich die Führungselite der kapitalistischen Gesellschaft befindet. Die Frage soll hier aufgeworfen werden, ob diese Führungselite das Vertrauen in die Rationalität verloren und ihre Zuflucht in die Irrationalität genommen hat; dabei läßt sich zeigen, daß all dies in einer Zeit erfolgte, in der Rationalität (so will es scheinen) mehr als je zuvor als regulierende Kraft in der kapitalistischen Gesellschaft vonnöten ist.
Zu diesem Zweck wäre es nicht ausreichend, nur solche Entscheidungen zusammenzustellen, die nicht in Einklang mit den Prinzipien des Rechtsstaats gebracht werden können. Der nationalsozialistische Staat verdient nicht nur wegen seiner extrem willkürlichen Machtausübung Beachtung, sondern auch wegen der Methoden, die er bisher erfolgreich anwandte, um Willkürherrschaft und kapitalistische Wirtschaftsordnung miteinander zu vereinen.
Es ist eine der Grundthesen Max Webers, daß für das Funktionieren einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung ein rationales Rechtssystem unerläßlich ist. Die deutsche reformistische Arbeiterbewegung hat diese These für selbstverständlich erachtet. Angesichts der paradoxen Situation, die heute in Deutschland besteht, muß man sich fragen, ob eine kapitalistische Ordnung in einem Herrschaftssystem fortbestehen kann, in welchem es häufig nicht möglich ist, soziale Chancen rational zu kalkulieren. Rationale Kalkulierbarkeit ist mit der Ausübung willkürlicher Herrschaftsgewalt, wie sie für das Dritte Reich kennzeichnend ist, schwerlich vereinbar.
Befürworter und Gegner des Nationalsozialismus mögen die Meinung vertreten, das Problem des Doppelstaats habe weder grundsätzliche noch dauernde Bedeutung; vielmehr handele es sich lediglich um eine Übergangserscheinung. Diejenigen, die den Maßnahmenstaat für eine Übergangserscheinung halten, verweise ich auf die im Dritten Reich ergangenen Gerichtsurteile, die erkennen lassen, daß die Bedeutung des Maßnahmenstaats nicht im Schwinden ist, vielmehr im Gegenteil ständig zunimmt. Wer glaubt, der Normenstaat gehöre bereits der Vergangenheit an und sei zum Untergang verurteilt, sollte nicht übersehen, daß es schwerlich möglich ist, ein Volk von 80 Millionen durch einen »Plan« zu lenken, ohne daß gewisse eindeutige Regeln bestehen, deren Einhaltung notfalls nach Maßgabe des geltenden öffentlichen und bürgerlichen Rechts erzwungen werden können.
Um Mißverständnisse auszuschalten, möchte ich bereits hier ausdrücklich betonen, daß ich nicht das Nebeneinander von Staats- und Parteibürokratie im Auge habe, wenn ich vom »Doppelstaat« spreche. Ich messe diesem neuen Phänomen keine überragende Bedeutung bei. Dieses Problem wird in der nationalsozialistischen Literatur zwar häufig erörtert und auch in diesem Buch gelegentlich gestreift; es wäre jedoch müßig, zwischen ihnen eine juristisch haltbare Unterscheidung vorzunehmen. Staat und Partei werden in zunehmendem Maße identisch und die dualistische Organisationsform bleibt nur aus historischen und politischen Gründen aufrecht erhalten.
In einer in Weimar im Juli 1936 gehaltenen Rede hat Hitler dargelegt, wo die Demarkationslinie zwischen Partei und Staat verlaufe. Er hob hervor, daß Regierung und Gesetzgebung Aufgabe der Partei und die Verwaltung Aufgabe des Staats sein solle. Als juristische Erklärung ist diese Feststellung jedoch von geringem Wert, da es ebensowenig zutreffend ist, von einem Gesetzgebungsmonopol der Partei wie von einem Verwaltungsmonopol des Staates zu sprechen.
Wenn ich im folgenden vom »Staat« rede, verwende ich den Begriff im weiteren Sinne des Wortes als Bezeichnung für den gesamten öffentlichen Apparat, der aus dem Staat im engeren Sinne und der Partei einschließlich ihrer Hilfs- und Nebenorganisationen besteht. Ob die These von der Verschmelzung von Staat und Partei für die Analyse der rechtlichen und sozialen Phänomene des Dritten Reichs von Nutzen ist, wird sich zeigen. Um das Verständnis der überragend wichtigen Unterscheidung von Normen- und Maßnahmenstaat im Gesamtgefüge des nationalsozialistischen Doppelstaats zu erleichtern, glaube ich berechtigt zu sein, die weniger wichtige Unterscheidung zwischen Staat und Partei zu vernachlässigen.
Sowohl Partei als auch Staat im engeren Sinne betätigen sich im Bereich des Normenstaats und des Maßnahmenstaats. Keinesfalls sollte aber die übermäßige Betonung des relativ nebensächlichen Unterschieds zwischen Partei und Staat dazu führen, daß der weit wichtigere Unterschied zwischen Normen- und Maßnahmenstaat verwischt wird. Der Umstand, daß die nationalsozialistische Rechts- und Staatslehre auf die Behandlung des Problems Staat – Partei einen solchen Wert legt, ist für mich eine Ermutigung und eine indirekte Rechtfertigung für mein Vorhaben; ist es doch ein gängiger Trick der nationalsozialistischen Rechts- und Staatslehre, die wahre Bedeutung gewisser Probleme dadurch zu verdunkeln, daß auf Nebensächliches ein lautstarker Nachdruck gelegt wird.
Das Buch beschränkt sich auf eine Erörterung des nationalsozialistischen Deutschlands. Obwohl ich zugebe, daß eine vergleichende Lehre der Diktatur unter dem Gesichtswinkel des Doppelstaats aufschlußreich wäre, erachte ich mich hierzu nicht ausreichend qualifiziert. Dieses Buch ist eine Analyse des nationalsozialistischen Rechtssystems aus erster Hand. Es ist vom Standpunkt eines betroffenen Beobachters geschrieben, der ein Gegner des Nationalsozialismus ist. Direkte Erfahrungen, die ich als Anwalt im Dritten Reich sammeln konnte, haben zum Zustandekommen des Buches ebenso beigetragen wie das Studium der nationalsozialistischen Literatur. Eine Erörterung entsprechender Fragen in anderen Diktaturen würde es erforderlich machen, daß ich deren Situation ebenso erforschte wie die des Dritten Reichs. Schon allein die Erkenntnis, daß die deutsche Diktatur nicht zuletzt dadurch gestärkt wird, daß sie ihr wahres Gesicht verhüllt, hält mich davon ab, andere Diktaturen allein an ihren Worten und nicht vielmehr an ihren Taten erkennen zu wollen. Zu außerdeutschen Diktaturen hatte ich jedoch keinen unmittelbaren Zugang. Bei oberflächlicher Beschäftigung mit der deutschen Diktatur könnte einem Autor entweder ihre Willkür oder ihre Effizienz ins Auge fallen. Dieses Buch beruht auf der These, daß das kennzeichnende Merkmal der nationalsozialistischen Diktatur die Kombination dieser beiden Komponenten ist.
Glaubst du, daß ein Staat,
in dem die Urteile der Gerichte
keinen Anspruch auf Gültigkeit erheben können,
vielmehr von einzelnen Personen
abgeändert und außer Kraft gesetzt werden können,
weiterbestehen kann oder nicht vielmehr
zugrunde gehen muß?
Sokrates
Die Verfassung des Dritten Reiches ist der Belagerungszustand. Seine Verfassungsurkunde ist die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933.1
Die Handhabung dieser Notverordnung mußte dazu herhalten, den politischen Sektor2