Wunderheilungen und andere unerwünschte Nebenwirkungen - Christoph Spielberg - E-Book

Wunderheilungen und andere unerwünschte Nebenwirkungen E-Book

Christoph Spielberg

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Beschreibung

warum finden einige Alzheimerpatienten plötzlich ihr Gedächtnis wieder, aber nur Privatpatienten? • warum muss eine Patientin sterben, obgleich mit dem potentesten Antibiotikum behandelt? • warum kauft die CIA Medikamente für den 'Islamischen Staat' im Jemen? • warum wird Oberarzt Felix Hoffmann plötzlich so intensiv von der Pharmaindustrie umworben? • und warum droht ihm plötzlich eine Klage wegen Vergewaltigung? Keine Schlacht ohne Kollateralschäden - das gilt auch für die Übernahmeschlacht zwischen zwei bedeutenden Pharmaherstellern. Und diese Kollateralschäden betreffen direkt die Patienten von Oberarzt Felix Hoffmann in der Humanaklinik. An der Seite seiner smarten Freundin Celine muss Dr. Hoffmann erleben, wie gefährlich es ist, zum Spielball in einer Schlacht zu werden, von der beide nichts ahnen. Berliner Zeitung: Spielberg erzählt glaubwürdig und rasant Westdeutscher Rundfunk: Spielbergs Krimis machen nicht nur Eingeweihten Spaß Tagesspiegel Berlin: Dr. Hoffmann ermittelt also auch in unserer eigenen Sache. Und er macht es mit für deutsche Verhältnisse erstaunlicher Ironie und Lakonie. RBB Fernsehen: [Spielbergs Krimis] haben einen wunderschönen Humor, den man mit Worten gar nicht beschreiben kann.

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Christoph Spielberg

Wunderheilungen und andere unerwünschte Nebenwirkungen

Ein Dr. Hoffmann Krimi

Inhaltsverzeichnis

in der Dr. Hoffmann Reihe bisher erschienen:

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Danksagung und eine medizinische Bemerkung

Impressum

in der Dr. Hoffmann Reihe bisher erschienen:

Die Russische Spende

Denn wer zuletzt stirbt

Hundertundeine Nacht

Der vierte Tag

Man stirbt nur dreimal

Wiederbelebung

Wunderheilungen und andere unerwünschte Nebenwirkungen

ein vergiftetes Erbe

außerhalb der Dr. Hoffmann Reihe:

Der Ein-Euro Schnüffler

Personen und Handlung sind frei erfunden

© Christoph Spielberg 2019

TEIL 1

"Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich hätte Krebs!"

1

Pharmakonzern Neopharm AG. Konferenzraum Chefetage,

26. Stock

"Noch einmal jeder 400 einschießen? Das ist ne Menge Holz!"

Das kam von Schmitthauer, dem Boss der exklusiven Privatbank Möllner &Cie. Aus einer mitgebrachten Designer-Thermoskanne goss sich Schmitthauer von seinem hausgemachten Smoothie nach, den Kaffee in dem silbernen Kännchen vor ihm betrachtete er seit einer Woche als Gift, Kaffeetrinker als bemitleidenswerte Abhängige. Das hatte ihm sein 'personal trainer' bei den täglichen fünf Kilometern Lauftraining für 200 Euro die Stunde verkündet.

Gastgeber Markus Ostermann, CEO der Neopharm AG, schien sich derweil auf die Tabellenausdrucke auf dem Konferenztisch vor sich zu konzentrieren, tatsächlich aber beobachtete er die Reaktion der anderen Konferenzteilnehmer auf Schmitthauers Bemerkung. Es gab keine, jedenfalls keine sichtbare. Pokerfaces rund um den Tisch.

Wie auch sollten Schmitthauers Banker-Kollegen auf diese allgemeine Feststellung reagieren? Typisch für Schmitthauer: keine Zustimmung, keine Ablehnung. Erst einmal das Terrain sondieren. 400 Millionen Euro waren deutlich weniger als der Batzen, den Schmitthauer seinerzeit in amerikanische Schrottimmobilien investiert hatte, die, als sie bald ihren üblen Geruch ausdünsteten, Möllner &Cie nicht seinen exklusiven Kunden angedient, sondern in öffentlich-rechtliche Hände abgeschoben und so elegant an den Steuerzahler übergeben hatte. Seine Kollegen hier am großen Konferenztisch der Neopharm hatten es ebenso gemacht, Stichwort Bad Bank. Aber Mark Ostermann machte nicht den Fehler, die Banker ausgerechnet heute an ihre Fehlspekulationen zu erinnern, zumal sie diese letztlich unbeschädigt überlebt hatten. Jetzt schaute er von seinen Tabellen auf, sah die Banker direkt an.

"Mit einer Kapitalerhöhung von mehr als einer Milliarde würden wir der Pharmodynamics den Appetit auf die Neopharm ziemlich verderben. Der Gesamtbrocken wäre dann für eine feindliche Übernahme einfach zu groß, denke ich."

Weiterhin Pokerfaces. Ostermann legte nach.

"Außerdem, wie viel Einfluss hätten Sie hier noch, wenn Pharmodynamics beziehungsweise unser Freund Westfahl das Kommando in der Neopharm übernimmt?"

Natürlich ging es um Geld. Aber diesen Bankmenschen ging es auch um Einfluss und, mehr noch, um ihre Eitelkeit. Damit sollte er sie eigentlich bekommen. Diese Leute gehörten zu einer Einkommensklasse, in der man einander nicht mehr an den PS seiner Autos oder an zurückgelegten Flugmeilen in der ersten Klasse misst. Ihr Maßstab waren Anzahl der Aufsichtsratsposten und Höhe der jährlichen Boni. Denn tief in ihrem Inneren wussten sie, dass sie letztlich nur bessere Angestellte waren. Auch wenn sie sich gaben, als gehöre ihnen ihre jeweilige Bank.

"Warum meinen Sie, Mark, dass Pharmodynamics überhaupt so scharf auf Ihren Laden ist?"

'Mark' statt Markus – diese Anrederei mit amerikanisierten Vornamen sollte zeigen, welch internationale Burschen dieser Haufen von überbezahlten ehemaligen BWL- und VWL-Studenten waren.

"Das wissen Sie doch, Herr Schmitthauer. Hinter Westfahl mit der Pharmodynamics stehen die Chinesen. Und die haben es einfach satt, für uns nur produzieren zu dürfen, während wir das eigentliche Geschäft machen. Die wollen selbst auf den europäischen Markt. Dadurch, dass wir ihnen zu Hause die Fabriken hingestellt haben, haben sie inzwischen genug technisches know-how. Was ihnen in dieser Hinsicht noch fehlt, erpressen und spionieren sie, oder kaufen es zum Beispiel mit einer Firma wie unserer Neopharm im Paket mit ein. Auch die Manager von Wuhan Therapeuticshaben an US-amerikanischen Universitäten studiert. Sie glauben an die Heilsbotschaft, dass in der Wirtschaft allein Wachstum zählt. Immer mehr, immer größer."

Diskretes und nicht so diskretes Grinsen rund um den Tisch. Natürlich wussten die Banker, dass Ostermann in Studentenzeiten bei den Jusos gewesen war. Wahrscheinlich, vermuteten sie, wählte er immer noch SPD, oder Schlimmeres. Aber sie dürften auch bemerkt haben, dass niemand vom Betriebsrat an diesem Gespräch teilnahm, das Ostermann als privat und inoffiziell bezeichnet hatte.

"Und was würde aus der Neopharm, wenn Westfahl mit seinen Chinesen bei euch einfällt?" fragte der Dicke von der Südbank.

"Für einige Zeit wenigstens bliebe der Name, schätze ich", antwortete Ostermann. "Sicher sind sie auch auf den Markennamen scharf. Wir sind weltweit bekannt für Qualitätsprodukte und bisher in keinen Pharma-Skandal verwickelt."

Vielleicht würde später irgendwann der Name Neopharm vom Markt verschwinden, sinnierte Mark Ostermann bei sich. Bayer war es nicht schwergefallen, sich nach der Übernahme stufenweise von dem Namen Schering zu trennen. Aber das war ihm egal, und würde außerdem, wenn überhaupt, erst in ein paar Jahren geschehen. Wichtig war, was sofort passieren würde. Das in den letzten Jahren mit viel Geld und exzellentem Personal aufgebaute Genlabor würde die Pharmodynamics sicher vollständig übernehmen, da brauchten sich die Mitarbeiter keine Sorgen zu machen. Auf die Mikrobiologie und die organische Chemie hingegen dürften schwere Zeiten zukommen, da würde es Entlassungen geben. Auch in dem Bereich, der von der eigentlichen Produktion bisher in Deutschland verblieben war, zum Beispiel die Antibiotikastrecke. Erst recht in der Verwaltung, da würden wohl nur wenige überleben. Und, nicht ganz unwichtig: Auch er müsste sich einen neuen Job suchen. Natürlich würde er den finden. Aber als jemand, der eine Übernahmeschlacht verloren hatte. Nicht gut für die dann fälligen Vertragsverhandlungen. Er hatte diskret vorfühlen lassen: Einen goldenen Fallschirm würde es für das Management der Neopharm nicht geben. Auch deshalb galt es, diese Übernahme zu verhindern. Mit welchen Mitteln auch immer, und egal, ob Paragraph 33 des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes das verbot oder nicht. Darum konnten sich die Juristen in der Rechtsabteilung kümmern.

Endlich bemerkte Ostermann, wie still es plötzlich um den Konferenztisch geworden war, während er seinen Gedanken freien Lauf gelassen hatte. Zu spät erkannte er seinen Fehler.

"Bisher in keinen Pharma-Skandal verwickelt?" wiederholte der Dicke von der Südbank. "Müssen wir uns da auf etwas einstellen, Mark? Wollten Sie uns das beibiegen?"

Verdammt! Offenbar gab es tatsächlich den sprichwörtlichen Freud'schen Versprecher. Er konnte nur hoffen, er bliebe wenigstens von dem ebenso sprichwörtlichen Erröten verschont.

"Nix da. Keine Skandale bei Neopharm. Nicht in der Vergangenheit, aktuell nicht, nicht in der Zukunft. Nada!"

Unauffällig schaute der Chef der Neopharm auf seine Armbanduhr. Seit heute Morgen wusste er von der Katastrophe. Sobald er mit diesen Gangstern hier fertig war, musste er rüber in die Produktion und hören, wie weit seine Leute mit der Schadensbegrenzung gekommen waren. Egal wie, er würde den Skandal noch verhindern, koste es, was es wolle. Gelänge ihm das nicht, konnten auch die dreimal 400 von den Bankern den Untergang der Neopharm nicht abwenden.

Als Ostermann wieder aufblickte, sah er, dass der Dicke ihn intensiv musterte. Glaubte der ihm? Schwer zu sagen. Immerhin wechselte er das Thema.

"Mal angenommen, Mark, wir mobilisieren den Cash. Was würde Ihre Neopharm mit den Einskommazwei anfangen, außer Westfahl und seine Schlitzaugen zu verschrecken?"

Auf diese Frage hatte sich Mark Ostermann vorbereitet. Mit einer Lüge, mehr oder weniger – na ja, eher mehr. Mit selbstsicherem Lächeln präsentierte er sie den Bankmenschen.

"Wir haben mindestens zwei absolute Raketen in der Pipeline. Ganz heiße Sachen, richtige Knaller. Soweit ich weiß, sind wir damit deutlich vor der Konkurrenz. Mit dem extra Geld könnten wir also nicht nur die Übernahme abwehren, sondern diese beiden Projekte erheblich beschleunigen und deutlich früher auf dem Markt sein. Wir wären für mindestens zwei Jahre die einzigen Anbieter. Weltweit.“

"Haben Ihre Leute was gegen Alzheimer gefunden?"

Ostermann lächelte geheimnisvoll und konsultierte kurz sein iPhone.

"Unser nächstes Treffen ist in genau zwei Wochen. Da kann ich Ihnen etwas zeigen, das Sie umhauen wird. Diese Entwicklung sollte, wenn wir schnell genug sind, so viel Gewinn abwerfen, dass wir den Spieß umdrehen: Dann werden wir es sein, die die Chinesen kaufen!"

Allerdings nur, wenn er den eventuell gefährlichsten Pharmaskandal in Deutschland seit Contergan noch verhindern könnte. Gefährlich wenigstens für die Neopharm. Die Firma würde mehr als ihre Extremitäten einbüßen. Es ging um den gesamten Körper.

2

Pharmakonzern Neopharm AG. Waschraum Chefetage,

26. Stock

Er hatte sich damit weit aus dem Fenster gelehnt, aber Ostermann war überzeugt, dass er bis zum nächsten Treffen eine überzeugende Präsentation hinbekommen sollte. Die Sache mit dem neuen Schmerzmittel sah tatsächlich sehr gut aus, und vielleicht würde bis dahin sogar Eva Bunsen mit ihren Alzheimer-Leuten einen entscheidenden Schritt vorwärts machen. Heute war nicht mehr zu erreichen gewesen: Er hatte die Übernahme der Neopharm durch die Pharmodynamics nicht abgewehrt, die Banker fürchteten weiterhin um ihr Geld. Aber immerhin hatte er ein nein verhindert und mindestens zwei Wochen Zeit gewonnen.

Hatte er das tatsächlich? Natürlich würden die Bankmenschen, bevor sie sich wieder in ihre überdimensionierten Luxusbüros zurückzogen, sich noch kurz über das heutige Treffen austauschen. Mit Sicherheit an der Currywurstbude Ecke Stinnessstrasse würden sie in ihren Bespoke-Maßanzügen einander beweisen, dass sie nicht abgehoben wären und eine Curry mit Pommes rot/weiß futtern, während ihre Chauffeure weiter warteten. Schon ein falsches Wort dabei, ausgelöst vielleicht durch einen Ketchupfleck auf einem Maßanzug, könnte Ostermanns heutigen Teilerfolg vernichten. Er musste vorher unbedingt noch mit Schmitthauer sprechen. Denn Schmitthauer war der Wortführer, aus irgendeinem Grund, den er noch nicht kannte, hörten seine Bankerkollegen auf ihn.

Das Schicksal war Ostermann hold, eben betrat Schmitthauer die Toilette der Chefetage, hier als 'Waschraum' gekennzeichnet. Schnell holte er ihn ein, stellte sich vor das Designer-Urinal neben ihm. Er würde diese Runde gewinnen, sagte er sich, träfe er das Firmenlogo in der Mitte des Urinals mit dem ersten Strahl. Er traf.

"Übrigens, ich habe die Sache mit meiner Frau angesprochen. Sie ist gerade zur Recherche irgendwo in Südamerika. Sobald sie zurück ist, kann ich das sehr wahrscheinlich festmachen."

"Schön" grunzte Schmitthauer, während er vergeblich die letzten Tropfen abzuschütteln suchte. Schmitthauer gab sich nur mäßig interessiert, konnte Ostermann aber nicht täuschen. Die Leute waren doch alle gleich: Egal, wie viel Macht und Geld sie angehäuft hatten, würden sie fast alles geben für zehn Minuten TV-Ruhm. Wahrscheinlich bekam der Bankmensch sogar gerade eine Erektion, während er sein Glied rasch in der Hose versteckte - falls der Kerl ohne die kleinen Blauen überhaupt noch eine Erektion zustande brachte. Jedenfalls war Ostermann Schmitthauers Stimme in der inoffiziellen Konferenz an der Currywurstbude jetzt so gut wie sicher. Obgleich er ihn nun schon zum zweiten Mal an diesem Tag belogen hatte. Es stimmte zwar, dass seine Frau im Moment noch in Südamerika war, nur hatte sie dem Plan, Schmitthauer in ihrer Talkshow auftreten zu lassen, über Skype längst zugestimmt. Das aber brauchte der nicht zu wissen.

Wie hatte Pharmodynamics überhaupt Wind bekommen von den aktuellen Liquiditätsproblemen bei der Neopharm? Weder im Handelsblatt noch sonst irgendwo hatte es eine Meldung dazu gegeben. Im Prinzip war die Neopharm, immerhin der zweitgrößte Hersteller von Medikamenten in Deutschland, finanziell gesund. Aber die parallele Entwicklung und Markteinführung ihres neuen Antibiotikums Baktazid und des Antirheumatikums Amatis hatte eine Menge Geld gekostet. Geld, das sich schon in Kürze amortisieren und die gegenwärtige Kapitallücke mehr als auffüllen würde, jedoch erst in ein paar Monaten. Bis dahin mussten die Bankmenschen die Firma über Wasser halten.

Das Problem war nur, dass einer von diesen Bankstern offenbar mit der Pharmodynamics unter einer Decke steckte.

Pharmodynamics hätte Neopharms Liquiditätsprobleme diskret öffentlich machen können. Der Aktienkurs von Neopharm wäre sofort abgerutscht, die Übernahme billiger geworden. Nur, das hätte sofort weitere Interessenten ins Spiel gebracht, stärkere zumal als Westfahls Pharmodynamics, von A wie Astra-Zeneca über B wie Bayer bis Z wie - wieder Zeneca.

Und das erst recht, wenn plötzlich das Wort 'Pharmaskandal' auftauchte.

Ein paar Minuten, nachdem sich auch Schmitthauer verabschiedet hatte, nahm Ostermann den Fahrstuhl zum zweiten Stock. Vom komplett verglasten Übergang zur Produktionshalle hier schaute er kurz in Richtung Stinnessstrasse und hatte richtig vermutet: Schmitthauers Kollegen standen bereits an dem Wurststand, Schmitthauer war auf dem Weg zu ihnen. Alles in allem war der Vormittag bis jetzt nicht schlecht gelaufen. Aber jetzt musste er ein noch dringenderes Problem lösen. Ausgerechnet mit ihrem Verkaufsschlager Baktazid, dem Marktführer unter den Antibiotika, für den Neopharm aufgrund des enormen Wirkspektrums und der Tatsache, dass wenigstens bisher keine Resistenzen aufgetreten waren, praktisch jeden Preis verlangen konnte – und es tat. Auf keinen Fall durften die Bankster von diesem Problem erfahren! Die Angelegenheit musste bereinigt werden, bevor sie sich tatsächlich zu einem Pharmaskandal entwickelte. Falls es dafür nicht schon zu spät war.

Wieder so ein Tag, an dem Ostermann schien, dass er besser im Management von Mercedes hätte bleiben sollen. Eine Weile beobachtete er die beiden Fensterputzer bei ihrer Arbeit an der Glasfassade, jetzt direkt am Fenster vor ihm, und musste lächeln. Als moderne Vertreter des Königs Sisyphos sollten sie die architektonische Umsetzung der Illusion von der Transparenz der Firma Neopharm erhalten. Doch sein Lächeln verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Denn wirkliche Transparenz wäre wenigsten heute tödlich für die Neopharm!

3

Pharmakonzern Neopharm AG. Produktionshalle Antibiotika

"Warum wurde ich nicht sofort informiert? Warum erst heute, fast zwei Wochen später?"

Ostermann hatte sofort begriffen, dass die Situation ernst war. Wie ernst tatsächlich, verrieten ihm die Mienen des Abteilungsleiters Produktion und dessen Stellvertreter. Und dass sich, was es hier sonst an Personal gab, unsichtbar gemacht hatte. Wobei es ohnehin nur ein oder zwei Leute sein konnten, die sich plötzlich an eine wichtige Aufgabe außerhalb der Produktionshalle erinnerten. Die eigentliche Produktion besorgten Industrieroboter, die auch jetzt, unbeeindruckt von der Katastrophe, um die es ging, mit leisem Surren und Zischen ihrer Arbeit nachgingen, wie immer aufs genaueste ihren digitalen Befehlen folgend. Sieben Tage die Woche, 24 Stunden pro Tag.

"Wir haben die Sache selbst erst heute Morgen erfahren, von der Qualitätskontrolle", antwortete der Abteilungsleiter Produktion.

"Und warum haben die zwei Wochen gebraucht, etwas zu merken?"

"Die sind aktuell so schlecht besetzt, dass dort zurzeit am Wochenende niemand arbeitet. Theoretisch soll montags neben der laufenden Produktion auch die vom Wochenende geprüft werden, aber damit sind sie in Verzug geraten. Schwangerschaft, Krankenstand, Urlaub."

Ostermann seufzte. Natürlich musste er wegen der Übernahmeschlacht im Moment an allen Ecken und Enden sparen. Aber hier wurde ganz offensichtlich am falschen Ende gespart.

"Wer immer unsere Roboter umprogrammiert hat", fuhr der Produktionsleiter fort, "kannte sich mit unseren Abläufen offenbar gut aus. Die Fehlproduktion lief an jenem Wochenende nur genau von Samstag Nacht ein Uhr bis Montag morgen ein Uhr."

"Und seitdem?"

"Seitdem nichts mehr, alles in Ordnung."

'Nichts ist in Ordnung, Sie Idiot' hätte Ostermann den Abteilungsleiter am liebsten angeschrien. Aber das war nicht seine Art, mit Katastrophen umzugehen. Und genutzt hätte es erst recht nichts. Also stellte er lieber weiter Fragen.

"Noch einmal in allen Einzelheiten, bitte. Was genau ist in der Produktion manipuliert worden?"

Als der Abteilungsleiter mit der ausführlichen Variante seines Berichts, vorhin am Telefon nur in Stichworten gegeben, fertig war, hatte Ostermann weiter an Farbe verloren. Wenn er auch nicht alle technischen Details verstand, warum zum Beispiel die Laserkontrollen vor der Abfüllung den Fehler nicht erfassen konnten, war eines klar: Das an jenem Wochenende produzierte Baktazid war unwirksam!

Natürlich wollte Ostermann auch wissen, wie der Eingriff in die voll automatisierte Produktion hatte passieren können, ob man die Spur zurückverfolgen konnte, ob das digitale Loch inzwischen gestopft wäre. Diese Fragen würde er auch noch stellen, aber es hatte keinen Sinn, die wichtigste von allen länger aufzuschieben. Obgleich er die Antwort ahnte.

"Wo ist das verdünnte Baktazid jetzt? Wissen wir das?"

Diesmal war es der stellvertretende Abteilungsleiter, der bedauernd den Kopf schüttelte. "Jedenfalls nicht für die gesamte Produktion von jenem Wochenende. Es gibt Ungereimtheiten in dem Programm, das den Warenausgang erfasst. Anhand von Lieferscheinen und Rückfragen bei den Speditionen konnten wir aber die meisten Empfänger im Laufe des Vormittags ermitteln. Im Moment sieht es so aus, dass die entsprechenden Chargen noch bei den Großhändlern liegen, bisher nicht an Apotheken oder Krankenhäuser ausgeliefert wurden. Unsere Außendienstmitarbeiter für Großhändler sind bereits unterwegs und tauschen die fehlerhafte Ware diskret aus, sprechen dabei von einem 'möglichen Fehler mit dem aufgedruckten Haltbarkeitsdatum, nicht wirklich erheblich, aber sicher sei sicher'. Doch selbst wenn wir alle Empfänger rekonstruieren könnten, was allerdings nicht möglich sein dürfte", der Stellvertreter holte tief Luft, "... ein Teil der fraglichen Produktion war in dem Lastwagen, der vor gut zehn Tagen in Österreich gestohlen worden ist."

Ostermann erinnerte sich dunkel. Bisher nur ein Versicherungsfall, geschehen kurz hinter der Grenze nach Tschechien. Die Verbrecher hatten ein Gas in die Führerkabine des LKW geleitet, das den schlafenden Fahrer noch tiefer schlafen ließ. Dann hatten sie ihn auf den Parkplatz geworfen und waren mit dem Lastwagen inklusive Ladung davongefahren. Immerhin hatten sie den Fahrer nicht umgebracht. Er wäre allerdings erfroren, hätte man ihn nicht durch Zufall rechtzeitig gefunden.

Selbstverständlich wusste Ostermann, was jetzt zu tun war. Eine sofortige Rückrufaktion für Baktazid, europaweit, eventuell sogar weltweit. Denn, einmal ganz abgesehen von dem gestohlenen Lastwagen, konnte er wirklich sicher sein, dass tatsächlich noch keine dieser Chargen von den Großhändlern weitergegeben worden war? Oder dass die Neopharm, angesichts der 'Ungereimtheiten' in der Datei für den Warenausgang, sämtliche betroffenen Großhändler ermitteln würde? Und selbst wenn, ob es dann nicht zu spät war?

Natürlich wäre eine Rückrufaktion ein gewaltiger Imageverlust für die Neopharm, aber nicht zu ändern. Nur: Eine Rückrufaktion war unmöglich. Denn sie wäre nicht nur ein Imageverlust, eine Rückrufaktion war auch teuer, gewaltig teuer. Allein schon der Imageverlust würde bedeuten, dass seine Verhandlung mit den Bankern eben total sinnlos gewesen wäre. Spätestens aber, wenn die Banker von den Kosten für eine Rückrufaktion erführen, würden sie das sinkende Schiff schneller verlassen als die sprichwörtlichen Ratten, nämlich mindestens so schnell wie jener Kapitän Schettino die sinkende Costa Concordia vor der Insel Giglio.

"Wer weiß bisher von dieser Sache?" fragte Ostermann.

Der Abteilungsleiter Produktion dachte kurz nach.

"Hier in der Produktion ich und mein Stellvertreter. Dann natürlich die zuständigen Leute in der Qualitätskontrolle."

"Was ist mit den Außendienstlern, die die Großhändler betreuen? Was ist mit den Leuten, die ermitteln, wohin wir bereits geliefert haben?"

"Die wissen auch nur, was wir den Großhändlern erzählen, also von dem eventuellen Fehler mit dem Haltbarkeitsdatum."

Ostermann registrierte die Blicke der beiden Abteilungsleiter. Sie schauten ihn erwartungsvoll an, ihren Chef. Und Chefs müssen Entscheidungen treffen.

"Gut gemacht", entschied er, "richtig gut. Das ist die Geschichte, bei der wir bleiben. Und Sie persönlich sind mir verantwortlich, dass sich der Kreis der Eingeweihten nicht vergrößert und dass diese Mitarbeiter strengstes Stillschweigen bewahren. Sobald es in der Sache etwas Neues gibt, werde ich sofort informiert. Persönlich. Kein Schriftverkehr, keine Emails, nichts am Telefon."

Wenigstens äußerlich um Fassung bemüht, verließ Ostermann die Produktionsabteilung. Aber er war auch ein wenig ermutigt, und stolz auf seine Mitarbeiter. Das war schon eine Menge, was die in den paar Stunden seit heute Morgen geschafft hatten. Und die Idee mit dem Verfallsdatum als cover up – geradezu genial!

4

Pharmakonzern Neopharm AG. Chefetage, 26. Stock

Für den Nachmittag hatte Ostermann den besten IT-Mann der Neopharm in sein Büro bestellt. Immerhin war es inzwischen gelungen, noch weitere Empfänger der Fehlproduktion zu ermitteln. Doch die beauftragte Spedition hatte Subunternehmer, die wiederum Subunternehmer beschäftigten, mit Vorzug aus der Ukraine oder Weißrussland. Die deutschen Autobahnen waren voll von Lastwagen mit den UA und BY Kennzeichen. Darüber hinaus hatte die Legende mit dem Fehler im Haltbarkeitsdatum, so schön sie war, einen Haken: Sie machte die Angelegenheit für die Zwischenhändler nicht besonders dringend, stellte dieser Fehler doch vorerst keine Gefahr für eventuelle Patienten dar. Nur, würden die Vertreter der Neopharm den wahren Grund für die Umtauschaktion verraten, könnte er auch gleich eine Rückrufaktion starten.

"Wie in aller Welt haben die das angestellt, unsere Produktion zu manipulieren? Wie haben diese Leute die Kontrolle über unsere Automaten bekommen?" fragte Ostermann erstaunlich gefasst. Zu dem 'wer' hatte er eine recht gute Vorstellung.

"In groben Zügen wenigstens wissen wir bereits, was gelaufen ist" antwortete der IT-Fachmann. "Das Stichwort heißt Stuxnet."

Ostermann wusste Bescheid über Stuxnet, hatte Neopharm doch seinerzeit das Problem ausführlich mit den Leuten von Siemens besprochen. Offiziell wenigstens war weiterhin unbekannt, wer damals die Uranzentrifugen im Iran dazu gebracht hatte, verrückt zu spielen. Heiße Kandidaten waren die Israelis und die Amerikaner, eventuell beide gemeinsam. Ein US-General war in diesem Zusammenhang sogar wegen Geheimnisverrat angeklagt worden.

"Das Problem ist, dass Stuxnet nicht mehr so geheim ist", fuhr der IT-Mann fort. "Mittlerweile ist das Programm für das richtige Geld über das Darknet sozusagen allgemein zugänglich. Obgleich unverändert eine hohe IT-Kompetenz dazu gehört, es richtig anzuwenden."

"Hatten uns die Siemensleute nicht versprochen, dass die Sicherheitslücken geschlossen sind?"

"Ja, hatten sie. Und sind sie auch. Aber wie heißt es so schön? 'Wo Dir eine Tür vor der Nase zugeschlagen wird, tun sich drei neue auf.' Meine Abteilung hat es nicht nur mit den üblichen Hackern zu tun. Wir kämpfen täglich gegen Chinesen, Russen, Amerikaner ... und ultraprofessionelle Teams, die sich selbständig gemacht haben und wer-weiß-wo sitzen. Da komme ich mit meinen paar Leuten nicht immer sofort hinterher."

Der IT-Mann verteidigte sich gegen einen Vorwurf, den ihm der Chef nicht gemacht hatte. Für die Suche nach einem 'Schuldigen' für die Katastrophe war Ostermann seine Zeit zu wertvoll. Die konnte man besser nutzen, die richtigen Fragen zu stellen und aus einer Niederlage vielleicht noch einen Sieg zu machen.

"Der Abteilungsleiter in der Produktion hat mir versichert, dass diese Leute die Produktionsautomaten manipuliert haben, aber nicht an die Unterlagen zu unseren Produktionsprozessen herangekommen sind. Ist das richtig?"

"Ja, das stimmt. Die haben 24 Stunden unsere Prozessroboter nach ihrer Pfeife tanzen lassen, mit einer weiterentwickelten Variante von Stuxnet. Die Unterlagen zu den Produktionsprozessen selbst liegen so gut wie unzugänglich hinter einer extrem ausgetüftelten Firewall geschützt. Für diese Firewall zahlen wir eine unglaublich hohe Lizenzgebühr - die übrigens in diesen Tagen wieder fällig ist. Aber, sie ist ihr Geld wert!"

"Unüberwindbar?" fragte Ostermann nach.

"Jedenfalls hat sie bisher standgehalten und wird ständig gepflegt und geupdated. Gerade in den letzten Wochen ist die Zahl der Angriffe fast exponentiell angestiegen."

Nachdem der IT-Spezialist sein Büro verlassen hatte, bat Ostermann seine Sekretärin, den Chefentwickler für Produktionsprozesse und Frau Doktor Bunsen, seine beste Wissenschaftlerin, zu ihm zu bitten. Dann ließ er sich mit der Buchhaltung verbinden. Dort wurde ihm bestätigt, dass die eben erwähnte Lizenzgebühr für die Firewall noch diese Woche zur Zahlung anstand.

"Wann genau?"

"Diesen Freitag", antwortete die zuständige Sachbearbeiterin.

Ostermann überlegte kurz. Vier Tage. Ja, das sollte seinem Chefentwickler und einer fähigen Frau wie Doktor Bunsen reichen.

"Ich möchte, dass wir vorerst nicht bezahlen."

Einen Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Noch nie hatte CEO Ostermann die Sachbearbeiterin angerufen.

"Sie wissen, Herr Ostermann, dass das zur sofortigen Löschung der Lizenz führt?"

Ostermann war angenehm überrascht von der Kompetenz der Mitarbeiterin.

"Ja, weiß ich. Zahlen Sie trotzdem nicht. Danke."

Die Sachbearbeiterin ging an diesem Abend mehr als besorgt nach Hause. Trotz zehntem Hochzeitstag kaufte sie, anders als geplant, den Wein zur Feier des Tages bei Aldi, die tolle französische Spitzenunterwäsche strich sie komplett. Natürlich wusste man in der Buchhaltung, dass Neopharm ums Überleben kämpfte. Und es war in der Firma allgemein bekannt, wie detailversessen Ostermann war. Es hieß, er habe die Konten aller Abteilungen kommagenau im Kopf. Aber ging es jetzt tatsächlich schon um Beträge, die, obgleich relativ hoch, die Firma sonst quasi aus der Portokasse zahlte? Peanuts höchstens, wenn auch nicht gemessen an ihrem Gehalt. Und, noch erschreckender, dass sich der CEO persönlich um solche Beträge kümmerte?

Dass die finanzielle Situation derart angespannt war, erschreckte die Buchhalterin. Hochzeitstag hin oder her, noch heute Abend würde sie ihr Profil auf Linkedin überarbeiten.

Kaum hatte Ostermann das Telefonat mit der Buchhaltung beendet, erschienen wie gewünscht Frau Doktor Bunsen und ihr für die biochemischen Produktionsprozesse verantwortliche Kollege. Ostermann erklärte den beiden Mitarbeitern kurz die Situation und was er deshalb von ihnen wünschte.

Die erinnerten sich, wie es fast ein ganzes Jahr intensivster Forschung und immer wieder gescheiterter Versuche gekostet hatte, die richtigen Syntheseschritte zu finden, bis die Firma endlich mit dem Wunderantibiotikum Baktazid in die Massenproduktion gehen konnten. Der Durchbruch war gelungen, als Doktor Bunsen schließlich den Lieblings-HiWi aller Biochemiker, E. coli, durch ein anderes Bakterium ersetzt hatte. Dieser Geistesblitz war genial und seine Genialität der Grund dafür, dass die Neopharm in Sachen Baktazid lediglich das Weltpatent für den Wirkstoff beantragt (und bekommen) hatte, nicht aber für dessen Biosynthese. Damit war – solange die teure Firewall hielt – der Produktionsprozess ein praktisch unzugängliches Geheimnis.

Die beiden Wissenschaftler stimmten ihrem Chef zu: Baktazid war ihr Baby, der Syntheseweg musste geheim bleiben! Wenn die Konkurrenz erneut in die Server der Neopharm einbrach, würde sie nun auch die Datei 'Produktionsprozess' zu dem Antibiotikum finden – allerdings mit ein paar Änderungen. Insbesondere wäre es schlau, den alten Freund E. coli wieder ins Spiel zu bringen.

Am Ende des Gesprächs hatte der Produktionsleiter jedoch eine Frage:

"Warum melden wir nicht diesen neuen Produktionsprozess zum Patent an, machen ihn damit noch leichter zugänglich?"

"Und bringen die damit zur Verzweiflung", ergänzte Doktor Bunsen.

Das hatte sich Ostermann schon überlegt.

"Eventuell würden wir uns strafbar machen, wenn wir bewusst falsche Daten zum Patient anmelden. Ich weiß das nicht genau, die Frage müssten unsere Patentanwälte prüfen. Das würde aber den Kreis der Informierten vergrößern. Und noch wichtiger: Selbstverständlich würden unsere Wettbewerber erst einmal das dann öffentlich zugängliche Rezept im eigenen Labor nachvollziehen um herauszufinden, wie sie durch ein paar Änderungen das Patent umgehen könnten. Spätestens, wenn dieser Weg bei ihnen absolut nicht funktioniert, würden die sich sicher fragen, warum wir plötzlich auch den Produktionsweg zum Patent angemeldet haben. Finden sie den aber nur dank fleißigem Hacken auf unseren Servern, werden sie an einen Fehler in ihrem Labor glauben. Umso länger, desto schwieriger wir es ihnen machen. So ticken Menschen nun einmal. Trotz der gekündigten Firewall werden sich die IT-Diebe mächtig anstrengen müssen …"

"Aber am Ende erfolgreich hacken …", kommentierte Doktor Bunsen lächelnd.

"Ja, das hoffe ich doch stark" lächelte Ostermann zurück.

5

Die Visite bei einem Alzheimer-Patienten ist in der Regel nicht schwierig. Und traurig schon einmal gar nicht. Zum Beispiel kann man ihm oder ihr jeden Tag denselben Witz erzählen. Dieser hier ist Standard unter Ärzten:

Arzt: "Tut mir leid. Ich habe heute gleich zwei schlechte Nachrichten für Sie."

Alzheimer-Patient: "Sagen Sie mir einfach die Wahrheit, Doktor. Ich kann’s vertragen."

Arzt: "Die erste ist, Sie haben Krebs. Unheilbar, keine Chance."

Alzheimer-Patient: "Und die zweite?"

Arzt: "Sie haben Alzheimer."

Alzheimer-Patient, mit Tränen in den Augen. "Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich hätte Krebs."

Herr Schubel lachte herzhaft. Fast so herzhaft, wie er gestern über diesen Witz gelacht hatte. Oder vorgestern.

Alzheimer-Patienten sind in der Regel lange Zeit nicht intellektuell beeinträchtigt, sie sind eventuell über Jahre halt nur noch schusseliger als unsereins. Herr Schubel, auf dessen Rücken ich gerade mit meinem Stethoskop zu Gange war, wirkte immer noch als Staatssekretär bei der Berliner 'Senatsverwaltung für Inneres und Sport', als wir ihn vor gut zwei Wochen stationär aufgenommen hatten mit einer Grippe, die in eine Lungenentzündung übergegangen war. In den vergangenen drei oder vier Jahren, hatte mir seine Frau erzählt, waren die Symptome immer deutlicher geworden. Sie musste ihren Mann nicht nur morgens in die Klosterstrasse chauffieren und am Abend zurück nach Hause, in den letzten Monaten brachte sie ihn bis zu seinem Büro im achten Stock und holte ihn von dort auch wieder ab. Einmal war sie in einen Stau geraten und zu spät gekommen. Nach langem Suchen hatte sie ihn schließlich in einer Boutique für Damenmoden – genauer: bei Victorias Secrets – entgegen nehmen können, von wo man sie über die in seinem Handy gespeicherte Nummer erreicht hatte. Aber seinen Posten konnte er nach wie vor zur Zufriedenheit aller ausführen. Was nicht unbedingt für die Bürde des Amtes eines Staatssekretärs im Berliner Senat spricht, wohl aber für seine treue Sekretärin, die alle Vorlagen für ihn schrieb, die er dann unterzeichnete oder in einer Besprechung verlas.

Ich war mit dem Ergebnis des Abhorchens zufrieden, keine Rasselgeräusche mehr über der Lunge. Was den Befund des Röntgenbildes von gestern bestätigte, auf das ich mich mehr verließ als auf meine Ohren. Mit dem Stethoskop dringt man maximal drei bis fünf Zentimeter unter die Haut, was tiefer sitzt, bleibt stumm. Aber ein wenig Voodoo gehört nach wie vor zum Arztberuf, wird vom Patienten erwartet. Also machte ich ein bedeutendes Gesicht, während ich das Stethoskop in die Kitteltasche zurück gleiten ließ.

"Wir sind über den Berg, Herr Schubel. Nichts Böses mehr zu hören. Ein paar Tage noch, dann können wir Sie entlassen."

Wieder ein Vorteil bei Alzheimer-Patienten: irrte ich mich, gab es einen Rückschlag, würde er mir die falsche Prognose morgen oder übermorgen nicht vorhalten. Unterm Strich betreute ich ganz gerne die privaten Alzheimers von und für Chefarzt Kleinweg. "Die merken doch sowieso nicht, ob ich sie selbst betreue oder mein Oberarzt" meinte der. "Außerdem halten Sie sich doch eh für den besseren Arzt, Hoffmann. Also ist das nur gut für die Patienten." Da hatte er recht.

Schwester Marianne machte ein paar Notizen auf ihrem Tablet, ich auf meinem. Gemeinsam wandten wir uns der Tür zu.

"Vielen Dank, Doktor Hoffmann, Schwester Marianne", verabschiedete uns Herr Schubel. "Aber morgen kommen Sie bitte mit einem neuen Witz, ja?"

Wir waren schon in der Tür, als er hinzufügte: "Übrigens, nichts gegen Sie, Herr Oberarzt. Aber habe ich nicht eigentlich Chefarztbehandlung? Professor Kleinweg?"

Vorsichtig, als wollte sie einen zarten Traum nicht zerstören, schloss Marianne die Tür. Sprachlos standen wir auf dem Flur der Privatstation.

"Was war denn das?" fragte Marianne. "Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen! Gestern noch kannte er nicht einmal den Vornamen seiner Frau. Und heute? 'Schwester Marianne', 'Doktor Hoffmann' – sogar an Professor Kleinweg kann er sich erinnern, den er seit seiner Aufnahme nicht mehr gesehen hat!"

Ich war mindestens so baff wie Marianne. Hatte tatsächlich Kleinweg die Aufnahmeuntersuchung gemacht? Sehr wahrscheinlich, denn sicher hatte Frau Schubel ihren Mann zu uns gebracht. Ebenso wahrscheinlich hatte Kleinweg sie bei dieser Gelegenheit als 'gnädige Frau' oder 'Frau Staatssekretär' angeredet und nicht gemerkt, wie peinlich ihr das war.

"Fragen Sie mal in der Küche nach, Marianne. Vielleicht probiert die Humanaklinik eine neue Sorte Kaffee aus."

Ich hatte vorerst nicht die Zeit, mehr als massiv erstaunt zu sein, hatten wir doch gerade erst mit unserer Visite bei den Privatpatienten begonnen. Und wenn die fertig war, musste ich mich noch um das arme Schwein von Assistenzarzt kümmern, das den Wochenenddienst erwischt hatte. Wir zogen das Tempo etwas an. Brav erklärte ich in jedem Zimmer auf der Privatstation, dass ich Oberarzt Hoffmann sei und an diesem Sonntag den Herrn Chefarzt verträte. Es gab auch keine wirklichen Problemfälle, und ich konnte mich an die Regel von Kleinwegs Vorgänger und Fußballfan Kindel halten: Keine Experimente, und schon gar nicht am Wochenende. "Den Ball schön in den eigenen Reihen halten und im Zweifel lieber mal einen Rückpass." Mit dieser Maxime waren wir relativ flott durch mit den Privaten. Marianne konnte sich damit beschäftigen, die paar meiner Anordnungen umzusetzen, und ich machte mich auf die Suche nach dem Diensthabenden für die Innere Abteilung. Wenigstens die Problemfälle auf der Kassenstation haben das Recht, auch am Sonntag wenigstens den Oberarzt zu sehen.

Ich fand den diensthabenden Assistenzarzt bei Frau Falkenberg. Diese Patientin, sie war Freitag am späten Nachmittag aufgenommen worden, hatte sich, wie der Staatssekretär, ebenfalls ein Bakterium eingefangen. Genauer gesagt, Millionen davon. Eine riesige Armee von Staphylokokken bevölkerte ihren Körper, und trotz Computer- und Kernspintomogramm wussten wir noch nicht, von wo aus sich diese Armee in Marsch gesetzt hatte, kannten nicht den Ort der Primärinfektion. Was immer schlecht ist.

"Knapp über 39 Grad, Puls 114. Blutdruck noch tolerabel" informierte mich der junge Kollege.

"Wie fühlen Sie sich, Frau Falkenberg?"

Sie schaute mich freundlich an. "Schlapp. Ein wenig warm ist mir."

Da ich auf Nummer sicher gehen wollte und die Austestung eines Antibiotikums auf individuelle Wirksamkeit einen Tag dauert, hatte ich bei der Patientin Baktazid, die neue Wunderwaffe der Neopharm, angesetzt, die laut klinischen Studien mit fast jedem Bakterium fertig wird. Inzwischen lag das Testergebnis vor, die Erreger, die wir bei Frau von Falkenberg besiegen wollten, hatten sich tatsächlich als empfindlich auf Baktazid erwiesen.

"Ich denke, wir sollten umsetzen. Staphylex würde laut Testung auch wirken", schlug der junge Kollege vor.

Ich machte ihm keinen Vorwurf. In seinem Alter war ich bestimmt genauso ungeduldig.

"Ein wenig früh, die Flinte ins Korn zu werfen", meinte ich. "Das Baktazid läuft erst ein wenig über 24 Stunden. Einen weiteren Tag sollten wir noch abwarten. Das Zeug ist wirklich ein Wundermittel. Einverstanden?"

Der Kollege sagte nichts. Es war ihm anzusehen, dass er nicht einverstanden war. Die Frau hatte immer noch hohes Fieber, außerdem war Baktazid mehr als fünfmal so teuer wie Staphylex. Andererseits war ich der Oberarzt und er damit aus der Verantwortung.

"Alles Gute, Frau Falkenberg. Die Kollegen behalten Sie im Auge, und ich schaue gleich morgen früh wieder nach Ihnen."

Die Augen voller Vertrauen nickte die Patientin. Der Herr Oberarzt würde es ja wohl am besten wissen.

6

Sonntag heißt Dinner mit Celine bei mir, das bedeutet ich wirble in meiner Hitec-Küche und Celine schaut mir dabei zu. Das hat sich so eingespielt im Laufe der Jahre. Am Beginn unserer Beziehung hatte sich schnell herausgestellt, dass, bei all ihren unbestreitbaren Talenten, Kochen nicht zu ihren Kernkompetenzen gehört. Also war ich für das Dinner am Sonntag Abend zuständig. Celine, das war offensichtlich, kann mit dieser Reglung gut leben, fühlt sich nicht beeinträchtigt 'als Frau'. Manchmal kommen mir Zweifel, ob ihre Kochkünste wirklich so begrenzt sind. Denn Celine ist nicht nur überaus intelligent, sie ist auch ziemlich schlau.

Man kann natürlich fragen, ob dieses Dinner überhaupt stattgefunden hat, hatten wir doch kein Photo vom Ergebnis meiner Küchenarbeit für den Rest der Welt auf facebook gepostet. Aber so satt und zufrieden Celine jetzt auf meiner Couch lag und sich von mir die schlanken Unterschenkel massieren ließ, während sie auf dem Tablet ihre Unterrichtsstunden für morgen vorbereitete, war kaum Raum für Zweifel.

"Was liest Du’n da?" fragte sie. Für ihre Unterschenkelmassage konnte ich nur mit einer Hand dienen, die andere brauchte ich zum Blättern in der Internet-Ausgabe von Medscape, dem elektronischen Nachschlagewerk für Forschungsergebnisse aus der Medizin.

"Über Wunderheilungen."

Man weiß ziemlich viel über Alzheimer, und mit jährlich über 1000 wissenschaftlichen Publikationen zum Thema fast täglich mehr. Trotzdem wissen wir nichts Definitives über die Ursache. Sind es tatsächlich die sogenannten Plaques im Gehirn, atypisch geformte Eiweiße, die für die Erkrankung beweisend sind? Warum findet man die dann auch bei Leuten mit unbeeinträchtigtem Erinnerungsvermögen bis ins hohe Alter? Handelt es sich um einen Entzündungsvorgang, den man eventuell mit einer Impfung verhindern oder sogar rückgängig machen kann? Dafür spricht, dass man bei Betroffenen Entzündungszellen, sogenannte Mikroglia, nachgewiesen hat. Eine internationale Impfstudie hat allerdings bei 15 der über dreihundert Teilnehmer zu einer gefährlichen Hirn- und Hirnhautentzündung geführt.

Wir wissen auch nicht, wie man die Diagnose Alzheimer zu Lebzeiten des Betroffenen eindeutig sichert. Und was wir leider erst recht nicht wissen: ob und gegebenenfalls wie man Alzheimer eventuell heilen kann.

Ich verließ Medscape und versuchte mein Glück bei den Freunden von der alternativen Medizinszene. Im Grunde, informierten mich die entsprechenden Sites auf meinem Tablet, das ich auf Celines sexy Hintern platziert hatte, lag die Wissenschaft wieder einmal voll daneben. Ursächlich für Alzheimer seien die üblichen Verdächtigen: die hohe toxische Belastungen durch unsere industriell erzeugten Lebensmittel, das Aluminium in Hautcremen, der Elektrosmog aus Überlandleitungen und Handyverkehr. In einigen Jahren werde sicher auch die Impfung junger Menschen gegen das Cervix-Karzinom mit auf der Liste erscheinen, wenn die dann alt genug für Alzheimer sind. Und die Heilung sei nicht nur ganz leicht sondern auch billig: Grüner Tee, Alpha-Liponsäure (also reichlich Spinat und Broccoli auf den Tisch!), die Blätter des Ginkgobaums. Macht Sinn - meines Wissens wurde bei einem Ginkgobaum noch nie Alzheimer diagnostiziert.

Aber, dumme Frage von mir: wie viel Elektrosmog und industriell erzeugte Lebensmittel gab es, als Alois Alzheimer 1906 die Krankheit erstmals beschrieb? Seit wann wird Hautcremes Aluminium beigemischt?

Jedenfalls, las ich weiter, das Problem sei einzig, dass wir bescheuerten Ärzte diese Erkenntnisse nicht nutzten. Warum nicht? Weil wir eben bescheuert sind, und außerdem ignorante und geldgierige Lakaien der Pharmaindustrie.

Was ich angesichts von Staatssekretär Schubel dringend wissen wollte: Gab es Berichte über Spontanheilungen? Nein, jedenfalls keine glaubwürdigen.

Ich klappte mein Tablet zu, Celine war inzwischen auch für einen weiteren Tag Unterricht für unsere zukünftigen Rentenzahler gerüstet und machte sich auf den Weg nach Hause, keine fünf Minuten zu Fuß. Das Dinner war zu ausführlich für Sonntagabend Sex gewesen. Ich schlief auch so gut ein.

7

Am Montag schwänzte ich die Morgenkonferenz und besuchte gleich Herrn Schubel, den Staatssekretär mit der loyalen Sekretärin.

"Guten Morgen Doktor Hoffmann! Schön Sie zu sehen."

Kaum zu glauben, aber sein Alzheimer war unverändert verschwunden. Er kannte mich und er kannte weiterhin auch Schwester Marianne. Ich fragte ihn nach seinem Geburtsdatum – das stimmte. Dann nach seiner Adresse und dem Vornamen seiner Frau – stimmte auch.

"Ja, ich kann es selbst nicht glauben. Es ist unfassbar! Sie haben keine Vorstellung, wie sehr ich unter meinem schlechten Gedächtnis gelitten habe!"

Schlechtes Gedächtnis war definitiv die Untertreibung des Jahres. Was mag es bedeuten, die eigene Frau, die Kinder, die Freunde, nicht mehr zu erkennen?

Schubel standen Tränen in den Augen. "Was haben Sie mir da für ein Wundermittel verabreicht?"

"Keine Ahnung, Herr Schubel. Ich weiß nicht, wie das gekommen ist."

"Nun kommen sie schon, Doktor Hoffmann. Es hat doch geklappt! Eine ungenehmigte Experimentaldroge, ohne mich zu fragen? Hätten Sie ruhig machen können. Hätte es nicht funktioniert, ich hätte mich ja eh nicht erinnert!"

Es war toll, mit Schubel über den überwundenen Zustand lachen zu können. Würde sein Glück anhalten? Bisher wenigstens machte er sich dazu keine Gedanken, strahlte mich weiter an.

"Sie können es mir ruhig sagen - Sie wissen doch, ich kann prima vergessen."

"Wirklich, ich habe keine Ahnung. Es gibt keine Experimentaldroge."

Er glaubte mir kein Wort, lachte und griff nach meinen Händen.

"Ich verstehe. Keine Experimentaldroge, natürlich nicht. Wäre ja unethisch. Trotzdem, ich werde Sie für den Nobelpreis vorschlagen!"

Das konnte er sicher nicht. Aber vielleicht als einen der Ehrenbürger von Berlin? Da kann man lebenslang die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos nutzen, glaube ich. Immerhin!

Weniger aus medizinischer Notwendigkeit, sondern um von dem Thema wegzukommen, hörte ich erneut Schubels Lunge ab.

"Bitte tief einatmen – und aus!"

Ich machte ein zufriedenes Gesicht.

"Sicher wird Professor Kleinweg nachher noch vorbeikommen. Aber ich denke, er wird zustimmen, dass Sie morgen nach Hause gehen."

"Professor Kleinweg? Dem können Sie ausrichten, dass Sie mein behandelnder Arzt sind. Jetzt und in Zukunft."

Als Staatssekretär brauchte er mich wohl nicht zu fragen, ob ich damit einverstanden war. Chefarzt Kleinweg jedenfalls war es sicher nicht. Ich murmelte etwas Unverständliches und verabschiedete mich.

"Moment noch, Doktor Hoffmann. Einen sind Sie mir noch schuldig!"

"Einen was?"

"Haben Sie jetzt auch schon Alzheimer? Den Witz, natürlich. Und kommen Sie mir nicht mit den zwei schlechten Nachrichten!"

Ja, einen hatte ich noch:

"Herr Doktor, es ist furchtbar. Ich verliere langsam das Gedächtnis!"

"Seit wann?"

"Seit wann was?"

Schubels Lachen begleitete mich noch auf dem Weg zur Allgemeinstation. Ein selten guter Beginn für einen Kliniktag. Klar, dass es so nicht weitergehen konnte.

Das Beste, das man heute über Frau Falkenberg sagen konnte, war, dass ihr Zustand weitgehend unverändert war: Anhaltend hohes Fieber, anhaltend hoher Puls. Aber kein höheres Fieber und kein höherer Puls als gestern, Blutdruck mit knapp 100 systolisch immer noch tolerabel. Gemessen an der Schwere der Infektion ging es der Patientin erstaunlich gut. Keine eingefallenen Wangen, keine spitz hervorstehende Nase. Wache Augen. Begann das Antibiotikum doch langsam zu wirken? Die objektiven Werte schienen eher dagegen zu sprechen.

"Gefällt mir gar nicht, die Frau."

Stationsarzt Krämer sprach, als wäre Frau Falkenberg nicht anwesend. "Wir sollten umsetzen, auf Staphylex, "hätte man schon gestern machen sollen."

Natürlich wusste er, dass ich gestern die Patientin gesehen und wie ich entschieden hatte.

Ich mag Krämer nicht besonders. Er hat ein ziemlich gutes medizinisches Wissen, seine Einschätzung ist häufig richtig, seine Vorgehensweise in der Regel gut begründet. Aber seine nassforsche Art geht mir gewaltig gegen den Strich. Außerdem ist er ein furchtbarer Besserwisser und gelegentlich ein wenig zu schnell in seinen Entscheidungen, zu sicher in seinen Sofortdiagnosen. Am meisten stört mich, dass er, wenn ihm ein Patient stirbt, von einem 'undankbaren Patienten' spricht. Fast ebenso sein aufdringliches Herrenparfüm. Was meiner Abneigung die Krone aufsetzt: dass Celine nach der Klinikweihnachtsfeier letztes Jahr meinte, Krämer sei doch 'ganz nett.'

"Sie meinen, Frau Falkenberg ist resistent auf Baktazid?"

"Na das liegt doch wohl auf der Hand."

Nun ist, seitdem die Kollegen Haus- und Tierärzte - zugegeben, auch wir in den Krankenhäusern - seit Jahren Antibiotika tonnenweise an Mensch und Tier verfüttern, die zunehmende Unempfindlichkeit gegen diese einstige medizinische Wunderwaffe nicht besonders verwunderlich, viele Bakterien schmieren sich mit dem Zeug inzwischen offenbar ihre Frühstücksbrötchen. Aber Baktazid ist eine ziemlich neue Entwicklung von Neopharm, niemand hat bisher Resistenzen beobachtet. Und außerdem hatte unsere Mikrobiologie bestätigt, dass die Erreger bei Frau Falkenberg damit zuverlässig abgetötet werden.

Es ging also um klinischen Eindruck versus anhaltendem Fieber. Das Antibiotikum wechseln oder noch zuwarten? Ein Grenzfall. Welche Entscheidung richtig war, würde erst die Zukunft zeigen.

"Ich denke, wir können noch zuwarten", sagte ich. "Der klinische Zustand hat sich nicht verschlechtert und Frau Falkenberg ist zäh. Sind Sie doch, nicht wahr?"

Frau Falkenberg schaute mich an, offenbar selbst nicht wirklich von ihrer Zähigkeit überzeugt. Aber ich hatte mich entschieden. "Es bleibt vorerst bei Baktazid."

"Aber…" setzte Krämer an, als ich ihm das Wort abschnitt: "Alles weitere ante portas."

'Ante portas' bedeutet 'vor der Tür', also nicht am Patientenbett. Es stärkt nicht unbedingt das Vertrauen des Patienten, Meinungsverschiedenheiten über die richtige Behandlung vor ihm oder ihr auszutragen.

Vor der Tür also maulte Krämer weiter.

"Sie sagen doch selbst immer, lieber auf das Bewährte setzen. Außerdem ist Staphylex billiger."

Beides stimmte. Nicht immer halten die mit großem Werbeaufwand auf den Markt gebrachten 'revolutionären Durchbrüche' die von der Pharmaindustrie gemachten Versprechen, und manchmal müssen sie wegen unerwünschter Nebenwirkungen bald wieder vom Markt genommen werden.

"Richtig. Aber Baktazid hat sich bewährt. In vielen Fällen bei Patienten, bei denen sonst kein Antibiotikum mehr wirkte. Natürlich", ich versuchte, ein wenig einzulenken, "haben Sie mit dem Preisargument recht. Teurer bedeutet nicht unbedingt besser."

Trotzdem dürfte Krämerjetzt erst recht überzeugt sein, der bessere Arzt als sein direkter Vorgesetzter zu sein. Daraus machte ich ihm keinen Vorwurf, schließlich ging es mir mit Professor Kleinweg ebenso. Aber ich hatte auch kein besonders schlechtes Gewissen wegen meiner Abneigung gegenüber Krämer. Denn die beruhte auf Gegenseitigkeit. Krämerwar sicher der Schüler gewesen, der immer zwei Seiten mehr Schulaufsatz schrieb, als der Lehrer vorgegeben hatte.

Vor dem nächsten Zimmer wuschen wir uns die Hände mit Alkohol. Hätte ich mich Krämers Meinung anschließen sollen? Für einen Moment kam mir Pontius Pilatus in den Sinn, wie er seine Hände in Unschuld gewaschen hat.

Zum Mittagessen in der Kantine traf ich auf Professor Kleinweg in der Schlange an der Essensausgabe.

"Na Sie Wunderheiler! Was haben Sie denn unserem Herrn Staatssekretär unters Essen gemischt?"

"Wenn ich's wüsste, Herr Kleinweg, würde ich's mir patentieren lassen."

"Also stimmte unsere Diagnose Alzheimer offenbar nicht." Kleinweg entschied sich für die Spaghetti mit Tomatensoße und einen Salat. "Na jedenfalls schönen Dank Hoffmann. Jetzt muss ich auch noch selbst zu dem Mann stiefeln."

"Sie brauchen ihn nur noch zu entlassen. Die Lunge ist sauber, alles gut."

Sollte Schubel ihm doch selbst erzählen, wer sein neuer Leibarzt werden sollte. Warum musste ich der Überbringer schlechter Nachrichten sein?

Die Schlange hatte sich weiter bewegt, ich schaufelte mir auch die zerkochten Spaghetti auf den Teller.

"Ja", meinte Kleinweg, "ich werden den Staatssekretär sehr schnell entlassen, bevor sich seine Wunderheilung herumspricht. Sonst drängeln sich in den nächsten Tagen nur noch Alzheimers bei uns."

Gute Idee, schien mir. Es blieben mir auch so noch ein paar private Alzheimers, die ich für den Chef betreuen durfte. In einer immer älter werdenden Bevölkerung gab es mehr als genug Betroffene.

Während wir beide brav unsere Spaghetti genossen, informierte ich Kleinweg über seine anderen Privatpatienten, die ich am Sonntag gesehen hatte, und natürlich sprachen wir auch über einige Problempatienten auf der Allgemeinstation. Mit Frau Falkenberg belästigte ich ihn nicht. Wahrscheinlich hätte auch Kleinweg für den Wechsel des Antibiotikums plädiert.

Ich war erst halb mit den Spaghetti durch, als mir zunehmend Zweifel an meiner Entscheidung kamen. Wenn nun das Mikrobiologielabor bei der Resistenzprüfung einen Fehler gemacht hatte? Eine mit ihrem Smartphone beschäftigte MTA zum Beispiel die Proben vertauscht hat? Ich sah, dass Krämer noch mit seinem Mittagessen beschäftigt war. Das gab mir etwas Zeit.

"Entschuldigen Sie mich bitte, Herr Kleinweg, mir ist gerade etwas Wichtiges eingefallen."

Auf Station war eine Schwester gerade dabei, Frau Falkenberg eine neue Baktazid-Infusion anzuhängen. Der ideale Zeitpunkt, vorher noch einmal Blut abzunehmen und es gleich selbst ins Mikrobiologielabor zu bringen.

"Falkenberg? Haben wir doch gerade erst getestet" – der Kollege im Mikrobiologielabor befragte seinen Computer – "am Freitag. Staphylokokken. Sensibel auf Staphylex und Baktazid."

"Weiß ich. Nun hätte ich gerne, dass ihr es noch einmal testet."

"Was soll das? Neue Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen?" Demonstrativ drehte der Mikrobiologe den Monitor in meine Richtung. "Sehen Sie hier: Falkenberg, Anna. Aufnahmestation."

"Und nun liegt Anna bei uns. Station III b."

"Also fürchten Sie, der Transport vom Erdgeschoss in den dritten Stock hat die Tierchen resistent gemacht?"

Mein Gott, noch ein Klugscheißer!

"Nein, aber sie bekommt das Baktazid seit Freitag Abend, da haben wir auf Verdacht gleich damit angefangen. Und trotzdem hat die Patientin immer noch hohe Temperaturen. Ich möchte nur sicher gehen."

Der Laborarzt hob die Schultern und entschied, dass weiter mit mir zu diskutieren mehr Zeit und Nerven kosten würde als eine neue Kultur anzusetzen.

"Na schön, vielleicht bekomme ich sie noch ins Programm. Aber Ihre Blutprobe können Sie gleich wieder mitnehmen. Das Serum vom Freitag haben wir noch hier, streng nach Vorschrift."

Ich bedankte mich und zuckelte wieder ab mit meiner Blutprobe. Würde der Kollege wirklich einen neuen Test laufen lassen? Oder was wäre, wenn sie das Serum am Freitag schon vor dem Test verwechselt hatten? Auf Station warf ich meine neue Blutprobe von Frau Falkenberg in die Zentrifuge und fror das Serum dann ein. Sicher ist sicher.

Aber die Sache nagte weiter an mir. Hätte ich auf Krämer hören und umsetzen sollen? Hatte ich wirklich rational entschieden und nicht aus Abneigung gegen ihn? Hätte ich das Antibiotikum gewechselt, wenn Krämer für Zuwarten plädiert hätte?

8

Pharmakonzern Pharmodynamics GmbH. Chefetage, 12. Stock

"Und? Wird das Konsortium frisches Geld für die Neopharm locker machen?"

CEO Westfahl von Pharmodynamics beobachtete, wie Banker Otto Herrmann, der Dicke von der Südbank, auf seinem Sessel ein wenig hin und her rutschte. Im Grunde waren Westfahl Spitzel suspekt, geradezu unangenehm. Als müsse man sich nach einem Gespräch mit ihnen die Hände waschen. Aber vorerst brauchte er den Dicken noch. Es wurde Zeit, dass Konkurrent Neopharm von der Bildfläche verschwand. Das hatte er nicht nur den Chinesen versprochen, das war ihm sozusagen eine Herzensangelegenheit geworden. Die Chinesen hatten schon viel Geld in die Sache gepumpt, aber unbegrenzt waren selbst deren Mittel nicht. Vielleicht wäre es doch beste Lösung, den Aktienkurs von Neopharm abrutschen zu lassen. Zumal, umso billiger er die Neopharm einkaufen konnte, desto höher würde sein Bonus sein.

Und Westfahl wollte einen wirklich hohen Bonus. Für ihn immer das größte Stück von der Torte, so hatte er es schon bei seinen Kindergeburtstagen gehalten.

Deshalb saß er hier und ertrug den schwitzenden Otto Herrmann.

Westfahl war nicht dumm, er wusste genau, warum ihm der Dicke von der Südbank so unsympathisch war. Nicht wirklich wegen seines doppelten Spiels, wenigstens nicht hauptsächlich deshalb. Der Dicke war ihm unsympathisch, weil er fast eine Replik seiner selbst war: zu dicker Bauch, zu kurze Beine, zu aktive Schweißdrüsen. Es macht keinen Spaß, in das Spiegelbild seiner eigenen Unzulänglichkeiten zu blicken. Insbesondere, wenn man zu dick, zu kurz und zu schweißig ist!

"Also was ist, Herrmann? Bekommt Neopharm das Geld von euch Bankstern?"

"Neopharm wird das Geld bekommen. Das war der einmütige Beschluss nach unserer Sitzung mit Ostermann. Ich habe zwar Bedenken geäußert, aber allzu offensichtlich konnte ich natürlich nicht agieren."

CEO Westfahl von Pharmodynamics nickte. Die Insiderinformationen von Otto Herrmann würde es ihm erleichtern, Neopharm zu schlucken. Es wäre mehr als unangenehm, würde dessen Doppelrolle in diesem Spiel entdeckt.

"Wie viel will Ostermann haben?" fragte er den Banker.

"400 Millionen Euro. Von jedem von uns."

"Das ist ne Menge Holz!“

"Genau das waren die Worte von Schmitthauer. Aber er habe die Sache durchgerechnet, das Risiko wäre überschaubar, denn im Moment macht Neopharm wirklich Kasse. Mit ihrem Baktazid sind sie konkurrenzlos."

Wieder konnte Westfahl nur nicken. Noch immer war es seinen hoch bezahlten Leuten nicht gelungen, etwas Ähnliches zu entwickeln. Das galt leider auch für Amatis, den zweiten Verkaufsschlager von Neopharm. Aber auf die eine oder andere Weise würde sich das bald ändern, dafür sorgte er gerade.

"Was ist mit einem weißen Ritter?

"Ostermann wäre dumm, sich nicht gleichzeitig nach einem weißen Ritter umzuschauen, nicht wahr?" Otto Herrmann hob bedauernd die Schultern. "Aber er selbst hat nichts dazu verlauten lassen, und ich habe auch sonst nichts in der Richtung gehört."

Für heute hatte Westfahl genug über seinen Übernahmekandidaten erfahren. Wichtig war eigentlich nur die Zahl: 400 Millionen Euro. Mal drei. Diskret aber deutlich genug konsultierte er seine Rolex - mit dem gewünschten Effekt.

"Familie?" fragte Herrmann.

"Tja, leider. Fluch und Segen zugleich. Ich habe meiner Frau versprochen, heute Abend mal pünktlich zu sein."

Dafür hatte Herrmann, dieser Spießer, natürlich Verständnis, dachte Westfahl bei sich. Wahrscheinlich redete der seine Frau mit 'Mutti' an und Mutti hielt zu Hause bereits das Essen für ihn warm.

Herrmann versprach, ihn weiter auf dem Laufenden zu halten, verabschiedete sich und war endlich verschwunden. Westfahl beobachtete noch, wie er auf dem Parkplatz von Pharmodynamics in seinen Wagen stieg, einen tonnenschweren SUV selbstverständlich. Vierradantrieb, verstellbarer Bodenabstand, mehrere Rückwärtsgänge. Genau, was man auf Berlins Straßen unbedingt brauchte. Und man saß trotz kurzer Beine so schön über dem übrigen Verkehr!

Als die Rücklichter von Herrmanns Wagen in der Dunkelheit verschwunden waren, zündete sich Westfahl eine von seinen 30 Euro Havannas an. Die waren zu schade, um sie mit dem Spießer zu teilen. Außerdem sollten die Havannas ihm beim Denken helfen, nicht beim Anzapfen eines Informanten.

Genüsslich nahm er den ersten Zug und lehnte sich zurück. Natürlich macht die Übernahme von Neopharm wirtschaftlich Sinn. Ein Konkurrent wäre vom Markt, und mit Baktazid und Amatis hätte dann er zwei Marktrenner im Körbchen, von denen seine Leute bisher nicht in der Lage gewesen waren, gute Kopien zu entwickeln. Schon deshalb würde Pharmodynamics mit der Einverleibung von Neopharm Geld verdienen und Entwicklungskosten sparen, ein nicht zu verachtender Effekt, mit dem er seine Pläne den Chinesen schmackhaft gemacht hatte. Wenn man denen mehr Gewinn in Aussicht stellte, war die Sache so gut wie gelaufen. Wie rasant waren aus strammen Kommunisten in Mao-Schlafanzügen knallharte Kapitalisten geworden!

Auch sein Einkommen würde natürlich kräftig steigen, hauptsächlich über die Boni. Aber für Westfahl war das Geld nur ein Teilaspekt, eine erwünschte Nebenwirkung sozusagen. Ihm ging es um das Spiel an sich - er würde Ostermann, diesen Jungstar mit seiner schicken Fernsehfrau und ihren Homestories in den einschlägigen Hochglanzmagazinen, austricksen. Das war ein Schachspiel, Züge planen, den Gegenzug voraussehen. Nein, das war mehr als ein Schachspiel, es war ein richtiger Krieg. Deshalb spricht man ja auch von einer Übernahmeschlacht. Bei einer Übernahmeschlacht gibt es kein Remis, es gibt nur den Sieger und den Besiegten.

Er wusste nicht genau, welche Interessen Otto Herrmann mit seinem doppeltem Spiel bei diesem Übernahmepoker verfolgte. Hielt sein Haus Call Optionen auf Neopharm? Oder Put Optionen? Rechnete man bei der Südbank mit einem Kursanstieg, sobald die Übernahmeschlacht bekannt würde, oder mit einem Abrutsch, würden Schwierigkeiten mit gewissen Medikamenten der Firma durchsickern? Wusste der Dicke etwa von diesen Schwierigkeiten? Pokerte der Gute auf eigene Rechnung und blieb dabei immer schön unterhalb des Radars der Aufsichtsbehörden? Oder hoffte er einfach, vom unterbesetzten Bundesamt für Finanzdienstleistungsaufsicht nicht beim Insidertrading erwischt zu werden? War es etwas Persönliches gegen Ostermann? Was auch immer die Motivation, es war wunderbar, mit Otto Herrmann einen Trojaner bei Neopharm zu haben. Ja, so ein Übernahmepoker war fast besser als Sex!

Wobei ihm einfiel, dass er sich heute guten Sex redlich verdient hatte. Seine Sekretärin hatte sich schon vor gut einer Stunde in den Feierabend verabschiedet, nicht ohne Westfahl vorher zu erinnern, dass er seiner Frau für heute Abend ein gemeinsames Dinner in diesem neuen Edelrestaurant versprochen hatte. Westfahl fischte sein iPhone vom Schreibtisch und aktivierte die Nummer 'Zuhause'.

"Bei Westfahl."

"Ja Schatz, ich bin's. Es tut mir leid, aber wir müssen das mit dem Restaurant verschieben. Da ist etwas sehr dringendes dazwischen gekommen, um das ich mich kümmern muss."

Er hörte kaum zu, wie seine Frau sich beklagte, wiederholte, wie leid es ihm täte und wie dringend diese Sache sei. Dann beendete er mit einem Tastendruck das Gespräch und drückte eine ebenfalls gespeicherte Nummer. Die Sache war wirklich dringend, das spürte er in der entsprechenden Region, und unter dieser ungelisteten Telefonnummer verstand man wenigstens, dass selbst die hübscheste 18-Jährige kein Frischfleisch mehr war, ganz zu schweigen von seiner Frau. Er hatte es gerne deutlich jünger, und diese Leute konnten entsprechendes Frischfleisch auch kurzfristig liefern.

Westfahl duschte im Badezimmer neben seinem Büro, dann warf er sich schon einmal eine von den kleinen blauen Pillen ein. Auch wieder so ein Renner, der nicht aus seiner Firma kam. Aber das sollte ihm den weiteren Abend nicht vermiesen.

9

Zwei mal hintereinander durfte ich die Morgenkonferenz nicht schwänzen, das würde sich rächen. Denn im Kern ist die tägliche Morgenkonferenz ein Patientenbasar: Passt man nicht auf oder glänzt durch Abwesenheit, bekommt die eigene Station die undankbaren Neuaufnahmen angedreht, das heißt die aussichtslosen Fälle und die pflege- und kostenintensiven. Das galt auch für Verlegungen innerhalb des Hauses, zum Beispiel von den Chirurgen zu uns auf die Innere ("Patient ist erfolgreich operiert, der Rest sind internistische Probleme. Und wir brauchen die Betten"). Die meisten Versuche dieser Art konnte ich heute abwehren.

Gleich nach der Konferenz wollte ich wegen Frau Falkenberg zum Mikrobiologielabor, aber Professor Kleinweg zog mich zur Seite.

"Der Schubel, der Herr Staatssekretär, da haben Sie mir ja was eingebrockt! Er meint, Sie seien ganz offenbar der bessere Arzt, Sie sollten Chefarzt der Inneren sein!"

Innerlich musste ich grinsen, aber ich setzte ein ernstes Gesicht auf. "Ach ja?" Ich gab den Anschein, meine Chancen auf den Chefarztposten zu erwägen. "Durchaus vorstellbar, dass er das bei seinem Staatssekretärskumpel für Gesundheit durchbekommt."

Kleinweg schaute mich konsterniert an, ich befreite das innerliche Grinsen nach außen.

"Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Kleinweg. Erstens ist die Humanaklinik ja längst nicht mehr in öffentlichem Besitz. Aber wichtiger: Ich will ihren Job nicht."

Wollte ich wirklich nicht. Ich bin vielleicht tatsächlich der bessere Arzt, aber Kleinweg eindeutig der geeignetere Chefarzt.

Danach eilte ich zu den Mikrobiologen. Hier war man beim gemütlichen Frühstückskaffe. Ihre Arbeit würde erst eintrudeln, wenn auf den Stationen die morgendlichen Blutentnahmen gelaufen waren.

"Und?"

Sichtlich gestört schaute der Kollege von seiner Tageszeitung auf.

"Ach ja, Frau Falkenberg, die Zweite! Kommen Sie mit, ich zeig es Ihnen. Damit Sie uns endlich glauben."

Er führte mich in den Raum mit den Brutschränken, in denen bei angenehmen 37 Grad Celsius Millionen von Mikroben auf irgendeinem Nährmedium ihr Leben gegen ein Antibiotikum zu verteidigen suchten.

"Sehen Sie hier: Falkenberg, Staphylex. Keine Überlebenden."

"Und Baktazid?"

"Ebenso, hier: Keine Überlebenden. Alles wie gehabt."

Er hatte recht. Auf dem roten Agar, dem Nährmedium, lag in der Mitte ein kleines Plättchen mit Baktazid – und rundherum kein Bakterienrasen. Auf den Kontrollen ohne Antibiotikum hingegen tobte das Mikrobenleben.

Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Aber meine Erleichterung währte nur kurz, nämlich genau die vier Minuten, die ich bis zum Zimmer von Frau Falkenberg brauchte. Die Augen matt, die Wangen eingefallen, die Nase prominent wegen der ebenfalls eingefallenen Nasenflügel, nahm sie mich kaum wahr. Ich verzichtete auf die Kontrolle von Temperatur und Blutdruck, der flache, rasende Puls sagte alles. Ich kontrollierte die gerade laufende Infusion: Baktazid stand da in großen Buchstaben – daran konnte der Fehler nicht liegen. Wütend, hauptsächlich über mich selbst, stöpselte ich die von ihrer Erfolglosigkeit unbeeindruckt vor sich hin tröpfelnde Infusion ab und warf sie in den Mülleimer. In dem Moment öffnete sich die Tür, Stationsarzt Krämer erschien mit einer fertig vorbereiteten Dosis Staphylex. Wortlos schlossen wir die gemeinsam an.

"Es tut mir leid, besonders für die Patientin. Sie hatten recht und ich hatte unrecht. Aber ich habe keine Ahnung, was hier falsch gelaufen ist. Die Mikros haben noch einmal getestet: keine Spur von Resistenz. Ich habe die Platte eben selbst gesehen."

Krämer hob die Schultern. Vielleicht war es ihm gar nicht so unrecht, dass der Oberarzt so gründlich daneben gelegen hatte.

"Hoffen wir, dass es noch nicht zu spät war."

Im Schwesternzimmer war die Stimmung auch nicht allzu gut. Weniger wegen Frau Falkenberg als angesichts der Tatsache, dass die heute fällige Oberarztvisite immer noch nicht begonnen hatte. Zu Recht mögen es die Schwestern nicht, wenn ihr Zeitplan durcheinander gebracht wird. Es gelang mir, die Stimmung weiter zu drücken. Ich wandte mich an Stationsschwester Heide.

"Sind Sie sicher, dass Frau Falkenberg tatsächlich alle sechs Stunden ihre Infusion bekommen hat?"

Pikiertes Schweigen, stumm wies Heide auf die digitale Patientenakte. Natürlich, laut der Akte hatte die Patientin ihre Baktazidinfusion pünktlich alle sechs Stunden bekommen. Früher hieß es, Papier sei geduldig. Im Zeitalter der digitalen Patientenakte musste man das wohl etwas umformulieren. Aber ich sagte nichts in der Richtung. Schon meine Frage hatten die Schwester für sich interpretiert: Hoffmann hat Mist gebaut, jetzt sucht er Schuldige. Denn sicher hatte sich Krämer bereits hinreichend über den Oberarzt beschwert, der gestern nicht auf Staphylex umsetzen wollte.

Viel erfreulicher lief auch der Rest des Tages nicht. Und als ich am Abend noch einmal nach Frau Falkenberg sehen wollte, fand ich ein leeres Bett. Panik erfasste mich.

"Wo ist die Patientin Falkenberg?"

"Die hat Doktor Krämer auf Intensiv verlegt."

Kein gutes Zeichen. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Ich holte die gestern von mir selbst gezogene und zentrifugierte Blutprobe aus dem Tiefkühler und wusste genau, was ich mit ihr anstellen würde.

10

Es war bereits dunkel, als ich meinen betagten Golf vor Michaels Haus abschloss. Einer der Vorzüge einer Villa im Ortsteil Wannsee: man braucht nicht nach einem Parkplatz zu suchen. Man sollte allerdings ein paar Euro auf der Bank haben, wenn man sich hier für eine Villa interessierte.

Die hatte mein Freund Michael, sowohl die Villa wie auch die Euro - allerdings nicht in den Tagen, als er noch Laborarzt in der Humanaklinik war. Jetzt betrieb er im Erdgeschoss dieses Hauses ein privates medizinisches Labor für Untersuchungen, die für ein einzelnes Kliniklabor nicht wirtschaftlich waren, wohl aber, wenn man sie für alle Krankenhäuser in Berlin und Umgebung parallel laufen lassen konnte. Auf den knapp 300 Quadratmetern in den beiden Geschossen darüber wohnte Michael – bis auf die Tage der Steuerprüfung alle paar Jahre, wo ich ihm helfen musste, wenigstens das erste Obergeschoss als zusätzlichen Laborraum herzurichten. Jeweils eine verdammte Schlepperei.

"He, Felix. Schön dich zu sehen." Wir umarmten uns herzlich. "Genau die richtige Zeit, um einen Veuve Clicquot zu köpfen."

Michael öffnete einen Kühlschrank mit der Aufschrift 'Vorsicht! Keime! Nur in Schutzkleidung öffnen' und zauberte eine Flasche Gold Label hervor.

"Hauptsache, du bringst mir keine Arbeit. Und schon gar nicht wieder pro bono. Wir ersticken zurzeit in Aufträgen."

Geschickt öffnete er den Schampus ohne Knall und schenkte uns beiden ein.

"Auf unser Wohl!"

"Und auf dass du nicht wirklich an deiner Arbeit erstickst! " sagte ich. "Fürchte ich allerdings nicht. Das meiste erledigen doch sowieso diese Automaten hier für dich, und den Rest erledigen deine MTAs, während du sie bei Laune hältst und Hochglanzkataloge nach einem neuen Segelschiff durchforstet."