Der Ein-Euro Schnüffler - Christoph Spielberg - E-Book

Der Ein-Euro Schnüffler E-Book

Christoph Spielberg

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Beschreibung

[Erstveröffentlichung BeBra-Verlag, Berlin] Oskar Buscher erledigt einen schmutzigen Job: Der arbeitslose Ingenieur fahndet als Hartz-IV-Empfänger im Auftrag des Bezirks Berlin-Neukölln nach Leuten, die ihren Abfall illegal auf der Straße oder in der nächstliegenden Baulücke entsorgen. Als er dabei auf einen Karton voller toter Hundewelpen stößt, löst das bei ihm Empörung und kriminalistischen Spürsinn aus. Schnell wird er erkennen, dass illegal entsorgter Müll und tote Hundewelpen nicht die einzigen Verbrechen im plötzlich so hippen Neukölln sind. Berliner Zeitung: Spielberg erzählt glaubwürdig und rasant bestebookfinder.de: Ein Buch für Freunde des intelligenten Plots cute and dangerous, Berlin: ... führt nicht nur rasant durch die Neuköllner Straßen, sondern auch durch eine realitätsnahe Geschichte mit viel Berliner Flair. lesen-oder-vorlesen.de Die Ermittlungen bringen … den Leser ganz nebenbei zu Erkenntnissen über Gentrifizierung sowie integrierte und nicht integrierte Migranten – und das Ganze mit Humor und Spannung.

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Inhaltsverzeichnis

Von Christoph Spielberg bisher erschienen:

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Anmerkungen für Leute, die sich in Neukölln auskennen – und solche, die sich dort kaum auskennen

Impressum

Von Christoph Spielberg bisher erschienen:

Die Russische Spende

Denn wer zuletzt stirbt

Hundertundeine Nacht

Der vierte Tag

Man stirbt nur dreimal

Wiederbelebung

Wunderheilungen und andere unerwünschte Nebenwirkungen

Ein vergiftetes Erbe

Außerhalb der Dr. Hoffmann Reihe:

Der Ein-Euro Schnüffler

Personen und Handlung sind frei erfunden

© Christoph Spielberg

Erstveröffentlichung: BeBra Verlag Berlin 2014

1

Es war Mittwoch. Der falsche Tag. Mittwoch ist immer falsch für Observationen. Besonders bei Nacht. Oder bei Regen. Erst recht bei Nacht und Regen. Alte Schnüfflerweisheit, an die ich mich erst erinnerte, als der kalte Nieselregen die schmale Lücke zwischen Jackenkragen und Hals gefunden hatte. Irgendwann hat sich das Verbrechen den Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst angepasst. Oder denen der Ärzte. Geh mal an einem Mittwoch zur Arbeitsagentur oder zum Hausarzt. Geschlossen. Mittwochs darfst Du ohne Krankenschein sterben. Mittwoch ist auch ein schlechter Tag, um Verbrechern aufzulauern. Insbesondere, wenn man die Jacke ohne Kapuze übergezogen hat.

Und trotzdem kniete ich hier hinter einem kahlen Brombeerbusch und ließ mir den Novemberregen den Rücken hinunterlaufen. Noch bildete der Elastikbund meiner Boxershorts eine natürliche Sperre, lange aber sicher nicht mehr. Warum also verstieß ich gegen die Mittwochs-nie-Weisheit? Einfach weil ihr in diesem Fall eine andere Weisheit entgegenstand: nicht nur, wie allgemein bekannt, dass der Verbrecher irgendwann an den Tatort zurückkehrt. Sondern weil auch der Verbrecher ein Gewohnheitstier ist. Und meine Verbrecher hatten bisher, entgegen der Regel, immer in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag zugeschlagen. Nicht jede Mittwochnacht, aber wenn, dann immer exakt in der Wochenmitte. Zuletzt Donnerstag vor drei Wochen hatten mein Partner Herbert und ich auf diesem Gelände am Morgen nach Hinweisen auf den oder wahrscheinlich eher die Täter gesucht, den Tatort aus jeder Richtung und aus allen Winkeln fotografiert, aber wieder keine brauchbaren Spuren gefunden.

Längst hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, vorsichtig schaute ich mich um. Nicht bewegen, den Kopf nur ganz vorsichtig drehen: keine wahrnehmbare Veränderung in der letzten Stunde. In der Regel lässt Regen die Gebäude gerade in einer Großstadt trauriger, hässlicher erscheinen. Hier jedoch deckten Nacht und Regen die Tristesse und Hoffnungslosigkeit der Industriebrache eher zu, verschleierten das ganze Ausmaß des unwiderruflichen Verfalls, ließen nur die einst sicher stolzen Konturen der ehemaligen Fabrik ahnen. Man erkannte nicht die herausgebrochenen Fenster, die herabhängenden Regenrinnen, die angekohlten Balken. Irgendjemand hatte hier erst vor kurzem ein Feuerchen gemacht. Um sich zu wärmen? Aus purer Lust an der Zerstörung? Um Beweismittel zu vernichten?

Vorsichtig verlagerte ich mein Gewicht auf das andere Knie und wartete weiter, dass sich die Regel vom Verbrecher, den es über kurz oder lang an den Tatort zurück zieht, erfüllte. Dabei hoffend, dass sich eine ebenso wichtige Regel nicht bestätigte: Nie ohne deinen Partner! Dazu braucht es keine Polizeiausbildung, das lernt man in jedem Fernsehkrimi. Immer mit Partner, schlimmstenfalls wenigstens mit einem entsprechend trainierten Hund. Und wenn du doch einmal alleine am Tatort eintriffst, forderst du sofort Verstärkung an. Gehst du alleine in das dunkle Haus, oder stellst alleine die Täter auf einer verlassenen Industriebrache, bekommst du mit Sicherheit eins auf die Mütze. Oder mehr als eins. Mein Partner Herbert aber lag im Moment sicher friedlich in seinem Bett, hatte es warm und träumte etwas Nettes, während der Regen endlich auch den Bund meiner Boxershorts überwunden hatte.

„Nee, schönen Dank. Es reicht mir schon, am Tage mit dir durch den Modder zu kriechen. Aber bitte nicht auch noch bei Nacht. Es ist nicht mal unser Gebiet“, hatte Herbert mich gestern beschieden. Und er hatte recht: Streng genommen lag die Industriebrache außerhalb unseres Verantwortungsbereichs, gehörte diese Seite der Straße schon zum Bezirk Treptow.

Plötzlich hinter mir: ein Knacken. Leise zwar, aber meine Sinne waren auf höchste Empfindlichkeit gepolt. Deshalb vernahm ich das Knacken eher überdeutlich, genau wie das regelmäßige Tropfen aus der abgerissenen Regenrinne in die Pfütze direkt darunter. Den steten Großstadtverkehr im Hintergrund hatte ich ausgeblendet. Sollte mir das Knacken Sorgen machen? Eher nicht. Zum einen hatte es schon aufgehört, und dann knackt es ja selbst im sicheren Zuhause immer einmal, scheinbar grundlos, ohne implizite Bedrohung jedenfalls.

Neulich, auf Spurensuche mit Herbert, hatte eine zusammenhängende Schneedecke die Fabrikruine, die Schuppen und die übrige Brache fast in eine Zauberlandschaft verwandelt. Es war ein Tag mit praller Wintersonne, der Schnee wirkte nicht wie ein Leichentuch, wie es zur Trostlosigkeit dieses Areals gepasst hätte, eher glich es einer funkelnden, federleichten Decke feinster Daunen. Heute Nacht erinnerten daran nur noch einige schmutziggraue Inseln von dreckigem Schnee. Unter dem Matsch, in dem ich kniete, war der Boden gefroren. Der weitgehend verschwundene Schnee hatte jedoch den Vorteil, dass ich kaum Spuren hinterlassen haben dürfte auf meinem Weg zum Brombeergestrüpp. Wenigstens keine, die die Täter in der Dunkelheit erkennen würden. Ich hatte mich bei Tage für dieses Versteck entschieden, und die Stacheln, die mich im Gesicht kratzten, gaben mir die Gewissheit, dass ich tatsächlich am geplanten Ort hockte. Sicher fühlte sich dieser Brombeerstrauch, weitgehend seiner Blätter beraubt, seiner Früchte ohnehin, auch nicht besser als ich. Und er machte mich, nackt, wie er war, auch nicht wirklich unsichtbar. Gegen die kalten Tropfen, die inzwischen meine Pofalte hinunterliefen, half er ohnehin nicht.

Einen gewissen Schutz hatte mir anfangs, trotz fehlender Kapuze, mein Schal gegeben. Eine Erinnerung an meine liebe Lena aus dem Beziehungsabschnitt „von Herzen kommt nur Selbstgemachtes“. Das war Jahre her, und gemocht hatte ich dieses Teil sowieso nie. Wegen seiner scheußlichen Farben. Und weil es von Lena war. Meiner Ex. Ex – wie doof sich das anhört. Wie wäre es mit „von meiner Getrennten“? Das gefiel mir besser: die getrennte Frau. „Sind Sie geschieden?“ „Nein, aber wir leben getrennt“. Getrennt oder geschieden, beide Begriffe implizierten Versagen. Ich musste grinsen. Vielleicht sollte ich die gute Lena eines Nachts mal mit hierher nehmen? Getrennt, zertrennt ... Ich könnte sie hier in zwei hübsche Hälften teilen und verscharren. Völlig unbeobachtet. Und sollte mich doch jemand erwischen - die Leute, die auf diesem Brachland nachts ihren Geschäften nachgingen, waren selbst an größtmöglicher Diskretion interessiert und würden sich entsprechend verhalten.

Stimmte auch wieder nicht. Denn ich hockte ja genau deshalb hier: um Täter zu beobachten und sie zu stellen. Andererseits, wer außer mir würde so blöd sein? Würden die, auf die ich es abgesehen hatte, wirklich in dieser nasskalten Novembernacht hier aufkreuzen?

Und was Lena, meine Getrennte, betraf: Ich fürchtete, dass zertrennen nicht genügen würde, dass sich die beiden Teile auf wundersame Weise wieder zusammenfänden, um mich zu quälen. Oder, schlimmer noch, beide Hälften würden sich jeweils zu einem Ganzen auswachsen, wie bei manchen Quallen oder Würmern, um mich dann zu zweit verfolgen. Eine Lena reichte mir vollkommen!

Zwei Lenas? Offenbar war ich fast eingenickt. Aber kein Zweifel – es hatte wieder geknackt. Lauter diesmal, und dichter. Natürlich, was bildet man sich nicht alles ein, allein im Dunkeln. Baumstümpfe werden zu Wegelagerern oder, liegen sie im Wasser, zu Krokodilen. Aber jetzt ging es um Geräusche, und die Ohren funktionieren nachts mindestens zu gut wie am Tage. Da, wieder das Knacken. Tiere? Es gab hier, mitten in Berlin-Neukölln, sicher keine Bären oder Wölfe. Aber ganz grundlos waren die wiederholten Mahnungen unseres Amtsarztes, endlich zur Tetanus-Impfung zu erscheinen, sicher nicht.

Das Leben eines Ermittlers ist nicht so spannend, wie man es sich wahrscheinlich vorstellt. Siehe aktuell: stundenlanges Warten im Matsch unter einem Brombeerbusch. Meine nicht öffentlich bediensteten Kollegen Privatdetektive sitzen, im Film wenigstens, gewöhnlich in einem Auto, vielleicht sogar mit Standheizung, sicher mindestens mit heißem Tee aus einer Thermoskanne, in die sie den Tee später auch wieder entsorgen können.

Wieder knackte es, noch ein Stückchen dichter. Spannung, auf die ich gerne verzichtet hätte. Wenn es nun kein Tier wäre? Sondern der oder die Täter, derentwegen ich ja schließlich gekommen war? Aber warum sollten die sich anschleichen? Die sollten hier auftauchen, ihre miese Tat verrichten, die ich nicht verhindern würde, und wieder verschwinden. Ich würde sie genauestens beobachten und dann verfolgen. Das war der Plan, sich an mich Anschleichen kam darin nicht vor. Hatten die Täter den Spieß umgedreht, mich längst entdeckt? Wenn meine Ohren recht hatten, kam das Knacken von links hinter mir. In meinem Plan sollten die Täter aber von vorne kommen, in meinem Blickfeld jedenfalls, sich keinesfalls von hinten anschleichen und mir nicht mit einer Latte eins über den Schädel ziehen. Oder Schlimmeres. Wobei Latte über den Schädel ausreichen dürfte, bis zum Morgen wäre ich erfroren. Und außer meinem selig schlafenden Partner Herbert wusste sowieso keine Sau, wo ich war.

Außer vielleicht, genau jetzt, die Täter.

Was war zu tun? Klar, einfach die Augen schließen, „wenn ich dich nicht sehe siehst du mich auch nicht“, würde nicht funktionieren. Aber in der Dunkelheit schien mir reglos sitzen bleiben immer noch die beste Alternative. Obwohl ich natürlich ausgerechnet jetzt das Gefühl hatte, mich unbedingt strecken zu müssen, da sämtliche Knochen und Muskeln gegen diese Hockposition schmerzintensiv protestierten. Und atmen musste ich auch.

Eine neue Wahrnehmung: Der Regen hatte meinen linken Unterschenkel erreicht. Wie das, ohne sich vorher den Oberschenkel hinunter zu arbeiten? Und warum war der Regen plötzlich warm? Ganz vorsichtig drehte ich meinen Kopf nach links. Mit großen Augen blickte von dort etwas zurück: ein Waschbär! Erschreckt, dass es nicht einen Baumstumpf sondern etwas Bewegliches markiert hatte, erstarrte das Tier einen winzigen Moment lang, um dann mit zwei Sprüngen in der Nacht zu verschwinden. Ein Waschbär hatte mich angepinkelt - nun war ich doch froh, dass mein Partner Herbert nicht dabei war.

Genug! Diese Nacht war für mich definitiv zu Ende. Mochten die, auf die ich wartete, noch auftauchen oder nicht, mochten sie erwartete oder unbeschreibliche Untaten verüben, egal. Ohne mich. Ich erhob mich ächzend und war nur noch bestrebt, nicht über irgendetwas zu stolpern. Eine halbe Stunde Fußmarsch, dann wäre ich in meinem Bett. Wo ich schon seit Stunden sein sollte.

Ich hatte fast die Straße erreicht, kam gerade vorbei an dem einzigen Gebäude, in dem, wenigstens bei Tage, noch legal gearbeitet wurde. Ein Schuppen, jetzt eine Art Autowerkstatt oder so, glaube ich. Da hörte ich wieder ein Geräusch. Kein Knacken diesmal, mehr eine Art Hilferuf. Leise zwar, aber eindringlich. Vorsichtig näherte ich mich. Das Geräusch kam aus dem Abfallcontainer.

Ich fand einen lebenden Zeugen!

Und hatte keine Vorstellung, wie grundlegend dieser Zeuge mein Leben verändern sollte.

2

„Das war Mord, Partner. Geplanter, kaltblütiger Mord.“

Trotz der Kälte hatte Herberts Gesicht die Farbe eines überreifen Hokkaidokürbis angenommen, was, wie mir erstmals auffiel, recht gut zu dessen Form passte. Aber es war weniger unsere anstrengende Tätigkeit, die Herbert das Blut in den Kopf presste. Wütend stützte er sich auf seinen Spaten. Er war noch nicht fertig mit seiner Ansprache.

„Und Heinz, eines kannst du mir glauben. Wenn ich diese Leute erwische, bringe ich sie um. Eigenhändig. Mit oder ohne Spaten!“

Selten hatte ich Herbert so emotional erlebt. Eigentlich noch nie. Nicht einmal montags, wenn er, meistens mit zunehmend schlechter Laune, die Spielberichte der unteren Fußball-Ligen im Kicker studierte. Außerdem war heute Donnerstag. Verbissen hackten und gruben wir weiter. Der Frost hatte früh eingesetzt dieses Jahr, erst seit wenigen Tagen zeigte das Thermometer wieder Werte um oder knapp über Null. Dies und der Regen der vergangenen Nacht hatten die oberste Erdschicht in eine morastige Pampe verwandelt, darunter war der Boden noch gefroren. Deshalb die Hacke. Gegen den Widerstand der Natur vergrößerten wir Stück für Stück unser Erdloch. Wir waren uns einig, dass die drei wenigstens ein Grab verdienten. Und, soweit es Herbert betraf, gerächt werden mussten.

Wir hatten unsere Spurensicherung an meinem Brombeerstrauch begonnen. Jetzt, bei Tageslicht, ohne den nächtlichen Schleier lauernder Gefahr und omnipräsenten Geheimnisses, zeigten sich uns einfach die Überreste einer ehemaligen Fabrikanlage, in vierzig Jahren DDR heruntergewirtschaftet, bis ihr irgendein Glücksritter aus dem Westen endgültig den Todesstoß versetzt hatte. Für ein paar Monate war hier danach ein Gebrauchtwagenhändler zu vorübergehendem Wohlstand und am Ende zu einer Haftstrafe auf Bewährung gekommen. Nun diente das Gelände seit Jahren als idealer Ort, an dem man Autos ausschlachten und ihre Torsos stehen lassen, Altöl oder Kühlschränke entsorgen und vorübergehend sogar Unterkunft finden konnte. An den Wänden der Gebäude übten Graffiti-Künstler, bevor sie ihre Werke besser sichtbar über die Stadt verteilten.

Hartnäckig arbeitete die Natur daran, sich das Territorium zurückzuerobern, erstaunlich wenig gestört durch die Hektoliter von Motorenöl, Bremsflüssigkeit oder Kühlmittel im Erdboden. Ein kleiner Birkenhain überwucherte das Gleisbett der ehemaligen Industriebahn, und ältere Graffiti verschwand bereits hinter Knöterich, der sich die Backsteinmauern hocharbeitete. Ich erkannte meinen Abdruck unter dem Brombeerstrauch, hinter dem ich mich vergangene Nacht versteckt hatte.

Stück für Stück hatten Herbert und ich unseren Ermittlungskreis erweitert. Wir waren zwar auf keinen verwertbaren Hinweis zu den Tätern, aber schließlich auf die drei Leichen gestoßen. Nach kurzer Diskussion beschlossen wir, dass es das Beste wäre, sie gleich hier verschwinden zu lassen. Herbert, nach wie vor mit wenig Verständnis für meine nächtliche Ermittlungsarbeit, war Feuer und Flamme, die Täter zu finden. Obgleich es dafür keinen Beweis gab, ging er davon aus, dass die Leute, hinter denen wir schon ein Weilchen her waren, auch für die Leichen verantwortlich waren. Er wiederholte, während er verbissen an unserem Erdloch schaufelte: „Die schnappen wir uns. Ja, wenn es sein muss, auch bei Nacht.“ Die Täter würden dann, das konnte man unschwer erkennen, mit einem sehr wütenden Mann Bekanntschaft machen. Und auf schnelles Vergessen, auch das wusste ich, durfte man bei Herbert nicht zählen.

Schließlich fanden wir unsere Grube groß genug. Ich holte ein neues Set Einmalhandschuhe, von denen wir immer ausreichend Vorrat mit uns spazieren fahren. Vorsichtig legten wir die leblosen Körper in das frische Grab.

Inzwischen schlug auch mir die Sache auf die Seele und ich wollte sie nur schnell hinter mir haben. Also griff ich wieder zur Schaufel, um die zumindest Altöl-belastete Erde in das Loch zurückzubefördern.

„Stoi!“, fiel mir Herbert in den Arm.

Was war los? Hatte er etwas gesehen? Gehört? Mit eiligen Schritten und entschlossener Miene verschwand er hinter der Baracke, in der tatsächlich eine „typenunabhängige Autowerkstatt“ arbeitete. Ich folgte ihm nicht, aber stellte meine Ohren auf höchste Empfangsstärke und hielt den Spaten griffbereit. Man konnte nie wissen.

Meine Sorge war unberechtigt, der Verteidigungsfall trat nicht ein. Schon nach wenigen Minuten tauchte Herbert wieder auf, mit einer waschmittelfamilienpackungsgroßen Holzkiste unter dem Arm, die er irgendwo auf dem Gelände gefunden hatte.

Er nahm die Leichen noch einmal aus dem Grab, legte sie vorsichtig in die Kiste, verschloss den Deckel und platzierte sie behutsam auf dem Boden der Grube. Dann stemmte er sich mit beiden Händen auf seine Schaufel. Herbert ist der Typ, bei dem die Dinge eine festgelegte Ordnung haben. Bei einem Begräbnis hieß das, dass ein Gebet gesprochen wird. Oder wenigstens etwas in der Art.

„Hallo da oben. Du weiß, dass ich nicht sicher bin, ob es dich überhaupt gibt. Eher nicht, habe ich in der Schule gelernt. Und wenn es dich doch gibt, verzeihst du ja alles, hört man so. Deshalb bitte ich dich nur, lass uns die Arschlöcher finden, die für das hier verantwortlich sind. Um den Rest kümmern wir uns dann schon.“

An Stelle eines „Amen“ begann er, mit verbissener Energie die feuchte Erde in das Grab zu schaufeln. Ich stellte mir vor, wie dieser Gott, den es meiner Meinung nach eventuell doch gibt, sich ein kurzes Lächeln gestattete, und war sicher, dass er tatsächlich wegschauen und Herbert gewähren lassen würde, sollten wir den oder die Täter jemals finden. Schließlich bewies dieser Gott jeden Tag erneut, wie gut er wegschauen konnte.

Warum ich, fragte Herbert, die Leichen letzte Nacht nicht gesehen hätte?

„Eben deshalb: Nacht. Es war stockfinster. Geregnet hat es auch.“

Und, fuhr ich fort, es hätte schon meinen ganzen Mut gebraucht, überhaupt nach dem Ursprung des Geräuschs zu suchen.

„Hast Du schon mal nachts einen verrotteten Müllcontainer geöffnet, aus dem irgendwelche undefinierbaren Laute kamen? Mit einer Taschenlampe, die weitgehend ihren Geist aufgegeben hat? Woher sollte ich wissen, dass mich da nicht irgendetwas beißt?“

„Ne riesige, strahlenmutierte Ratte zum Beispiel, was? Jedenfalls, herzlichen Glückwunsch zum Ergebnis deiner freiwilligen Nachtschicht: drei Tote! Und du wirst spätestens morgen mit einer fetten Erkältung im Bett liegen. Pleite auf der ganzen Linie. Eh - nies bloß in ‘ne andere Richtung!“

Das tat ich, ausführlichst und brav mit dem Wind. Im Gegensatz zu Herbert betrachtete ich die vergangene Nacht allerdings nicht als totale Pleite. Eigentlich ganz im Gegenteil. Den Hauptgrund dafür würde ich ihm jedoch vorerst nicht auf die Nase binden. Aber es schien mir an der Zeit, mich zu verteidigen. Und wenigstens einen Teil der Wahrheit preiszugeben.

„Du tust gerade so, als wäre ich für die Leichen verantwortlich. Und immerhin habe ich einen Überlebenden gefunden. Und damit gerettet.“

„Was? Einen Zeugen?“

Ich klärte Herbert über meinen Zeugen auf. Gespannt hörte er zu, unterbrach mich nicht.

„Und wo ist der jetzt?“

„Na, bei mir zu Hause.“

Ich konnte beobachten, wie sich Herbert meine häuslichen Verhältnisse ins Gedächtnis rief. Da diese recht überschaubar sind, brauchte er dazu nicht lange.

„Alleine?“

Ich nickte. „Was sollte ich tun auf die Schnelle? Ein Zeugenschutzprogramm organisieren?“

Herberts Blick genügte, mein ohnehin schlechtes Gewissen noch weiter zu verschlechtern. Dann hastete er in Richtung unseres Dienstfahrzeuges. Ich stolperte hinterher.

„Ich fahre, Arschloch.“

Noch nie hatte Herbert mich Arschloch genannt. Jedenfalls nicht in einem Ton, der besagte, dass er genau das meinte. Ich warf ihm die Zündschlüssel zu.

Wortlos schnallten wir uns an, dann gab Herbert Vollgas. Das Arschloch ließ ich ihm durchgehen, es konnte mir nicht die Laune verderben. Schließlich hatte ich vergangene Nacht nicht nur ein Leben gerettet. Ich hatte auch endlich einen Weg zu meiner schönen Nachbarin Julia gefunden – oder, besser sogar, sie zu mir. Aber genau das würde ich Herbert jetzt nicht auf die Nase binden.

3

„Äh ... ja bitte?“

Nachdem ich vergangene Nacht, der Donnerstag hatte schon begonnen, zwar durchnässt bis auf die Knochen aber dankbar, dass nur ein verschwindend kleiner Teil der Nässe Waschbären-produziert war, meine Wohnung lebendig erreicht und meinen lebendigen Zeugen notversorgt hatte, gönnte ich mir gerade eine heiße Dusche, als ich meinte, ein vorsichtiges Klopfen an meiner Wohnungstür wahrzunehmen.

Konnte nicht sein. Wer sollte morgens um vier Uhr bei mir klopfen? Wahrscheinlich ein Luftzug im Treppenhaus, der an der altersschwachen Tür rüttelte. Ich kümmerte mich weiter um meinen Gast und fand das Handtuch, dass ich für ihn gesucht hatte: Palmen am Tropenstrand, untergehende Sonne über dem Meer, vor Jahren für meinem damals kleinen Sohn an der Nordsee erstanden.

Aber es klopfte wieder, Zweifel jetzt nicht mehr möglich. Wer sollte das sein? Nicht einmal mein Sohn mit seiner Gabe, unvorhergesehen mit der mehr als Forderung denn als Bitte vorgetragenen Frage nach einem Kleinkredit aufzutauchen, würde sich dafür einen so frühen Frühmorgen aussuchen. War man mir vom Fabrikgelände gefolgt? Wollte mir doch noch eins über die Rübe ziehen? Hatte ich etwas gesehen, was ich nicht sehen sollte? Aber ich hatte doch gar nichts gesehen! Also die klassisch-tragische Variante: Ich bekam eins über die Rübe, weil man fälschlich annahm, ich hätte etwas beobachtet?

Mit nur dem Handtuch umwickelt schlich ich zur Tür, löschte das Licht im Flur und lugte durch den Spion. Kein Sohn, kein Tätowierter mit einer Axt im Anschlag. Eine Frau. Eine sehr hübsche Frau. Eine sehr hübsche Frau um die dreißig mit großen Rehaugen, der man keinen Wunsch abschlagen würde, auch nicht morgens um vier Uhr. Schon seit Wochen hatte ich überlegt, wie ich unauffällig Kontakt zu der neuen Nachbarin herstellen konnte, und nun stand sie ganz ohne Bemühungen meinerseits vor meiner Tür!

Eingedenk meiner sparsamen Bekleidung öffnete ich nur einen Spalt.

„Entschuldige Sie, Herr ...“ – kurzer Blick auf mein Türschild – „...Buscher. Ich weiß, es ist mitten in der Nacht. Ich ... ich habe mich nur getraut, weil ich noch Licht gesehen habe in Ihrer Wohnung.“

Ich bemühte mich um einen Blick, der zu einem Mann passt, für den es alles andere als ungewöhnlich ist, dass hübsche junge Frauen nachts bei ihm klopfen. Nun nur noch ein weltmännischer Spruch dazu ...

„Oh – äh ... ja?“

„Ich bin Julia Baumgärtner, die Wohnung schräg unter Ihnen, sozusagen, nach vorne hinaus. Neulich eingezogen.“

Das weiß ich, Julia Baumgärtner. Dein Namensschild hatte ich mir sofort angeschaut.

„Ich war eben mal draußen. Und jetzt habe ich mich ausgesperrt, wirklich blöde. Der Schlüssel steckt auch noch von innen! Können Sie mir irgendwie helfen?“

Ich hatte erwartet, eine Schockstarre würde mich überkommen. Im Gegenteil aber schaltete mein hormonstimuliertes Hirn auf overdrive und bot die optimale Reaktion an.

„Tut mir leid, ich verstehe absolut nichts von Schlössern, schöne Julia Baumgärtner. Aber kommen Sie doch rein. Sie können auf meiner Gästecouch schlafen. Ich gebe Ihnen die dünnste Decke, die ich auftreiben kann. Bald wird Ihnen höllisch kalt und Sie kriechen zu mir ins Bett. Dann rammeln wir wie die Karnickel, wenigstens bis die Sonne aufgeht.“

Eine überschlägige Berechnung zu Chancen und Risiken dieses Vorgehens überzeugte mich, dass die Variante „edler Ritter“ die bessere wäre. Bewunderung und ewige Dankbarkeit wären mein Lohn. Ich bat Juliane Baumgärtner einen Moment zu warten, schlüpfte in meinen Jogginganzug, kramte im Werkzeugkasten in der Küche nach einem festen Draht und einem flachen Schraubenzieher und gemeinsam trapsten wir meine Hinterhaustreppe hinunter und ihre Vorderhaustreppe wieder hinauf.

Zugeschlagene Tür, nicht abgeschlossen, ist selbst mit Schlüssel im Türschloss von innen einfach. Mit Draht oder Schraubenzieher fährt man vorsichtig zwischen Rahmen und Türblatt, bis man die Stelle fühlt, wo der Sperrriegel von der Feder im Rahmen gehalten wird. Diesen Sperrriegel drückt man in Richtung Türblatt und zack! ist die Tür offen. Große Überraschung: Nicht ganz so zack, aber letztlich doch klappte das so auch an der Wohnungstür von Juliane Baumgärtner.

Frau Baumgärtner war erwartungsgemäß beeindruckt. „Sie haben mir das Leben gerettet! Wie haben Sie das nur geschafft? Wie ein gelernter Einbrecher!“

Ich lächelte bescheidenen und ließ es bei einem „Na ja ...“ bewenden.

„Sind Sie das?“

Mein Hirn, immer noch auf Hormonturbo, war gerade dabei, die angefallene Dankesschuld für die erbrachte Nothilfe zu addieren. Inklusive Nachtzuschlag.

„Bin ich was?“

„Gelernter Einbrecher?“

„Na ja, dienstlich bin ich eher das Gegenteil“

„Sind Sie Polizist?“

„So etwas in der Art. Ermittler.“

Leichtes Krausen umspielte Julia Baumgärtners Lippen.

„Privatdetektiv?“

Private Schnüffler schienen bei ihr nicht gerade hohes Ansehen zu genießen.

„Um Gottes willen, nein. Ich bin im öffentlichen Dienst.“

Damit schien meine Weißer-Ritter-Rüstung wieder hergestellt. Frau Baumgärtner schenkte mir ein Lächeln und, wichtiger, eine klitzekleine Perspektive, bevor sie in ihre Wohnung verschwand: „Jedenfalls bin ich Ihnen unheimlich dankbar. Hoffentlich kann ich mich bald einmal revanchieren.“

Da gingen mir sofort verschiedenste Möglichkeiten durch den Kopf.

In irgendeiner tiefen Region registrierte mein Hirn, dass etwas an dieser Frau Baumgärtner, die „eben mal draußen“ gewesen war, nicht ins Bild passte. Aber es war zu sehr mit Juliane Baumgärtner als wunderschöner junger Frau beschäftigt, um der Sache aktuell nachzugehen.

4

Jetzt, das eben geschilderte Treffen mit Julia Baumgärtner war erst ein paar Stunden her und die drei Leichen hatten inzwischen ihre letzte Ruhe die bekannten 80 Zentimeter unter der Erde bekommen, stellte ich also meinem Partner Herbert den Zeugen Max vor. Max, dem ich vergangene Nacht das Leben gerettet hatte.

„Wie alt, meinst du, ist der?“

Direkt nach meinem Einsatz im Vorderhaus hatte ich Max einer kurzen Inspektion unterzogen ihn im Ergebnis Max genannt und ihm meinen Wäschekorb wohnlich hergerichtet. Eingekuschelt in ein paar alten Decken, schien sich Max ganz wohl zu fühlen. Da wollte ich ihm lieber nicht erzählen, dass wir gerade seine Brüderchen und Schwesterchen beerdigt hatten.

Im Gegensatz zu mir versteht Herbert etwas von Hunden.

„Nicht älter als ein paar Tage“, meinte er.

Durch den Anblick des kleinen Knäuels Leben war mein Partner etwas milder gestimmt, aber immer noch wütend. Vorhin, als wir die toten Welpen begraben hatten, hätte er die Leute, die sich dieser Tierchen per Müllcontainer entledigt hatten, sicher auf der Stelle umgebracht. Nun aber konzentrierte sich seine ganze Wut auf mich.

„Du hast doch einen Sohn, oder? Habt ihr dem als Baby auch eine Untertasse mit Milch hingestellt und seid dann zur Arbeit abgeschwirrt? Hast du dir mal überlegt, woher der Begriff Säugetier kommt?“

Lahm verteidigte ich mich. Erstens war und sei ich übermüdet. Zweitens habe ich Kopfschmerzen, sicher mache es sich gerade die von Herbert vorhin angekündigte schlimme Grippe in mir gemütlich. Und drittens hatte ich Max noch heute Morgen tatsächlich ein wenig Milch mit der Pipette eingeflößt, die noch für irgendwelche Augentropfen im Bad herumlag.

„Was für ‘ne Milch?“, fragte Herbert in einem Ton, der mir klar machte: Pipette hin oder her, wahrscheinlich gut, dass ich Max nicht mehr davon gegeben hatte. Ich deutete auf den Tetrapack H-Milch.

„Na wunderbar. Schon mal was von Laktose-Allergie gehört?“

Hatte ich, wiederholt. Von Lena, meiner Getrennten. Von Laktose-Allergie und noch ein paar exotischeren Unverträglichkeiten, die sie im Laufe unseres Zusammenlebens entwickelt hatte. Schließlich auch gegenüber mir.

„Wie – Hunde auch?“ Kein Wunder, dass die Erzeugerpreise für Milch ständig fallen, wenn die ganze Welt keine Kuhmilch verträgt. Ich hatte für Max zwischen der H-Milch und, wegen mehr Kalorien, dem Rest sprühfertiger Schlagsahne im Kühlschrank geschwankt. Bei Schlagsahne hätte mir Herbert jetzt sicher den Kopf abgerissen.

„Gib mir mal Geld. Und rühr den Hund nicht an, bis ich zurück bin, klar?“

Ich nickte schuldbewusst und gab Herbert einen Zehneuroschein, immerhin die Hälfte meines aktuellen Barvermögens. Ich hätte ihm auch mein Gesamtvermögen anvertraut, um wenigstens eine Weile von seiner vorwurfsvollen Miene befreit zu sein. Dann saß ich da, betrachtete das schwarze Wollknäuel und hielt mich an Herberts Nicht-Anfassen-Gebot. Neben vielen anderen Dingen ist eines gut an Hundebabys: Sie schauen dich nicht vorwurfsvoll an. Können sie gar nicht, weil sie blind und taub sind in ihren ersten Lebenswochen und nur schlafen, die Augen fest geschlossen. Das tat auch Max, unterbrochen von einem leisen Fiepen von Zeit zu Zeit. Das war wahrscheinlich nicht als Vorwurf gemeint, ging aber trotzdem ans Herz. Ich erinnerte mich an meinen Sohn in diesem Alter und nahm mir fest vor, nicht auch als Hundevater zu versagen.

Schließlich tauchte Herbert wieder auf, mit einer großen Einkaufstüte unter dem Arm und mehr als nur Hundeersatzmilch in Pulverform. „Musst du in lauwarmem Wasser auflösen.“ Stolz zauberte er ein Babyfläschchen mit auswechselbarem Saugnippel hervor, „immer vorher auskochen, verstehst du?“, und eine Flasche Lebertran, „einmal am Tag mit in die Ersatzmilch! Dann noch die hier. Die setzt du auf, sobald du dem Hund auch nur nahe kommst!“ Herbert reichte mir einen Mundschutz aus einer 25-Stück-Packung. „Jedenfalls so lange du hustest und niest! Der kleine Hund hat noch keine Abwehrkräfte. Die bekäme er normalerweise mit der Muttermilch.“

Seine Schulmeisterart begann mich zu irritieren. Aber Herbert hatte offensichtlich mehr als die zehn Euro ausgegeben, die ich ihm mitgegeben hatte. Also nickte ich brav und schaute zu, wie Max, der die Flasche ohne Klagen akzeptiert hatte, kräftig nuckelte. Herberts nächste Anweisung störte das herzerwärmende Bild jedoch etwas.

„Also, so sechsmal am Tag sollte der Kleine seine Milch bekommen, alle vier Stunden.“

So viel zu meiner Nachtruhe. Herbert hatte noch jede Menge weitere Anweisungen. Max täglich wiegen und Gewichtszunahme protokollieren. Heizkissen, Rotlicht oder Wärmflasche, aber natürlich nicht zu heiß „Du hast doch ‘ne Waage, oder?“

„Nee. Die ist auch bei Lena geblieben.“

„Gut, ich bringe dir eine von uns mit. Und, übrigens: Der Hund bestimmt, wie lange er für eine Mahlzeit braucht. Nicht du.“

Herbert war glücklich, sein Wissen über Hundeaufzucht an den Mann bringen zu können. Er hatte mal versucht, mit der Aufzucht von Retrievern ein paar Euro extra zu machen. Trotz zunehmendem Stechen im Kopf und Schmerzen in den Gelenken notierte ich mental seine Ratschläge. Ja, als Quittung für meine nächtliche Aktivität war eindeutig eine Grippe im Anzug.

„Du solltest morgen im Bett bleiben, Heinz. Ich melde dich auf der Dienststelle krank.“

„Sehr komisch. Ersetzt du mir auch den Verdienstausfall?“

In gespielter Verzweiflung hob Herbert die Arme.

„Dann bring wenigstens einen Mundschutz mit, oder besser ein paar davon.“

Meine Grippe interessierte Herbert jedoch deutlich weniger als das Wohlergehen von Max.

„Noch eines: Es geht nicht nur ums Füttern, ums Hinein. Hinaus damit können die auch am Anfang nicht alleine. Mal eine Hundemutti mit ihren Welpen beobachtet? Nach jedem Säugen wird der After kräftig geleckt.“

„Aber dazu darf ich den Mundschutz abnehmen, oder?“

Ein wenig indigniert bearbeitete Herbert Max’ After.

„Das machst du nach jeder Mahlzeit. So lange, bis es von selbst funktioniert. Kannst auch ein Papiertaschentuch oder einen Q-Tipp nehmen.“

Klar, dass Herbert zum Schluss alle Anweisungen noch einmal wiederholte. Die Hand schon auf der Klinke, hatte er noch eine letzte Frage.

„Wer ist eigentlich der heiße Feger, der mir eben an der Haustür entgegenkam?“

Herbert war Julia Baumgärtner begegnet, andere heiße Feger gab es hier nicht. Da mich eine Antwort verraten könnte, nieste ich stattdessen ein paarmal kräftig, in Richtung Wohnungstür und ohne Mundschutz. Da schob mein Partner endlich ab.

Bevor ich mich fröstelnd und mit triefender Nase ins Bett verkroch, suchte ich nach dem Heizkissen, fand es endlich im Küchenschrank, kramte noch ein paar von den hübschen Strandtüchern mit Palmen und Tropensonne hervor, die Lena mir freundlichst gelassen hatte, packte Max – mit Mundschutz! – neu ein und beobachtete das kleine Knäuel Leben. Dann stellte ich den Wecker brav auf vier Stunden Schlaf.

Wahrscheinlich weil Herbert meine neue Nachbarin erwähnt hatte, erinnerte sich beim Einschlafen mein Hirn an die Situation gestern Nacht, und es fiel mir ein, was an dieser Frau Baumgärtner, die angeblich „eben mal draußen“ gewesen war, nicht ins Bild gepasst hatte. Doch die Frage, was meine neue Nachbarin am frühen Morgen mit trockenem Pullover und trockenem Haar vor der Tür getrieben hatte, während draußen der Novemberregen unvermindert pieselte, schien mir zu diesem Zeitpunkt nicht besonders wichtig.

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Während ich mit brennenden und triefenden Augen unser Dienstfahrzeug durch Neukölln steuerte, achtete Herbert darauf, so viel Abstand wie möglich zu mir zu halten. Was so viel nicht war bei den Dimensionen unseres VW Lupo.

Noch einmal ja, ich zahlte auf Euro und Cent für meinen unbezahlten Nachteinsatz. In meinem Kopf hatte sich ein hungriger Specht eingenistet und hämmerte abwechselnd auf Groß- und Kleinhirn. Auf der Brust und an den Armen scheuerte mein Hemd, als rächten sich die unterbezahlten Akkordnäherinnen in Bangladesch mit der Verwendung von 40-Korn-Sandpapier als Hemdenstoff an der kik-Kundschaft, und sämtliche Gelenke schmerzten mit wie auch ohne Bewegung.

Natürlich, Heinz hatte recht, ich sollte zu Hause das Bett hüten. Im öffentlichen Dienst bedeutet Grippe vierzehn Tage Krankschreibung. Aber obgleich Herbert und ich im öffentlichen Dienst unterwegs sind, gibt es für uns keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall - und Lohnausfall kann ich mir nicht leisten. Also war Durchhalten angesagt. Nur noch diesen einen Tag, dann war Wochenende!

Während er auf weitest möglichen Abstand achtete, Gesicht von mir abgewandt, scrollte Herbert wie üblich die aktuellen Fußballergebnisse auf seinem Smartphone. Früher fand Fußball am Wochenende statt, inzwischen wird offenbar an jedem Tag der Woche irgendwo gespielt. Dementsprechend ist Herbert auf unseren Inspektionsfahrten immer gut beschäftigt. Trotzdem, plötzlich:

„Halt mal an. Das ist ja unglaublich. Der lernt’s wohl nie!“

Erstaunt, dass mein Partner neben dem Studium der Fußballergebnisse etwas Bemerkenswertes, gar etwas dienstlich Bemerkenswertes gesehen hatte, folgte ich Herberts Blick. Tatsächlich, ein Fall für uns! Und das an uns schon wohlbekannter Stelle.

Im Eingang zu einem Laden, in dessen verschmutztem Schaufenster schon seit Monaten ein Pappschild „Gewerbefläche zu vermieten! Provisionsfrei vom Eigentümer!“ verkündete, türmten sich jede Menge leere Gemüsekisten und Obstkartons. Noch spiegelten die meisten Läden in der Anzengruberstraße das alte Neukölln: An- und Verkauf, Wohnungsauflösungen, das Soziale Kaufhaus von „Die Teller Gottes e.v.“. Wenn auch eher einfach gehalten, deuteten der Kinderladen „Highway“ in Nr. 15 und, schräg gegenüber, die Heilpraxis in Nr. 11 (Cranio-sacral Therapie, Magnetfeldtherapie) schon auf die Bedürfnisse der neuen Bewohner hin. Dass unter anderem eine Umzugsfirma im Ladenfenster ihren Auszug ankündigte, bedeutete nicht den eingeläuteten Tod der Anzengruber als Geschäftsstraße, im Gegenteil. Ein wenig Geduld dürfte sich für den Ladenbesitzer mit Leerstand auszahlen, lange konnte es nicht mehr dauern, bis die Neuköllner Gentrifizierungswelle auch hier voll zuschlagen würde und in die Geschäftsräume trendige Bars, auf schick-rustikal gemachte Bioläden und weitere, mindestens bilinguale Kindergärten einzogen. Selbstverständlich zu deutlich höheren Mieten als bisher.

Uns war ohnehin klar, auf wessen Konto dieser illegal entsorgte Abfall ging, aber gleich auf dem obersten Karton klebte auch noch die Lieferadresse. Gökan Öztürk, stolzer Kleinunternehmer in Sachen Obst und Gemüse in der Sonnenallee, war ein guter Bekannter. Wie oft hatten wir ihm schon geraten, wenigstens die Lieferadresse zu entfernen, wenn er seinen Müll in die Gegend kippte! Herbert riss einen der Adressaufkleber ab und wir marschierten um die Ecke zu unserem Freund Gökan.

Ein dicker BMW, dunkelblau, stand mit laufendem Motor verkehrsfreundlich in zweiter Spur vor Gökhans Laden und beschallte die Sonnenallee mit zeitgenössischem Liedgut. Das gelegentliche Hupen aus dem Stau hinter ihm ließ den Fahrer, der am Steuer auf was auch immer wartete, entweder unbeeindruckt oder es konnte sich einfach nicht durchsetzen gegen das endlose „Gangsta rap g-g-g-Gangstarap“ aus seinen 600-Watt-Boxen. Eigenartig nur, dass niemand sich bei ihm beschwerte.

„Misch dich da nicht ein. Is‘ nichts für uns“, hielt Herbert, der wusste, dass mein bürgerlicher Ordnungssinn über das Aufspüren illegaler Müllhaufen hinausging, auch mich prophylaktisch zurück.

Eine Entscheidung zwischen Herberts dringender Empfehlung und meiner Null-Toleranz-Einstellung entfiel, da in diesem Moment zwei Kerle mit südländischer Physiognomie ohne Hast aus Gökhans Laden kamen. Schon fast bei ihrem Freund im BMW, machte einer von ihnen kehrt, griff sich eine besonders schöne Apfelsine von Gökhans Auslage vor dem Laden und trat kräftig gegen einen der Holzböcke, so dass Apfelsinen, Grapefruits und Winteräpfel über den matsch- und streusalzbedeckten Bürgersteig rollten. Erst jetzt sprang auch er in den BMW, der mit durchdrehenden Reifen losspurtete. Was für mich weniger auf Flucht als auf mangelnde Penisgröße des Fahrers hinwies, der sich natürlich nicht ohne Stinkefinger aus dem Fenster von den Verkehrsteilnehmern hinter ihm verabschieden konnte. Unterstützt von einem riesigen Kampfhund im offenen Wagenfenster, der Stinkefingers Zeichensprache in sonores Bellen und Zähnefletschen übersetzte.

„Ziemlich eilige Kundschaft“, kommentierte Herbert, während wir den Gemüseladen betraten. „Gökan?“

Kein Mensch zu sehen. Aber hier drinnen keine Zeichen von Vandalismus.

„Herr Öztürk?“, versuchte ich es auf die höfliche Tour. „Wir sind es, Herbert und Heinz.“

Keine Antwort.

„Na, wir können ja nachher noch einmal vorbeischauen. Oder morgen“, meinte Herbert.

„Pst!“ Ich hielt den Zeigefinger an die Lippen. Der Stau vor der Tür hatte sich aufgelöst, das Protesthupen aufgehört.

„Hörst du das?“

„Hört sich nicht gut an!“

Gökan war noch bewusstlos, als wir ihn fanden. Leise stöhnend lag er auf dem Boden in einem kleinen Raum hinter dem Laden, zwischen gestapelten Obstkisten und einem Tisch, auf den gerade einmal seine Thermoskanne, eine angeschnittene Dauerwurst und ein Kaffeebecher passten. Herbert zapfte kaltes Wasser in den Kaffeebecher und schüttete es Gökan in bester Westernmanier ins Gesicht - was tatsächlich wirkte. Vorsichtig versuchte Gökan die Augen zu öffnen. Das funktionierte allerdings nur mit dem linken, das rechte blieb hinter rot-blau angeschwollenen Lidern verborgen. Der Obst-und-Gemüsehändler versuchte aufzustehen, vorerst ohne Erfolg.

„Langsam, Gökan. Was ist passiert?“

Keine Antwort.

„Was waren das für Männer eben?“

„Nein, waren keine Männer hier.“

Retrograde Amnesie? Gehirnerschütterung? Gemeinsam halfen wir Gökan auf den Stuhl an seinem Tisch und gossen ihm einen starken Kaffee aus seiner Thermoskanne ein.

„Du stehst noch unter Schock. Trink erst mal was!“

Wir kannten uns inzwischen gut, das Du war beidseitig und ohne jeden abwertenden Hintergrund.

Der Mokka tat seine Wirkung, vorsichtig testete Gökan die Beweglichkeit von Armen und Beinen. Offenbar war nichts gebrochen.

„Danke, meine Freunde.“

„Kein Problem. Aber wer waren diese Leute, die dich zusammengeschlagen haben?“

„Ich sage, waren keine Leute hier!“

„Aber wir haben sie doch gesehen, Gökan, wie sie aus deinem Laden gekommen sind. Das ist was für die Polizei.“

Herbert zog sein Smartphone aus der Tasche.

Erschrocken hob Gökan die Hände.

„Bitte! Nein! Nichts Polizei!“

Wir hörten, wie die Ladentür geöffnet wurde. Im Rahmen stand ein junger Mann, der den Kerlen mit dem BMW eben ziemlich ähnlich sah. Für Herbert war die Sache klar. Sein Smartphone wie einen Baseballschläger über den Kopf erhoben, stürmte er zur Tür.

„Bleib stehen, Mann!“

Daran dachte der Angesprochene aber ganz und gar nicht. Er drehte auf dem Absatz um, Herbert ihm hinterher. Ich hingegen schenkte Gökan noch einen türkischen Mokka ein.

---ENDE DER LESEPROBE---