Ein vergiftetes Erbe - Christoph Spielberg - E-Book

Ein vergiftetes Erbe E-Book

Christoph Spielberg

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Beschreibung

Darf ein Arzt seinen Patienten beerben? Jedenfalls sollte sich der Klinikarzt Dr. Hoffmann nicht wundern, dass er damit in den Mittelpunkt polizeilicher Ermittlungen gerät. Zumal wenn er die Aussage verweigert, was er in der Todesnacht dieses plötzlich und unerwartet verstorbenen Patienten überhaupt in der Klinik zu suchen hatte. Des Weiteren, da bekannt ist, dass ihm dieser Patient mehr als unsympathisch war! Und nicht zuletzt wenn die Tochter des Toten behauptet, Dr. Hoffmann hätte sie bei einem Hausbesuch zusammengeschlagen! Kein Wunder, dass sich nicht nur die Polizei an den britischen Arzt Harold Frederick Shipman erinnert, der mehr als 200 seiner Patienten umgebracht und beerbt haben soll. Solche Zahlen schafft Dr. Hoffmann nicht, wird aber schließlich mit immerhin drei Todesfällen in Zusammenhang gebracht. Kein Wunder weiterhin, dass die Situation zu jeder Menge Verwicklungen, weiteren Verdächtigungen und Bedrohungen für Dr. Hoffmann und seine clevere Freundin Celine führt – auch während ihres Sommerurlaubs auf Malta. Schon der römische Dichter Syrus stellt im ersten Jahrhundert vor Christus fest: „Der Kranke, der seinen Arzt als Erben einsetzt, tut sich damit keinen Gefallen.“ In Ein vergiftetes Erbe allerdings auch seinem Arzt nicht! Einige Pressestimmen zu Christoph Spielbergs Dr. Hoffmann Serie: Westdeutscher Rundfunk: Spielbergs Krimis machen nicht nur Eingeweihten Spaß! rbb Fernsehen: (Spielbergs Krimis) haben einen wunderschönen Humor, den man mit Worten gar nicht beschreiben kann. Berliner Zeitung: Spielberg erzählt glaubwürdig und rasant Tagesspiegel Berlin: Dr. Hoffmann ermittelt also auch in unserer eigenen Sache. Und er macht es mit für deutsche Verhältnisse erstaunlicher Ironie und Lakonie.

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Christoph Spielberg

Ein vergiftetes Erbe

Ein Dr. Hoffmann Krimi

Inhaltsverzeichnis

in der Dr. Hoffmann Reihe bisher erschienen:

Arabisches Meer, Anfang Juli 2019

USA, Washington DC und Umgebung, Anfang Juli 2019

Malta, Grand Harbour Bay, Mitte Juli 2019

Berlin, Juli 2019

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Malta, Juli/August 2019

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Malta, Juli/August 2019;

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Berlin, August bis November 2019

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Dichtung und Wahrheit in DAS VERGIFTETE ERBE

Liebe Leserin, lieber Leser,

Impressum

in der Dr. Hoffmann Reihe bisher erschienen:

Die Russische Spende

Denn wer zuletzt stirbt

Hundertundeine Nacht

Der vierte Tag

Man stirbt nur dreimal

Wiederbelebung

Wunderheilungen und andere unerwünschte Nebenwirkungen

außerhalb der Dr. Hoffmann Reihe:

Der Ein-Euro Schnüffler

Personen und Handlung sind frei erfunden

© Christoph Spielberg 2022

Arabisches Meer, Anfang Juli 2019

„Rettungsboot klarmachen!“

Der Befehl aus dem Außenlautsprecher des Stückgutfrachters Druzba war über dem Brüllen des Sturms und dem Grollen der Brecher nicht wirklich zu verstehen, aber Ramon, Schiffskoch und Lademeister auf der Druzba, war sich seiner Bedeutung trotzdem sicher, denn er hatte ihn erwartet. Mehr noch: befürchtet. Denn dieser Befehl war sein Todesurteil.

Schon vor Stunden hatte Kapitän Liatschin Schwimmwesten anlegen lassen. Danach hatte die Mannschaft erneut Schotts sowie Luken auf Dichtigkeit geprüft und noch einmal kontrolliert, dass die Ladung wirklich sicher garniert war. Ramon war dabei die Aufgabe zugefallen, sich um das Transportgut an Deck zu kümmern: 25 Geländewagen vom Typ GAZ-69 mit Allradantrieb aus ehemals sowjetischer Produktion. Nicht das modernste Fahrzeug seiner Art, machte es seinem Spitznamen ‚Russische Bergziege’ immer noch alle Ehre. Und war Ursache seiner verzweifelten Situation.

Heilige Mutter Gottes! Wie nur könnte er sich befreien?

Aus seinem erzwungenen Versteck sieht der Koch Ramon, wie sich die Tür zum Hauptdeck einen Spalt öffnet, nur um vom Sturm gleich wieder zurückgedrückt zu werden. Der Vorgang wiederholt sich ein paar Mal, bis es gelingt, sie endlich weit genug gegen den Sturm geöffnet zu bekommen. Ramon erkennt die beiden, die sich jetzt geduckt und mit Seilen gesichert auf das Hauptdeck kämpfen. Es sind der zweite Maschinist Arvin und der Matrose Carlos. Carlos ist sein Neffe, ein junger Mann wie ein Baum, 19 Jahre alt. Er kommt aus demselben Dorf wie er und ist der Grund, dass Ramon überhaupt auf dieser Fahrt ist. Carlos ist gerade Vater geworden, die junge Familie braucht Geld. Er wusste von seinem Onkel Ramon, dass man als Filipino in der Seefahrt nicht Millionär, aber besser als auf dem Festland bezahlt wird. Seeleute von den Philippinen sind beliebt bei den Reedereien, weil sie als fleißig gelten und Englisch sprechen. Onkel Ramon fuhr schon seit Jahren zur See und hatte gute Kontakte auf dem Kalaw Platz in Manila, einer Art Markt für Seeleute. Hier kannte er eine Manning Agency, bei der er seinem Neffen mit Hilfe einer überschaubaren Summe von US-Dollars einen Job als Matrose ohne das sonst oft vorgeschaltete unbezahlte ‚Praktikum’ an Land verschaffen konnte, das in der Regel aus Tätigkeiten wie monatelangem Putzen der Klos in der Villa des Eigentümers der Agency bestand.

Jetzt beobachtet der Onkel, wie sich sein Neffe und der Maschinist in Richtung Rettungsboot vorarbeiten. Ist das seine Chance? Mit allem, was sein Brustkorb und seine Stimmbänder hergeben, brüllt er um Hilfe, „Heeelp!“, „Tuuuulong!“. Natürlich können die beiden ihn über dem Lärm und Getöse nicht hören. Wie der Sturm eben die schwere Deckstür immer wieder zurück in ihren Rahmen gedrückt hatte, peitscht er ihm nun seine Schreie in den Schlund zurück. Und mit den Schreien auch jeweils eine Ladung Salzwasser.

*

Bayani Fernando, der erste Offizier auf der Druzba, ist seit über 20 Jahren zur See gefahren. Anfangs als Leichtmatrose, hatte er sich beständig weitergebildet und so hochgearbeitet. Tatsächlich sollte dies seine letzte Fahrt als erster Offizier sein, die Reederei hatte ihm für den nächsten Turn ein eigenes Kommando so gut wie versprochen. Selbstverständlich kannte er das Jahrhunderte alte Gesetz der See: der Kapitän ist Gott, seine Befehle sind zu befolgen wie die zehn Gebote. Aber nach über 20 Jahren kannte er auch die anderen Gesetze der See. Unter anderem, dass man nie ohne Not das Wetter oder die Wellen herausfordert. Als 1. Offizier war Bayani detaillierter in das Vorhaben des Kapitäns eingeweiht als die übrige Mannschaft, aber war die von dem heute Morgen angeordnete Kursänderung nicht weit zu riskant? Sicher, sie entfernte ihr Schiff meilenweit von der internationalen Schifffahrtsroute, aber hatte sie auch geradewegs ins Zentrum dieses Sturms gebracht. War das die dreifache Heuer wert? Entsprechend dem ersten Gebot hatte Bayani seine Kritik an dem Kommando nur angedeutet, indem er dessen vorgeschriebene, laut ausgesprochene Bestätigung der Betonung nach als Frage formuliert hatte. Nun gab ihm der Befehl zum Aussetzen des Rettungsboots leider Recht: Die Kursänderung war ein enormer Fehler gewesen. Würde es noch etwas werden mit dem eigenen Kommando?

*

Schiffskoch und Lademeister Ramon hat über die Jahre genug Geld beiseite gelegt, um endlich seinen Lebenstraum, einen Sari-Sari-Store, zu verwirklichen. Der Vertrag für den Laden war unterschrieben, die Miete für ein halbes Jahr im Voraus bezahlt. Vor zwei Monaten sollte das neue Leben beginnen, nie wieder wochenlang auf See! Aber dann hatte er Carlos Mutter und seiner Frau versprochen, auf der ersten Fahrt auf den Neffen aufzupassen. So war er auf dieses verdammte Schiff und jetzt in diese verdammte Lage gekommen. Trotz seiner aussichtslosen Situation war ihm die Ironie bewusst: dies wird tatsächlich seine unwiderruflich letzte Fahrt sein! Und das nicht einmal wegen des zum Teil hochexplosiven und sogar hochmodernen Militärzeugs, das sie im Bauch der Druzba transportierten. Sondern wegen der alten Russenjeeps, die sie nur mitgenommen hatten, weil an Deck noch Platz gewesen war.

Wieder rollt eine Welle über das Deck. „Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae!“Offenbar gelingt es dem Kapitän nicht, die Druzba im rechten Winkel gegen die meterhohen Wellen zu halten. Der Stückgutfrachter ist stabil und schwer gebaut, beileibe kein Seelenverkäufer, hat in diesem Wetter aber kaum eine Chance mit seinem Dieselmotor von knapp über 4.000 PS Leistung. Und nun soll die Mannschaft ihr Leben einem Rettungsboot von weniger als einer Tonne Gewicht anvertrauen! Da wird das Schicksal der Kameraden nicht besser sein als seines. Es ist sicher die Strafe Gottes und der Geister, dass sie nicht nur die Ware des Teufels transportierten, sondern für doppelte Heuer dem Täuschungsmanöver zugestimmt hatten.

Trotzdem: Müsste er heute sterben, so würde Ramon den Tod im Kreis seiner Kameraden vorziehen. Das aber wird nicht geschehen. Sein linkes Bein ist unbeweglich auf das inzwischen vollständig überspülte Schiffsdeck genagelt. Selbstverständlich war er mit einem starken Tau gesichert gewesen, als er sich an die Geländewagen herangearbeitet hatte. Doch gerade als er den Haken seiner Sicherheitsleine von der Reling gelöst hatte, um sie am Schlepphaken eines Geländewagens einzuhaken, hatte sich das Heck der Druzba gehoben und eine weitere Riesenwelle sich über das Deck ergossen. Ramon wurde zu Boden geschleudert und war unter die Geländewagen und damit auch unter die Schutzplane gerutscht. Dabei war sein linker Fuß unter das Getriebe des dritten Geländewagens geraten, womit er, festgeklemmt zwischen Getriebe und der Metallbeplankung des Decks, nun für die Mannschaft sowohl unsichtbar wie unhörbar war. Hätte er eine Säge zur Hand, würde er sich den Fuß absägen. Hat er aber nicht. An einer Hoffnung hält er fest: Dass das Schiff so stark ins Schlingern gerät, dass auch die Geländewagen verrutschen und dabei seinen Fuß freigeben werden. Doch im Grunde weiß er: keine Chance! Er ist nicht nur ein guter Schiffskoch, sondern auch ein gewissenhafter Lademeister!

Natürlich versucht Ramon es weiter mit Rufen, während er beobachtet, wie Neffe Carlos und der Maschinist gleich Volltrunkenen über das Deck schwanken. Sinnlos. Die nächste Welle erwischt den unerfahrenen Neffen, wie ein Maikäfer gleitet der auf dem Rücken über das Deck. Gleich wird er mitsamt seiner Sicherungsleine über Bord gehen! Aber der kräftige Maschinist bekommt den Maikäfer zu fassen, richtet ihn auf. Gemeinsam erreichen sie endlich das Rettungsboot und machen sich an den beiden Davits, die das Boot über Bord heben sollen, zu schaffen. Nur – waren die schwenkbaren Kräne entgegen der Vorschrift vor der Abreise nicht geprüft worden? Oder hatten der Sturm und das Schlingern des Schiffs das Seil in einem der Flaschenzüge von der Rolle gehoben? Jedenfalls spricht der Maschinist in sein Walkie-Talkie, kämpft sich dann zurück zur Deckstür. Von innen erhält er Hilfe beim Öffnen, es werden ihm eine Brechstange und ein Vorschlaghammer gereicht, mit denen er es tatsächlich wieder zu den Davits schafft, die er nun gemeinsam mit dem Neffen bearbeitet. Dem hat er die Brechstange gegeben, weit lehnt der sich nun über die Reling hinaus, um den richtigen Ansatzpunkt zu erreichen. Ramon stockt der Atem. Natürlich will sich sein Neffe beweisen, die Mannschaft weiß, dass Carlos nur durch Fürsprache seines Onkels an Bord ist. Und es läuft wie erwartet: Der nächste Brecher erfasst den Neffen, schlägt ihm die Brechstange aus der Hand, hält ihn eine gefühlte Ewigkeit wie schwerelos hoch über dem Deck. Ließe die Welle ihn jetzt fallen, könnte die Sache noch leidlich ausgehen, der Neffe würde einfach zurück auf das Deck geworfen. Aber die Welle folgt unerbittlich den Naturgesetzen, die ihr die Richtung vorgeben, und nimmt Carlos mit über die Reling in das tobende Meer.

Noch ist nicht alles verloren, erkennt Ramon, der Neffe ist ja über die Sicherungsleine mit dem Schiff verbunden. Schon stemmt sich der Maschinist mit den Stiefeln gegen die Reling, kämpft in seinen schweren Handschuhen mit der Sicherungsleine. Nur, dass die sich offenbar irgendwo verhakt hat, nicht einen Millimeter kann er sie einholen. Mein Gott, der Junge wird ertrinken! Aber es kommt Hilfe, drei weitere Leute von der Mannschaft arbeiten sich heran und greifen sich die Sicherungsleine, den Hammer, das Brecheisen. Endlich bekommen sie die Leine frei und können Carlos’ schlaffen Körper an Bord ziehen. Zu spät, scheint es Ramon. Wenn der Neffe nicht ohnehin ertrunken ist, dürfte die klaffende Wunde, die sich von oberhalb der eingedrückten Stirn bis fast zum Unterkiefer zieht, sein Leben beendet haben. Oder doch nicht? Die Kameraden schleppen den scheinbar leblosen Körper über das Deck und verschwinden mit ihm durch die Deckstür. Sie gleichen dabei Betrunkenen, die den volltrunkenen Freund fortschaffen. Ramon wird sehen, ob sie ihn dann mit in das Rettungsboot nehmen.

Der Maschinist arbeitet nun weiter daran, das Rettungsboot beziehungsweise die Davids mit dem Rettungsboot über die Bordwand zu drehen. Jeden Moment würde der Befehl „in die Boote“ kommen. Der hieß einfach so, seit Jahrhunderten, auch wenn die Druzba lediglich mit einem Rettungsboot ausgerüstet ist, und zwar nicht mit einem dieser modernen Freifallboote. Ihres hing an zwei rostigen Schwenkdavits, musste mittels Seilzügen und Rollen mit einer Kurbel über die Reling gehoben und ins Meer abgelassen werden.

Sobald die Mannschaft im Boot wäre, würde man Ramons Fehlen feststellen – aber würde man sich in dem Chaos und auf einem Schiff, das nun auch noch steuerlos dem Unwetter ausgesetzt wäre, den Luxus erlauben, nach ihm zu suchen? Und selbst wenn, wie sollte man ihn in den wenigen Minuten, falls die überhaupt noch zur Verfügung stünden, hier, verborgen unter den Planen, finden? Nein, sein Todesurteil würde vollstreckt werden. Zu Recht, hatte doch auch er dem Plan des Kapitäns zugestimmt und dem zweifelnden Neffen klar gemacht: „Selbstverständlich stimmst du zu. Oder willst du von der Mannschaft ins Meer geworfen werden?“

Jetzt beobachtet Ramon etwas, das seine ohnehin schwache Hoffnung endgültig zunichtemacht: Der Maschinist hat es fast geschafft, das Rettungsboot hängt nun tatsächlich jenseits der Bordwand, allerdings schief, muss noch ausgerichtet werden. Dazu greift der Maschinist erneut zu dem schweren Hammer, was ihr Schicksal besiegeln wird, denn schließlich war es Ramon, der diesen Auftrag des Kapitäns ausgeführt hat. Beim dritten Schlag, Ramon schreit die ganze Zeit „no, no!“, was unsinnig weil unhörbar ist, löst sich das Rettungsboot aus den Haken und fällt ins Meer. Das war’s. Nun wird er also doch gemeinsam mit den Kameraden sterben!

*

Kapitän Liatschin war Seefahrer in der dritten Generation und stolz darauf. Sein Großvater hatte im Großen Vaterländischen Krieg ein Unterseeboot befehligt. Sein Vater war dem Großvater zur Kriegsmarine gefolgt, Liatschin schließlich ebenso. Er hatte es bis zum 1. Offizier geschafft, als die Sowjetunion so schändlich vom Genossen Gorbatschow verraten worden war und die nun russische Marine ihn nicht mehr brauchte. Also hatte er als Tankwart gearbeitet, als Maler, als Traktorist auf einer Kolchose, immer aber Augen und Ohren offen gehalten nach einem Wiedereinstieg in die Seefahrt. Und schließlich Angebote angenommen, die er früher als unter seiner Kapitänswürde abgelehnt hätte. In der Folge hatte er Metallschrott über die Ostsee geschippert, oder Elektronikschrott und ausgediente Fahrzeuge von Deutschland nach Afrika. Weil er den Pazifik gut kannte, hatte man ihn dann beauftragt, ausgemusterte Schiffe zum nicht unbedingt umweltgerechten Abwracken nach Indien oder Bangladesch zu bringen. Schließlich war nun dieser Auftrag von einer Reederei auf Malta gekommen. Es ging um mehr als eine bestimmte Fracht von A nach B zu transportieren, zu den Einzelheiten hatte ihn der Chef dieser Reederei persönlich instruiert. Schriftliche Unterlagen gab es keine, aber dreifache Heuer für ihn und den 1. Offizier, zweifache für die Mannschaft. Dafür konnte er schon mal in eine tobende See steuern.

Für das Schiff und die Besatzung fürchtete er nichts. Natürlich war die Druzba in die Jahre gekommen, aber ein durch und durch solide gebautes Schiff, vor fast 50 Jahren auf der Leninwerft in Danzig für den Bruderstaat Sowjetunion, robust und ohne modernen technischen Schnickschnack. Keine Stabilisatoren, die das Rollen mindern würden, kein GPS-gesteuerter Autopilot, kein Computerprogramm, das mit nur einem Tastaturbefehl ein Freifall-Rettungsboot klar machen würde. Alles noch echte Handarbeit. Seemannsarbeit.

Ruhig beobachtet Kapitän Liatschin die meterhohen Brecher, die unentwegt Bug und Vorschiff überrollen. Die Druzba wird angehoben und wieder fallen gelassen wie die sprichwörtliche Nussschale, ihre Schraube zeitweise aus dem Meer gehoben, ebenso das Ruder. Es folgt zwar den Befehlen von der Brücke, kann sie aber so nicht an das Wasser weitergeben und damit eine Richtungsänderung herbeiführen. Dazu müsste er im richtigen Moment das Schiff noch etwas weiter ausrichten, tut er aber vorerst nicht. Das hier ist ein für seine Stürme bekanntes Seegebiet, deshalb verläuft die offizielle Seefahrtroute über 100 Meilen südlich. Doch Liatschin ist schon mit ganz anderen Stürmen fertig geworden, und bessere Sicht braucht er ebenfalls nicht: Teile der Frontscheibe haben Wind und Wellen eingedrückt, längst stehen Kapitän und 1. Offizier Bayani auf der Brücke im Wasser. Kraft und Richtung der Brecher liest der Kapitän aus den Schiffsbewegungen.

Natürlich war Liatschin die versteckte Kritik seines 1. Offiziers an der Kursänderung nicht entgangen, so wenig wie es ihm jetzt entging, dass der weitgehend mit dem Leben abgeschlossen hatte. Bestimmt flehte der gute Bayani inzwischen nicht nur die Jungfrau Maria um Hilfe an, sondern auch die Anitos, die guten Geister seiner vorkolonialen Ahnen. Denn die Filipinos sind auch nach Jahrhunderten des Islam, gefolgt von Jahrhunderten spanischen Katholizismus, sicher, dass solche Stürme und andere Katastrophen geschehen, weil die Geister genauso wie die Menschen einen Anspruch auf Leben und Raum im Universum haben und sich rächen, wenn sie nicht respektiert werden.

Nur gut, dass wahrscheinlich niemand seiner Besatzung wusste, dass er ein Namensvetter jenes unglücklichen russischen Kapitäns Liatschin war, der vor Jahren mit dem Atom-U-Boot Kursk auf dem Grund der Barentssee seine gesamte Besatzung und das eigene Leben verloren hatte. Das hätte diesen abergläubischen Menschen bestimmt den letzten Mut genommen. Denn eines stimmte nach wie vor: Kaum einer seiner Seeleute konnte schwimmen. Und selbst wenn, hätte ihnen das in dieser tobenden See auch nichts genutzt.

Gegen das von Regen und Sturm gegen die beiden verbliebenen Scheiben gedrückte Wasser kamen die Scheibenwischer nicht an. Liatschin bediente einen mit der Hand, konnte aber auch so kaum etwas erkennen. Bis auf das Wichtigste: Die heimlichen Vorbereitungen hatten geklappt, unwiederbringlich tanzte ihr Rettungsboot auf der See und trieb, der Strömung folgend, in Richtung der internationalen Schifffahrtsroute.

„Bayani, sichern Sie sich gut und sehen Sie nach dem Rettungsboot. Ich kann nicht erkennen, ob die Mannschaft es einstiegsbereit bekommen hat“, log er. Der 1. Offizier nickte stumm und verließ die Brücke. Ein schlechtes Gewissen beschlich Liatschin, wenn er an den Schreck dachte, der Bayani jetzt bevorstand. Dass der Verlust ihres einzigen Rettungsboots zum Plan gehörte, hatte er seinem 1. Offizier nicht verraten. Hätte er ihn doch einweihen sollen?

Nachdem das Rettungsboot wie geplant verloren war, blieb nur noch eines zu tun: Liatschin schaltete das AIS, das automatische Schiffserkennungssystem, mit dem andere Schiffe und Küstenstationen die Position der Druzba hätten orten können, ab. Danach funkte er SOS auf der dafür reservierten Frequenz. Statt dabei seine aktuellen Koordinaten durchzugeben, täuschte er eine Störung vor. Dann nahm er die gesamte Elektronik vom Netz. Jahrelang hatte er ohne diesen Schnickschnack den gewünschten Hafen gefunden.

*

Schiffskoch Ramon, unverändert gefangen im Schraubstock des russischen Jeeps, hatte sich mit dem nahen Tod abgefunden und längst die sinnlosen Versuche, sich aus seiner Lage zu befreien, aufgegeben. Sein vom Getriebe des Wagens gegen das stählerne Deck gepresste Bein spürte er nicht mehr, tatsächlich spürte er seinen gesamten Körper kaum noch. Eine fast angenehme Ruhe war über ihn gekommen, er dachte an den kleinen Laden, den er nach dieser Fahrt mit seiner Frau hatte aufmachen wollen. Vor seinem inneren Auge sah er sie beide hinter dem Verkaufstresen stehen, Kunden bedienen, eine Liste mit den Bestellungen für den nächsten Tag schreiben, inzwischen unverkäufliche Ware für die eigene Küche aussortieren. Mit der Zeit wollten sie, mit seinen Erfahrungen als Schiffskoch, auch einen Imbiss anbieten. Würde die Reederei der Witwe wirklich wie versprochen die doppelte Heuer auszahlen, wie der Kapitän versprochen hatte? Vielleicht sogar die Lebensversicherung? Damit könnte wenigstens sie ihren gemeinsamen Traum leben! Diese Vorstellung beruhigte ihn weiter, gefasst sah er nun dem Tod entgegen.

Plötzlich hob jemand die Plane, die ihn unter dem Jeep versteckt hielt. Ramon erkannte Bayani, den 1. Offizier, der ihn vorhin mit der Überprüfung der Geländewagenladung beauftragt hatte. Schnell erkannte der, dass ein Mann alleine Ramon nicht aus seiner Lage befreien konnte.

„Mach dir keine Sorgen, wir holen dich hier heraus.“

Als Bayani sich vorhin auf dem Deck vorgekämpft hatte, hatte er schnell die Lage erkannt und dem Kapitän gemeldet: Das Rettungsboot verloren, schon nicht mehr zu sehen. Mit stählerner Ruhe hatte Kapitän Liatschin die Meldung entgegen genommen. Alles sei unter Kontrolle, Bayani solle sich keine Sorgen machen. Was hatte das zu bedeuten? Meinte der Kapitän, die Mannschaft könnte die Wahrheit nicht vertragen? Enttäuscht, verwirrt, ratlos war der erste Offizier nach unten zur Mannschaft hinabgestiegen, die sich weiter um Carlos und seine klaffende Wunde kümmerte. Der Junge war bewusstlos, sehr wahrscheinlich nicht zu retten. Aber das waren sie ja alle nicht mehr. Dann hatte Bayani festgestellt, dass ein Mann fehlte. Und sich an den Auftrag erinnert, den er dem Schiffskoch gegeben hatte.

Gemeinsam hatte die Mannschaft Ramon schließlich befreit. Sein rechtes Schienbein dürfte gebrochen sein, trotz der aussichtslosen Lage hatten sie es mit einer Latte geschient. Wahrscheinlich hatten weder der 1. Offizier noch der Schiffskoch jemals von Philosophie gehört, erst recht nicht von der im antiken Griechenland. Trotzdem wussten beide, dass die Götter im selben Atemzug das nehmen können, was sie gerade erst gegeben haben. Hatten die gar ihren Spaß daran?

Bayani bedeutete in Tagalog, einer der über 150 auf den Philippinen gesprochenen Sprachen, Held. Trotzdem würde er heute mit Sicherheit sterben, egal, ob als Held oder nicht. Denn weit entfernt von der internationalen Route würde sie jede Hilfe zu spät erreichen.

*

Mit 20 Knoten, knapp unter seiner Maximalgeschwindigkeit, stampfte der Containerfrachter Ocean Queen dem Golf von Aden entgegen. Der Sturm in der vergangenen Nacht hatte die Ocean Queen trotz ihrer gewaltigen Ausmaße ordentlich durchgeschüttelt, wichtiger aber: Zeit gekostet, und Zeit ist das wichtigste Gut im Frachtgeschäft. Immerhin war keiner der gut 18.000 Container über Bord gegangen. Nun aber galt es, die im Sturm verlorene Zeit aufzuholen.

„Rettungsboot steuerbord voraus! Soweit zu erkennen, niemand an Bord.“

Eine knappe Sekunde überlegte der 2. Offizier, der gerade das Kommando auf der Brücke hatte, ob er die Meldung ignorieren sollte. Hatten sie nicht schon genug Zeit verloren? Wenn ohnehin niemand an Bord war? Aber trotz des enormen Drucks der Reederei, die Termine zu halten, wenn nicht zu unterbieten, war er doch zu allererst Seemann. Und ein Seemann kümmert sich um ein gesichtetes Rettungsboot. Zumal wenn nur „soweit zu erkennen“ niemand an Bord war.

Das komplette Manöver dauerte fast eine Stunde: Die Vorausfahrt drosseln, die komplette Richtungsänderung des riesigen Frachters, die vorsichtige Annäherung an das Rettungsboot, das Aussetzen und Wiedereinholen des Schlauchboots, von dem aus drei seiner Männer das herrenlose Boot aus der Nähe inspizierten.

„Niemand an Bord. Wohl auch niemand je gewesen. Reserveriemen, Kappbeile, Sturmlaterne, Trinkwasserbehälter, Seenotproviant und so weiter - alles noch ordentlich verstaut. Funkgerät nicht aktiviert. Denen muss ihr Kahn abgesoffen sein, bevor es auch nur eines der armen Schweine ins Boot geschafft hat.“

„Aber es war von der Druzba.“

„Ja. War deutlich zu lesen.“

Wenigstens schnell dürfte es gegangen sein. So schnell, dass unmittelbar nach ihrem SOS-Ruf die Druzba das automatische Schiffserkennungssystem mit in die Tiefe gerissen hatte, dachte der Kapitän der Ocean Queen, der dem Anlass gemäß das Kommando übernommen hatte. Dreimal ließ er die Schiffsglocke für die ertrunkenen Kameraden läuten, dann befahl er:

„Zurück auf Kurs. Al minuto!“

*

Am nächsten Morgen hatte die Ocean Queen die südliche Einfahrt zum Suezkanal erreicht und wartete auf ihre Einfahrerlaubnis. Gestern schon hatte der Kapitän den Untergang der Druzba an Lloyds in London gemeldet. Dort war der traditionelle Glockenschlag für ein gesunkenes Schiff seit Jahren ersetzt durch einen emotionslosen Eintrag in die Datenbank des Hauses. Der Verlust der Druzba war kein besonderes Ereignis. Immerhin sinken fast einhundert Schiffe über 100 Bruttoregistertonnen pro Jahr auf den Weltmeeren und einige davon, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Am Abend desselben Tages machte der Stückgutfrachter Hope im Hafen von Kismayo im Süden von Somalia fest. Das Schiff hatte bereits unter vielen Namen die Meere durchpflügt. In Dienst gestellt hatte man es vor etwa 50 Jahren als Aleksandr Pushkin, danach war sie unter anderem als Wolf von Hamburg unterwegs gewesen. Unter dem Namen Hope war sie vor zwei Wochen in Panama registriert worden. Seit gestern trug sie diesen Namen auch, bei inzwischen deutlich ruhigerer See von der Mannschaft trotz des schwankenden Gerüsts erstaunlich ordentlich an den Bug gepinselt, nachdem der Name Druzba unter zwei Eimern Farbe verschwunden war.

Kapitän Liatschin war zufrieden. Es war richtig gewesen, den Leuten Angst einzuflößen, Angst sogar um ihr nacktes Überleben. Angst vor dem Kapitän und der Unantastbarkeit seiner Entscheidungen, das hatte er bei der Kriegsmarine gelernt, war entscheidend, um die Mannschaft unter Kontrolle zu halten. Sie würde dafür sorgen, dass die Männer sich an ihr Schweigegelübde hielten und an seine Worte erinnerten: „Wer immer, wo immer, ein einziges Wort über die letzten zwei Tage an Bord verliert – ich werde persönlich dafür sorgen, dass der zumindest nie wieder einen Job auf See bekommt!“ Was, weil es jeweils eine gesamte Familie betreffen würde, im Effekt nicht wirklich weniger als eine Todesdrohung war.

Gleich der Druzba war auch die Hope bei Lloyds London versichert, wie auch ihre Fracht, angeblich Holzkohle. Unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit wurde die Ladung der Hope gelöscht, sofort auf bereitstehende Lkw verladen und abtransportiert. Die Lkw hatte die kenianische Armee, deren eigentliche Aufgabe die Sicherung des Hafens war, gestellt. Nun wurde tatsächlich Holzkohle gebunkert. Wo die wohl herkam, wo doch der Holzexport vorwiegend ein Geschäft der westafrikanischen Staaten war? Vielleicht aus der Republik Kongo? Oder sogar aus Kenia, wo sämtlicher Holzeinschlag streng verboten war? Bestimmt jedenfalls ist die Holzkohle für Baumärkte in Deutschland, wo sie mit dem Umweltsiegel für nachhaltige Waldbewirtschaftung verkauft werden wird.

Dass die Hope ihre Fahrt nach Malta ohne Rettungsboot fortsetzte, stellte in Kismayo ein Problem dar, das von Kapitän Liatschin mit einer 100 Dollarnote für den Hafenmeister schnell gelöst war.

USA, Washington DC und Umgebung, Anfang Juli 2019

Am Ende war es ein Analyst der Drug Enforcement Agency DEA, der US-Behörde zur Überwachung und Abwehr von Drogenschmuggel in die USA, der den Zusammenhang entdeckte. Allerdings erst fast eine Woche nach dem ‚Untergang’ der MS Druzba.

Als an jenem Tag das Transpondersignal des Stückgutfrachters Druzba plötzlich von seinem Bildschirm verschwand, fast unmittelbar nachdem der Satellit das SOS-Signal dieses Schiffs aufgefangen und automatisch gemeldet hatte, war das gegen Ende der Schicht von Warrant Officer Kent Muller im Office of Naval Intelligence, dem Marinegeheimdienst, gewesen, kurz vor 18:00 Uhr Ortszeit in Washington D.C. Acht Stunden hatte er in seinem Überwachungsgebiet, dem westlichen Indischen Ozean und dem Arabischen Meer, in Echtzeit die Schiffsbewegungen und den dort tobenden Sturm beobachtet und war sich seiner glücklichen Lage bewusst: Hier, im National Maritime Intelligence Center in Suitland, nur ein paar Meilen außerhalb Washingtons, saß er, im Gegensatz zu den armen Schweinen dort draußen, im Trockenen und angenehm klimatisiert. Etwa wie ein Fluglotse, wobei seine Aufgabe lediglich im Beobachten bestand.

Das Unwetter betraf auch die internationale Schifffahrtsroute, aber noch stärker wütete es knapp 50 Meilen südlich davon. Nur Gott und hoffentlich auch der Kapitän wussten, was die Druzba dort zu suchen hatte – und nun war ihr Signal verschwunden! Muller schaltet auf das Seefunknetz und suchte nach einem Signal, denn wie jedes Schiff auf den Weltmeeren sollten auch das oder die Rettungsboote der Druzba mit einem Notfunkgerät ausgerüstet sein: nichts. Er notierte die Zulu-Zeit, wann das Transpondersignal der Druzba von seinem Bildschirm verschwunden war, und die entsprechenden Koordinaten. Dann betete er still für die Seeleute, denn als Offizier der Marine waren alle Seeleute seine Kameraden.

Nachdem um Punkt 18:00 Uhr sein Kollege Weinstein die Kontrolle der Bildschirme übernommen hatte, berichtete ihm Muller kurz diese Beobachtung, das einzig Bemerkenswerte aus seiner Schicht. Weinsteins Interesse hielt sich in Grenzen, ihm war wichtiger, von der Bar Mitzwa seines Sohnes zu erzählen. Selbstverständlich fasste Muller seine Beobachtungen der vergangenen Stunden dann vorschriftsmäßig auf dem dafür vorgesehenen Formular zusammen, im Gegensatz zum üblichen ‚keine besonderen Vorkommnisse‘ übertrug er die Daten zur verschwundenen Druzba von seinem Notizblock. Aber auch das ging recht schnell, was gut war. Denn er hatte noch den Feierabendverkehr in D.C. vor sich und sein Sohn spielte heute Abend gegen die Erzrivalen von der Charles Herbert Flowers Highschool. Das konnte Muller auf keinen Fall versäumen.

So kam es, dass Kollege Weinstein später sehr wohl das Auftauchen des Transpondersignals der MS Hope quasi aus dem Nichts bemerkte und es am Ende seiner Schicht selbstverständlich in seinem Bericht festhielt, es aber nicht mit dem offensichtlichen Untergang der MS Druzba ein paar Stunden vorher und gut 80 Seemeilen entfernt in Zusammenhang brachte. So wurden beide Berichte am nächsten Tag mehrmals kopiert und ohne besondere Dringlichkeit in versiegelten Umschlägen routinemäßig an Behörden wie die NSA, den CIA oder die Drug Enforcement Agency DEA weitergeleitet.

So war fast eine Woche nach dem ‚Untergang’ der MS Druzba und dem Auftauchen der MS Hope vergangen, als der Analyst der Drug Enforcement Agency den wahrscheinlichen Zusammenhang entdeckte. Sofort ließ er sich die Aufzeichnungen des Marinegeheimdiensts im fraglichen Seegebiet überspielen und verfolgte darauf den weiteren Weg der Hope. Dann wies er in einer verschlüsselten Email den DEA-Agenten in Somalia an, Art und Umfang der im Hafen von Kismayo gelöschten Ladung der MS Hope sowie deren Verbleib ‚asap’ zu erkunden. Nur zur Sicherheit. Die Hope war, das ließ sich leicht zurückverfolgen, in Wladiwostok beladen worden, ein späterer Zwischenstopp in einem Land mit traditionellem Mohn-Anbaugebiet war nicht nachweisbar. Trotzdem: eine Übergabe von einer Dschunke auf See vielleicht?

Selbstverständlich waren dem Analysten die nach 9/11 erlassenen Vorschriften zum Austausch wichtiger Erkenntnisse unter den US-Geheimdienste bekannt, aber auch die wichtigste Regel: ‚cover-your-ass’. Es dauerte weitere zwei Tage, bis seine Vorgesetzte die Weitergabe genehmigte, wenn auch nur mündlich. Schließlich also informierte der Analyst seine Kollegen in den anderen Diensten zum Schicksal der Druzba und dem plötzlichen Auftauchen der Hope. Wie die anderen bedankte sich auch die Kollegin bei der CIA höflich für den Anruf, sie würde sich darum kümmern, aber sicher ging es hier doch höchstens um Versicherungsbetrug. Keine Angelegenheit, die die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten bedrohte oder Anlass sein sollte, die Welt an die Tatsache zu erinnern, wie genau diese Vereinigten Staaten den Schiffsverkehr weltweit beobachteten. Ihr Lächeln konnte der DEA-Mitarbeiter über das Telefon nicht sehen. Tatsächlich aber hatte sie schon vor Tagen den CIA-Residenten in Somalia über das Eintreffen der MS Hope im Hafen von Kismayo informiert und auch die Kollegen in Berlin und Malta angerufen. Die CIA-Kollegin auf Malta traf sich daraufhin mit zwei sogenannten ‚contractors’ - Männern, die gerne Aufträge von der CIA annahmen, aber – im Falle eines Falles – nachweisbar keine Mitarbeiter der CIA waren. Denn der Hafen von Valletta auf Malta, das wusste die CIA, war das nächste Ziel der Hope.

Malta, Grand Harbour Bay, Mitte Juli 2019

Kapitän Liatschin genießt die Seeluft, die über die Grand Harbour Bay weht, also über die Bucht, die mehr als drei Kilometer in die Insel hineinragt und damit Malta seit Jahrhunderten einen weitgehend sturmsicheren Hafen schenkt. An ihrem nordwestlichen Ufer thront die Hauptstadt Valletta mit den Palästen aus dem Mittelalter und dem Hafen für die großen Kreuzfahrtschiffe. Früher machten auch die Frachtschiffe aus aller Welt hier fest, den Frachtverkehr hat man jedoch schon vor Jahren in den dafür ausgebauten ehemaligen Fischereihafen von Marsaxlokk verlegt. Kapitän Liatschin kann sich auf dem Weg zu seinem Schiff trotzdem an den Lichtern, die von Valletta über die Bucht grüßen, erfreuen. Denn das Schiff, das schon so viele Namen getragen hat und seit gut zwei Wochen Hope heißt, liegt in einer der Reparaturwerften, die an ihrem angestammten Platz am gegenüberliegenden Ufer der Bucht von Grand Harbour, der sogenannten Southwest Extension, verblieben sind.

Keine besonders touristische Gegend - Lagerhäuser, Reparaturwerften, Schiffsausrüster - aber dann schlendert der Kapitän hier auch nicht als verirrter oder besonders abenteuerlustiger Tourist herum. Allerdings auch nicht, um die Reparaturarbeiten an der Hope zu kontrollieren. Natürlich wird er das morgen tun, doch heute Abend will er nur noch ein oder zwei Bier mit der Mannschaft trinken, die allgemeine Stimmung sondieren. Es hatte in Vorbereitung der Aktion ‚Untergang der Druzba‘ eine Diskussion mit dem Reeder gegeben: Danach die Mannschaft behalten oder besser eine neue Mannschaft anheuern? Liatschin hatte sich durchgesetzt mit dem Argument, dass man so die Männer besser unter Kontrolle halten könne. Auch jetzt während der Reparaturarbeiten, denn wie immer wohnen Kapitän und Mannschaft an Bord ihres Schiffes.

Schon seit einigen Minuten hört Liatschin Schritte hinter sich. Die irritieren ihn nicht besonders, trotz der ihm vorhin zugesteckten Bonuszahlung in bar, die er, in den Hosenbund geklemmt und unter dem Hemd verborgen, bei sich trägt. Auch, dass es in diesem Teil der Welt im Juli um 10 Uhr abends bereits seit fast zwei Stunden dunkel ist, beunruhigt Liatschin nicht. Er kennt die Gegend, sie ist um diese Uhrzeit relativ einsam, aber nicht gefährlich. Außerdem ist er kräftig und hat wiederholt Streitigkeiten an Bord auch mit physischem Einsatz beendet. Sicher wäre er deutlich mehr irritiert, wüsste er, dass ihn die beiden Männer bereits verfolgen, seit er das Spielkasino verlassen hat. Und sicher noch mehr, wüsste er, dass es nicht um das Päckchen Geldscheine in seinem Hosenbund geht.

Es war ein eigenartiger Abend im Spielkasino gewesen. Das hatte schon mit der SMS begonnen, mit der er dorthin bestellt worden war. Er solle den Chef an der Bar treffen, wegen ‚Instruktionen nächste Fracht‘. Lediglich zweimal hatte Liatschin den Reeder bisher persönlich getroffen, zuletzt vor ein paar Monaten im Hafen von Singapur. Aber beide Male hatte der ihn persönlich mit einem Anruf eingeladen. Noch eigenartiger dann, dass der Chef heute Abend gar nicht im Kasino aufgetaucht war! Wiederholt hatte der Kapitän die SMS kontrolliert: Ja, die Zeit stimmte, er war pünktlich. Und noch einmal: Ja, er war im richtigen Kasino, dem eleganten Dragonara in St. Julians. Hatte der Chef sich geirrt, wartete in einem anderen der vier auf Malta tätigen Spielkasinos?

Erneut hatte Liatschin sich umgeschaut, diesmal so konzentriert, dass er einen Gast gerempelt hatte. Oder der ihn? Jedenfalls hatte der sogar eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Mann, den er hier treffen sollte - aber die zu sehen, musste man den Begriff Ähnlichkeit großzügig definieren. Trotzdem, Liatschin musste den Mann etwas zu intensiv betrachtet haben, denn der hatte ihn fragend angeschaut, die Augenbrauen gehoben im Sinne von „kennen wir uns?“ Liatschin hatte ein schnelles „sorry“ gemurmelt und damit sein Leben gerettet. Vorerst wenigstens.

Gerade hatte der Kapitän überlegt, ob er den Chef über die Nummer der Transocean Shipping erreichen könnte, da hatte sich sein Handy gemeldet – und richtig, es war die Transocean, er kannte die Nummer. Aber es war nicht der Chef am Apparat, es meldet sich dessen Faktotum, dieser einarmige Pole. Er stünde auf dem Parkplatz vor dem Kasino, hatte ihm der Pole am Telefon mitgeteilt, und dass Liatschin ihn dort treffen solle. Krzysztof hieß der Pole, war dem Kapitän eingefallen, oder Krzysiek. Ein unangenehmer Kerl, aber wenigstens verstanden sie bei der Ähnlichkeit der Sprachen einander. Wiederholt hatte sich Liatschin gefragt, ob der Chef und der einarmige Pole schon die gesamte Firma Transocean Shipping wären und die Druzba, jetzt Hope, deren einziges Schiff? Doch das ging ihn nichts an, konnte ihm egal sein. Er hatte sein Gehalt immer pünktlich bekommen, diesmal auch das dreifache, wie versprochen. Und häufig großzügige Boni.

„Chef konnte nicht kommen“ hatte ihn der Pole dann auf dem Parkplatz informiert und ihn dabei irgendwie seltsam – forschend? – angeguckt. Der Blick war Liatschin zwar aufgefallen, aber er hatte sich nichts groß dabei gedacht. Zumal ihm gleich darauf vom Polen ein strammes Päckchen zugesteckt worden war, über dessen Inhalt kein Zweifel bestand.

Liatschin muss zugeben: Allmählich machen ihn die Schritte in seinem Rücken nervös, auf jeden Fall stören sie ihn. Er hätte mit dem Taxi, das er am Kasino genommen hatte, doch direkt bis zum Reparaturpier fahren sollen. Aber er war vorher ausgestiegen, wollte noch etwas zu Fuß gehen. Denn er mochte diese Gegend, den Geruch von Meer und Schiffsdiesel, das Hämmern von irgendwo, weil noch bis morgen früh ein Motor wieder zum Laufen, ein Kranseil ersetzt werden musste. Hier fühlt er sich deutlich wohler als in dem neuen Großhafen bei Marsaxlokk mit seiner modernen Effizienz. Aber nun - sind die Schritte nicht sogar nähergekommen? Es sind männliche Schritte, keine Frage. Mehr weiß er nicht. Er will sich nicht umdrehen, und es gibt hier keine Schaufenster, in deren Spiegelung er seine Verfolger hätte studieren können. Denn er wird verfolgt, da ist er inzwischen sicher. Oder – sind es Männer seiner Besatzung? Die hätten natürlich denselben Weg, aber hätten die sich nicht zu erkennen gegeben, wären zu ihm aufgeschlossen?

Schließlich, eigentlich wider besseres Wissen, dreht Liatschin sich doch um und erkennt zwei Dinge: Wie erwartet handelt es sich bei den beiden – grinsten die ihn an? – nicht um Männer aus seiner Mannschaft. Fast musste er lächeln: Die beiden erinnern ihn an amerikanische Agenten in den Kinofilmen seiner Jugend, die ständig Kaugummi kauen mussten und vorhersehbar keine Chance gegen den sowjetischen Sicherheitsapparat und die aufmerksamen Sowjetbürger hatten. Tatsächlich scheint wenigstens einer seiner Verfolger Kaugummi zu kauen, aber aktuell wirkt das nicht mehr so lächerlich wie in diesen Filmen. Die beiden dürften um die 40 sein, deutlich jünger als er mit seinen 65 Jahren. Jetzt fühlt sich Liatschin definitiv bedroht. Hat er etwas zu seiner Verteidigung dabei außer seinen Fäusten und der längeren Erfahrung in körperlichen Auseinandersetzungen? Hat er nicht, und was immer längere Erfahrung Wert war, hatte er die auf Kosten seiner ehemaligen Schnelligkeit gewonnen. Doch inzwischen sind es nur noch ein paar Schritte bis zu dem Reparaturdock, an dem die ‚Hope’ vertäut liegt. Tatsächlich kann er schon den Lärm hören, mit dem seine Mannschaft auf Deck feiert. Niemand wird sich trauen, ihn bei so vielen potentiellen Zeugen und Unterstützern anzugreifen!

Ein nachvollziehbares Argument, in dem sich Liatschin allerdings irrt. Denn über dem Lärm hört jetzt niemand seine Rufe und Schreie, wenn er versucht, sich an der Kaimauer wieder hochzuziehen, was ihm die beiden Männer konsequent verwehren. Dabei vermeiden sie peinlich, Spuren von Gewalteinwirkung zu hinterlassen, soll der Tod des Kapitäns doch als Unfall registriert werden. Denn seinen Tod werden sie sicher erreichen. „Wollte der Herrgott, dass der Mensch fliegen könne, hätte er ihm Flügel verpasst. Und Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen, sollte er schwimmen können“ – so oder ähnlich heißt es unter Seeleuten. Also werden seine rudimentären Schwimmfähigkeiten den russischen Kapitän nicht retten. Warum hatte er das Taxi nicht die komplette Strecke bis zum Schiff genommen? Egal, tröstet er sich. Dann hätten die beiden ihn eben morgen erwischt, oder übermorgen. Immer häufiger schluckt Liatschin nun Wasser, hat schließlich sein Schicksal akzeptiert.Sein fast letzter Gedanke ist die staunende Erkenntnis, dass er den Mann im Kasino, den er gerempelt hatte, oder der ihn, ja doch kannte! Hätte er den laufen gesehen, hätte er ihn an seinem diskreten Humpeln wahrscheinlich schon da erkannt. Hatte er aber nicht - weshalb musste er jetzt trotzdem sterben?

Wie sollte Liatschin wissen, dass man tatsächlich zweimal zum Tode verurteilt werden konnte? Tatsächlich hatte seine Reaktion oder Nicht-Reaktion im Kasino eines von zwei Todesurteilen aufgehoben. Ein weiteres aber war tausende Kilometer entfernt von hier gefallen, und das wurde jetzt gerade vollstreckt. Denn ohne es zu wissen hatte er mit seiner Erinnerung an US-Agenten in sowjetischen Filmproduktionen ins Schwarze getroffen. Bei einem eher kurzen Gespräch in einem Strandhaus nahe Boston war die Entscheidung gefallen, dass Kapitän Liatschin, so nützlich er auch in den letzten Jahren gewesen war, mit seinem Wissen um die Geschäfte der Transocean ein nicht mehr akzeptables Sicherheitsrisiko für die Vereinigten Staaten von Amerika darstellte.

Mit dem Vollzug hatte die Zentrale zwei ihrer inoffiziellen Mitarbeiter beauftragt, die in keiner Gehaltsliste der CIA auftauchten, Codenamen Howie und Nick. Die beiden hatten sich diese Codenamen seinerzeit selbst ausgesucht, nach den von ihnen bewunderten Backstreet Boys Howie Dorough und Nick Carter. Wobei einzig etwas erstaunte, dass der inoffizielle Mitarbeiter Nick, unverkennbar ein Afroamerikaner, seinen Decknamen auf einen hellhäutigen Musiker bezog.

Berlin, Juli 2019

„… und über wie viel sprechen wir hier?“

1

Die Zeichen, die bevorstehenden Ärger anzeigen, sind allgemein bekannt: Zum Beispiel, wenn vor dir eine schwarze Katze von links nach rechts die Straße überquert (oder war das von rechts nach links?). Mindestens ebenso schlimm ist es, man lässt einen Spiegel fallen und der endet in Scherben. Auch wer unter einer Leiter hindurchgeht, fordert bekanntermaßen das Schicksal heraus. Obwohl, die prognostische Zuverlässigkeit dieser Warnungen ist umstritten. Nach Meinung der Engländer bringt eine schwarze Katze, die den Weg kreuzt, sogar Glück. Wie auch in Japan. Und selbst bei uns kann man das drohende Unglück noch abwenden: Man wirft einen Stein über den Weg oder spuckt dreimal aus. Unumstritten aber, wahrscheinlich sogar weltweit, dürfte sein: Wenn es nachts um drei Uhr klingelt, bedeutet das nur selten etwas Erfreuliches.

Dementsprechend dachte ich nicht gerade an die Verkündung eines Lottogewinns, als ich endlich erkannt hatte, dass das Klingeln nicht zu meinem Traum gehörte. Nichts Gutes ahnend angelte ich nach dem Handy neben dem Bett. Sicher das Krankenhaus! Als Oberarzt auf der Inneren Abteilung der Humanaklinik muss ich nur noch im Notfall Nachtdienst vor Ort schieben (zum Beispiel, wenn die jungen Kollegen/Kolleginnen mal wieder geschlossen in den Ferien/krank/im Mutter- oder Vaterschaftsurlaub sind), aber ich habe heute Nacht Rufbereitschaft. Manchmal geht es dabei um ein Problem, das sich telefonisch nicht regeln lässt, und ich muss in die Klinik. Nur meldete sich niemand, als ich den grünen Knopf drückte. Die Klingel aber schrillte erneut, länger als vorher. Die Haustür! Ich stolperte in Richtung Wohnungstür und drückte den Sprechknopf.

„Was gibt’s?“

„Doktor, ich brauche Ihre Hilfe!“

Selbst über die Gegensprechanlage erkannte ich die Stimme: Franz, der Ex-Knacki, der mir versprochen hatte, sich auf keine krummen Dinger mehr einzulassen.

Die Weisheit bestätigte sich: Wenn es nachts um drei Uhr klingelt, bedeutet das nur selten etwas Erfreuliches.

2

Derselbe Tag, Humanaklinik Berlin, neun Uhr abends. Korrektur: Inzwischen ist es fast halb zehn. Ich sitze in meinem Arztzimmer auf der Inneren Abteilung und tue mir leid. Ich bin doch der Oberarzt! Warum wusele ich hier immer noch herum, während die Damen und Herren Assistenzärzte längst zu Hause fernsehen oder die Kinder ins Bett bringen? Der Chef ist gleich nach seiner Privatsprechstunde schon am frühen Nachmittag verschwunden.

„Halten Sie die Stellung, Felix. Ich muss zu einem wichtigen Termin.“

Zum Golf?

Natürlich war ich heute Morgen nicht wieder eingeschlafen, nachdem ich Franz notdürftig verarztet hatte. War Franz doch wieder auf die schiefe Bahn geraten? Denn so hatte ich ihn kennengelernt, vorgeführt zur Magenspiegelung aus der Haftanstalt Berlin Moabit von zwei kräftigen Vollzugsbeamten. Als er dort ein gutes Jahr später entlassen wurde, hatte er, seiner Hauptkompetenz entsprechend, einen Schlüsseldienst aufgemacht und war mein Patient geblieben.

„Nein Doktor. Nichts in der Art, ehrlich. Erzähl’ ich Ihnen später. Isne komplizierte Sache.“

Morgens um drei hatte ich keine Lust auf komplizierte Sachen und widmete mich lieber seiner böse blutenden Handverletzung. Viele Leute dürften annehmen, dass ein Arzt zu Hause mindestens über die medizinische Ausstattung einer gehobenen Landklinik verfügt, was für einige Kollegen stimmen mag. Ich hingegen war froh, wenigstens mit ein paar sterilen Binden dienen zu können, wenn auch das Sterilitätsdatum abgelaufen war.

„Das muss genäht werden, Franz. Außerdem brauchst du ein Antibiotikum, von meinem Spülen mit Mineralwasser ist die Wunde nicht sauber. Das wird sich entzünden. Komm nachher in die Klinik.“

Das könne er nicht, tagsüber müsse er ‚die Sache’ in Ordnung bringen. Das würde bis zum späten Abend dauern. Franz hatte mir wiederholt in Situationen auch ein wenig jenseits der Grenze zur Legalität geholfen, ich stand in seiner Schuld. Deshalb saß ich also um diese Zeit noch in der Humanaklinik und nutzte die Zeit, mich missmutig mit dem Aktenstapel auf meinem Schreibtisch zu beschäftigen, als mein Diensthandy ging.

„Hoffmann.“

„Felix, hier ist Hedi von der Pflegeleitung.“

Pflegeleitung – das konnte nichts Gutes bedeuten. Hatte wieder einmal einer meiner Assistenzärzte eine Schwesternschülerin geschwängert? Und was ginge mich das an?

„Ja, Hedi?“

„Es gibt ein Problem mit der Nachtschwester für die Privatstation. Renate ist immer noch mit ihrer Colitis zu Gange, Marianne im Schwangerschaftsurlaub. Und nun hat sich Monika akut krankgemeldet! Die hätte heute Nachtdienst gehabt.“

Stimmt, Hedi hatte ein Problem. Ich aber nicht. Dazu gibt es schließlich die Pflegeleitung. Lange vorbei die Zeiten, dass sich Chef- oder Oberarzt um alles und jedes kümmern mussten. Sicher wollte Hedi nicht andeuten, dass ich den Nachtdienst für die kranke Schwester übernehmen sollte?

„Und nun, Hedi? Wollen Sie etwa wieder, dass ich unsere Patienten um diese Uhrzeit auf andere Stationen verteile? Wo sie von in HNO- oder in Augenheilkunde ausgebildeten Schwestern versorgt werden? Falls wir überhaupt irgendwo freie Betten haben?“

„Nein, nein“, beeilte sich Hedi zu antworten. „Ich habe schon Ersatz gefunden.“

„Und wo ist der Haken?“

Ohne Haken hätte Hedi sich sicher nicht gemeldet.

„Na ja – es ist eine junge Schwester. Von der Kinderchirurgie …“

Toll. Ihre sicher ausgezeichneten Kenntnisse in Kinderernährung und der Behandlung von Phimosen würden ihr bei unseren Patienten unbedingt helfen.

„Du weißt schon, dass wir auf der Inneren weder Kinder noch chirurgische Fälle haben, Hedi?“

„Was soll ich denn machen, Hoffmann? Du kennst unsere Personalsituation …“

Ja, kannte ich. Ich sollte froh sein, dass Hedi das Problem gelöst hatte, noch um diese Zeit. Denn im Gegensatz zu mir musste sie sicher nicht ohnehin auf einen Patienten warten, der heimlich versorgt werden wollte.

„Stimmt. Wenigstens kann sie den Schlaflosen hier ein paar Märchen erzählen. Machen wir auch den ganzen Tag.“

Ich erreichte ein kurzes Lachen bei der überarbeiteten Hedi.

„Im Ernst, Hoffmann, die wird das schon schaffen bei dir. Ich wollte dich nur bitten, wenn du sowieso noch im Haus bist, also, na ja … es wäre schön, wenn du bei der Übergabe vom zweiten Tagdienst gleich dabei sein könntest, ihr ein paar Tipps zu eventuell besonders problematischen Patienten gibst …“

Ja – zum Beispiel ein paar Tipps, wie sie den unausstehlichen Patienten Friedrichsen für mich umbringen könnte …

„Kein Problem, Hedi. Mach ich. Und dir einen schönen Feierabend.“

Als ich schließlich ins Schwesternzimmer kam, fand hier bereits die Übergabe an diese Schwester Karin von der Kinderstation statt. Ich hörte zu, musste nichts beisteuern, die beiden Schwestern von der Tagschicht machten das sehr ordentlich. Aber die Zeit war nicht ganz vergeudet, denn die Schwester Karin stellte sich als ausgesprochen hübsch heraus. Die vielen grün-blauen Strähnchen ihrer Frisur störten für mich den Gesamteindruck ein wenig, aber das war sicher mein Problem.

Danach schaute ich noch kurz nach dem unausstehlichen Privatpatienten Friedrichsen. Der hing am Telefon, beendete aber das Gespräch fast sofort, als ich eintrat. Eine Höflichkeit, die ziemlich gegen seine Art war.

3

„Eines muss ich Ihnen noch sagen, Herr Friedrichsen, bevor ich endlich nach Hause gehe: Sie gehen mir unglaublich auf den Geist!“

Sofort hatte ich die Aufmerksamkeit meines Gegenübers. Er drehte mir seinen Kopf zu und starrte mich an. Sprachlos.

„Ich verstehe nicht, Doktor Hoffmann.“

„Ich denke, Sie haben mich schon verstanden. Sie sind mein Patient, ich muss Sie so gut wie möglich behandeln. Aber Sie sind auch ein verdammtes Arschloch. Finde übrigens nicht nur ich.“

Wie schaute er mich jetzt an? Überrascht? Ungläubig? Wie schon oft hatte ich Schwierigkeiten, die recht begrenzt variable Mimik zu verstehen.

„A pain in the ass, wie die Amerikaner sagen.“

Unverändert blickte er mich sprachlos an, suchte wohl immer noch nach einer Antwort, fand aber keine. Er war eindeutig nicht vorbereitet auf diese Art von Offenherzigkeit. Ich ergänzte.

„Ehrlich. Ich beginne, Sie regelrecht zu verabscheuen.“

Endlich eine Reaktion:

„Verstehe ich richtig, dass Sie mit mir unzufrieden sind?“

Klar gibt es sympathische und unsympathische Patienten. Noch schlimmer sind Patienten, die nerven. Besonders häufig Lehrer und Schauspieler. Lehrer, weil sie sowieso schon alles wissen und ich, Todsünde, nicht die Wirkung von Globuli kapiere. Das mit den Globuli stimmt auch für Schauspieler, die mir noch mehr verübeln, dass ich die lebensbedrohliche Erkrankung hinter ihrer Befindlichkeitsstörung nicht entdecke. Aber Patient Friedrichsen schlug die alle um Längen.

Ich wechselte zum Du. Vielleicht würde ich dann verstanden.

„Unzufrieden? Ja, so könnte man es auch formulieren. Ich bin jedenfalls nicht so zufrieden wie bei anderen Patienten, dass du uns schließlich doch nicht unter den Händen weggestorben bist. Was, wenigstens vermute ich das, für die Welt eventuell besser gewesen wäre. Jedenfalls finde ich es ungerecht, dass ausgerechnet du so erstaunlich gut auf unsere Therapie angesprochen hast.“

Tatsächlich ging es Friedrichsen von Tag zu Tag besser, bald würde er wieder fröhlich durch die Gegend humpeln. Aktuell schaffte er bereits die paar Schritte ins Bad ohne Hilfe und ging seinen Geschäften vom Bett aus nach. Worum es sich bei denen handelte, war nicht ganz klar. Es gab verschiedene Theorien, manche nicht besonders freundlich. Ein Pfleger wollte bei einem Telefonat von Friedrichsen etwas von einer Frachtreederei mitbekommen haben. Wahrscheinlich hatte sich daraus das Gerücht entwickelt, er sei ein internationaler Waffenhändler. Oder transportiere Waffen. Oder beides.

„Aber vergiss nicht diesen kleinen Schatten, der noch auf deinem Röntgen Thorax zu sehen ist. Den müssen wir unbedingt demnächst kontrollieren, auch wenn du dich inzwischen gut fühlst.“

Dieser Schatten auf dem Lungenbild war mit großer Wahrscheinlichkeit nur ein Restbefund der überstandenen Sepsis, eine lokal verzögerte Heilung oder ein Nachhinken des technischen Befundes. Zur Sicherheit würde ich ein Computertomogramm veranlassen, sollte dieser Schatten übermorgen noch nachweisbar sein – was eher unwahrscheinlich war. Aber es bereitete mir eine süffisante Freude, Friedrichsen etwas Wasser in den Wein seiner erstaunlichen Genesung zu schütten. Und allmählich kam ich in Fahrt. Es erschreckte mich, aber es tat auch gut, endlich mal einem so unangenehmen Patienten sagen zu können, was ich von ihm hielt.

„Übrigens, jetzt kann ich es dir ja sagen: Du warst mir von Anfang an unsympathisch. Das erstaunt dich? Kann ich mir kaum vorstellen. Deine Anspruchshaltung zum Beispiel. Wie du uns, wo du es jetzt wieder kannst, herumkommandierst, dick den Privatpatienten heraushängen lässt. Und zwar kein Privatpatient dank zum Beispiel einer Anstellung als Beamter, als Lehrer, Polizist oder so etwas, sondern dank deines Vermögens. Und dass das beträchtlich ist. Dann noch diese Typen, die dich täglich besuchen. Nicht dass ich alle Russen für Kriminelle halte. Aber deine Freunde – das scheint immer wie ein Vereinstreffen der Russenmafia in deinem Zimmer!“

Keine Antwort. Konnte ich verstehen.

„Aber mach dir keine Sorgen, Friedrichsen. Wir behandeln unsympathische Patienten in der Regel nicht schlechter als die anderen. Tatsächlich, das gilt wenigstens für mich, vielleicht sogar besser, aufmerksamer. Weil ich Angst habe, ich könnte sie aus meiner Antipathie heraus schlechter behandeln.“

Wieder keine Reaktion. Na ja, ich hatte ja auch keine Frage gestellt.

„Weißt du eigentlich, dass dich hier niemand leiden kann?“

Endlich bekam ich doch noch eine Antwort.

„Viele Menschen können mich gut leiden. Mich können die Schwestern gut leiden. Mich können die anderen Patienten gut leiden.“

Nun musste ich lächeln. Über mich, Doktor med. Felix Hoffmann, Oberarzt der Inneren Abteilung II der Humanaklinik, der hier seinen spätabendlichen Frust abließ. Und über mein um Höflichkeit bemühtes Gegenüber.

„Weißt du was? Auch ich kann dich gut leiden. Man kann dich einfach nicht aus der Ruhe bringen, du bleibst immer höflich und hilfsbereit. Gut programmiert – auch wenn ich bei deiner künstlichen Intelligenz mehr von künstlich als von Intelligenz sprechen würde. Den Turing-Test würdest du so nicht bestehen. Egal. Hol mir noch eine heiße Schokolade aus dem Automaten.“

„Gerne hole ich Ihnen eine heiße Schokolade aus dem Automaten, Doktor Hoffmann.“

Und brav wie immer rollte unser Pflegeroboter Pepper, noch in Erprobung, los in Richtung des Getränkeautomaten. Er war die große Hoffnung aller Krankenhauskonzerne und Gesundheitspolitiker, nachdem die Pflegekräfte von den Philippinen und sonst wo einfach nicht in unser gesegnetes Land kommen wollten.Seine Programmierung war noch nicht perfekt, insbesondere mit Kritik konnte er noch nicht umgehen. Er war geradezu gefallsüchtig – aber dann, sind das nicht auch die meisten Menschen?

Nachdem er mir den heißen Kakao gebracht hatte, ohne einen Tropfen zu verschütten, schickte ich ihn zur Belohnung an seine Ladestation. Dann genoss ich den Kakao. Den Ärger über Friedrichsen, der eben meinen späten Besuch wieder nur zu seinen üblichen Beschwerden über das Essen, die Schwestern und die allgemeine Inkompetenz in der Humanaklinik genutzt hatte, war nach dem Gespräch mit Pflegeroboter Pepper weitgehend abgebaut. Nun musste ich nur noch warten, bis Franz vom Schlüsseldienst zu seiner nächtlichen Nachbehandlung auftauchte.

4

„Ach so. Dann ist noch Herr Friedrichsen heute Nacht verstorben.“

Nächster Morgen, gegen acht Uhr sitze ich bei einem starken Kaffee im Schwesternzimmer. Wieder einmal bin ich ziemlich müde, ehe der Arbeitstag überhaupt richtig angefangen hat. Es war gestern fast Mitternacht, als Franz endlich aufgetaucht ist und fachgerecht verarztet werden konnte, nachdem ich ihn so diskret wie möglich an den Mitarbeitern in der Ersten Hilfe vorbeigelotst hatte. Absolut diskret ging dann doch nicht, auf Station kam uns ausgerechnet der Kollege Krämer entgegen, der mir jetzt grinsend gegenübersitzt. Die Schwestern erinnern mich, mal wieder ein paar Euro für die Kaffeekasse zu spendieren und berichten das Spannendste aus der vergangenen Nacht. Aus zweiter Hand allerdings, ihr Tagdienst beginnt um sechs Uhr, die hübsche Kinderkrankenschwester Karin ist längst zu Hause.

Das Spannendste aus der Nacht und als erstes berichtet war ein Fehlalarm der Feuermelder, der kurz nach Mitternacht unsere Patientinnen und Patienten in ihren neckischen Krankenhaushemdchen auf die Flure getrieben hatte. Höhepunkt der Geschichte: die Entdeckung eines intimen Verhältnis zwischen der Patientin Schöneberger (73 Jahre, blutende Ösophagusvarizen) mit dem Patienten Kramm (48 Jahre, ebenfalls blutende Ösophagusvarizen). War es das geteilte medizinische Schicksal, das die beiden in ein gemeinsames Bett geführt hat? Oder die von einer Frau Doktor Christine Künzel in ihrer Dissertation postulierte ‚sexuell aufgeladene Atmosphäre’ in Krankenhäusern, wobei Frau Künzel sich allerdings auf Frauenkliniken bezieht? Die Diskussion unter den Schwestern wogte hin und her, nahm viel Zeit.

Aber schließlich: „Dann ist noch Herr Friedrichsen verstorben. Doktor Krämer hat im Nachtdienst den Schreibkram schon erledigt.“ Nach übergroßer Trauer der Schwestern hörte sich das nicht an, Friedrichsen war tatsächlich so unbeliebt, wie ich es dem Roboter Pepper erzählt hatte.

Doktor Krämer, Stationsarzt auf der IIb, grinste schief auf der anderen Seite des Tisches. Krämer ist ein Arschloch, und er weiß, was ich von ihm halte. Was er nicht weiß ist, dass ich damit Recht habe. Deshalb das Grinsen – mir scheint, er freut sich über jeden Patienten, der unter meiner Behandlung stirbt. Ich hingegen bin schockiert. Sind wir nicht, trotz mehreren Jahrhunderten Aufklärung und der Tatsache, dass viele von uns es nicht zugeben würden, alle wenigstens ein bisschen abergläubisch? Bei mir jedenfalls meldete sich bei der Nachricht von Friedrichsens Tod das schlechte Gewissen: Noch vor einer Woche wäre sein Tod keine Überraschung gewesen, aber inzwischen hatte sich sein Zustand doch deutlich verbessert. Hatte mir irgendein Schicksalsgott zu genau zugehört bei meinem Gespräch mit seinem Avatar, dem Pflegeroboter Pepper? Dass sein Tod kein Verlust für die Welt wäre? Blödsinn, natürlich. Aber ich würde dafür sorgen, dass Friedrichsen seziert würde.

Als Friedrichsen vor Wochen in die Humanaklinik aufgenommen wurde, schien sein Schicksal weitgehend besiegelt: Sepsis, also die Überschwemmung des Organismus mit einem Keim und dessen Giftstoffen. Dieses Krankheitsbild, das im Volksmund oft unter der Bezeichnung ‚Blutvergiftung’ läuft, bedeutet schon allein ein hohes Risiko, den Krankenhausaufenthalt nicht zu überleben. Ist die Infektion aber auch noch, wie bei Herrn Friedrichsen, durch einen sogenannten multiresistenten Keim bedingt, gehen die Überlebenschancen vom Souterrain in den Keller. Denn ‚multiresistent’ bedeutet, dass der Keim gelernt hat, sich fast allen unseren tollen Antibiotika zu widersetzen. Was er ihrer jahrzehntelangen Verschreibung ohne vernünftigen Grund in der Humanmedizin, ihrem massenweisen Einsatz in der Tierproduktion und der Tatsache verdankt, dass wegen mangelnder Gewinnaussichten die Pharmaindustrie seit Jahren keine neuen Antibiotika entwickelt: Blutdrucktabletten oder Wirkstoffe gegen Diabetes müssen in der Regel lebenslang genommen werden, Antibiotika dagegen meist nur wenige Tage.

Friedrichsen war, obgleich Privatpatient und damit eigentlich ‚Chefsache’, mein Patient. Auf ausdrücklichen Wunsch seiner Tochter. Ich sei die nachdrückliche Empfehlung des Bekannten eines Bekannten, sagte sie. Meine Vermutung war, dass am Ende dieser Kette von Empfehlungen Staatssekretär Schubel stand, der sich nicht von der Überzeugung abbringen ließ, Oberarzt Felix Hoffmann hätte ihn von einer Alzheimererkrankung geheilt. Seitdem war ich für den Staatssekretär ein Wunderdoktor, zuständig für hoffnungslose Fälle.

Damit wenigstens hatte er Recht, mit seiner multiresistenten Sepsis erfüllte Friedrichsen jede Voraussetzung für die Einschätzung ‚hoffnungsloser Fall’. Und schließlich, tatsächlich: Trotz Nierenversagens und beginnenden Versagens weiterer Organe hatte sich Friedrichsen erholt, wenn auch langsam.

„Nun wird sich Ihr Ruf als Wunderheiler weiter herumsprechen“ meinte Professor Kleinweg, unser Chef, trotz seines Lächelns leicht indigniert. Wir beide wussten, dass ich nicht viel mit der Genesung des Patienten Friedrichsen zu tun hatte. Wenn überhaupt jemand, dann die Kolleginnen und Kollegen von der Intensivstation. Die aber letztlich auch nur die Komplikationen behandelt hatten, künstliche Niere und so weiter. Ein wenig irritiert jedenfalls war der Chef schon über die Popularität seines Oberarztes Hoffmann und trotzdem ganz froh, dass Friedrichsens Tochter mir ihren Vater anvertraut hatte. Denn, wie gesagt, der Fall war so gut wie hoffnungslos und Friedrichsen unbestritten ein Arschloch. Was sich so richtig erst herausstellte, als er von Intensiv auf unsere Privatstation verlegt werden konnte. Wo er nun zwischen Smartphone und Laptop samt Drucker das gesamte Personal einschließlich mir als seinen persönlichen Hofstaat betrachtete und zweifelhafte Besucher empfing.

Also kam sein Tod heute Nacht vollkommen überraschend, sicher auch als Schock für eine Kinderkrankenschwester, die nur aushilfsweise zum Nachtdienst auf der Inneren zwangsverpflichtet worden war. Kollege Krämer hatte den Totenschein ausgefüllt und den Transport in die Pathologie veranlasst. Die Diagnose ‚Sepsis‘ hatte er aus dem Krankenblatt übernommen, als aktuelle Todesursache ‚Herz-Kreislaufversagen’ angegeben, was immer hinkommt – ohne Versagen von Herz und Kreislauf wäre Friedrichsen ja nicht tot. Aber ein wenig genauer wollte ich es schon wissen. Hatte ihn eventuell, trotz der entsprechenden Prophylaxe, eine fulminante Lungenembolie erwischt?

Aus unseren Unterlagen zum Patienten Friedrichsen suchte ich mir den vorgedruckten Behandlungsvertrag heraus, den seine Tochter mit meiner Humanaklinik geschlossen hatte. Da heißt es, dass „nach dem Berliner Sektionsgesetz vom 18.06.1996 die Frage der Einwilligung in eine klinische Sektion im Behandlungsvertrag zu regeln“ sei. „Deshalb bitten wir Sie um Verständnis für die nachfolgende Erklärung: Im Falle meines Todes bin ich mit einer klinischen Sektion einverstanden. Mein Recht, die Zustimmung jederzeit gegenüber dem mich behandelnden Arzt zurückzunehmen, bleibt hiervon unberührt (Bitte ankreuzen Ja/Nein.)“ Wie gesagt, der Behandlungsvertrag war rechtsgültig unterschrieben. Die Tochter hatte lediglich versäumt, ‚ja’ oder ‚nein’ anzukreuzen. Was ich jetzt für sie nachholte.

5

Auf meinem Weg runter in die Pathologie fiel mir mein Freund John in London ein. Der hatte in seinem Nissan ein kleines Spielzeug-Maschinengewehr auf dem Armaturenbrett hinter der Frontscheibe montiert. Wenn immer ihn ein anderes Auto im dichten Londoner Verkehr schnitt, oder die Vorfahrt nahm, gab er daraus eine gezielte Salve ab: Das Spielzeug gab dann ein lautes Knattern von sich und der Plastiklauf blitzte rot auf. Frustabbau. Sowenig wie John die rücksichtslosen Verkehrsteilnehmer wirklich töten wollte, hatte ich bei meinem ‚Gespräch’ mit Serviceroboter Pepper dem Patienten Friedrichsen wirklich den Tod gewünscht. Umso spannender, was den jetzt herbeigeführt hatte.

„Hallo Doktor Hoffmann. Welch seltener Gast in meiner Unterwelt“, begrüßte mich Karl, unser langjähriger Sektionsgehilfe.

„Spricht das nicht dafür, was für ein ausgezeichneter Arzt ich bin, dass ich dich so wenig beschäftige?“

„Ja. Leute wie du bringen mich noch um meinen Job. Aber zum Glück gibt es wenigstens die chirurgisch arbeitenden Orthopäden.“

Eine etwas unfaire Bemerkung, wenn man sich auch in vielen Fällen um den Sinn streiten kann, noch Leuten jenseits der 90 eine künstliche Hüfte einzubauen, oder neue Kniegelenke bei Leuten mit einem Body Mass Index von über 35.

„Was kann ich für Dich tun, Felix?“

„Ich wollte hören, ob mein Patient Friedrichsen schon seziert ist. Und was ihr herausgefunden habt.“

„Friedrichsen, Heinrich?“ Karl tippte auf dem Computer, der auf einem Resopaltisch in einer Ecke stand, herum. „Verschieden heute Nacht gegen ein Uhr auf der Privatstation?“

„Ja, genau der.“

„Ein Opfer vom Chef?“

„Nein. Zum Unglück hatte mich dieser Heinrich Friedrichsen zu seinem persönlichen Hofarzt auserwählt.“

„Schlauer Mann offenbar. Aber leider kann ich dir nicht helfen.“

„Noch nicht seziert?“

„Schon abgeholt. Gleich heute Morgen. Von seiner Tochter und dem Bestatter.“

„Das ging aber schnell.“

„Du weißt doch, Hoffmann. Niemand hat es so eilig wie eine Leiche.“

Karls Lieblingsspruch. Trotzdem, mich beschlich ein ungutes Gefühl. Der Ablauf erinnerte stark an meinen Patienten Mischa, dessen Leiche ebenfalls zu schnell aus der Pathologie verschwunden war. Damit hatte damals der Skandal um die ‚Russische Spende’ begonnen, eine ziemlich haarsträubende Geschichte.

Ich hatte mich schon umgedreht, bereit zum Gehen, als Karl mir einen Briefumschlag hinhielt.

„Der ist übrigens für dich. Habe ich in Friedrichsens Hosentasche gefunden.“

Mein ungutes Gefühl verstärkte sich. So sehr, dass ich das Kuvert erst einmal nicht entgegennahm.

„In seiner Hosentasche? Die Leiche wurde im Anzug hergebracht?“

„Ne. Nur ‘ne schwarze Hose, darüber unser Klinikhemdchen.“ Karl zündete sich eine Zigarette an. „Vielleicht wollte er gerade aufstehen, draußen eine rauchen“

War Friedrichsen letzte Nacht wirklich schon in der Lage gewesen zu rauchen? Schließlich hatte sein Infekt unter anderem auch die Lunge angegriffen. Aber selbst wenn, war Friedrichsen der Typ, der trotz strengen Verbots sicher in seinem Zimmer geraucht hätte. Ich werde diese Kinderkrankenschwester fragen, wo sie die Leiche aufgefunden hatte. Im Bett? Auf dem Boden, eventuell in Richtung Balkon?

„Was’n nun? Soll ich den Umschlag wegwerfen?“ Karl hielt ihn mir immer noch entgegen. „Ist schließlich an dich adressiert: Doktor Hoffmann, privat!“

Natürlich nahm ich Karl das Kuvert jetzt ab, zumindest meine Neugier war geweckt. Noch in der Pathologie öffnete ich es. Ein Blatt Printerpapier kam zum Vorschein, darauf nur ein Satz, Datum, Unterschrift. Alles ziemlich krakelig mit der Hand geschrieben. Ich las den Satz zweimal, wahrscheinlich sogar dreimal. Aber ich verstand, besser begriff, ihn trotzdem nicht. Und vorerst schon gar nicht seine Konsequenzen.

6

„Und über wie viel sprechen wir hier?“

Ich saß im Büro von Beate, der kaufmännischen Leiterin unserer Humanaklinik und damit verantwortlich für alle finanziellen Belange unseres Krankenhauses. Nicht nur, dass wir Ärzte, Schwestern, Pfleger, Köche und sonstige Mitarbeiter in der Kantine, in der Wäscherei oder der Technikabteilung pünktlich unser Gehalt bekamen (nach dem Skandal um die ‚Russische Spende’ kamen nur noch die Reinigungskräfte von einer Fremdfirma), Beates Verantwortlichkeit reichte auch in die medizinische Versorgung unserer Patienten. Würde sich die Anschaffung einer weiteren künstlichen Niere rechnen? Ein weiterer Operationssaal? Ein drittes Herzkatheterlabor?

„Ich habe keine Ahnung. Soweit ich weiß, steht Friedrichsen nicht auf der Forbes 500 Liste. Aber den Buschtrommeln nach war er gut einen zweistelligen Millionenbetrag wert.“

„Und das hat er alles dir vererbt?“