Wiederbelebung - Christoph Spielberg - E-Book

Wiederbelebung E-Book

Christoph Spielberg

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Beschreibung

[Erstveröffentlichung BeBra-Verlag, Berlin] Berghütten explodieren, Schweineställe fliegen in die Luft: Hoffmann-Fans, die meinen, der Autor wäre bisher zu schonend mit seinem Ermittlerduo, dem Klinikarzt Felix Hoffmann und dessen cleverer Freundin Celine, umgegangen, dürften in Wiederbelebung auf ihre Kosten kommen. Einiges in Wiederbelebung erinnert an den Krankenpfleger Niels Högel, der für die Tötung von mindestens 85 Patienten im Krankenhaus Delmenhorst verurteilt wurde: Auch auf der Intensivstation der Humana-Klinik häufen sich die Todesfälle und ein Pfleger gerät unter dringenden Verdacht. Aber, wie die Fans dieser Reihe wissen, sind die Dinge deutlich komplizierter, wenn Oberarzt Dr. Hoffmann ins Spiel kommt. Zumal der Tod nun auch bei Ärzten und deren Ehefrauen zur Unzeit zuschlagen kann … Warnung: Auch den nunmehr sechsten Dr. Hoffmann Krimi sollte man nicht als Patient im Krankenhaus lesen! Einige Pressestimmen: »Lese-Hochgenuss...Köstlich! Genial!...und das gilt auch für die Handlung... Spielbergs Krimi ist geistreich und zugleich amüsant zu lesen. Ein absoluter Hochgenuss!« (Saarbrücker Zeitung) »Dr. Hoffmann ermittelt auch in unser eigenen Sache. Und er macht es mit für deutsche Verhältnisse erstaunlicher Ironie und Lakonie … « (Tagesspiegel Berlin) »Wie schon in seinen vorigen Romanen schafft es Christoph Spielberg auch diesmal wieder, aktuelle Themen in eine amüsante, kurzweilige Krimihandlung zu packen. Dabei bringt er die Geschichte auf 200 Seiten knackig auf den Punkt, anstatt sich in müßigem Geschwafel zu verlieren. Eine wahre Wohltat, vor allem wenn man bedenkt, dass die meisten Autoren heutzutage mit weniger als 500 Seiten nicht mehr auskommen.« (Krimizeit)

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Inhaltsverzeichnis

in der Dr. Hoffmann Reihe bisher erschienen:

Teil 1

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„Dann lass es aus und steck es sofort wieder weg“, zischte Celine und zog mich weiter die Schillerpromenade hinunter.

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Teil 2

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2-9

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2-16

2-17

2-18

2-19

2-20

2-21

2-22

Teil 3

3-1

3-2

3-3

3-4

3-5

3-6

3-7

3-8

3-9

3-10

3-11

3-12

3-13

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Liebe Leserin, lieber Leser,

Impressum

in der Dr. Hoffmann Reihe bisher erschienen:

Die Russische Spende

Denn wer zuletzt stirbt

Hundertundeine Nacht

Der vierte Tag

Man stirbt nur dreimal

Wiederbelebung

Wunderheilungen und andere unerwünschte Nebenwirkungen

ein vergiftetes Erbe

außerhalb der Dr. Hoffmann Reihe:

Der Ein-Euro Schnüffler

Personen und Handlung sind frei erfunden

© Christoph Spielberg 2019

Teil 1

„Und erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt.“

Koran, Sure 2, Vers 191

1-1

„Du wirst Mama doch wieder gesund machen?“

„Klar, werde ich. Versprochen!“

Mit großen Kinderaugen guckten mich die beiden Söhne von Frau Zuckermann an, während die künstliche Niere das vom eigenen Körper vergiftete Blut aus dem linken Arm abpumpte, um es ihr über einen anderen Schlauch wenigstens weitgehend entgiftet zurückzugeben. Konnten sie diesem Arzt wirklich trauen? Schließlich war ihr Vater genau aus dieser Klinik nach einem Autounfall letztes Jahr nie mehr nach Hause gekommen. Mit fast ebenso großen Augen schaute mich Schwester Manuela an. Wie konnte ich als erfahrener Arzt so ein Versprechen machen? Und das bei Frau Zuckermann, von der wir nach gefühlt mehr als tausend Labortests, CT- und MRT-Untersuchungen mit Sicherheit nur wussten, welche Krankheiten sie nicht hatte? Schließlich hatten wir sogar die Kollegen von der Gerichtsmedizin bemüht: Wollte jemand Frau Zuckermann vergiften? Arsen? Thallium? Pflanzenschutzmittel? Es war kein Gift gefunden worden. Schwester Manuela drehte sich weg, damit die Kinder nicht in ihrem Gesicht lesen konnten.

Seit Tagen hatte ich schlecht geschlafen. Natürlich wegen einer Frau, ja, einer hübschen: Frau Zuckermann. Was hatte sie bloß für eine Krankheit? Vor etwa einem Jahr hatten wir sie erstmals in unsere Humanaklinik aufgenommen. Damals klagte sie über Fieber, Gewichtsverlust, Schwäche, Nachtschweiß und unstillbaren Durst. Der Grund war schnell gefunden: Diabetes insipidus, eine Krankheit, bei der das Hormon ADH nicht ausreichend zur Verfügung steht. Es handelte sich um einen sogenannten zentralen Diabetes insipidus. Als Ursache zeigte das Hirn-CT einen Tumor im Bereich der Hirnanhangdrüse, ein nur etwa kirschkerngroßes Organ von einem Gramm Gewicht, das wie ein Tropfen an der Unterseite des Gehirns hängt. Welche Art Tumor blieb ungeklärt; man kann nicht mal eben ein Loch in die Schädeldecke bohren und eine Nadel durch das Hirn pieken, um Material für eine Bestimmung unter dem Mikroskop zu bekommen. Wir versorgten Frau Zimmermann mit einem ADH-Nasenspray und warteten ab. Die Symptome verschwanden und es ging ihr gut, bis sie neulich bei unseren Augenärzten vorstellig wurde, weil sie plötzlich alles doppelt sah. Wieder war der Grund schnell gefunden: Das rechte Auge stand etwas vor, da jetzt ein Tumor in der Augenhöhle dazugekommen war. Aber ebenso wenig wie ins Gehirn kann man eben mal durch das Auge hindurch in die Augenhöhle pieken. Zwei Wochen später brauchte Frau Zimmermann plötzlich kein ADH-Spray mehr: Nierenversagen, sie musste an die künstliche Niere. Und da lag sie nun, in der Hand einen Stoffteddybär, den die Jungs für ihre Mutter mitgebracht hatten.

Trotzdem, ganz verantwortungslos war mein Versprechen nicht. Paradoxerweise war es das Nierenversagen, das uns weitergebracht hatte. Denn im Gegensatz zum Gehirn kann man die Niere ziemlich risikolos punktieren um das gewonnene Material unter dem Mikroskop zu studieren. „Noch vor dem Mittagessen“ hatten mir die Pathologen das Ergebnis versprochen. „Dein Fall hat top Priorität!“

Tatsächlich hatten die Pathologen Wort gehalten. Es kam eine ausführliche Beschreibung, von der ich knapp die Hälfte verstand. Aber – es kam keine Diagnose! Oder, besser gesagt, mehr als zehn mögliche Diagnosen, man könne sich nicht festlegen, und wirklich gut passen würde auch keine davon.

Betrübt und ratlos saß ich am Abend bei Celine, ein Glas Chardonnay in der Hand. Normalerweise verschone ich meine Freundin mit Geschichten aus der Klinik, insbesondere mit Krankengeschichten, aber im Fall Zuckermann war das einfach nicht möglich.

„Und jetzt klagt die Frau seit ein paar Tagen auch noch über massive Schmerzen in den Knochen. Ich werde verrückt!“

„Knochenschmerzen?“

„Ja. Morgen werden wir die Knochen röntgen“, antwortete ich mutlos.

Celine strahlte plötzlich.

„ECD!“

„Was?“

„ECD. Wertheim-Chester-Erkrankung. Das hat deine Frau Zuckermann!“

Ich war zu verdutzt, um überhaupt etwas zu sagen. Nicht nur, weil ich in gut zwanzig Jahren Studium und Beruf noch nie etwas von einer Erdheim-Chester-Erkrankung gehört hatte. Mindestens ebenso, weil ich mich fragte, woher die Mathematiklehrerin Celine diese Eingebung hatte. Sie verriet es mir.

„Dr. House, 2. Staffel, Folge 17.“

Sofort googelte ich Celines Diagnose, und tatsächlich, alles schien zu passen: Es handelte sich um eine krankhafte Vermehrung einer bestimmten Art von Blutzellen, die praktisch überall im Körper auftreten kann, aber fast immer irgendwann auch die Knochen befällt. Noch in der Nacht kopierte ich unseren Pathologen die jüngste Übersichtsarbeit zu dieser äußerst seltenen und seltsamen Erdheim-Chester-Erkrankung aus dem Internet. Sie wurde 1930 entdeckt, seither sind nicht einmal 500 Fälle weltweit beschrieben. Volltreffer, antworteten die Kollegen schon nach unserer morgendlichen Bettenkonferenz, jetzt passe alles. Die Probe sei tatsächlich „CD68-positiv und CD1a-negativ“ – aha! Das Beste: Niemand weiß bisher, wie man an die mysteriöse Erkrankung kommt, aber ECD ist behandelbar, meist mit gutem Erfolg. Dank Serienjunkie Celine konnte ich mein Versprechen gegenüber den Kindern halten.

Ich, Doktor Felix Hoffmann, Oberarzt der Inneren Abteilung der Humanaklinik, war der Star des Tages. Viel fehlte nicht und die Kollegen hätten mich auf den Schultern zu Frau Zuckermann getragen. Ich hielt es vorerst nicht für notwendig, den Anteil von Celine beziehungsweise Dr. House an meinem Volltreffer öffentlich zu machen. Ziemlich berauscht von mir selber setzte ich mich zu ihr ans Bett und überbrachte die frohe Botschaft. Ich hielt ein wenig Abstand, um der zu erwartenden dankbaren Umarmung zu entgehen. Frau Zuckermann hörte mir konzentriert zu, stellte gelegentlich eine Frage. Als ich ihr alles erklärt hatte, inklusive der günstigen Behandlungsaussichten, sah sie mich lange an, Skepsis im Blick.

„Selbst wenn Sie recht haben sollten, Doktor Hoffmann - ich möchte mich trotzdem nicht weiter von Ihnen behandeln lassen.“

1-2

„Nicht nur Frau Zuckermann – nicht einmal die Alzheimers wollen sich noch von mir behandeln lassen!“

Im großzügig dimensionierten Büro der Geschäftsführung saß ich Beate gegenüber, Celines Freundin und seit dem Skandal um die russische Spende kaufmännische Leiterin unserer Klinik. Natürlich haben wir auch einen ärztlichen Direktor, aber Beate hat die Finanzen unter sich, verteilt das Geld. Damit ist sie deutlich wichtiger als unser ärztlicher Direktor, auch für unsere Patienten. Früher hatten mich ihre kurzen Röckchen abgelenkt, inzwischen trug Beate vorwiegend Businesssuits. Die ihr allerdings ebenso hervorragend standen.

„Meine Alzheimer erkennen nach vierzig Jahren Ehe ihre Frau nicht mehr, aber meinen Namen oder mein Gesicht können selbst die sich merken. Und dann Frau Zuckermann. Ich meine, der habe ich praktisch das Leben gerettet!“

„Ja, hab ich gehört. Glückwunsch zu deinem Volltreffer. Aber ein ganz bisschen war das auch Celine, oder?“

Wie gesagt, ich hatte vergessen, in der Klinik den Anteil von Celine und Dr. House an der Diagnose zu erwähnen. So viel zum Thema kurze Informationswege unter Freundinnen.

Beate kam zurück auf den Grund, warum sich plötzlich niemand mehr von Oberarzt Doktor Hoffmann behandeln lassen wollte.

„Felix, jeder in diesem Haus weiß Bescheid! Was denkst du denn? Und nicht nur in der Klinik. Das letzte Mal, dass ich geguckt habe, hattest du schon über 10.000 Klicks auf YouTube. Für die paar Tage seit deinem Auftritt ist das nicht schlecht.“

„Ich weiß. Ein paar mehr noch, und ich kann mir einen Sponsor aus der Werbung suchen.“

Allerdings konnte ich mir kaum vorstellen, dass unsere Patienten, die meisten über siebzig, eifrige YouTube-Gucker sind. Stimmt, meinte Beate, aber alle dürften Kinder, Neffen oder Enkel haben. Die würden sie ausreichend über meine neue Popularität informieren, da solle ich mir keine Sorgen machen.

Ein wenig mehr Empathie hatte ich schon von Beate erwartet. Schließlich hatte sie ihren nicht gerade unterbezahlten Job als Klinikleiterin weitgehend mir zu verdanken. Ich schaute mich in ihrem Büro um. Außer ihrer afrikanischen Kunst, die in Form des eng umschlungenen Paares auf dem Schreibtisch und allerlei diabolisch grinsenden Holzmasken auf den Regalen zurückschaute, hatte sich kaum etwas verändert, seit unser ehemaliger kaufmännischer Leiter Bredow hier zu Tode gekommen war. Genauer gesagt nebenan, in dem privaten Badezimmer, das er dem Büro einverleibt hatte. Es war immer noch ein Arbeitszimmers vom Stil Neue Reichskanzlei: eine schwere Polstergarnitur um einen Rauchtisch, ein riesiger Kronleuchter und ein ebenso überdimensionierter neogotischer Schreibtisch. Schon während Besprechungen mit Bredow hatte ich die reichliche Schnitzereien des Möbelstücks wiederholt nach eingearbeiteten Hakenkreuzen oder sichtbaren Spuren ihrer Entfernung abgesucht.

Beate hingegen hatte sich deutlich verändert. Aus der grauen Maus, die in einem Steuerbüro als angestellte Steuerberaterin Schuhkartons mit Belegen irgendwelcher Steuerbetrüger sortiert hatte, war unsere selbstbewusste und durchsetzungsfähige Chefin geworden.

„Es hilft nichts, Felix. Bis Gras über die Sache gewachsen ist, werden wir dich aus der Schusslinie nehmen müssen. Einige Wochen solltest du für die Patienten unsichtbar sein.“

„Kein Problem. Ich habe mindestens hunderttausend Überstunden, die ich zum Beispiel am Strand von Florida abbummeln kann.“

„Keine Chance. Ich gönne dir Sonne und Meer, aber die Klinik kann sich das nicht erlauben, das weißt du. Und unsere Mutter, der Vital-Konzern, erst recht nicht. Die Leute dort haben dich übrigens auch schon auf YouTube gesehen.“

Das wunderte mich kaum. Mir war schon immer klar, dass die sich in ihren Luxusbüros den stressigen Arbeitstag im Internet vertreiben.

„Also pass auf. Was wir für dich brauchen ist eine ärztliche Tätigkeit ohne Patientenkontakt. Wie wäre es, wenn du eine gewisse Zeit im Labor arbeitest? Oder du hilfst den Röntgenologen bei der Interpretation ihrer Schattenrisse?

Diese wunderbaren Ideen stammten sicher aus der Vital-Konzernzentrale. Auf deren Besetzungsplänen konnte eine Säuglingskrankenschwester eben mal ein Loch im OP stopfen oder ein Internist im Kliniklabor raffinierte biochemische Reaktionen beurteilen. Auf dem Plan sah das dann nach einer ordnungsgemäßen Stellenbesetzung aus. Soundso viele Krankenschwestern im Dienst, soundso viele Ärzte. Alles im Lot. Von Beate allerdings hätte ich inzwischen mehr Durchblick erwartet.

„Denkst du wirklich noch, Arzt ist Arzt, Beate? Der muss alles können, wo irgendwie Medizin draufsteht? Heute befundet er Kernspinntomografien, morgen schüttet er Reagenzien im Labor zusammen und zwischendurch macht er noch schnell ‘ne Herztransplantation?“

Mein Pieper ging und enthob Beate einer direkten Antwort. Es war Schwester Manuela von der Intensivstation. Aber es ging nicht um Frau Zuckermann.

„Felix, Ihre Studenten warten auf Sie. Und stehen mir im Weg.“

1-3

Klar, es war Mittwoch und ich hatte die Studenten vergessen mit ihrem Unterricht am Patientenbett, dem sogenannten bedside-teaching. Schließlich ist die Humanaklinik ein akademisches Lehrkrankenhaus. Einmal die Woche wenigstens wollen die Studenten raus aus dem Hörsaal und echten Patienten begegnen. Dabei sollen sie lernen, wie man eine Krankengeschichte erhebt und eine körperliche Untersuchung durchführt. Und natürlich auch Krankheitsbilder „in echt“ sehen.

Ich hatte meine Studenten nicht wirklich vergessen, sondern verdrängt. Zum bedside-teaching braucht es Patienten, die sich dafür zur Verfügung stellen. Manche unserer Kranken empfinden das sogar als willkommene Abwechslung in ihrem Krankenhauspatienten-Dasein. Es kann allerdings schlimm kommen, wenn man ein „interessanter Fall“ ist. Spätestens nach dem zehnten Trupp Studenten bedeutet bedside-teaching keine nette Abwechslung mehr.

Im Moment konnte es für unsere Patienten noch schlimmer kommen - sie könnten an Doktor Felix Hoffmann als behandelnden Arzt geraten. Kein Wunder also, dass ich für heute keinen einzigen Kranken gefunden hatte, der sich meinen Studenten zur Verfügung stellen wollte. Um die Wahrheit zu sagen: Ich hatte es gar nicht erst versucht.

Aber ich hatte einen Notfallplan und die Studenten auf die Intensivstation bestellt, deshalb hatte sich eben Intensivschwester Manuela gemeldet. Ich führte die Damen und Herren in eines unserer sogenannten Maxi-Care-Zimmer. Keiner der drei Patienten hatte sein Einverständnis für das heutige bedside-teaching gegeben, ging nicht. Erkrankungsbedingt oder dank eines Medikamentencocktails befanden sie sich in verschiedenen Stadien der Bewusstlosigkeit, so dass die Studenten unter anderem deren Differenzierung lernen konnten. Ich musste nur aufpassen, dass sie es bei der Prüfung auf Schmerzreize nicht übertrieben. Danach erzählte ich ihnen noch ein wenig über die verschiedenen Beatmungstechniken, über Thromboseprophylaxe und warum diese armen Leute überhaupt bei uns waren. Alles in allem brachte ich die zwei Stunden ganz gut über die Runden, und kein Student sprach mich auf meinen TV-Auftritt an. Sie hatten mir sogar wie üblich meinen Latte Macchiato von Starbucks um die Ecke mitgebracht, das war der Deal für einen guten Unterricht.

Am Mittag traf ich Beate wieder. Diesmal in der Klinikcafeteria zu Würstchen mit Kartoffelsalat.

„Wenn die Patienten mich vorerst nicht sehen sollen, könnte ich ja mal wieder einen wissenschaftlichen Artikel mit hohem Impact-Faktor rauswerfen. Schließlich sind wir ein akademisches Lehrkrankenhaus, wäre gut für den Ruf. Zum Beispiel gammeln seit Jahren die eingefrorenen Blutproben von der Intensivstation im Keller vor sich hin und werden mit jeder Wiederbelebung mehr. Da kann man sicher was rausholen.“

Gemäß meiner anerkannt schlechten Manieren unterstützte ich den Vorschlag mit der Gabel plus Wienerwurststückchen in der Hand in Richtung Beate.

„Ja, Felix, die Intensiv ist eine gute Idee. Die ist wirklich schlecht besetzt.“

„Nenn mir eine Station, die das nicht ist.“

„Genau. Genau deshalb können wir nicht auch noch einen Arzt für brotlose Wissenschaft abstellen. Aber auf der Intensiv ist es besonders eng. Insbesondere, seit uns dieser Doktor Ahmed Knall auf Fall abhanden gekommen ist ... Doktor Valenta liegt mir deshalb fast täglich in den Ohren.“

„Natürlich tut er das. Ist ja Valentas Aufgabe als Chef der Intensivstation. Solange Ahmed hier seine Gastrolle gegeben hat, war die Besetzungssituation wenigstens halbwegs entspannt.“

Es war eine wirklich seltsame Geschichte mit diesem Doktor Ahmed. Vor knapp einem Jahr war er über irgendein Stipendium in der Humanaklinik aufgetaucht. Er sollte bei uns Intensivmedizin lernen, um danach seine Landsleute in Palästina bei Bedarf kompetent intensiv zu behandeln. Ahmed zeigte sich recht anstellig und lernbereit, schien es selbst mit Humor zu nehmen, wenn wir ihn nach muslimischen Attentaten in Europa spaßeshalber nach Waffen absuchten. Bald konnten wir ihn in den ordentlichen Dienstplan aufnehmen. Aber vor gut drei Monaten war er plötzlich Hals über Kopf verschwunden, kein Wort vorher, keine Nachsendeadresse. Erschwerend kam hinzu, dass er den bürokratischen Teil seiner Arbeit nicht allzu ernst genommen hatte. Jedenfalls purzelten uns, als wir nach seinem Verschwinden seinen Spind öffneten, mindestens hundert nicht abgeschlossene Fallakten vor die Füße. Kein Abschlussbericht an den Hausarzt, keine Antworten auf Anfragen von der Krankenkasse. An Problemen mit der Sprache kann es nicht gelegen haben, wir fanden sein fast perfektes Deutsch im Gegenteil erstaunlich für jemanden, der angeblich vorher nie in Deutschland gewesen war. Natürlich wurde die Sache mit den Akten nicht publik gemacht, da drohte Arbeit. Wir beschränkten uns darauf, sie ordentlich in den Spind zurückzupacken, wo sie heute noch liegen dürften.

„Also, was sagst du?“

„Sag ich wozu?“

Natürlich war mir klar, worauf Beate hinaus wollte, aber warum sollte ich es ihr leicht machen?

„Na, du beschäftigst dich mal wieder ein bisschen mit Intensivmedizin. Hast du doch immer gerne gemacht.“

Beate sprach nicht aus, was sie wirklich meinte: Ich könnte trotz meiner gegenwärtigen Popularität auf YouTube aus demselben Grund Arzt auf der Intensivstation sein, wie ich vorhin meinen Unterricht dort hin verlegt hatte: Patienten mit dickem Beatmungsschlauch in der Luftröhre können kaum gegen den behandelnden Arzt protestieren, selbst wenn sie bei Bewusstsein wären - was sie natürlich nicht sind.

„Da ist etwas, das du übersiehst, Beate. Es ist wie mit den Patienten, über die wir heute Morgen gesprochen haben. Auch die armen Schweine auf Intensiv haben Angehörige. Und wenn die den behandelnden Arzt sehen möchten, was sie fast täglich wollen, sehen sie – mich! Und schon ist es vorbei mit meiner Unsichtbarkeit. Das ist übrigens Naturdarm, kannst du mitessen.“

Beate schob gerade die Pelle der Wiener Würstchen in Einzelteilen rund um den Tellerrand, während sie überlegte, wie sie meine Unsichtbarkeit mit einer besseren Besetzung der Intensivstation in Einklang bringen könnte.

„Na, wenigstens Nachtdienste könntest du machen, da kommen doch keine Angehörigen“, meinte sie schließlich. „Sprich mit Valenta, dass er dich ab sofort einteilen soll.“

Mir fiel kein stichhaltiges Gegenargument ein, aber ich war sauer. Schließlich bin ich in einem Alter, in dem man eine ganze Woche Dienst in der Nachtschicht nicht mehr so leicht wegsteckt wie früher. Immerhin versuchte ich, eine Strafmilderung herauszuschlagen.

„Aber Notarztwagen fahre ich nicht!“ Unser Notarztwagen, zuständig für den Südwesten Berlins, wird alternativ mit Ärzten von der chirurgischen oder der internistischen Intensivstation besetzt.

„Mach das mit Valenta aus. Selbst der muss zurzeit manchmal auf dem NAW aushelfen.“

Dann hatte Beate noch eine Idee zum Thema Intensivstation und wie ich mich unsichtbar nützlich machen könnte. Auch bei dieser ärztlichen Tätigkeit, da hatte sie recht, dürfte sich niemand gegen Doktor Hoffmann wehren. Unter anderem deshalb, weil ein beträchtlicher Teil der Beteiligten inzwischen tot war.

1-4

Doktor Valenta mache gerade Übergabe in der Stationsküche, sagte man mir auf der Intensiv. Schon vor der Tür war zu hören, dass es dabei hoch herging. Auch, was die allgemeine Heiterkeit auslöste. Ich erkannte, etwas gequetscht, meine eigene Stimme.

„Keine neue Hüfte mehr für Patienten über fünfundsiebzig Jahre, keine Dialyse, keine Wiederbelebung!“

Offenbar gab es Beschäftigte in der Humanaklinik, die meinen TV-Auftritt beziehungsweise das, was man daraus auf YouTube zusammengeschnitten hatte, immer noch nicht gesehen hatten. Oder noch nicht oft genug.

„Felix, Sie müssen mir einen Gefallen tun. Oder besser, unserer Klinik. Da habe ich doch einen Termin für heute vollkommen vergessen“ hatte mich vor knapp einer Woche Chefarzt Kleinweg am späten Nachmittag angesprochen. Schon vor seinem Koma nach dem Fahrradunfall mit Fahrerflucht, als er zwei Monate auf unserer Intensivstation lag, hatte Kleinweg gerne mal Unangenehmes vergessen und dann in letzter Minute an mich weitergegeben. Besonders gerne, die Klinik bei der Beerdigung von Privatpatienten zu vertreten. Jetzt aber konnte er auf sein Schädelhirntrauma verweisen und es war noch schwerer, ihm eine Bitte abzuschlagen. Dass er mich mit Felix ansprach, bedeutete eine ziemlich große Bitte.

„Ist ein Heimspiel, Felix.“ Kleinweg legte mir den Arm um die Schultern. Nun war klar, es würde wirklich unangenehm werden. „Sie kennen doch diese Medizinsendung im Lokalprogramm. Mit dieser ... dieser Multi-Gelifteten. Wie heißt die doch gleich?“

„Nena Ruege?“

„Richtig. Die Ruege! Also, es ist heute Abend, geht um Medizin und Wirtschaft. Ist doch sozusagen Ihr Thema, Felix!“

„Wann heute Abend?“

Kleinweg hatte auf seine Uhr geschaut. „Wenn Sie gleich losfahren, müssten Sie es schaffen.“ Er schob mich in Richtung Ausgang. „Machen Sie ordentlich Werbung für uns. Native advertising, Sie verstehen schon.“

„Der arme Hoffmann schwitzt ja wie ein Schwein“, hörte ich Manuela, als ich die Tür zur Stationsküche öffnete. Das YouTube-Video auf dem Tablet von Intensivpfleger Johannes zeigte gerade den Teil, wo es um die Kumpanei zwischen Ärzten und Pharmafirmen ging.

„Wie viele Reisen zu Fortbildungskongressen haben Sie mit Unterstützung von Pharmafirmen gemacht? Von Pharmafirmen, die dafür den Preis für eine Malaria-Tablette eben mal von 13 Dollar auf 750 Dollar anheben?“, hatte die Multi-Geliftete mich gerade gefragt.

„Kann ich Ihnen im Moment nicht genau sagen.“ Diesen Teil meiner schwitzend vorgebrachten Antwort hatte man nicht weggekürzt, ebenso wenig wie die dazu verständnisvoll nickende Ruege. „Verstehe. Bei so vielen Reisen kann man schon mal den Überblick verlieren.“

Der Teil, in dem ich darauf hinwies, dass Medizinkongresse in Fünf-Sterne Hotels längst Geschichte seien, ich meine Reisekosten seit Jahren selber zahle und sich die Pharmafirmen in Deutschland schon lange einem Kodex in Sachen geldwerte Leistungen an Ärzte unterworfen haben, fehlte auf YouTube.

Ich war auf den letzten Drücker im TV-Studio angekommen und hatte das gut gemeinte „Für ein bisschen Puder ist noch Zeit“ der Maskenbildnerin überheblich abgelehnt. Nun kämpften meine Schweißdrüsen gegen mindestens dreißig Scheinwerfer und die Regisseurin, sicher eine Freundin von Nena, sorgte für ausdruckskräftige Nahaufnahmen. Wirkung: „Frau Ruege heizt diesem arroganten Herrn Doktor mal tüchtig ein, gut so!“

Ich hätte es wissen müssen. Wann hatte Kleinweg jemals einen Fernsehauftritt abgelehnt beziehungsweise „vergessen“? Nie, auch nicht nach zwei Monaten im Koma!

Dreißig Minuten dauerte das „Gespräch“, im Internet hatte man es auf knapp sieben Minuten „best of“ gekürzt. Da konnte schon mal was unter den Tisch fallen. Zum Beispiel, wie es zu meiner scheinbaren Ablehnung von kostenintensiver Therapie bei über Fünfundsiebzigjährigen gekommen war. Nena hatte richtig bemerkt, dass 80 Prozent aller Krankheitskosten in den letzten zwei Lebensjahren entstehen. Bei Intensivbehandlung und Lebensverlängerung, folgerte sie, ginge es also auch nur um das große Geschäft, um die Verschwörung von Ärzten mit den Herstellern von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Ich hatte entnervt geantwortet: „Sollen wir also zum Beispiel Ihre Mutter sterben lassen im Falle eines Falles? Was Sie sagen, heißt doch: Keine neue Hüfte mehr für Patienten über 75 Jahre, keine Dialyse, keine Wiederbelebung!“

Nur den letzten Teil des Satzes hatte man in dem YouTube-Zusammenschnitt übernommen.

1-5

In der Teeküche der Intensivstation konnte ich auf Richtigstellung meiner YouTube-Aussagen verzichten. Jeder im Raum kannte mich und wusste, wie ich tatsächlich dachte. Natürlich auch Intensivchefarzt Valenta, Kollege, Glatzenträger und persönlicher Freund seit Jahren. Kurz informierte ich ihn, was sich Beate neben den Nachtschichten auf seiner Station noch ausgedacht hatte, um mich unsichtbar aber nützlich zu beschäftigen.

„Spinnt die? Lass uns das Zeug einfach verbrennen! Da kräht doch kein Hahn mehr nach.“

Genau damit hatte Valenta leider nicht recht. Immer wieder trudelten Nachfragen und Beschwerden von Hausärzten und Krankenkassen bei Chef Kleinweg ein, der sie prompt seinem Oberarzt anvertraute. „Kümmern Sie sich doch bitte darum, Herr Hoffmann.“ Ich hatte sie dann jeweils an Valenta weitergeleitet, der sie sofort in dem nächstliegenden Papierkorb entsorgte. Nun blieb mir tatsächlich nichts anderes übrig, als die von Ahmed unerledigt hinterlassenen Akten abzuschließen. War das am Ende gar nicht Beates, sondern Kleinwegs tolle Idee gewesen?

„Na dann geh schon mal vor und guck dir das Debakel an, “ meinte Valenta missmutig, als hätte der Auftrag ihn persönlich erwischt. „Ich komme nach, sobald wir mit der Übergabe fertig sind. Hoffentlich hast du dich bis dahin von dem Schock erholt, der dir bevorsteht.“

Ich hatte den Spind erst ein paar Zentimeter geöffnet, schon drückte die Masse an nachrückenden Akten die Tür komplett auf und Ahmeds Abschiedsgeschenk purzelte mir vor die Füße. Um die hundert Fälle hatte ich als worst-case-Szenario befürchtet, denn ich hatte den Stapel ja schon einmal gesehen. Aber als ich die Akten durchgezählt hatte, stellte sich die Sache als weit schlimmer heraus. Es war keine überraschende Neuheit, dass es ausscheidende Kollegen gegen Ende ihrer Karriere bei uns nicht mehr so genau nahmen mit dem bürokratischen Teil der Arbeit. Doch Ahmed würde offensichtlich als einsamer Rekordhalter in die Klinikgeschichte eingehen.

„So böse hast du es dir nicht vorgestellt, was?“

Ich hatte Valenta nicht kommen gehört, während ich, geschockt und gefangen in Selbstmitleid, vor Ahmeds Erbe stand.

„Wie lange war Ahmed bei uns? Wie kann es sein, dass er in dieser Zeit so viele Patienten hatte? Diesem Stapel nach zu urteilen, hat er jeden hier auf Intensiv behandelt! Oder schummelt ihr diesem Stapel auch neue Fälle unter?“

„Du weißt doch, wie es läuft, Felix. Ahmed war Anfänger. Und was machen Anfänger außer Blut abnehmen und Befunde suchen? Außerdem war sein Deutsch doch richtig gut. Und es sind ja nur ein paar Standartsätze wie ‚Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass unser gemeinsamer Patient / unsere gemeinsame Patientin ...`, mit denen wir auf dieser Station für diejenigen auskommen, die wir nicht zurück auf ihre Normalstation verlegen.“

Da hatte Valenta recht. Wo gibt es keine Hackordnung?

„Gut. Dann suche ich mir noch ein ruhiges Plätzchen ...“

„Nimm die Teeküche, sonst haben wir nichts. Aber lass uns vorher noch deine Nachtschichten für die nächsten Wochen festlegen. Ich habe hier schon mal einen Vorschlag.“ Valenta reichte mir einen Zettel. „Guck dir die Daten in Ruhe an und sag mir bald, ob das so für dich in Ordnung ist.“

Ich schaute auf den Zettel und freute mich, dass Valenta Wort gehalten hatte: keine Dienste auf dem Notarztwagen. Außerdem bekam ich eine Frage beantwortet, die zu stellen ich mich bisher nicht getraut hatte.

„Unsere Bergwanderung übernächste Woche ist also nicht gestrichen?“

„Du meinst wegen dem Tod von Erika?“

Ich nickte. Nur ein paar Tage, bevor Ahmed plötzlich verschwand, war hier, genau auf dieser Station, Valentas Frau unter dramatischen Umständen verstorben. Über zwei Stunden hatten wir es mit jeder Art der Wiederbelebung versucht, ohne Erfolg.

„Ich bin noch nicht weg über Erika, klar. Aber es ändert doch nichts an ihrem Tod, wenn wir unsere Bergwanderung absagen. Im Gegenteil. Körperliche Anstrengung wird meinem Gemüt gut tun.“

Ich war doppelt froh. Froh, dass die Frage geklärt war. Und froh, dass wir in fast zwei Wochen unsere Bergwanderung machen würden. Schon war ich nicht mehr ganz so deprimiert über den Aktenhaufen vor mir.

Intensivpfleger Johannes machte den selben Vorschlag wie Valenta, „alles verbrennen und gut ist“, half mir aber trotzdem, in zehn bis fünfzehn Märschen die Akten zur Teeküche zu schleppen. Dann wurde erst einmal sortiert. Ganz nach oben kamen die Akten, zu denen schon Anfragen oder Beschwerden von den einweisenden Ärzten vorlagen oder, noch wichtiger, die Krankenkassen nicht zahlen wollten. Nach links die Fälle, bei denen man weitgehend mit Standardformulierungen arbeiten konnte. Rechts entstand der größte Stapel. Hier musste ich in den nächsten Tagen oder Wochen jeweils die komplette Akte durcharbeiten, bevor ich sie abschließen konnte.

Doch je mehr ich sortierte, desto stärkere Unruhe ergriff mich. Hier stimmte etwas nicht! Gegen Abend war klar, dass ich noch einmal ganz neu sortieren musste. Und das wir ein Problem hatten. Oder, weniger dramatisch formuliert: Die Existenz der Humanaklinik stand auf dem Spiel.

1-6

„Das kann nicht sein. Unmöglich! Felix, du siehst wieder mal Gespenster!“

Gut möglich, dass Beates Assoziation an meinem Erscheinungsbild heute Morgen lag. Die gesamte Nacht hatte ich die verdächtigen Akten immer wieder neu sortiert und auf Fehler kontrolliert. Einige Fälle waren noch nach Ahmeds Verschwinden in dem Stapel entsorgt worden, die würden meine Kollegen nach der Morgenkonferenz wieder auf ihren Schreibtischen finden. Aber für die fragliche Zeit blieb das Ergebnis dasselbe: Auf der Intensivstation der Humanaklinik wurde gemordet! Nun schwänzte ich gerade die tägliche Morgenkonferenz und konfrontierte Beate mit meiner Entdeckung. Die ihr nicht gefiel. Also suchte sie nach einem Ausweg.

„Du verstehst doch was von Medizinstatistik, mein Lieber. Da gibt es, hast du mir selbst einmal erklärt, immer wieder Ausbrecher, wenn man zu kurze Zeiträume betrachtet.“

Beates Reaktion überraschte mich nicht. Ihr Verleugnen war normal. Dass in einem Krankenhaus gemordet wird, ist generell unvorstellbar. Durch die Mitarbeiter erst recht nicht und im eigenen Krankenhaus schon gar nicht. Was nicht sein kann, kann eben nicht sein. Aber es blieb dabei: im Vergleich zu den Vorjahren über doppelt so viele Wiederbelebungen in den neun Monaten, die die Akten umfassten. Weit über die Hälfte mit tödlichem Ausgang. Ich hatte vergangene Nacht verschiedene Listen und Diagramme dazu gemacht. Den Kopf in beide Hände gestützt, starrte Beate auf meine Fleißarbeit, schüttelte wiederholt den Kopf und versuchte, einen Fehler zu finden oder eine harmlose Erklärung. Beides gab es nicht. Langsam musste sie die Realität der Zahlen akzeptieren.

„Das ist einfach unvorstellbar!“

Nicht ganz unvorstellbar. Es hat immer wieder einzelne Fälle gegeben. Aber nicht in diesem Ausmaß und erst recht nicht in der eigenen Klinik.

Beate schüttelte weiterhin den Kopf. „Du weißt, wenn das wahr ist und publik wird, überlebt die Humanaklinik das nicht.“

Ich konnte nur nicken. Wer würde noch als Patient in unsere Klinik kommen wollen? Außerdem stand wieder einmal eine Krankenhausstrukturreform an. Sie sollte gute Medizin honorieren, schlechte finanziell bestrafen, bis hin zur Schließung von Abteilungen oder sogar ganzer Häuser. Noch war unklar, wie man „gute“ und „schlechte“ medizinische Leistung halbwegs objektiv messen wollte, aber mutwillig herbeigeführte Todesfälle auf einer Intensivstation würden den Bürokraten in der Gesundheitsverwaltung ihre Entscheidung massiv erleichtern.

„O Gott, o Gott, o Gott! “

Stufe eins nach Kübler-Ross, verleugnen, war damit vorbei. Beate hatte die Tatsachen akzeptieren müssen. Nun kam lehrbuchgemäß Stufe zwei: Zorn und Ärger.

„Hast du nicht schon genug Schaden für die Klinik angerichtet mit deinem unseligen TV-Auftritt? Du solltest doch nichts weiter, als ein paar Akten formal abschließen, nicht wieder einmal Detektiv spielen!“

Ich sagte nichts, zwecklos. Die Phase Zorn und Ärger würde noch ein paar Sätze andauern. Beate war aufgestanden und tigerte durch ihr Büro.

„Mein Gott, war das zu viel verlangt? Kontrollieren, ob alle medizinischen Leistungen für die Abrechnung erfasst worden sind, ein kurzer Standardbericht, wenn sich schon irgendein Hausarzt beschwert hat, unterschreiben, dass Akte abgeschlossen ist, Schluss!“

„Eben, Beate: unterschreiben. Ich lese mir die Dinge schon mal durch, die ich unterschreibe.“

Sie blieb stehen, schaute mich kurz an und verschwand plötzlich eilig in das büroeigene Badezimmer. Nach ein paar Minuten klopfte ich dort vorsichtig.

„Alles in Ordnung?“

Ziemlich blass im Gesicht tauchte Beate wieder auf und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen.

„Tut mir leid, Felix“ – wobei offen blieb, ob sie damit ihren Gang zum Bad oder ihre Vorwürfe gegenüber dem Schuldigen an der Misere, den Überbringer der schlechten Nachricht, meinte.

„Und nun? Was machen wir jetzt?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Bevor du die Polizei einschaltest, würde ich mir jedenfalls gerne noch ein paar Sachen genauer anschauen. Die beschlagnahmen alles sofort und wir sehen die Akten auf Monate nicht wieder.“

„Großer Gott. Keine Polizei! Da können wir die Klinik auch gleich selbst dicht machen.“

„Willst du einen Verbrecher decken? Einen Mörder?

Beate war wieder aufgesprungen.

„Selbstverständlich nicht. Aber du hast eben selbst gesagt, dass wir noch Zeit haben, ein paar Informationen mehr brauchen.“ Sie wandte sich mir voll zu. „Hast du schon jemandem von der Sache erzählt? Außer mir, meine ich?“

Ich verneinte wahrheitsgemäß.

„Auch nicht Chefarzt Kleinweg?“

„Nein.“

Vor seinem Schädelhirntrauma und langem Koma wäre Kleinweg wahrscheinlich der Erste gewesen, mit dem ich gesprochen hätte. Aber seit diesem Unfall stand er wiederholt neben sich, hörte oft kaum zu oder missverstand, reagierte manchmal eigenartig. Weit hergeholt, doch wer garantierte mir, dass ihm jetzt nicht ab und zu eine Stimme irgendeine Spezialbehandlung bei einem unserer Intensivpatienten befahl? Aber ein anderer bot sich weit mehr als Hauptverdächtiger an, das hatte ich Beate schon berichtet.

„Du meinst also, es war dieser Doktor Ahmed?“

„Jedenfalls fallen diese Vorfälle in seine Zeit bei uns. Außerdem, sein plötzliches Verschwinden ...und danach haben sich die Zahlen wieder normalisiert!“

Beate packte meine Listen und Diagramme zusammen und schob sie mir über den Schreibtisch zurück. Sie straffte den Oberkörper.

„Die Angelegenheit bleibt, falls es überhaupt eine Angelegenheit gibt, wenigstens vorerst in diesen vier Wänden. Keine Polizei, nichts zu den Kollegen, und um Gottes willen nichts zur Konzernmutter. Falls überhaupt was an der Sache dran sein sollte, ist dieser Ahmed ja jetzt weg.“

Beate war jetzt ganz Leiterin der Humanaklinik. Unsere Chefin. Auch wenn wir einmal miteinander geschlafen hatten. Aber das war nur einmal geschehen und Jahre her, damals, während Celine im Irak verschwunden war.

1-7

Natürlich blieb „die Angelegenheit“ nicht in Beates vier Bürowänden. Die Geschichte war genau das, was Beate unbedingt mit ihrer Freundin Celine besprechen würde. Und dann wäre Celine sauer, dass ich ihr nichts davon erzählt hätte. Außerdem hilft es oft bei der Lösung, mit jemandem über einen unklaren Sachverhalt zu sprechen, wie schon Heinrich von Kleist in seinem Essay „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ ausgeführt hat. Und letztlich wäre es sicher nützlich, wenn Celines analytischer Mathematikerinnenverstand die Sache durchleuchtete, zumal der in ihrem Beruf als Mathelehrerin unterfordert war.

Es war Samstagmorgen, ich hatte wie üblich Brötchen und Zeitung auf dem Weg zu Celine besorgt. Fast jeder in der Klinik kannte die Struktur unserer Beziehung: Wir vertrauten einander bedingungslos, verbrachten Urlaube und Wochenenden gemeinsam, waren aber nie zusammengezogen und gingen während der Woche getrennte Wege. Desto mehr gab es beim gemeinsamen Frühstück am Samstag zu erzählen.

Ich konnte Celine berichten, dass es Frau Zuckermann dank ihrer Dr.-House-Diagnose schon deutlich besser ging (laut Aussage meiner Kollegen, mich wollte sie ja nicht sehen), und gab ihr einen kurzen Abriss über mein Aktenstudium auf der Intensivstation, das Gespräch mit Beate und deren „Keine Polizei“.

Celine muss sich keine Sorgen um ihr Gewicht machen, macht sie auch nicht. Mit Genuss biss sie gerade in ein reichlich mit Butter und Honig beschmiertes Brötchen. Ihre erste Frage zu meinem Bericht erstaunte mich allerdings.

„Wo habt ihr, Beate und du, über die Sache gesprochen?“

„Hä?“

Celine strich sich mit dem Zeigefinger ein wenig Honig aus dem Mundwinkel.

„Was ich dich schon lange mal fragen wollte. Hast du eigentlich mal was mit Beate gehabt?“

„Hast du den Verstand verloren? Bist du prämenstruell? Menstruell? Postmenstruell? Hast du schlecht geträumt?“

Ich verzichtete auf jede dieser aggressiven Gegenfragen und antwortete mit einem schlichten Nein. Wozu etwas eingestehen, das schon Jahre zurücklag, sich ohne tiefere Bedeutung aus der Situation ergeben hatte und von Beate danach als „Mitleidsex“ bezeichnet worden war – und zwar Mitleid mit mir! Es gibt Geständnisse, die vielleicht das Gewissen des Geständigen entlasten, aber ansonsten alles nur schwierig machen.

Ebenso unvermittelt, wie Celine auf das Thema gekommen war, ließ sie es fallen und kam auf „die Angelegenheit“ zurück.

Ich war inzwischen in den Klinikakten noch ein paar Jahre weiter zurückgegangen, und das Bild hatte sich bestätigt: Selbstverständlich schwankte die Zahl der Reanimationen von Jahr zu Jahr, aber nie um mehr als plus/minus um die 20 Prozent. Ja, bestätigte mir Celine, die Stichprobe wäre groß genug und es sei damit „sehr unwahrscheinlich“, dass die von mir gefundene Zunahme von fast 100 Prozent „eine Abweichung vom Sollwert“ wäre, sie liege „zu weit außerhalb dieses Bereichs“ und sei damit vermutlich nicht mehr zufällig.

„Dazu kommt“, ergänzte ich, „dass es zu einem großen Teil um Patienten geht, bei denen niemand mit der Notwendigkeit einer Wiederbelebung rechnete. Einige waren sogar für denselben oder den nächsten Tag für die Rückverlegung auf die Normalstation vorgesehen.“

„Und sonst? Hast du irgendwelche Übereinstimmungen unter den Opfern gefunden?“

„Es geht quer durch alle Altersgruppen, Männlein wie Weiblein, Herz-, Leber- oder sonstwie Kranke. Allerdings scheinen mir Juden eventuell überrepräsentiert. Erst sind mir nur Namen aufgefallen wie Rosenzweig oder Mandelbaum. Daraufhin habe ich mir die Aufnahmebögen angeschaut. Niemand ist gezwungen, seine Religion anzugeben, aber viele Patienten tun es. Zum Beispiel Katholiken, die im Falle eines Falles auf eine letzte Ölung Wert legen. Oder eben gläubige Juden wegen der koscheren Ernährung.“

Ich ließ meinen Blick über unser Frühstück schweifen. Juden oder Mohammedaner hätten hier Schwierigkeiten. Veganer auch.

„Also, du meinst, es war dieser Arzt aus Gaza?“

„Wie gesagt, es geht um seine neun Monate auf der Intensivstation. Und natürlich sein plötzliches Verschwinden. Vielleicht haben seine Opfer Mohammedwitze gemacht ...“

Celine warf ihre original italienische Kaffeemaschine für einen neuen doppelten Espresso an und musste ihre Stimme heben wegen des lauten Mahlwerkes.

„Fragen wir ihn doch!“

Ich erklärte mich sofort einverstanden. Alles besser, als dass Celine noch einmal auf die längst verjährte Geschichte zwischen mir und ihrer Freundin Beate zurückkam.

1-8

Celine ist nicht nur Mathelehrerin. Sie ist unter anderem auch Verhörspezialistin, wie ich aus leidvoller Erfahrung bestätigen kann. Und zwar ganz ohne Stricknadeln unter die Fingernägel zu schieben. Leugnen zwecklos. Also war klar, für Celine wenigstens, dass sie mich zur Erkstraße begleitete.

Erkstraße 196 war die Adresse von Doktor Ahmed el Ghandur, die ich mir in der Personalabteilung besorgt hatte. Beates Büro liegt gleich am Übergang zum Bettenhaus, selten habe ich Grund, mich im Verwaltungstrakt dahinter herumzutreiben. So beeindruckt mich hier jedes Mal aufs Neue der Duft von frischem Kaffee und ruhigem Beschäftigtsein. Die meisten Patientenzimmer schauen auf den OP- und Labortrakt, die Mitarbeiter der Personalabteilung hingegen haben einen herrlichen Blick über die Havel und den Grunewald. Mit dem Argument „die Patienten sind hier für ein paar Tage, wir für immer" hatten sie sich beim letzten großen Umbau erneut erfolgreich gegen ihre Umquartierung gewehrt.

„Die Adresse von unserem Doktor el Ghandur wollen Sie?“

Leicht verträumter Blick der Sachbearbeiterin, offenbar eine der vielen weiblichen Fans unseres ehemaligen Gastarztes. Ich nickte und setzte mein freundlichstes Lächeln auf. Ohne Erfolg.

„Darf ich Ihnen leider nicht geben. Datenschutz.“

„Doch, dürfen Sie. Sonst rufen Sie Ihre Chefin an.“ Ich wechselte zu meinem bösen Lächeln. „Die wird Sie lieben für Ihren wichtigen Anruf.“

Der übliche Bluff, aber er wirkte. Gut so, denn ich wollte nicht wirklich, dass Beate von meinen Aktivitäten Wind bekam, schließlich war alles, was sie wollte, die Sache zu begraben. Schlimm genug, dass Felix Hoffmann „die Angelegenheit“ überhaupt ausgegraben hatte.

Ziemlich ratlos kurvten Celine und ich schon zum zweiten Mal im Kriechtempo die Erkstraße in Neukölln entlang. „Ein Idiot könnte sich nicht so viele Spielarten ausdenken, um Verwirrung zu stiften", hatte schon Mark Twain zum System der Hausnummerierung in Berlin bemerkt, und als dreißig Jahre später die Vorstädte eingemeindet wurden, machte das die Sache nicht besser. Trotzdem mussten wir schließlich einsehen: Ein Haus Erkstraße 196 gab es nicht.

„Vielleicht ein Zahlendreher. Fahr mal zur 169“, schlug Celine vor.

Die Hausbriefkästen und der stille Portier in Nummer 169 kannten keinen Ahmed el Ghandur, aber wenigstens gab es hier einen Dönerladen.

Ein paar Gäste an den Resopaltischen, ein Mann mit schlechten Zähnen hinter dem Tresen. Außer Celine und mir offenbar niemand ohne „Migrationshintergrund“. Ich bestellte uns je einen Chickendöner und fragte nach Ahmed.

„Ich Ahmed“, strahlte der Dönerbrater, „aber nicht Doktor. Gibt viele Ahmeds hier.“ Einen Doktor Ahmed aber kenne er nicht. Seine Gäste an den Tischen schüttelten ebenfalls den Kopf.

Von mir unbemerkt, tauchte plötzlich aus dem Halbdunkel im hinteren Bereich des Ladens ein Rauschebart in langem Gewand mit einer Art Käppi auf dem Kopf auf und stellte sich uns in den Weg.

„Können Sie sich ausweisen?“

„Warum sollen wir uns ausweisen?“, fragte Celine, aber sie hätte genauso gut aus Luft sein können, der Rauschebart ignorierte sie völlig. Aus der Nähe erkannte ich, dass Bart, Käppi und Nachthemd alles waren, was an dem Typ arabisch war. Also doch noch jemand ohne Migrationshintergrund außer uns.

„Würden Sie die Frage meiner Freundin beantworten? Warum sollen wir uns ausweisen – Ihnen gegenüber?“

Der konvertierte Salafist grinste schief.

„Meinen Sie, ich weiß nicht, was Sie hier wollen? Was sind Sie? BND? Verfassungsschutz?“

„Weder noch. Wir suchen einen Kollegen, einen Arzt aus Palästina. Ahmed el Ghandur. Kennen Sie ihn? Wir müssen ihn dringend sprechen.“

Es blieb unklar, ob der Salafist mir den Kollegen glaubte oder unseren Ahmed kannte. Statt einer Antwort gab er mir ein Buch in blauem Einband.

„Diese Schrift hier beantwortet alle Ihre Fragen. Die wirklich wichtigen jedenfalls.“

Rauschebart hatte uns den Schuppen verleidet. Wir nahmen unseren Chickendöner mit ins Auto und fuhren Richtung Heimat.

Unterwegs blätterte Celine in dem noch nach Druckerschwärze riechenden Koran. Gerade knatterte ein Motorrad an uns vorbei, dessen Fahrer mit ausgebautem Schalldämpfer auf seine mangelhafte anatomische Ausstattung hinwies, da kicherte es neben mir.

„Endlich weiß ich, wo ‘Arsch mit Ohren’ herkommt!“

„Hä?“

„Hier, Sure 4, Vers 47: O ihr, denen die Schrift gegeben ward, glaubet an das, was Wir herabsandten, bestätigend, was ihr habt, bevor Wir eure Gesichter auswischen und sie ihren Hinterteilen gleich machen.“

Tja, die Schrift ward uns ja nun gegeben...

1-9

Am nächsten Morgen stellte ich beim Rasieren erleichtert fest, dass mir Allah nicht den Hintern über das Gesicht gezogen hatte. Wenigstens noch nicht. Vielleicht sah er ein, dass das Koranstudium schon etwas Zeit braucht.

Vorerst studierte ich nicht den Koran, sondern erneut den von Ahmed hinterlassenen Aktenstapel. Unter anderem zu einer Frage, die Celine mir gestern zu Recht gestellt hatte, der ich jedoch in meiner Aufregung bisher nicht nachgegangen war.

„Sagen wir mal, dieser Doktor Ahmed hatte ein Motiv. Juden umbringen, weil die seine palästinensischen Brüder und Schwestern unterdrücken, und die anderen hatten sich vielleicht als Judenfreunde geoutet. Oder es ging um das hier …“ Celine blätterte in unserem neuen Koran. „Sure 2, Vers 191: ‘Und erschlagt die Ungläubigen, wo immer ihr auf sie stoßt.’ Aber: Hast du eigentlich eine Ahnung, wie er es angestellt hat, dass es überhaupt zu diesen Wiederbelebungsversuchen kommen musste?“

Also saß ich wieder an meinem aktuellen Arbeitsplatz, der Teeküche der Intensivstation, studierte und sortierte erneut die Akten. Gab es neben der Tatsache Wiederbelebung irgendwelche weiteren Übereinstimmungen? Art der Erkrankung, Beatmung ja oder nein, dito für Dialyse, Bluttransfusionen, eine bestimmte Medikation?

Besonders die Medikation prüfte ich jetzt genauer. Hatte Ahmed eventuell eine verrückte Idee, die ihm den Nobelpreis einbringen sollte? Oder den König-Faisal-Preis, die arabische Variante? Hatte er irgendein Medikament, das bisher nur gegen Akne oder Haarausfall bewährt war, als Wunderdroge für Intensivpatienten ausprobiert? Das ist ohne Ethikkommission und Einverständnis der Patienten natürlich unethisch und verboten, aber nicht beispiellos. Oder hatte er heimlich eine gut bezahlte Studie für einen Pharmakonzern durchgezogen? Auch fast unvorstellbar, aber eben nur fast. „Nichts ist unmöglich“ ist nicht nur ein Werbespruch eines Autoherstellers – insbesondere, wenn man in der Medizin arbeitet. Solche Aktivitäten würden aber kaum in den Akten festgehalten sein. Immerhin möglich, dass es einen Hinweis auf irgendeinem vergessenen Zettel oder einer Randnotiz in diesen Akten gab.

Gegen Mittag hatte ich jeweils vierzig grüne und vierzig gelbe Karteikärtchen. Grüne für die laufende Medikation zum Zeitpunkt der Wiederbelebungsaktion, gelbe für die während der Reanimation verabreichten Medikamente. Mir war klar, dass die gelben Zettel nicht die ganze Wahrheit erzählten, während einer Reanimation gibt es Wichtigeres, als ein genaues Protokoll zu führen. Die tatsächlich erfasste Notfallmedikation zeigte jedenfalls keine Auffälligkeiten.

Ebenso keine Überraschungen bei der vorher laufenden Dauermedikation. Hier gab es viele Übereinstimmungen, aber keine, die über das hinausgehen, was bei Intensivpatienten zu erwarten ist. Deren Probleme gleichen sich unabhängig von ihrer Grundkrankheit: Kreislauf aufrechterhalten, Atmung am Laufen halten oder beatmen, die Funktion von Niere und Leber so gut wie möglich sichern, die Gerinnungsfunktion des Blutes und der Gefäßwände stabil halten. Sicher, bei manchen Patienten liefen Infusionen, deren Schnellerstellen oder Abstellen sie reanimationspflichtig gemacht hätte, aber ein Muster war nicht zu erkennen.

Und es fand sich weder ein vergessener Zettel noch eine Randnotiz zu einem Gespräch mit einer Pharmafirma oder zum Traum vom medizinischen Durchbruch. Auch nicht zu Ahmeds aktueller Adresse.

Es blieb dabei: Es wäre wichtig, mit Ahmed zu sprechen. Ich hatte längst alle gefragt, die mit ihm gearbeitet hatten. Aber niemand wusste etwas, nicht einmal sein direkter Vorgesetzter, Intensivchef Heinz Valenta. Auch Pfleger Johannes, mit dem er befreundet gewesen war, kannte die aktuelle Adresse nicht – angeblich jedenfalls. Doch mir kam eine Idee, wie ich eventuell doch noch an seine richtige Adresse kommen könnte. Dafür musste ich allerdings Beate aus dem Weg schaffen ... wenigstens für zehn Minuten oder so.

1-10

Von Ausnahmen abgesehen, wusste ich ziemlich gut, wie Beates Arbeitstag ablief. Ein Blick auf die Uhr bestätigte, dass jetzt ein guter Zeitpunkt war, sie anzurufen. Ich hätte da möglichst gleich etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen „in der Angelegenheit, du weißt schon.“

„Ist das wirklich so dringend, Felix? Ich ertrinke hier in einem Berg unerledigter Akten.“

„Dann hast du eine Mittagspause umso nötiger. Frische Energie tanken und so.“ Es folgte mein für Beate unwiderstehlicher Köder. „Ich lad dich auch zum Nachtisch ein.“

„Na schön. In zehn Minuten in der Cafeteria. Gnade dir, wenn es nicht wirklich dringlich ist!“

Ich gab ihr die zehn Minuten, dann wanderte ich hinüber zum Verwaltungstrakt. Die Kombination für Beates Bürotür kannte ich, nicht besonders originell, aber gut zu merken: 0815. Wie erwartet, war das Büro leer. Ich verlor keine Zeit und wählte die Nummer von Frau Moser, Personalabteilung.

„Hallo Frau Moser. Hier ist Kriminalkommissar Czernowske, Sie erinnern sich sicher an mich. Ich rufe Sie aus dem Büro Ihrer Chefin an“ – das konnte Frau Moser an der Rufnummererkennung an ihrem Apparat ablesen. Die kleine verbale Pantomime, die ich am Anfang des Telefonats aufgeführt hatte, während ich den Hörer von der linken in die rechte Hand wechselte – „bitte, lassen Sie mich gleich mit ihr sprechen, danke!“ – hätte ich mir vermutlich sparen können. Bestimmt erinnerte man sich in der Personalabteilung gut an den nervigen Kriminalkommissar Czernowske. Schließlich hatte der schon oft genug und jedes Mal recht penetrant in der Humanaklinik ermittelt.

Frau Moser wollte etwas sagen, ich ließ sie nicht zu Worte kommen. „Es ist äußerst dringlich. Ich brauche sofort die Adresse des Arztes Doktor Ahmed el Ghandur, der hier bis vor kurzem gearbeitet hat.“

Würde Frau Moser mir beziehungsweise dem Kriminalkommissar Czernowske wieder mit Datenschutz kommen? Kam sie nicht. Aber sie verriet dem Kommissar, dass erst vorgestern ein Arzt des Hauses genau dieselbe Adresse wissen wollte.

„Ach ja? Das ist höchst interessant, wenn auch nicht ganz unerwartet. Auf jeden Fall macht es die Sache noch dringender.“

Ich ließ mir den Namen dieses neugierigen Arztes geben – „Hoffmann mit einem oder zwei f?“ – und notierte brav erneut die nichtexistente Hausnummer 196 in der Erkstraße. Vom Gang her näherten sich Schritte. Schnell musste ich noch meine eigentliche Frage beantwortet bekommen.

Sagen Sie, Frau Moser, hat dieser Doktor el Ghandur in letzter Zeit seine Adresse geändert? Ich meine, haben Sie eventuell noch eine ältere Adresse von ihm? –Ach, tatsächlich? Und wann war das?“

Das Klack-Klack der Schritte vom Flur her endete - direkt vor der Tür.

„Ja, bitte geben Sie mir die auch.“

Ich hörte, wie die 0815 eingegeben wurden, während Frau Moser mir die alte Adresse diktierte. Anzengruberstraße 196. Der Nummer 196 war er also treu geblieben, der gute Ahmed.

Die Tür ging auf, Beate schaute mich verdutzt an.

„Also, das war sehr hilfreich. Haben Sie vielen Dank!“ Ich legte auf.

„Was machst du denn hier?“

Nun war es an mir, erstaunt dreinzugucken.

„Na, auf dich warten. Wir waren zum Lunch verabredet, schon vergessen?“

„Klar sind wir zum Lunch verabredet. In der Cafeteria.“

„Ja, und dahin wollte ich dich von hier abholen.“

„Nee, da wollten wir uns treffen. Hast du dich bei Kleinweg angesteckt?“ Beate ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen. Tatsächlich verschwand sie fast hinter den Aktenstapeln, die sich vor ihr auftürmten. „Was hattest du denn so dringlich mit mir zu besprechen?“

Da ich mich nicht wirklich mit Beate hatte treffen wollen, traf mich die Frage unvorbereitet.

„Äh – ich meine, also unser Doktor aus Palästina hat wohl bevorzugt Juden seine Sonderbehandlung zukommen lassen.“

Die böse Ironie des Begriffs schien Beate zu entgehen. Entnervt griff sie nach der obersten Akte eines ihrer Stapel, signalisierte damit ihr Desinteresse.

„Und das war so dringlich?“

„Na, du wolltest doch auf dem Laufenden gehalten werden in der Angelegenheit.“

Ungeduldig begann Beate, mit harten Strichen ihres Kugelschreibers die Akte zu bearbeiten.

„Soweit ich mich erinnere, solltest du die Angelegenheit ruhen lassen und endlich die verdammten Fälle formal abschließen. Dieser Doktor Ahmed ist verschwunden und bleibt es hoffentlich.“

Ich erhob mich. „Tut mir leid. Da muss ich dich falsch verstanden haben.“

Kopfschüttelnd sah mir Beate nach, als ich ihr Büro verließ. Bestimmt überlegte sie, ob ich mich in punkto Erinnerungsvermögen tatsächlich bei Kleinweg angesteckt hatte. Oder ob sie mich fragen sollte, mit wem ich eigentlich eben telefoniert hatte. Ich beschleunigte meinen Abgang.

1-11

Der Adressenwechsel unmittelbar vor seinem Verschwinden machte Ahmed noch verdächtiger. Und natürlich erst recht, dass es diese neue Adresse gar nicht gab. Diesmal würde ich allerdings vor einem Besuch prüfen, ob wenigstens die alte Adresse, die mir Frau Moser eben gegeben hatte, tatsächlich existierte.

Aber vorher wollte ich, wenn möglich, der Frage näherkommen, zu der die Patientenakten keinen Hinweis gaben: Wie hatte Ahmed diese Menschen in eine Situation gebracht, in der sie wiederbelebt werden mussten?

Ahmed würde seinen Opfern kaum einfach ausreichend lange ein Kissen auf Mund und Nase gedrückt haben, und ohnehin wird die Mehrzahl der Patienten auf der Intensivstation maschinell beatmet. Unterbräche man bei ihnen die Verbindung der Beatmungsmaschine zum Tubus in der Luftröhre oder klemmte den Beatmungsschlauch ab, würde gut vernehmbar der Beatmungsalarm ertönen. Nein, es musste irgendein Medikament sein, höchstwahrscheinlich eine Substanz zum Spritzen. Eventuell verdächtige Einstichstellen entstünden nicht, alle Patienten haben mehr als einen Zugang, das heißt einen feinen Plastikschlauch in einer Vene.

---ENDE DER LESEPROBE---