Der vierte Tag - Christoph Spielberg - E-Book

Der vierte Tag E-Book

Christoph Spielberg

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Beschreibung

Geiselnahme auf der Intensivstation! Die Forderung: eine Million Euro. Die Drohung: ein toter Arzt für jeden Patienten, der von nun an stirbt. Dr. Hoffmann wird bald klar, daß es um eine ganz andere, schier unerfüllbare Forderung geht. Und, daß die größte Gefahr letztlich nicht von dem Geiselnehmer ausgeht. Pressestimmen zu "Der vierte Tag" Saarbrücker Zeitung, "Krimi der Woche" Lese-Hochgenuss...Köstlich! Genial!...und das gilt auch für die Handlung... Spielbergs Krimi ist geistreich und zugleich amüsant zu lesen. Ein absoluter Hochgenuss! (chh) Tagesspiegel Berlin Christoph Spielbergs Krimi besticht durch Fachwissen....die Idee, einen Geiselnehmer mit zwei Ärzten, zwei Schwestern und drei schwerkranken Patienten auf der Intensivstation der (fiktiven) Berliner Humana-Klinik für vier Tage zusammenzusperren, erzeugt eine Kammerspielatmosphäre, wie sie Krimis gut tut. (Ingo Bach) Welt am Sonntag [Spielbergs] packende Thriller zeigen den Alltag im stationären Gesundheitswesen, und zwar ungeschminkt. Natürlich aufgepeppt mit erfundenen Zutaten...[wie] die Geiselnahme auf einer Intensivstation...in "Der vierte Tag"... herrscht Spannung pur. (Nikolas Rechenberg) Literatur Kurier Wer Spielbergs Krankenhauskrimis ... kennt, weiß, worauf er sich einlässt: spannende Kriminalfälle mit unvorhersehbaren Wendungen im deutschen Kliniksumpf-Milieu gepaart mit einer bissigen Ironie ... Spielbergs Ausführungen treffen den Nagel auf den Kopf! (Stefan Hoffmann) Blitz Mit "Der vierte Tag" legt Christoph Spielberg seinen vierten spannenden Kriminalroman um den Krankenhausarzt Dr. Felix Hoffmann vor, mit jähen Brüchen und extremen Situationen. (Uwe Schieferdecker) Heidelberg aktuell Diesen Krimi sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Ärztliche Praxis, Buchtipp [Spielbergs] Fan-Kreis wächst mit jedem neuen Buch. (Ulrike Roeper) Berliner Ärzte Sie werden auch verständnissinnig schmunzeln oder laut auflachen, denn in diesen Taschenbüchern steckt soviel Witz, dass auch Nicht-Krimileser viel Spaß ... haben. (Rosemarie Stein) Ärztezeitung Spannend, zum Lachen, authentisch. Von dieser Sorte würde ich gerne noch mehr lesen. (Friedrich Hofmann)

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Inhaltsverzeichnis

In der Dr. Hoffmann Reihe bisher erschienen:

Tag eins

Nacht eins

Tag zwei

Nacht zwei

Tag drei

Danach und auf dem Waldfriedhof

Liebe Leserin, lieber Leser,

Impressum

In der Dr. Hoffmann Reihe bisher erschienen:

Die Russische Spende

Denn wer zuletzt stirbt

Hundertundeine Nacht

Der vierte Tag

Man stirbt nur dreimal

Wiederbelebung

Wunderheilungen und andere unerwünschte Nebenwirkungen

Ein vergiftetes Erbe

Außerhalb der Dr. HoffmannReihe

Der Ein-Euro Schnüffler

Personen und Handlung sind frei erfunden

Copyright Christoph Spielberg

Umschlagbild bearbeitet nach einem Originalphoto mit freundlicher Genehmigung des Landeskriminalamt Schleswig-Holstein

Tag eins

"Diese Waffe ist geladen!"

Da stehen wir nun mit plötzlich puddingweichen Knien und geben sicher ein erbärmliches Bild ab: In den Augen der meisten Menschen Herren über Leben und Tod, weil als Ärzte und Schwestern auf der Intensivstation Wächter und Zöllner zugleich an einer oft finalen Grenze, geht es plötzlich um unser eigenes Leben und vielleicht ganz bald schon um unseren eigenen Tod.

"Und ich werde diese Waffe auch benutzen, sollten Sie mich dazu zwingen."

Vor uns steht ein Blinder, komplett mit dunkelgetönter Brille und dieser gelben Armbinde mit den drei schwarzen Punkten. Auf dem Rücken schleppt er einen offenbar schweren Rucksack und wirkt wie ein Weihnachtsmann, der sich in Verkleidung und Jahreszeit geirrt hat. Doch dieser Blinde sucht keine helfende Hand beim Überqueren der Straße oder helfende Augen beim Finden von "Erbsen, extra fein" im Supermarkt. Dieser hier zielt mit einer Pistole auf uns, unterstützt von einem ziemlich riesigen Schäferhund, der uns anknurrt.

Wenn man mit einer Pistole bedroht wird, ist es dann von Vorteil, einem blinden Schützen gegenüberzustehen? Wahrscheinlich ja, wenn es dieser Schütze auf dich persönlich abgesehen hat, Zielgenauigkeit dürfte nicht zur Kernkompetenz blinder Pistoleeros zählen. Nicht aber, wenn ihm das Ziel egal ist - einen von uns würde er wohl immer treffen! Also, um wen geht es hier? Um mich etwa, Dr. Hoffmann, pflichttreuer und in der Regel ausreichend engagierter Oberarzt der Humana-Klinik? Um unseren Chefarzt, Dr. Zentis, der sich gerade hinter mich gestellt hat, mit Sicherheit in der vollen Überzeugung, dass sein Leben schon aufgrund der höheren Gehaltsklasse schützenswerter sei als meines? Um unsere Schwestern, die junge Schwester Renate oder gar um Schwester Käthe, die kurz vor ihrer Pensionierung steht? Um unsere Patienten etwa?

Ein Knall, ich zucke zusammen und ducke mich. Mich jedenfalls hat es nicht getroffen. Ein erbärmlicher Gedanke? Nicht wirklich, es ist nur eine Feststellung. Gott sei Dank ist niemand getroffen, es war die Toilettentür, die geknallt hat.

"Sie können ihren Hund hier nicht mit hereinbringen!"

Schwester Renate hat den Anfang des Dramas auf der Toilette versäumt. Nicht ganz untypisch. Sie hat offenbar zunächst den Hund gesehen, eindeutig eine Abweichung im abgespeicherten Bildmuster 'Intensivstation', erst jetzt nimmt sie die Pistole wahr. Aber so schnell ist Renate nicht zu erschüttern.

"Ich hoffe, Sie haben wenigstens einen Waffenschein für das Ding. Sonst geben Sie es lieber ganz schnell her, ehe noch ein Unglück passiert!"

Ein wenig unwillig wendet sich der Blinde jetzt Renate zu, die Pistole mit ihm.

"Der Hund bleibt hier!"

Wenigstens ist das schon mal geklärt.

Ich habe nicht die geringste Idee, was jetzt zu tun ist, wie man mit einer schnellen, intelligenten Aktion oder einem flotten Spruch die Situation lösen könnte. Meine Mitgeiseln vielleicht? Das Studium ihrer Gesichter vermittelt mir eine gute Vorstellung, was mein Gesicht im Augenblick ausdrücken dürfte: Ratlosigkeit, Unverständnis, Angst. Das zumindest verraten die Züge von Schwester Käthe. Bei Schwester Renate, fast dreißig Jahre jünger als Käthe, kommt noch Empörung hinzu. Und bei unserem Chefarzt Dr. Zentis, der sich nun mutig neben mich gestellt hat, entdecke ich neben deutlicher Angst auch Wut. Doch so, wie er mich anblickt, scheint sich diese Wut nicht allein auf den Kerl mit der Pistole zu beziehen. Mindestens ebenso deutlich bezieht sie sich auf mich.

"Das ist allein Ihre Schuld, Hoffmann!" raunt er mir ins Ohr und zieht sich schnell wieder zurück.

Was meint Zentis? Warum ist es meine Schuld, dass ich jetzt wieder als Kugelfang vor unserem verehrten Chefarzt stehe, der, wie fleißig einstudiert, jeder meiner diskreten Positionsänderungen folgt, so dass wir einen stummen Pas de deux vollführen, der ihn weiterhin aus der Schusslinie hält? Wahrscheinlich meint er den Hund, der uns mit seinem halb geöffneten Maul mindestens ebenso effektiv in Schach hält wie der Blinde mit seiner Pistole.

Im Moment schnuppert der gerade an mir, wittert sicher, dass ich heute Morgen schon in unserer klinikeigenen Tierpension war. Wie, fragen sich bestimmt auch meine Mitgeiseln, kommt man mit einem Hund bis auf die Intensivstation, wo im gesamten Krankenhaus Topfpflanzen und Haustiere verboten sind, wie Hinweisschilder an jedem Eingang betonen. Ob sie daran denken, dass Blinde nun einmal auch noch so deutlich aufgestellte Hinweisschilder nicht lesen können, allenfalls darüber stolpern? Und dass kein Mensch jemandem mit dunkler Brille auf der Nase und schwarzgepunkteter Binde am Arm irgendwo den Zutritt verweigern oder den Hund wegnehmen würde? Vielleicht hatte Schwester Käthe vorhin an der Tür zur Intensivstation, an der man klingeln muss, um eingelassen zu werden, dunkle Brille und Armbinde übersehen. Ich hatte noch ihr "aber der Hund bleibt draußen!" gehört, weiß aber nicht, ob der Blinde sie einfach ignoriert hat oder Käthe unsicherer als Renate bezüglich Blinden mit Blindenhunden war.

Bilde ich mir das ein oder guckt mich nicht nur Zentis vorwurfsvoll an? Es hat sich in der Klinik eingebürgert, bei Problemen mit Hunden oder Katzen mir die Schuld zu geben. Wahrscheinlich, weil sich dann jeder erinnert, dass es seinerzeit meine Idee gewesen war, mit dem Erbe von Herrn Winter eine Haustierpension unmittelbar neben der Klinik einzurichten. Viele Mitarbeiter hätten von dem Geld lieber einen Personalkindergarten gebaut, aber erstens habe ich keine Kinder, zweitens wollten der längst verstorbene Herr Winter und ich etwas für die Patienten tun, nicht für die Krankenhaus-Mitarbeiter. Seither haben wir keine Probleme mehr mit der Unterbringung etwaiger Haustiere von unserer ständig älter werdenden und häufig allein lebenden Klientel, außerdem verbrauchen wir deutlich weniger Antidepressiva.

Aber nun haben wir plötzlich einen Hund auf der Intensivstation. Will der Blinde eine Intensivbehandlung für seinen Hund durchsetzen? Hundebesitzer sind so ziemlich zu allem fähig, wenn es um ihr Tier geht. Aber dieser Schäferhund scheint mir unangenehm gesund. Bedrohlich fletscht er weiterhin seine Zähne, steckt ganz eindeutig mit seinem Herrchen unter einer Decke. Das muss ich mir merken! Schließlich kann die Sache immer noch gut ausgehen, und ich werde in einem Prozess zu möglichen Komplizen befragt.

Die Pistole des Blinden - oder handelt es sich um einen Revolver, keine Ahnung - ist unverändert auf Renate gerichtet. Sicher fragte auch sie sich, wie blind dieser Blinde wirklich ist, ob es sich nur um eine Maskerade handelt oder ob sein Sehvermögen wirklich beeinträchtigt ist, aber immerhin für die drei Meter zwischen ihnen reicht. Und ebenso sicher will sie es nicht auf einen Test ankommen lassen.

Der Blinde winkt Renate mit seiner Pistole,

"Kommen Sie mal ganz langsam näher!"

Vorsichtig nimmt der Blinde seinen Rucksack vom Rücken und stellt ihn auf den Boden. Die Pistole wechselt er dabei in die linke Hand, hält sie jedoch weiter auf Renate gerichtet, die jetzt unmittelbar vor ihm steht.

"Nun öffnen Sie den Rucksack. Die rechte Außentasche! Auch ganz langsam! Wie heißen Sie?"

"Ich bin Schwester Renate."

"Also gut, Schwester Renate. Haben Sie die Außentasche geöffnet?"

"Ja."

"Was sehen Sie in der Tasche?"

Mein Gott, lass es bloß keine Bombe sein! Ich hasse Bomben!

"Handschellen, glaube ich."

"Richtig, das sind Handschellen, Schwester Renate. Wie viele Leute sind jetzt hier? Außer den Patienten, meine ich."

Renate zögert, entschließt sich dann zur Wahrheit.

"Vier."

Sie hat richtig gezählt: Schwester Renate, Schwester Käthe, Chefarzt Zentis, ich. Erst jetzt erkennt Renate, dass sich Zentis aus meiner Deckung gelöst hat und auf weißen Arztsocken in Richtung Tür schleicht.

Hastig ergänzt Renate: "Vier, mit Ihnen sind wir vier. Und die Patienten."

Vorsichtig aber nicht ganz geräuschlos dreht Zentis jetzt mit der linken Hand den Türknauf, den Zeigefinger der rechten vor dem Mund. Eine ziemlich überflüssige Geste. Aber immerhin, gleich hätte er es geschafft. Ist das feige Fahnenflucht, Verrat an uns, seinen Kollegen, oder eine unterstützenswerte Initiative? Der Hund entscheidet sich für die erste Möglichkeit und lässt wieder ein leises Knurren hören. Der Blinde schwenkt die Pistole in Richtung Tür.

"Und an der Tür, wer ist das?"

Sofort nimmt Zentis die Hand vom Drehknopf, erstarrt zu einer Salzsäule. Pech gehabt. Jeder Laie weiß um die extreme Schärfung des Hörsinns bei Blinden. Wahrscheinlich hat selbst Zentis schon einmal davon gehört und nur vergessen, dass der Türknopf quietscht.

"Sie alle, spielen Sie keine Spielchen mit mir. Schwester Renate, Sie werden jetzt bitte drei Paar Handschellen aus meinem Rucksack nehmen und damit Ihre werten Kolleginnen und Kollegen an den Rohren der Zentralheizung anschließen. Auch den Kollegen an der Tür. Haben Sie das verstanden?"

Hat sie, und sie tut, war er verlangt. Danach muss sie den Blinden zu uns führen, und gemeinsam überprüfen der Blinde mit der Hand und sein Schäferhund mit der Schnauze, ob wir auch wirklich sicher festgekettet sind. Sind wir. So sicher, wie dieser Schäferhund eine Munddusche gebrauchen könnte.

Dieser Tag meint es nicht gut mit mir. Ich bin nicht nur plötzlich eine Geisel, für wen oder was auch immer, sondern auch noch unmittelbar neben Chefarzt Zentis an die Heizung gekettet. Überdies hat Zentis offensichtlich in den letzten Minuten keinen neuen Gedanken gefasst.

"Wirklich. Das ist alles Ihre Schuld!"

Selten genug, dass Zentis recht hat, aber in diesem Punkt kann ich ihm nicht widersprechen. Es ist meine eigene Schuld, dass ich hier neben ihm hocke und seinen Angstschweiß riechen darf, längst sollte ich zu Hause sein und mich von einem unruhigen Nachtdienst erholen. Ich habe heute Vormittag kurz nach meinen Patienten gesehen, dann noch zwei Herzschrittmacher eingebaut, und war tatsächlich fast auf dem Weg nach Hause, als mich die Aufnahmestation anrief: Sie hätten einen Patienten mit akuten Brustschmerzen, ob ich mir den mal schnell anschauen könne? Warum gerade ich? Einfach: weil Sommer ist, weil Ferienzeit ist, weil meine lieben Kolleginnen und Kollegen am Strand von Usedom oder von Paradise Island in der Sonne braten. Diese Tatsache hatte mir schließlich gerade erst den dritten Nachtdienst innerhalb von zehn Tagen beschert. Also dackelte ich hochmotiviert und voller Energie runter zur Aufnahmestation und lernte den Patienten Sauerbier kennen.

"Dieser Druck, Herr Doktor! Ich halte das nicht mehr aus! Ich habe einen Herzinfarkt!"

"Wo ist er denn, der Druck?"

"Hier", antwortete Herr Sauerbier und deutete auf seine linke Brust, "hier, genau am Herzen."

Ich drückte leicht auf die angegebene Stelle.

"Aua!"

Also nicht das Herz. Irgendein punktueller Schmerz, wahrscheinlich ein Problem mit der Brustwirbelsäule. Das unauffällige EKG von Herrn Sauerbier entsprach dieser Einschätzung.

"Habt ihr schon sein Troponin?"

Troponin ist ein Eiweiß, das bei einem akuten Herzinfarkt ziemlich früh im Blut nachweisbar ist.

"Ja. Negativ."

Lokaler Druckschmerz, negatives EKG, negatives Troponin: ab nach Hause oder zum Orthopäden mit Herrn Sauerbier. Warum hatten mich die Kollegen überhaupt gerufen?

"Was ich noch sagen wollte", mischte sich Herr Sauerbier ein, "mit diesem Spray von meinem Hausarzt werden die Schmerzen besser."

Jetzt grinst Hartmut – der Kollege, der mich gerufen hat.

Ich lasse mir das Spray zeigen: Es ist ein Nitratspray, ein idealer Stoff, um verengte Herzkranzgefäße zu entspannen und damit den Schmerz zu nehmen. Also doch das Herz?

"Wie lange dauert es, bis nach dem Spray die Schmerzen besser werden?"

Der Punkt ist: es galt den Placebo-Effekt von einem wirklichen Effekt zu unterscheiden. Wenn es sich bei Herrn Sauerbier wirklich um Schmerzen durch verengte Herzkranzgefäße handelte, sollte ein Nitratspray innerhalb nur weniger Minuten wirken.

"Na, sofort sind sie nicht weg."

"Ich brauch das genauer, Herr Sauerbier. Waren die Schmerzen nach fünf Minuten weg oder eher nach einer halben Stunde?"

"Richtig weg waren sie nie. Aber sie wurden besser."

Stopp, Dr. Hoffmann! Bleib ruhig! Es besteht kein Anlass, den armen Patienten zu würgen. Er kann nichts für seine ungenauen Angaben und schon gar nichts dafür, dass du Nachdienst hattest und längst zu Hause im Bett sein wolltest.

"Gut, noch einmal: Wurden die Schmerzen fünf Minuten oder eine halbe Stunde nach dem Spray besser?"

"Ich schaue doch nicht auf die Uhr, wenn ich Schmerzen habe! Vielleicht nach zehn Minuten?"

Großartig! Nun war wieder alles offen. Nächster Versuch.

"Haben sie ähnliche Beschwerden schon früher gehabt?"

"Ja, bei Anstrengung ..."

Bingo! Doch das Herz, lege ich mich jetzt fest.

"... aber auch in Ruhe. Und außerdem habe ich noch dieses Kribbeln in den Beinen. Seit Wochen!"

Langsam wurde klar, warum mich die Kollegen in die Aufnahmestation gerufen hatten. Sie suchten jemanden, der ihnen die Verantwortung abnahm. Warum fällt es den Patienten so schwer, sich mit ihren Beschwerden ans Lehrbuch zu halten? Mit seinen Angaben konnte man Herrn Sauerbier mit guten Gründen sowohl nach Hause schicken als auch sofort in unser Herzkatheterlabor. Solange man es nur dokumentierte, sollte es später zu einer Klage kommen. So oder so stand mir noch einiges an Schreibarbeit bevor.

"Ich gehöre auf die Intensivstation!" unterbrach Herr Sauerbier meine Überlegungen.

Das war doch ein vernünftiger Kompromiss! Warum nicht gleich so? Die internistische Intensivstation war aktuell sowieso kaum belegt. Dort würden Herzschlag und Blutdruck am Monitor überwacht und alle halbe Stunde das EKG kontrolliert. Während ich dann endlich im Bett liegen würde, könnte Chefarzt Zentis dann entscheiden, wie es weiterging.

"So machen wir es. Wir legen Sie auf unsere Intensivstation."

Und um endlich nach Hause zu kommen, schob ich Herrn Sauerbier auf seiner Trage gleich selbst in den vierten Stock. Denn die Schwestern würden mich nur informieren, dass Patiententransporte nicht ihre Aufgabe seien und sie dazu auch keine Zeit hätten, und auf die Leute vom Patiententransport hätte ich wahrscheinlich wieder stundenlang warten können. Personaleinsparungen sind lange nicht mehr das Privileg der freien Wirtschaft.

Aber ich hätte trotzdem längst vor dem Auftritt des Blinden zu Hause sein können, hätte ich mich nicht mit Schwester Käthe verquatscht. Hatte ich aber. Und sitze nun voll mit in der Patsche. Ich versuche krampfhaft, mich an die Fernsehreportage zu erinnern, in der einer dieser Survivalfreaks erklärt hat, wie man jede Handschelle ohne Schlüssel öffnen kann, ganz einfach, angeblich nur über den Federmechanismus. Natürlich hatte ich wieder nicht aufgepasst.

Nach vollbrachter Geiselfesselung steht Renate etwas ratlos in der Gegend herum, fragt sich wahrscheinlich, ob sie sich nun auch selbst an das Heizungsrohr anschließen soll. Doch der Blinde gibt keine entsprechende Anweisung.

Stattdessen fragt er: "Wie viele Patienten haben wir hier zur Zeit, Schwester Renate?"

Richtig! Warum kommt uns eigentlich niemand von denen zu Hilfe? Wenigstens Herr Sauerbier, den ich höchstpersönlich hierher gebracht habe, ist doch eigentlich gut zu Fuß. Ich schaue mich nach ihm um. Bereut er inzwischen seinen innigen Wunsch, auf die Intensivstation gelegt zu werden? Offensichtlich nicht. Auf den linken Arm gestützt, liegt er in Bett eins und beobachtet die Szene hochinteressiert, scheint sie für eine bemerkenswerte Beigabe zum Gesamtabenteuer Intensivstation zu halten.

"Drei", beantwortet Renate die Frage nach der Anzahl aktueller Patienten.

Stimmt. Diesmal hat Renate nicht zu schummeln versucht. In Bett zwei sehe ich einen männlichen Patienten, der schläft oder mit geschlossenen Augen der Wirklichkeit zu entrinnen versucht, während eine Blutkonserve und irgendeine milchige Infusion bedächtig in seinen Körper tropfen. Außerdem hängt noch ein Schlauch aus seiner Nase mit einem Gewicht dran, wahrscheinlich eine Sengstaken-Sonde. Bett drei steht leer, wie auch die Betten fünf bis neun. Außer Bett eins und zwei ist nur noch Bett vier belegt. Dort läuft das volle Intensivprogramm, hinter den dicken Schläuchen der Beatmungsmaschine und den vielen Infusionssystemen ist von der Patientin oder dem Patienten nichts auszumachen. Nur die verschiedenfarbigen Kurven und Zahlen auf den zwei Monitoren am Kopfende geben einen Anhalt, dass dort etwas Belebtes liegt, wobei die Werte auf den Monitoren davon zeugen, wie dehnbar der Begriff "Leben" in der hochtechnisierten Medizin unserer Tage geworden ist.

Renates Antwort zur Anzahl der belegten Betten hat den Blinden nicht zufriedengestellt.

"Wie viele Betten haben Sie hier auf der Intensivstation?"

"Zwölf"

"Und nur drei sind belegt?"

Renate lässt sich durch die Pistole, die wieder in ihre Richtung zeigt, nicht aus dem Konzept bringen.

"Es ist Sommerzeit. Ferienzeit. Und die Raser von der Autobahn liegen auf der chirurgischen Intensivstation", erklärt sie.

Im Prinzip stimmt das. Was Renate verschweigt ist die Tatsache, dass wir mit wechselnden Begründungen und viel Überredung im Moment auch internistische Intensivpatienten bei den Chirurgen unterbringen. Dr. Valenta, seit Jahren Chef unserer Intensivstation, ist in Urlaub. Und Marlies, kaum weniger lange Intensivärztin als Valenta, ist seit zwei Wochen krank.

Mit einem uns alle erschreckenden "dann mache ich das eben auch noch selbst" und der Unterstützung eines seiner Jungdoktors hatte daraufhin Chefarzt Zentis die internistische Intensivstation übernommen.

Und ehe wir unsere intensivpflichtigen Patienten seinen medizinischen Künsten anvertrauen, legen wir sie lieber zu den Chirurgen und behandeln sie dort. Wovon Zentis natürlich nichts weiß. So gesehen, war es ausgesprochen gemein von mir, dass ich Herrn Sauerbiers Wunsch nach der internistischen Intensivstation erfüllt habe. Aber wenigstens mit EKGs und Herzkranzgefäßen kennt Zentis sich aus, hat er doch am Beginn seiner Karriere fast fünf Jahre lang im Herzkatheterlabor nichts als Herzkranzgefäße untersucht. Keine Ahnung allerdings, wer den Patienten mit den immer noch geschlossen Augen in Bett zwei hierher gelegt hat. Oder die oder den in Bett vier.

Seit uns der Blinde in seiner Gewalt hat, frage ich mich: Wo ist eigentlich Jungdoktor Krämer? Das fragt sich wohl auch Chefarzt Zentis, der unnötig diskret immer mal wieder in Richtung Tür schaut.

Im Moment ist Zentis allerdings nur dem Namen nach Chefarzt, der Blinde hat die Leitung unserer Intensivstation übernommen.

"Schwester Renate, sagen Sie mir doch bitte: Was fehlt diesen drei Patienten?"

Arzt ist er jedenfalls nicht, unser Blinder. Ein Arzt fragt vielleicht einen Patienten: "Was fehlt Ihnen denn?", überzeugt, das sowieso besser zu wissen, hätte aber die Frage an Renate sicher anders formuliert. Renate bleibt geschäftsmäßig.

"Bett eins ist gerade erst gekommen. Verdacht auf Herzinfarkt. In Bett zwei liegt ein Patient mit Blutungen aus der Speiseröhre. Und in Bett vier eine Patientin mit terminalem Leberkoma."

"Was heißt das?" fragt der Blinde nach.

"Dass die Leber nicht mehr ihrer Entgiftungsfunktion nachkommen kann. Deshalb das Koma."

"Ich meine: Was bedeutet 'terminal'?"

Renate zögert einen Moment.

"Das bedeutet, dass diese Patientin sehr, sehr krank ist."

"Das bedeutet, dass sie in Kürze sterben wird", mischt sich Zentis ziemlich barsch ein.

Sofort dreht sich der Blinde zu ihm hin und mit ihm seine Pistole. Er ist sichtlich erregt.

"Seien Sie still! Sie habe ich nicht gefragt."

Zentis hat es nicht gerne, wenn er nicht gefragt wird. Wütend wendet er sich wieder zu mir.

"Das ist alles Ihre Schuld, Hoffmann!"

Das ist typisch für Zentis! Wenn immer etwas schiefgeht, wird nicht an der Problemlösung gearbeitet, sondern zuerst der Schuldige gesucht, beziehungsweise sichergestellt, dass ihn jedenfalls keine Schuld trifft. Wäre ich nicht in Handschellen an ein Heizungsrohr gefesselt, würde ich Zentis jetzt eins oder zwei auf die Nase hauen. Vorzugsweise mit ihm weiterhin in Handschellen. Denn Zentis war früher Zehnkämpfer und spielt immer noch jedes Wochenende Fußball, er ist mir in punkto Fitness deutlich überlegen. Und er kann mit seinem Räsonieren nicht aufhören.

"Das ist alles Ihre Schuld! Habe ich Ihnen diesbezüglich nicht genug Vorschläge gemacht?"

Endlich begreife ich, worauf er hinaus will.

"Sprichst du mit mir als dem Sicherheitsbeauftragten der Humana-Klinik, Zentis? Ich lach mich tot!"

Ärzte gelten bei der Krankenhausleitung offenbar als beliebig belastbar oder besonders doof, jedenfalls werden sie ohne größere Diskussion neben ihren medizinischen Aufgaben mit immer mehr Verwaltungsmüll zugeschüttet. Sie dürfen jede Menge zusätzlicher Stunden mit dem Ausfüllen von Bögen für die sogenannte Qualitätskontrolle, die Leistungserfassung, den Materialverbrauch verbringen. Sie müssen jede noch so dumme Anfrage von Krankenkassen beantworten. Und gegenüber der Klinikleitung schriftlich begründen, warum im vergangenen Monat die Behandlungskosten pro Patient um fünf Prozent gegenüber dem Vergleichsmonat lagen.

Mir hatte man nach einer entsprechenden Aufforderung der Innenverwaltung an alle Berliner Krankenhäuser auferlegt, mich zusätzlich um das Thema "Innere Sicherheit" an der Humana-Klinik zu kümmern. Eine dieser kleinen Extraaufgaben, zu denen man kommt, weil man die entscheidende Sitzung geschwänzt oder sich nicht rechtzeitig geduckt hat oder weil allen anderen eine bessere Ausrede eingefallen war. Seitdem durfte ich mich mit dem ehrenvollen Titel "Sicherheitsbeauftragter der Humana-Klinik" schmücken.

Dabei gehen die Sorgen unserer Berliner Innenverwaltung über randalierende Alkoholiker oder durchgeknallte Junkies auf der Station hinaus: Könnten nicht Terroristen ein Krankenhaus übernehmen und weiß ich was basteln aus den Beständen in der Nuklearmedizin, tödliche Viren aus dem Hygienelabor klauen ("Freiheit für Versuchstiere!"), Patienten als Geiseln nehmen? Wie könnte man - aber bitte kostenneutral! - die Kliniken davor schützen? Jetzt sitzen wir an unsere vor einem guten Jahr neuinstallierte Zentralheizung gekettet als Zeugen, dass diese Sorgen nicht ganz unberechtigt waren.

"Ja, Zentis. Du hast tolle Vorschläge gemacht, wirklich. Was war das noch letzten Monat? Digitale Iriserkennung? Und davor, Metalldetektoren an jedem Eingang? Aber ich habe eine bessere Idee: Sollen wir nicht drüben in der Tierpension Sprengstoff-Schnüffelhunde ausbilden?"

"Jedenfalls haben Sie Ihre Hausaufgaben nicht gemacht", zischt Zentis, immer noch wütend.

Tatsächlich verfolgte ich diesen Sicherheitsauftrag nicht mit allzu großem Enthusiasmus. Immerhin habe ich für das gesamte Klinikpersonal Plastikkärtchen mit Namen, Aufgabe in der Humana-Klinik und Porträtfoto eingeführt. Das war nervig genug, besonders, halbwegs aktuelle Fotos von den Mitarbeiterinnen zu bekommen.

"Felix, mein Mann hat schon drei Filme verschossen. Ich sehe aus wie eine Kuh, auf jedem Bild! Zahlt uns die Klinik keinen Fotografen?"

Der Plan war, bestimmte Klinikbereiche durch elektronische Schlösser zu sichern, mit diesen Plastikkärtchen als Schlüssel. Aber für Anschaffung und Installation der elektronischen Schlösser hat die Vital-GmbH, seit zwei Jahren Eigner der Humana-Klinik, bisher keinen Cent bewilligt. Im Gegenteil: Eine der ersten Einsparungsmaßnahmen, nachdem der Vital-Konzern die bis dahin städtischen Krankenhäuser für einen symbolischen Euro gekauft hatte, war die Abschaffung der Pförtner in den Kliniken. Shareholder value! So nutzen die Kärtchen im Moment nur Leuten mit schlechtem Namensgedächtnis wie mir.

Der Punkt ist, und das sollte Zentis als Chefarzt der Inneren Abteilung eigentlich wissen, dass hier vorerst überhaupt nichts eingebaut wird, weil die Vital-GmbH die Grundsanierung plant, was mehr als dringlich ist. Einen traurigen Beweis dafür sehe ich täglich auf der chirurgischen Intensivstation. Fast ebenso gut unter medizinischer Hightech verborgen wie hier die Patientin in Bett vier liegt dort ein Angestellter der Reinigungsfirma, der beim Fensterputzen in unserem sogenannten Neubau mitsamt dem Fensterkreuz zwei Stockwerke hinunter in den Innenhof gestürzt war.

"Du hast recht, Zentis. Mit seiner dunklen Brille wäre dieser Typ nie durch deine Iris-Erkennung gekommen. Alles meine Schuld!"

Zentis brummelt etwas Unverständliches. Er hasst es, wenn ich ihn duze.

"Würden sich die beiden Herren wohl bitte vorstellen?"

Plötzlich zeigt die Pistole auf uns. Haben wir den Blinden mit unserem Gezischel gestört? Aber er droht uns nicht, will wohl nur klarstellen, wen er meint.

Zentis presst die Lippen zusammen wie ein störrischer Schuljunge. Mir hingegen scheint jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Verstocktsein.

"Ich bin Dr. Felix Hoffmann, Oberarzt der Inneren Abteilung."

Würde es etwas bringen, den Blinden darauf hinzuweisen, dass ich eigentlich gar nicht hierher gehöre und außerdem nach meinem Nachtdienst furchtbar müde bin? Und dass ich eigentlich als Oberarzt gar keinen Nachtdienst machen müsste, wäre da nicht die dünne Personaldecke und das Bemühen, unsere Assistenzärzte wenigstens nicht länger als vierundzwanzig Stunden im Dienst zu halten und nicht mindestens zweiunddreißig wie früher? Im Moment wichtiger noch: Würde es die Situation entspannen, wenn ich jetzt Zentis vorstelle, oder wäre das ein gefährliches Zeichen von Schwäche? Was sagt das psychologische Handbuch über die goldenen Grundregeln gegenüber einem Blinden mit Pistole?

Zentis nimmt mir die Entscheidung ab und verkündet mit zackiger Stimme.

"Ich bin Chefarzt Dr. Zentis. Und ich fordere Sie auf, diesen Unfug sofort zu beenden. Vielleicht können wir dann sogar etwas für Sie tun."

Na, denke ich, vielleicht ist das die richtige Art, mit diesem Kerl umzugehen! Aber dann macht Zentis alles kaputt.

"Zum Beispiel in unserer psychiatrischen Abteilung."

So steht es sicher nicht im Handbuch für Geiseln. Doch, sollte er gereizt sein, lässt es sich der Blinde nicht anmerken. Erneut wendet er sich Renate zu.

"Und die zweite Dame?"

"Ich bin Schwester Käthe", meldet die sich vom Heizungsrohr gegenüber. "Und ich habe ein Problem. Ich muss spätestens in einer Stunde bei meiner Großtante sein. Meine Großtante ist bettlägerig und absolut auf Hilfe angewiesen."

Das klingt, als gehöre auch Schwester Käthe zum Rette-sich-wer-kann-Club, ist aber die reine Wahrheit. Wir alle hier wissen das, außer Zentis wahrscheinlich. Schwester Käthe arbeitet mit ihren über sechzig Jahren und operiertem Brustkrebs aufopferungsvoll wie kaum jemand in der Klinik, fehlt so gut wie nie und pflegt außerdem seit Jahren diese bettlägerige Großtante. In Käthes Welt ist es ihre Pflicht, den Blinden darauf hinzuweisen, dass sie wichtigere Verpflichtungen hat, als an ein Heizungsrohr gekettet sinnlos herumzusitzen, und dass er nun auch eine Verantwortung für ihre Großtante übernommen hat.

"Ich werde ihre Großtante nicht vergessen, Schwester Käthe", antwortet der Mann mit der Pistole.

Erstaunlich, aber er hat das so gesagt, dass ich es ihm abnehme. Hat er gemeint, dass dies hier nur eine kurze Sache wird, wir alle bald frei sind?

"Außerdem", fährt der Blinde fort, "das gilt für alle hier: Niemandem wird etwas geschehen, solange sie sich vernünftig verhalten."

"Was wollen Sie denn eigentlich von uns?" meldet sich Zentis wieder.

"Von Ihnen, Herr Chefarzt, will ich gar nichts. Alles weitere werden Sie früh genug erfahren."

Für einen Moment wenigstens hat der Blinde meine Sympathie. Nie könnte ich das Wort "Chefarzt" in Verbindung mit Zentis so schön betonen wie er. Bei ihm klingt es nach einer nicht sehr appetitlichen, letztlich unheilbaren Krankheit.

Aufgereiht wie für ein Erinnerungsfoto, stehen der Blinde und sein Schäferhund vor uns, zwischen sich den großen Rucksack. Wieder winkt der Blinde Schwester Renate mit einer knappen Geste näher.

"Ich muss Sie noch um einen weiteren Gefallen bitten, Schwester Renate. Wollen Sie jetzt so freundlich sein, bei meinem Rucksack die Haupttasche in der Mitte zu öffnen?"

Neben mir höre ich Zentis einatmen. "Gehorchen Sie ihm einfach nicht", scheint er sagen zu wollen, besinnt sich dann aber und hält den Mund. Vielleicht weil er ebenso gespannt ist wie der Schäferhund, der nun seine ganze Aufmerksamkeit dem geöffneten Rucksack widmet, wohl gewöhnt, dass von dort geheimnisvoll eine Dose Schappi, Pal oder gelegentlich sogar eine Scheibe gekochter Schinken auftauchen.

Doch der Hund wird enttäuscht. Mit wenig Begeisterung schnuppert er an den identischen Päckchen von jeweils halber Schuhkartongröße. Es sind keine mit Draht zusammengebundenen Dynamitstangen, wie man sie aus entsprechenden Filmen kennt, aber ihre Funktion dürfte die gleiche sein, wie schnell klar wird.

"Nun, Schwester Renate, verteilen Sie bitte diese Päckchen. Ich denke, jeweils eines an die Heizungen, zwei an die Tür zur Station, und zwei an die Wand in diesem ruhigeren Zimmer."

Wieder eine Hoffnung weniger! Natürlich habe ich mir inzwischen Gedanken zu möglichen Fluchtwegen gemacht, und unser ruhiges Intermediate-Zimmer spielte dabei die Hauptrolle. Die Intensivstation befindet sich im unverändert als "Neubau" bezeichneten Teil der Humana-Klinik, aber wie nicht nur unsere sanierungsbedürftigen Fensterkreuze beweisen, hat auch dieser Neubau inzwischen über vierzig Jahre auf dem Buckel. Damals hielt gerade die Medizintechnik Einzug in die Krankenhäuser, man schuf Intensivstationen als einen großen Raum zur zentralen Überwachung kritischer Patienten. Heute haben Intensivstationen zusätzlich ruhigere Zimmer für Patienten, die mit weniger Technik auskommen. Wir haben das Problem gelöst, indem ein Stück Flur hinter der Intensivstation mit einer Rigipswand in ein sogenanntes Intermediate-Zimmer verwandelt wurde. Und spätestens, seit ein von uns überdosierter Patient durchgedreht ist und ein tellergroßes Loch in diese Rigipswand getreten hat, wissen wir alle um deren Instabilität.

Offensichtlich auch der Blinde. Woher, frage ich mich, kennt er sich hier so gut aus? Ein unzufriedener, obgleich offensichtlich genesener Patient? Ein entlassener Mitarbeiter? Ich versuche, mir den Blinden ohne die dunkle Brille vorzustellen. Wie sehr bleibt man doch an solchen Äußerlichkeiten hängen!

An das Heizungsrohr gefesselt, stelle ich mir das Gespräch mit dem Herrn Hauptkommissar nach unserer Befreiung vor.

"Wie sah er denn aus, dieser Blinde, Dr. Hoffmann?"

"Also, er hatte so eine dunkle Blindenbrille auf, am Arm diese gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten. Er trug ein Paar ausgebeulte Billigjeans und ein nicht ganz sauberes weißes T-Shirt."

"Können Sie uns etwas zu seinem Alter sagen? Gesichtsform? X- oder O-Beine? Haarfarbe? Größe?"

Ziemlich verlegen hebe ich gegenüber dem Herrn Kommissar die Schulter.

Also schaue ich mir jetzt unseren Geiselnehmer genauer an: nein, keine X-Beine, keine O-Beine. Gesicht eher breit als schmal, kein Bart. Ansatz zum Doppelkinn. Augenfarbe unsichtbar, Haarfarbe dunkelblond bis braun, fettig. Alter zwischen vierzig und fünfzig, mittlere Größe, leicht gebeugte Haltung. Keine sichtbaren Narben oder Muttermale.

Na toll, mit dieser unverwechselbaren Beschreibung würde man diesen Kerl sofort fassen! Oder mich verhaften. Allerdings fehlt mir der Ansatz zum Doppelkinn, finde ich. Jedenfalls, so sehr ich mich auch mühe, entdecke ich keine Ähnlichkeit zu einem ehemaligen Patienten oder Mitarbeiter.

Inzwischen hat der Kerl ein Problem: Renate ist weisungsgemäß mit seinen Päckchen im Intermediate-Zimmer verschwunden. Wieder Blödsinn, fällt mir ein, kein neues Problem, denn selbst würde er ihr folgen, könnte er nicht sehen, was sie dort anstellt. Oder doch?

Ist er nun blind oder nicht? Laufen Blinde in Deutschland tatsächlich noch mit diesen gelben Armbinden herum? Und: Wird sich Renate an den durchgedrehten Patienten und die Rigipswand erinnern? Warum flüchtet sie jetzt nicht, holt Hilfe? Weil, ist die einfache Antwort, der Blinde vielleicht wirklich blind ist, aber, wie Zentis vorhin erfahren musste, nicht taub. Selbst mit einem gewaltigen und damit geräuschvollen Tritt wäre ein neues Loch in der leidgeprüften Rigipswand ohne Nacharbeit nicht groß genug, um dadurch zu verschwinden. Also hätte Renate am Ende nur ein Loch in der Wand und die Reißzähne des Schäferhundes oder die Pistole des Blinden am Hintern. Und auch wir, in Handschellen an die Heizung gekettet, könnten die Situation nicht zur Flucht nutzen.

All das und vielleicht noch mehr mag Renate durch den Kopf gegangen sein, jedenfalls hat auch sie das Problem nicht lösen können und taucht wenig später wieder bei uns auf.

"Alles erledigt."

Was nicht stimmt. Die beiden Sprengstoffpakete (ich denke, an Sprengstoff besteht kein Zweifel), die eigentlich für die Eingangstür zur Intensivstation bestimmt waren, trägt sie noch unter dem Arm.

"Na, dann wollen wir mal sehen", sagt unser Geiselnehmer.

Würde sich ein Blinder so ausdrücken? Vielleicht ein Späterblindeter. Oder es ist ein kleiner Scherz, den er sich hin und wieder mit seiner Behinderung erlaubt. Jedenfalls hält er Renate seinen rechten Arm hin, die ihn unterhakt. Berufsautomatismus.

"Sie führen."

Und so überprüft er die Platzierung seiner Päckchen, er mit der Hand und sein Schäferhund, der wahrscheinlich die Hoffnung auf Schappi noch nicht ganz aufgegeben hat, wieder mit der Schnauze. Erneut mache ich Bekanntschaft mit schlechtem Mundgeruch, denn Renate hat die Päckchen unmittelbar neben den Handschellen deponiert. Was im Falle ihrer vorgesehenen Funktion zu deren Öffnung führen wird, wovon wir aber nichts mehr haben werden. Für eine Minute oder so sind die drei im Intermediate-Zimmer verschwunden, tauchen wieder auf und beenden ihre Inspektionstour am Eingang zur Intensivstation, wo Renate die beiden verbliebenen Päckchen vorsichtig an die Fußleiste der Tür lehnt.

Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment klopft jemand an dieser Tür, und zwar ziemlich grob, tritt offensichtlich mit dem Fuß gegen die Fußleiste. Die Tür zittert, ebenso die gerade dort abgelegten Pakete. Ich auch.

"Mittagessen! Will niemand aufmachen?"

"Wer ist das?" fragt der Blinde Renate und wendet seine Pistole in Richtung Tür.

Bis auf den Holzrahmen handelt es sich um eine Glastür, allerdings aus mattiertem, undurchsichtigem Glas, mit einem kleinen Guckloch in Augenhöhe. Aber Renate braucht das Guckloch nicht, hat die Stimme erkannt.

"Das ist Dr. Krämer, unser Assistenzarzt. Wir haben ihn in die Kantine geschickt, er sollte uns was zu Mittag holen."

"Schicken Sie ihn weg."

Inzwischen betrachtet der Schäferhund unsere Intensivstation bereits als sein Territorium und sucht Dr. Krämer mit lautem Bellen zu vertreiben.

Renate bemüht sich, das Bellen zu übertönen: "Gehen Sie wieder, Dr. Krämer. Wir haben hier ein Problem."

Totales Unverständnis auf der anderen Seite der Glastür.

"Lassen Sie mich sofort rein, Schwester Renate!"

Warum, fragt sich Assistenzarzt Krämer mit Sicherheit, will man ausgerechnet ihn nicht einlassen? War nicht von einem Problem die Rede? Offenbar ein Problem, das die älteren Kollegen auf der anderen Seite der Tür nicht lösen können. Nicht einmal der Chef. Genau für diesen Moment hat er doch Medizin studiert! Und von einer Schwester lässt er sich als typischer Jungarzt sowieso keine Vorschriften machen! Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie er, in den Händen ein Tablett mit inzwischen höchstens noch lauwarmem Essen für die Kollegen, überlegt, ob er die Glastür eintreten soll.

Diese Gefahr angesichts der zwei netten Päckchen auf unserer Seite der Tür erkennt auch Zentis.

"Um Gottes Willen, Dr. Krämer. Sie bringen uns alle um. Machen Sie, dass Sie hier wegkommen!"

Die Stimme seines Vorgesetzten überzeugt Dr. Krämer, fürs erste sind wir dem Explosionstod entronnen. Aber unser junger Arztfreund wird wiederkommen, sicher mit Unterstützung. Und was machen wir dann?

Nach ein paar weiteren Überlegungen muss ich über meine Angst von eben lächeln. Das öffnet mein verstocktes Herz, und ich teile meine Erkenntnis flüsternd mit Zentis neben mir.

"Der muss die Dinger doch erst einmal verkabeln, um sie zu zünden. Und wie er sich hier mit Minischraubenzieher oder Krokodilklemmen zwischen den Zähnen und einer Rolle Sprengkabel um den Hals durch die Gegend tastet, möchte ich gerne sehen."

Falls er wirklich blind ist.

"Haben Sie schon mal von Zündern gehört, die auf Erschütterung reagieren, Hoffmann? Wie eine einfache Tretmine?"

Da hat er recht. Meinen Denkfehler schiebe ich lieber auf Übermüdung nach Nachtdienst als auf unmännliche Angst. Aber Zentis hat schon weitergedacht.

"Außerdem, wer braucht heute noch Kabel?"

Schon wieder hat er recht. Erst vor ein paar Monaten habe ich den Kabelsalat bei mir zu Hause beseitigt und alle Zusatzgeräte für meinen Computer auf Funksteuerung umgestellt. Wahrscheinlich hat unser Freund eine Fernbedienung in seiner Hosentasche und kann uns damit ebenso schnell in die Luft jagen wie ich im Fernsehen die Werbung wegzappe. Na toll!

Klar nehme ich Zentis übel, dass er recht hat. Und ich habe wieder Angst. Trotzdem bin ich innerlich ziemlich ruhig, habe ich so etwas doch längst kommen sehen. Nicht unbedingt, dass mich mein Schicksal hier auf der Intensivstation ereilt. Eigentlich hatte ich unser Treffen in einem Flugzeug erwartet, als einziger an Bord kaum überrascht, wenn die Maschine in einen unkontrollierten Sturzflug übergeht. Mit eben noch feuchten Händen und zitternden Knien beim Start wäre ich plötzlich die Ruhe selbst, eher erstaunt, erst bei diesem Flug abzustürzen. Also fühle ich mich auch jetzt relativ ruhig - und springe im selben Moment wie von einer Tarantel gestochen auf! Was allerdings durch die kurze Kette an den Handschellen dazu führt, dass ich meinen Kopf gewaltig gegen die Heizungsrippen knalle. Ein grässlicher Alarmton verkündet, dass wir nun alle in die Luft gejagt werden!

Der Alarmton hält an, jetzt, dank der Heizungsrippen, unterstützt von einem entsetzlichen Brummen im Kopf, aber wir fliegen noch immer nicht in die Luft. Der Blinde scheint ebenso entgeistert wie ich, Schwester Renate stürzt an Bett eins.

"Ich brauche Hilfe!"

Ich bin wohl doch nicht so ruhig, wie ich mir eben noch eingebildet habe, denn erst jetzt erkenne ich den Ton. Er kommt vom Monitor an Bett eins, es ist der sogenannte Asystoliealarm, der uns warnt, dass das Herz des überwachten Patienten nicht mehr schlägt.

"Was ist los, Schwester Renate?" fragt der Blinde, hörbar nervös.

"Wir haben einen Herzstillstand. Schnell, machen Sie Dr. Hoffmann los!"

"Hier", versuche ich den anhaltenden Alarm zu übertönen, schließlich soll der Blinde mich finden.

Erstaunlich schnell kommt der Blinde zu mir und fummelt die Schlüssel für die Handschellen aus der Hosentasche. Renate versperrt mir den Blick auf Herrn Sauerbier, ich kann nicht sehen, was mit ihm ist. Der Blinde auch nicht. Aber wir können ihn hören.

"Ich glaube, bei mir ist ein Kabel abgegangen."

Ich habe mich unpräzise ausgedrückt: Asystoliealarm wird ausgelöst, wenn die Überwachungselektronik beim Patienten keinen Herzschlag mehr feststellen kann. Weil das Herz des überwachten Patienten nicht mehr schlägt. Oder weil sich die Elektrode von seiner Haut gelöst hat.

Der Blinde stockt einen Moment, hat dann verstanden, lässt von meinen Handschellen ab und richtet sich wieder auf.

"Schwester Renate, ich habe Sie schon einmal gebeten, keine Spielchen mit mir zu spielen. Ich könnte sonst meine Geduld verlieren."

Renate nickt stumm und vergisst dabei, dass der Blinde dies nicht sehen kann. Im Moment beschäftigt sie wahrscheinlich mehr, wie sie bei unserem Freund in Bett eins einen echten Herzstillstand herbeiführen kann. Aber vielleicht hatte unser Herr Sauerbier einfach nur Angst, dass übereifrige Ärzte ihm bei lebendigem Leibe in bester Absicht einen Elektroschock verpassen. Immerhin blinkt das Gerät diensteifrig und immer frisch geladen direkt neben ihm.

Das Telefon klingelt. Fragend schaut Renate den Blinden an, der das wieder nicht sehen kann. Das Telefon klingelt weiter.

"Soll ich rangehen?" fragt sie.

"Natürlich, Schwester Renate. Finden Sie heraus, wer das ist."

Ich bin gespannt, zu wem unser junger Kollege Krämer zuerst gerannt ist. Wen hätte ich an seiner Stelle informiert? Beate, unsere Verwaltungsleiterin? Einen Chefarzt der anderen Abteilungen? Gleich die Polizei?

Aber es ist nur das Labor, das uns die übrigen Herzwerte für unseren Patienten Sauerbier mitteilt. Auch die sind negativ. Renate bedankt sich, zögert. Mir würde auch nichts einfallen außer, "wir sind überfallen worden, ruft Hilfe!" Unnötig, da Dr. Krämer gerade genau dies tun dürfte. Renate legt auf.

Kaum eine halbe Minute später klingelt das Telefon erneut. Diesmal hebt Renate, ohne zu fragen, ab.

"Ja, Dr. Wetzels, Sie sprechen mit Schwester Renate."

Der junge Dr. Krämer hat eine schlauere Alternative gefunden als ich in meinen Überlegungen. Renate hat jetzt den fähigsten Psychiater der Humana-Klinik am Apparat und ist klug genug, dies dem Blinden, an den sie den Hörer weiterreicht, nicht zu sagen.

"Unser Dr. Wetzels würde Sie gerne sprechen."

Der Blinde nimmt den Hörer.

"Guten Tag, Dr. Wetzels. Was kann ich für Sie tun?"

Pause, der Blinde hört Dr. Wetzels zu.

"Der tut nichts zur Sache."

Das dürfte die Frage nach dem Namen des Blinden gewesen sein.

"Nein, müssen Sie nicht."

Nun dürfte Wetzels akzeptieren, dass der Blinde seinen Namen nicht preisgeben will.

"Denen geht es gut."

Wir sind wohl gemeint.

"Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Wetzels, denen auch."

Aha, die Patienten. Oder, weniger egoistisch gedacht, hat Wetzels zuerst nach den Patienten gefragt.

"Das werden auch Sie noch früh genug erfahren."

Das hatten wir vorhin schon, bei Zentis: Die Antwort auf die Frage nach seinen Absichten oder Forderungen.

"Auch das werden Sie noch früh genug erfahren."

Wahrscheinlich die Frage nach dem Motiv, immer wichtig für den Psychiater.

"Nein, das habe ich nicht vor. Vorerst nicht."

Hat er gefragt, ob er nicht besser aufgeben sollte? Oder ob er Gewalt anwenden will? Er sollte den Geiselnehmer nicht auf Ideen bringen!

Aber wahrscheinlich sind Wetzels' Fragen viel subtiler. Schon oft habe ich sein Verhandlungsgeschick bewundert, wenn mir auch nie klar geworden ist, worin es liegt. Ich erinnere mich an einen voll durchgeknallten Lümmel von fünfzehn Jahren, den die Polizei in Handschellen auf unsere Aufnahmestation geschleppt hat. Wir sollten die Haftfähigkeit bestätigen, eine der beliebtesten Aufgaben im Nachtdienst. Der Junge grölte und schrie wie am Spieß, hätte bald auch unseren letzten Patienten aufgeweckt. Als Arzt hielt ich mich auch für einen schlauen Psychologen.

"Nehmen Sie ihm bitte die Handschellen ab", bat ich die Polizisten in überlegener Doktor-Manier. Jeder Mensch wird vernünftig, meinte ich, stellt man sein Freiheitsgefühl wieder her und begegnet ihm auf Augenhöhe.

"Auf Ihre Verantwortung, Doktor."

Es dauerte keine drei Minuten, bis ich, inzwischen mit angebrochener Nase und einer blutenden Augenbraue, dem tobenden Jungen die Handschellen wieder anlegen ließ. Was sich als nicht ganz einfach herausstellte. Dann rief ich Wetzels, der psychiatrischen Notdienst hatte. Der verschwand mit dem Lümmel in einem unserer ziemlich hellhörigen Untersuchungsräume, aber nicht ein Laut drang zu uns. Nach einer halben Stunde tauchte Wetzels mit einem lammfrommen Jungen wieder auf.

"Wie hast du das gemacht?"

"Na, erst einmal muss t du ihm die Handschellen abnehmen, Felix. Gleiche Augenhöhe, das ist das ganze Geheimnis."

Offenbar nicht. Aber bei unserem Blinden scheint auch Dr. Wetzels an seine Grenzen gekommen zu sein. Ihr Telefonat bleibt ergebnislos.

"Dafür ist gesorgt", höre ich noch.

Wofür? Für unsere Ernährung? Oder dafür, dass wir alle in die Luft fliegen, sollte die Intensivstation erstürmt werden?

"Daran kann ich Sie nicht hindern, Dr. Wetzels. Guten Tag."

Der Blinde legt auf.

Einen Moment herrscht Ruhe, ist nur die regelmäßige Blasebalg-Arbeit der Beatmungsmaschine an Bett vier zu hören.

Doch dann bricht die Hölle los. Neben mir, in Zentis' Kitteltasche, geht es los, dann kommt es von Renate, gleich auch aus der Personalküche, scheinbar überall melden sich Handys mit einer Kakophonie verschiedenster populärer Melodien. Früher war das Krankenhauspersonal über sogenannte Pieper erreichbar, man musste sich dann ein Telefon suchen. Jetzt haben wir alle ein Diensthandy. Aber eigentlich dürften diese sich hier gar nicht melden, sollen auf der Intensivstation ausgeschaltet werden. Wie im Flugzeug fürchtet man Störungen der Elektronik. Offensichtlich hält sich außer mir niemand daran.

"Stellen Sie bitte Ihre Handys ab, meine Herrschaften. Und dann übergeben Sie diese an Schwester Renate. Ihre privaten Handys bitte auch."

Wieder bin ich erstaunt, wie gut der Blinde sich bei uns auskennt. Doch ein ehemaliger Mitarbeiter, der seine Wiedereinstellung erzwingen will?

---ENDE DER LESEPROBE---