man stirbt nur dreimal - Christoph Spielberg - E-Book

man stirbt nur dreimal E-Book

Christoph Spielberg

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Beschreibung

[Erstpublikation: BeBra-Verlag, Berlin] Der internationale Organhandel und der mörderische Krieg im Kosovo bilden den Hintergrund für diesen Medizinthriller, in dem Oberarzt Dr. Hoffmann im entfernten Berlin zum Hauptverdächtigen in zwei Mordfällen wird. KrimiKurier (Gisela Lehmer-Kerkloh) Spielberg...gelingt eine attraktive Mixtur aus spannendem Krimi und Blick hinter die Fassade der “Medizinindustrie“. Neue Westfälische Zeitung Auf der Folie des Kriminalromans...hinterfragt Christoph Spielberg die heile Welt der Heilwelt kritisch, aber differenziert. (BE) Publishers Weekly (starred review) Hoffmann and his girlfriend, Celine, make a winning investigative pair, and his endearing persona elevates this well above the majority of hospital-based mysteries.

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Inhaltsverzeichnis

Von Christoph Spielberg bisher in der Dr. Hoffmann Reihe erschienen:

Prolog

1

2

3

Kosovo, Ende Mai 1999

4

Kosovo, Ende Mai 1999

5

6

Kosovo, Ende Mai 1999

7

8

9

10

11

Kosovo, Ende Mai bis 9. Juni 1999

12

13

14

Kosovo, Juni 1999

15

16

17

Kosovo, Sommer 1999 – Sommer 2000

18

19

20

Kosovo und Albanien, Juli 2000

21

22

23

24

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28

29

30

31

32

33

34

Epilog

Ein paar Erläuterungen:

Liebe Leserin, lieber Leser,

Impressum

Von Christoph Spielberg bisher in der Dr. Hoffmann Reihe erschienen:

Die russische Spende

Denn wer zuletzt stirbt

Hundertundeine Nacht

Der vierte Tag

Man stirbt nur dreimal

Wiederbelebung

Wunderheilungen und andere unerwünschte Nebenwirkungen

Ein vergiftetes Erbe

Außerhalb der Dr. Hoffmann Reihe:

Der Ein-Euro Schnüffler

Copyright © 2022 Christoph Spielberg

Erstausgabe BeBra Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Juli 2000, irgendwo im Kosovo

Eigentlich ein wunderschöner Abend. Ein ausgesprochen friedlicher Abend. Die Hitze des Sommertages lag noch über der Schlucht, angenehm gekühlt vom Fluss, der sich seit Jahrtausenden seinen Weg durch den Karst bahnte. Zu beiden Seiten krallten sich Bäume in den Kalkstein, nur hier und da zeigte sich nackter Fels. In romantischem Bogen überspannte die gerade erst instand gesetzte, im Grunde vollkommen neu erbaute Brücke Schlucht und Fluss. Wie vor dem Krieg kamen die Bauern nun morgens wieder ohne langen Umweg auf ihre Felder und abends von dort zurück. Vor einer Stunde etwa waren die letzten mit ihren überladenen Karren über die Brücke gerumpelt. Jetzt saßen sie in ihren kleinen Häusern vor dem Fernseher oder schliefen schon, morgen ging es früh wieder raus. Wenn der Deutsche nach rechts schaute, den Hals dabei etwas streckte, konnte er ein wenig von ihrem Dorf sehen: die Spitze des Minaretts, ein paar rote Dächer, Teile auch der heruntergekommenen Plattenbauten aus sozialistischer Zeit. Diesem Blick nach könnte er ebenso zu Hause in Deutschland sein, irgendwo in Ostdeutschland, in Thüringen zum Beispiel oder in Sachsen. Bis auf das Minarett. Und bis auf den Sprengsatz, der in gut zwölf Minuten zünden würde.

Auch die drei Männer neben ihm hätten in ihren braun-grün-schwarz gefleckten Tarnanzügen nicht recht nach Thüringen oder Sachsen gepasst. Schon gar nicht das Abzeichen auf dem linken Ärmel: schwarzer Doppeladler auf rotem Grund, eingefasst mit dem Schriftzug Ushtria Çlirimtare e Kosovës in Gelb. Oben auf dem Abzeichen, in großen Buchstaben, die Initialen von drei Worten, die der Welt inzwischen gut bekannt waren: UÇK, Befreiungsarmee des Kosovo. Dass ihre UÇK von der NATO aufgelöst worden war, schien die Männer nicht zu interessieren. Ihre Gewehre auf den Knien, rauchten sie eine filterlose Zigarette nach der anderen und lachten immer wieder laut, amüsierten sich offenbar köstlich über ihre Witze. Wahrscheinlich irgendwelche Zoten, er verstand kein Wort. Nur mit dem Anführer, der wenigstens ein paar Brocken Englisch sprach, konnte sich der Deutsche leidlich verständigen.

„You are sure they are going to find me? My dead body, I mean?”

„Sure. They will find body. And papers. Your pasaportë. Your foto. You not worry!“

Dieser Korab war ihm nicht besonders sympathisch. Seine Stellung als Anführer des kleinen Sabotagetrupps spiegelte sich im Alter wider, deutlicher jedoch in der Tatsache, dass er ein brandneues amerikanisches AR 180 Sturmgewehr auf den Knien balancierte, und mehr noch in seinen fast eleganten Reitstiefeln. Seine kaum der Pubertät entwachsenen Mitkämpfer, ein pickeliger Rotschopf und ein Vollbärtiger mit schwarzer Pudelmütze, mussten sich mit der guten alten Kalaschnikow und Tennisschuhen begnügen.

Plötzlich deutete der Rotschopf aufgeregt über die Brücke, in Richtung der Felder.

„Mut! Ne kemi një problem!“

„Problem“ konnte der Deutsche verstehen. Und er sah es jetzt auch. Deutlich zeichnete sich die kleine Prozession gegen die untergehende Sonne ab: ein zweirädriger, gummibereifter Karren, ein Esel, ein Mann, eine Frau, ein junger Bursche. Der Esel zog gottergeben das mit Heu überladene Gefährt. Auf dem Bock der Mann, der durch den Feldstecher noch älter aussah als mit unbewehrtem Auge. Wie die Frau, die neben dem Gefährt einher trottete mit fast so viel Heu auf dem Rücken wie auf dem Karren. In Deutschland hätte er die beiden für die Großeltern des Jungen gehalten. Hier aber war das Leben hart und die Menschen alterten schnell, es waren sicher die Eltern.

„Mein Gott!“

Er schaute auf seine Armbanduhr. Acht Minuten vor halb zehn. In acht Minuten würde die Familie mitten auf der Brücke sein. Um halb zehn. Genau wenn die Brücke hochging.

„We must stop the explosion!“

Korab wandte sich ihm zu, Unverständnis in den Zügen. Nicht weil er nicht verstanden hätte, sondern angesichts der Forderung. Denn die, das musste der Mann aus Deutschland doch wissen, war unsinnig. Sie saßen hier nicht neben einer Zündmaschine am Ende eines Kabels, die Sprengsätze an den Brückenpfeilern wurden auch nicht per Handysignal ausgelöst, wie die UCK-Männer es bei den serbischen Militärkonvois gemacht hatten. Hier tickte ein Zeitzünder, eingestellt auf Punkt neun Uhr dreißig. Ein äußerst zuverlässiger Zünder, den er selbst aus Deutschland mitgebracht hatte.

„But they are your people. Kosovo-Albaner! Albanians!“

Korab hob die Schultern und steckte sich eine neue Zigarette an. Lächelte er sogar? Jedenfalls hatte er recht. Einmal ganz davon abgesehen, dass sie aus ihrem Versteck hervorkommen müssten, dauerte der Abstieg bis zur Brücke mindestens eine Viertelstunde. Keine Chance, den Sprengsatz rechtzeitig zu entschärfen. Außerdem hatten sie zwei installiert, zur Sicherheit.

Ein Stück aus dem Tollhaus, wie so vieles hier. Nicht nur, dass es Korabs Landsleute waren, die gerade direkt auf die Brücke zumarschierten, man hatte die „Brücke der Freundschaft“ eigens für sie wieder aufgebaut. Die andere Seite war fast ausschließlich serbisches Siedlungsgebiet, in das Heiraten oder sonst ein Zufall im Laufe der Zeit vereinzelte albanische Felder eingestreut hatten. So viel Geld für den Zugang zu ein paar Hektar! Seines Erachtens eine riesige Verschwendung, aber damit konnte der Deutsche problemlos leben. Schließlich, wie oft war diese Brücke schon zerstört und wieder aufgebaut worden? Titos Partisanen hatten sie im Zweiten Weltkrieg gesprengt, Pioniere der deutschen Wehrmacht neu errichtet und dann, beim Rückzug kurz vor dem Kriegsende, gesprengt. Im Kosovo-Krieg war sie wieder zerstört worden, von welcher Seite auch immer. Der Deutsche hatte mit seiner Baufirma nicht schlecht verdient an ihrem erneuten Wiederaufbau. Die EU hatte gut gezahlt für dieses Symbol der Verständigung, ein Prestigeobjekt. Und er würde von ihrer abermaligen Sprengung nicht nur finanziell profitieren. Man würde eine Leiche mit seinen Papieren unter ihren Trümmern finden. Und obgleich er solche Gründlichkeit hier nicht voraussetzte, hatte er im Bad seines Hotelzimmers einen Kamm zurückgelassen – mit Haaren von dieser Leiche.

In gemächlichem, aber stetem Tempo näherte sich die verspätete Bauernfamilie der Brücke und ihrem Schicksal. Der Deutsche justierte den Feldstecher nach, beobachtete die Unausweichlichkeit dessen, was gleich geschehen würde. Wie alt mochten diese Leute tatsächlich sein? Um die vierzig, schätzte er, die Eltern, knapp zwanzig der Junge. Welche Pläne, Hoffnungen und Wünsche hegten sie? Dass mit der neuen Brücke endlich alles besser würde, nach dem Krieg, dem Leid und den Zerstörungen? Dass wenigstens der Sohn es besser haben würde als sie, dass er in einem souveränen Kosovo der Albaner sein Glück machen würde, vielleicht sogar als stolzer Bürger der Europäischen Union? Was auch immer, aus all dem würde jetzt nichts mehr. Wie könnte er sie noch stoppen? Durch Rufen? Nie würden sie ihn über das Rauschen des Flusses hinweg hören. Keine Chance. In ein paar Minuten würden ihre zerfetzten Körper durch die Luft gewirbelt werden. Teile würden in den Bäumen an der Schlucht landen, andere auf den Felsvorsprüngen. Oder im Fluss, wo man sie zusammen mit einem toten Körper samt Pass und Familienfotos finden würde.

Ursprünglich hatten die UCK-Albaner überlegt, die neue Brücke schon vor einer Woche, gleich während der Eröffnungszeremonie, in die Luft zu jagen, wegen der dann sicher weltweiten Aufmerksamkeit. Aber es wären nur ein paar wenige Serben gewesen, die dabei umgekommen wären, in der Hauptsache hätte es viele Albaner aus dem Dorf und die Leute von der KFOR und der UNMIK getroffen. Der Kollateralschaden wäre zu groß gewesen. Und er wäre dann, als mit dem Wiederaufbau beauftragter Unternehmer, natürlich Teilnehmer der Feier, tatsächlich unter den Leichen gewesen. Heute aber würde „seine“ Leiche ein schöner Nebeneffekt dieser UCK-Aktion sein.

Sechs Minuten bis zur Zündung.

Die Sprengung war sorgfältig geplant. Zwei Tage hatten sie die Brücke beobachtet, nie war nach neun Uhr abends hier noch jemand zu sehen gewesen. Der Sprengstoff, den sie an den Pfeilern platziert hatten, würde mehr als ausreichend sein. Auch deshalb, weil er kräftig an Baumaterial gespart hatte. Nicht an dem, was mit der UNMIK abgerechnet, sehr wohl aber an dem, was tatsächlich verbaut wurde. Wäre schade gewesen um den Stahl und Zement, den er für andere Projekte im Kosovo gut gebrauchen konnte. Oder beim erneuten Wiederaufbau dieser Brücke, unter welchem neuen Namen und mit welcher neuen Firma auch immer. „Der Beton muss noch endgültig abbinden, mindestens eine weitere Woche“ hatte er behauptet und damit dafür gesorgt, dass die Eröffnungsgäste die Brücke feierlich zu Fuß überschritten, ihre gepanzerten Limousinen vor seiner instabilen Konstruktion parkten.

Vier Minuten bis zur Sprengung. Das würden der Esel und die Bauernfamilie leider locker schaffen. Aber plötzlich – die Frau strauchelt, einer der Heuballen fällt ihr vom Rücken. Der kleine Konvoi kommt zum Stehen, die Frau wird ihre gesamte Last ablegen müssen, um den Ballen aufzulesen. Sie werden die Brücke nicht mehr bis zur Sprengung erreichen. Das Schicksal hat es sich doch anders überlegt! Beruhigt will der Deutsche den Feldstecher weglegen, da stößt ihn der UCKler an, bedeutet ihm grinsend, dass er die Sache weiter beobachten solle: Höchst ungewöhnlich für dieses Land, schultert jetzt der Bursche den Heuballen. Offenbar hat der Vater zur Eile getrieben, als wisse er, dass man das Schicksal nicht warten lassen darf.

Wider alle Vernunft schreit der Deutsche aus Leibeskräften in Richtung der untergehenden Sonne, vielleicht kommt er ja doch gegen den Fluss an. Natürlich nicht. Die UCK-Männer ziehen es vor, sein unprofessionelles Verhalten zu ignorieren.

Noch eine Minute. Noch zehn Meter für den kleinen Treck. Wieder Lachen von den UCKlern. Was haben die jetzt vor, um Gottes willen? In aller Ruhe zielt Korab, der Anführer, mit seiner AR 180 auf die Bauernfamilie, die fast die Brücke erreicht hat. Was soll das? Wen hat er im Visier seines Zielfernrohrs? Zu spät springt der Deutsche auf und stürzt sich auf den Albaner. Als er dem Schützen endlich in den Arm fällt, hat die tödliche Kugel bereits den Gewehrlauf verlassen und der Schuss hallt als vielfaches Echo durch die Schlucht.

Und dann geht das Echo in der gewaltigen Explosion unter, mit der die Brücke zuerst fast einen Meter angehoben wird, um dann in einer gewaltigen Wolke aus Steinen und Staub in sich zusammenzubrechen. Mit offenem Mund beobachtet der Deutsche das Schauspiel, gespannt wartet er auf das Ende. Denn erst dann wird er sehen können, wen der Albaner erschossen hat. Denn getroffen hat er bestimmt, das wusste er aus Erfahrung.

Millionen Staubkörnchen brechen das Licht der fast untergegangenen Sonne tausendfach, ein schönes Bild. Erst nach Minuten legt sich der Staub. Von der Brücke stehen nur noch die Pfeiler, mehr war bei dem schlechten Material auch nicht zu erwarten. Und dort, am östlichen Rand der Schlucht, wo noch vor kurzem der Weg von den Feldern die Brücke erreicht hat, erkennt er Bewegung – Bewegung von drei Menschen! Ein Mann, eine Frau und ein Bursche, die sich um einen umgekippten Heukarren und einen toten Esel bemühen.

„Perhaps the man liked me more to shoot the woman. Not the donkey. New woman more cheap”, lacht Korab und folgt dem Beispiel seiner Männer, die bereits ihre Ausrüstung zusammenpacken. Er klopft dem Deutschen auf die Schulter. „But donkey or woman, they find your body, my friend!“

Nun kann auch der Deutsche lachen. Letztlich ist alles so gelaufen, wie geplant, und er würde noch andere gute Geschäfte mit diesen Leuten machen. Er zog einen gefalteten Zettel aus der Hosentasche und gab ihn dem Anführer.

„Here, my part of the deal. The address I promised you. He doesn’t live in Ferizaj any more. Is untergetaucht ... in hiding.”

Der Anführer steckte den Zettel in die Brusttasche seiner Uniform und grinste zufrieden. Aber auch der Deutsche konnte zufrieden sein: Die besten Geschäfte waren immer noch die, bei denen man seinen Partner nicht ausbezahlen musste. Auch wenn das bedeutete, dass der nun in irgendeinem Gefängnis vergammeln würde. Natürlich, als eben unter der Brücke Begrabener hätte der Deutsche wahrscheinlich sowieso nicht zahlen müssen. Aber, das lehrt das Sprichwort und das Leben: doppelt hält besser!

Selbst die Schmerzen in der Leiste akzeptiert er jetzt gern. Immerhin sind seit dem Eingriff erst gut zwei Wochen vergangen - und diese Schmerzen bedeuten ein neues Leben. Dafür waren 80.000 Euro nicht zu viel. Es ist schon komisch: Offiziell ist er eben bei der Explosion gestorben. Und irgendwie ist das richtig, denn diese Niere hat ihm ein neues Leben geschenkt. Denn darum geht es doch im Leben – ums Leben!

1

„Nur dass wir uns recht verstehen: Ich soll also Ihrem Bruder das Leben nehmen? Ihn umbringen?"

Der Herr im Brioni-Anzug wich meinem Blick nicht aus. Trotzdem bereitete ihm das Wort „umbringen" offensichtlich Missbehagen, sicher wäre er lieber bei einer seiner interpretierbaren Umschreibungen geblieben. Aber manchmal ist es wichtig, die Dinge auf den Punkt zu bringen.

„Fragen Sie sich einmal selbst, Herr Doktor Hoffmann“, antwortete er mir, „möchten Sie dermaßen leiden? Ist nicht jeder Tag mit Leiden ohne Aussicht auf Heilung, oder wenigstens Besserung, ein Tag zu viel?"

Ich hatte den Mann, der hier den baldmöglichsten Tod seines Bruders von mir forderte, vorher nie gesehen, und immerhin lag der Patient Wurm inzwischen gut drei Wochen bei uns. Aber ich hatte erst vor einer Woche die Verantwortung für diesen Herrn Wurm übernommen, und außerdem versuche ich mich sowieso zu verdrücken, wenn nachmittags die Angehörigen auftauchen. Denn meist kommen die nicht gemeinsam, sondern ich darf zehnmal die gleichen Fragen beantworten: der Ehefrau oder dem Ehemann, dem Bruder, der Schwester, der Tochter, dem Sohn. Sie wollen über ihren kranken Angehörigen informiert werden, aber ebenso oft wollen sie Absolution von mir, dass sie doch alles richtig gemacht hätten, was die Krankheit des Mannes, des Vaters, des Bruders anbelangt, oder, besser noch, sie wollen mir die eigene Krankengeschichte erzählen. Jedenfalls musste die Tatsache, dass ich den Bruder von Herrn Wurm erst heute kennenlernte, nicht bedeuten, dass dies sein erster Besuch bei meinem Patienten war.

Ich sagte erst einmal nichts und studierte, offenbar mit Nachdenken beschäftigt, die auf Hochglanz geputzten schwarzen Schuhe des Bruders. Der legte nach.

„Oder wollen Sie mir erzählen, dass es für meinen Bruder Hoffnung auf Heilung gibt?"

Was blieb mir zu antworten? Sollte ich ihm mit einem Spruch wie „Hoffnung gibt es immer" oder „Manchmal geschehen auch in der Medizin Wunder" kommen? Mein Patient Wurm hatte ein Pankreaskarzinom mit Lungenmetastasen. Die linke Lunge war praktisch bereits ausgefallen, die rechte mit hässlichen Rundherden durchsetzt. Den Sauerstoff, mit dem wir Herrn Wurm über eine Nasensonde unterstützten, hatte ich gerade auf vier Liter in der Minute erhöht. Die Bilder in der Röntgenkonferenz am Mittag hatten meine Befürchtung bestätigt: Mit dem Husten war es so schlimm geworden, weil der Tumor eine Fistel zwischen der Luftröhre und der Speiseröhre herausgefressen hatte, also plötzlich eine Verbindung zwischen Luft- und Speiseröhre bestand. Nun ernährten wir den Patienten über eine Magensonde und warteten auf die Lungenentzündung. Nein, auch ein Wunder dürfte Herrn Wurm nicht retten, in spätestens vier Wochen würde er tot sein.

„Worum ich Sie bitte, ist doch nur, meinem Bruder unnötiges Leiden zu ersparen. Ist Leiden zu vermeiden nicht auch Ihre Aufgabe als Arzt?"

Wir standen auf dem Flur der Privatstation und mussten zur Seite treten, Platz machen für zwei Pfleger, die einen Patienten in seinem Bett samt Tropf und Urinflasche in Richtung Röntgen schoben. Es war später Abend, offenbar waren die Röntgenleute mit ihrem Programm nicht in der Zeit. In der Regel führe ich Gespräche mit Angehörigen in meinem Dienstzimmer, aber bei diesem Thema hatte ich wenig Lust, Bruder Wurm zu mir hereinzubitten. Das würde dem Gespräch einen konspirativen Anstrich geben, fand ich. Immerhin ging es bei dem Patient Wurm noch dazu um eine Menge Geld. Auch wenn davon im Moment nicht die Rede war.

Ich sagte weiterhin nichts. Mein Gegenüber fuhr fort: „Aber vielleicht sind Sie einer von denen, die meinen, der Mensch wird unter Schmerzen geboren, und das ist gut so, denn Schmerzen zu erdulden sei seine Bestimmung? Oder zeugt wenigstens von Charakterstärke? Soll mein Bruder Ihnen hier Charakterstärke beweisen?"

Privatpatient Wurm sei Bauunternehmer, hatte mir Chefarzt Kleinweg vor seiner Abreise erzählt, und nach allem, was ich sonst noch gehört hatte, ein recht erfolgreicher. Ich wusste nicht, womit der Bruder meines Patienten seine Brötchen verdiente, aber sicher war auch er erfolgreich. Obwohl eigentlich er der Bittsteller war, sah ich mich in die Defensive gedrängt. Damit kann ich umgehen, das lernt man in Kursen zu „Powertalk“ oder hat es irgendwann einmal selbst herausgefunden: Wenn du argumentativ in der Klemme steckst, ist es oft günstig, selbst in die Offensive zu gehen.

„Woher wollen Sie wissen, dass Ihr Bruder leidet?"

Etwas gelernt haben heißt noch lange nicht, es in der entsprechenden Situation auch richtig anzuwenden.

Der Bruder des Patienten Wurm schaute mich an. Erst erstaunt, dann mitleidig, als habe er es mit einem kompletten Idioten zu tun. Was bedeutete, dass auch sein Bruder mit einem kompletten Idioten zu tun hatte. Also musste jetzt ich nachlegen.

„Ihr Bruder leidet nicht. Er bekommt alles an Schmerzmitteln, was er braucht."

Mein Gegenüber lachte ein kurzes, unfrohes Lachen.

„Nur weil Sie ihm mit Ihrer Chemie die Schmerzen nehmen und ihm Sauerstoff in die Nase blasen, meinen Sie, dass mein Bruder nicht leidet?"

Das ganze Gespräch war zutiefst unfair und entsprach nicht den Informationen, die mir Chefarzt Kleinweg gegeben hatte. Der hatte mir versichert, Wurms Familie wisse Bescheid. Da würde es keine Probleme geben, auch mit der Ehefrau habe er die Prognose und das medizinische Vorgehen ausführlich besprochen. Danach war Kleinweg in den Urlaub geflogen, und nun stand ich hier und wollte nur eines: endlich nach Hause.

Natürlich hatte der Bruder recht, aber diesmal beherzigte ich die Powertalk-Regel.

„Was sagt eigentlich Ihre Schwägerin, die Frau Ihres Bruders, zu Ihrem Ansinnen? Weiß sie von diesem Gespräch?" Wenn es so war, warum hatte sie das nicht mit Kleinweg vor dessen Urlaub besprochen?

Wieder dieser fast mitleidige Blick.

„Meinen Sie nicht, Herr Doktor Hoffmann, dass meine Schwägerin im Moment schon genug durchzumachen hat?"

Erneut mussten wir einem Bett, das in Richtung Röntgen unterwegs war, ausweichen. Vielleicht war im Laufe des Tages wieder einmal der Computertomograph ausgefallen und die armen Kollegen dort mussten jetzt in die Nacht hinein arbeiten. Wobei sie von den Patienten für ihre unbezahlten Überstunden keinen Dank erwarten durften. Die würden sich beschweren, dass sie so lange warten mussten oder dass ihre Nachtruhe gestört wurde. Aber da Krankenhäuser heutzutage nicht mehr in Tagessätzen, sondern allein entsprechend der Diagnose bezahlt werden, ist die Verschiebung einer Untersuchung auf den nächsten Tag ein Verlustgeschäft.

„Mein Bruder wäre doch sicher nicht der erste Patient, dessen Leidensweg Sie aus ärztlicher Einsicht abkürzen würden, Herr Doktor Hoffmann."

Natürlich hatte er recht. Sterbehilfe gibt es in jedem Krankenhaus, abgesprochen oder unausgesprochen, passiv zumal, selten auch aktiv. Und hin und wieder ungewollt: falsche Diagnose, falsches Medikament, falsche Dosierung.

Mein Gegenüber wusste, dass er keinen Widerspruch zu erwarten hatte. „Mein Bruder wird sterben, spätestens in ein paar Wochen, das haben Sie selbst gesagt. Was machen nach fünfundsechzig Jahren zwei Wochen mehr oder weniger aus?"

Wirklich nicht sehr viel Zeit. Aber eine Ewigkeit, wenn sie nur noch aus Schmerzen, Erstickungsanfällen und Angst besteht.

Trotzdem war ich das Gespräch leid. Am 1. April, in nur fünf Tagen, wäre Professor Kleinweg zurück. Sollte der sich um die Sache kümmern, schließlich war Wurm sein Patient. Außerdem hatte ich, dank Chefarzturlaub und ohnehin dünner Personaldecke in unserer seit Jahren privatisierten Klinik, noch einiges zu tun, bevor ich endlich nach Hause konnte. Sonst wird man als Oberarzt ständig gestört, wegen eines angeblichen Notfalls oder weil irgendwo ein Apparat nicht funktioniert. Aber an diesem Abend kam mir niemand zu Hilfe, um so das Gespräch einfach abzubrechen.

„Was Sie fordern - das wissen Sie -, ist gegen das Gesetz."

„Gegen das Gesetz der Menschlichkeit?"

Ich wusste, dass es noch stundenlang so weitergehen konnte.

„Lassen Sie uns die Sache noch einmal überschlafen. Einverstanden?"

„Selbstverständlich, Doktor Hoffmann. Denken Sie nur in Ruhe nach. Für mich gibt es da allerdings nichts zu überschlafen. Und vergessen Sie bitte nicht: In jeder Minute, die Sie mit Nachdenken verbringen, quält sich mein Bruder weiter. Denn im Gegensatz zu Ihnen findet er bestimmt keinen Schlaf."

Ob erlernt oder aus dem Bauch heraus, dieser Mann kannte wirklich alle Tricks. Tatsächlich legte er sogar noch einen drauf.

Er hatte sich schon von mir abgewandt, scheinbar bereit, zu gehen, drehte sich aber wieder um.

„Ich gehe davon aus, der Herr Chefarzt hat Sie über das Vermächtnis meines Bruders informiert?"

Ich nickte. Da kam es also doch noch, das dem Krankenhaus angeblich im Testament versprochene Geld. Soweit ich gehört hatte, ging es um 250.000 Euro. Dafür würden wir uns zwar kein Spiral-CT der neuesten Generation kaufen können, aber natürlich würden auch 250.000 Euro helfen. Wurde jetzt ein Junktim zwischen der Forderung an mich und dem Testament angedeutet? Es sah ganz so aus. Besaß Bruder Wurm die notwendige Verfügungsgewalt, konnte er dieses Junktim überhaupt herstellen? Jedenfalls hatte er es gerade getan. Ich wartete ab, ob er konkreter würde, aber er drehte sich endgültig um und verschwand mit ausladenden Schritten in Richtung der Fahrstühle.

Das Display meines Diensthandys zeigte an, dass die Chirurgen mich zu einem Patienten sprechen wollten. Außerdem hatte ich auf meiner Inneren Abteilung noch nicht alle Neuaufnahmen von heute gesehen, eine Aufgabe, die ich mir normalerweise mit Professor Kleinweg teile. Aber der amüsierte sich irgendwo in der Karibik beim Hochseeangeln, und aktuell war nur die Tatsache tröstlich, dass in der kommenden Woche die Rollen vertauscht sein würden. Nächste Woche um diese Zeit würde ich mit Celine irgendwo auf Mallorca einen Aperitif genießen, auf das Meer blicken und den Duft der für uns auf dem Rost brutzelnden Seezunge genießen.

Celine und ich wohnen nach wie vor nicht zusammen, waren aber heute Abend bei mir verabredet. Für unsere gemeinsame Frühjahrswoche auf Mallorca war zwar alles vorbereitet, aber bald nach dem Urlaub würde ich umziehen, und Celine hatte versprochen, mir beim Aussortieren zu helfen. Ich rief sie kurz an, dass es später werden würde. Sie war darüber nicht glücklich, aber auch nicht sonderlich überrascht.

Tatsächlich lief es dann auf der Chirurgie ebenso glatt wie bei den Neuaufnahmen, kurz vor halb neun war ich so gut wie durch mit dem Tagesprogramm. Zeit für den Heimweg.

Doch vorher schaute ich noch bei Herrn Wurm vorbei. Natürlich nicht um zu fragen, ob ich ihm wirklich so bald wie möglich eine kleine Überdosis verabreichen sollte. Aber ich wollte vorsichtig vorfühlen, ob vielleicht er seinen Bruder zu mir geschickt hatte.

Als ich in sein Zimmer kam, saß Herr Wurm auf der Bettkante und rang nach Luft. Ein Bild des Jammers, das den Wunsch seines Bruders mehr als verständlich machte. Ein Teil des Problems war die Nasensonde, die im Moment vier Liter Sauerstoff pro Minute an ihm vorbei in das Krankenzimmer pustete. Vorsichtig schob ich Herrn Wurm den kleinen Schlauch wieder in die Nase und fixierte ihn mit einem neuen Pflaster auf der ausgetrockneten, brüchigen Haut.

„Danke, Doktor Hoffmann."

„Keine Ursache. Sie müssen klingeln, wenn Ihnen die Nasensonde herausrutscht. Oder Ihnen sonst etwas fehlt."

Ich vergewisserte mich, dass die Klingel für ihn auch tatsächlich erreichbar war und nicht personalfreundlich irgendwo unter dem Bett lag. Aber nein, er konnte ohne Mühe herankommen. Schlaff hob mein Patient die Schultern. „Ich habe es nicht gemerkt."

Dank der korrigierten Nasensonde nahm sein Gesicht langsam wieder ein wenig Farbe an.

„Ich habe vorhin übrigens ziemlich ausführlich mit Ihrem Bruder gesprochen, Herr Wurm."

Ich hatte mich neben ihm auf die Bettkante gesetzt.

„Das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich die Zeit dafür nehmen. Wo Sie so viel zu tun haben!" Herr Wurm machte eine Pause und wartete, bis der erneute Hustenanfall vorüber war. Dann wandte er mir langsam sein Gesicht zu. „Aber - ich habe keinen Bruder."

2

Irritiert hatte ich mich von Wurm verabschiedet, bereit, mich endlich aus dem Staub zu machen, da meldete sich die Aufnahmestation. Ob ich noch „eben mal zwei Ambulante“ anschauen könne. Auf dem Weg zur Aufnahmestation wollte ich mir gerade ordentlich leid tun, als meine langjährige Kollegin Marlies mit einem beatmeten Patienten auf dem Weg zur Intensivstation an mir vorbeischob.

„Brauchst du Hilfe?“

„Danke, Felix. Wir haben jetzt alles im Griff.“

Was bedeutete, dass Marlies, Ärztin und alleinerziehende Mutter, mindestens eine Stunde volles Programm hinter sich hatte, was eben so anfällt bei einer Wiederbelebung. Während zu Hause ihre Tochter auf sie wartete mit Fragen zu englischen Vokabeln oder zur Geometrie. Oder zum Leben an sich. Auf mich hingegen warteten, neben der schon vertrösteten Celine, lediglich ungepackte Umzugskartons.

Also tat ich mir schon deutlich weniger leid, und es gelang mir, bei beiden ambulanten Patienten relativ freundlich zu bleiben. Selbst bei der Beamtenwitwe, die mich während der Untersuchung wiederholt auf ihren Status als Privatpatientin hinwies und, natürlich, auf die richtige Diagnose.

„Ich weiß doch, was ein Darmverschluss ist, Herr Doktor. Ich habe den ganzen Tag keinen Stuhlgang gehabt!“

Wenigstens war sie damit nicht erst nachts um zwei Uhr gekommen. Ich ordnete einen hohen Einlauf an, der neben seinem therapeutischen auch einen gewissen erzieherischen Wert hat. „Aber wartet damit noch eine halbe Stunde“ bat ich die Schwestern. Dann wäre es 22 Uhr und Professor Kleinweg könnte ihr zusätzlich 26,23 Euro berechnen als „Zuschlag für in der Zeit zwischen 22 und 6 Uhr erbrachte Leistungen“.

Danach trat ich definitiv die Heimfahrt an. Wenigstens würde inzwischen kein Stau mehr auf der Avus sein.

Kurz vor meiner Ausfahrt, Hüttenweg, ging das Handy. Jahrelang hatte ich mich erfolgreich gegen ein Handy gewehrt, aber schließlich seine Notwendigkeit für die Arbeit in der Klinik eingesehen. Es war eine Schwester Manuela von der Chirurgie, die sich wegen eines Patienten meldete, den ich dort vorhin angeschaut hatte. Sie könne das von mir verordnete Medikament auf ihrer Station nicht finden.

„Sind Sie schon auf die Idee gekommen, in unserer Apotheke nachzufragen? Oder bei Ihren Kolleginnen auf der Inneren?"

Ich bemühte mich, meine Verärgerung zu unterdrücken - Streitereien in der Medizin gehen oft auf Kosten der Patienten –, war allerdings inzwischen fast an der Ausfahrt Hüttenweg vorbei, was meine Laune nicht verbesserte. Nur mit einer waghalsigen Vollbremsung hätte ich es vielleicht noch in die richtige Spur geschafft. Trotz meiner vielen Jahre in der Humana-Klinik kannte ich diese Schwester nicht. Kein Wunder, mittlerweile ist es eher die Ausnahme und ein Glück, wenigstens für eine gewisse Zeit mit einem festen Stamm von Ärzten und Pflegepersonal zu arbeiten. Die Humana-Klinik ist seit ihrer Privatisierung Teil der Vital-GmbH, die aus einem sogenannten Stellenpool inzwischen auch Krankenschwestern nach Tagesbedarf zwischen ihren Kliniken hin- und herschiebt. Wobei die Definition nicht OP-Schwester oder Orthopädie-Schwester oder Urologie-Schwester heißt, sondern schlicht Krankenschwester. Auf den Dienstplänen in der Zentralverwaltung gibt es somit keine unterbesetzten Abteilungen. Also war diese Schwester auf der Chirurgie wahrscheinlich nur zum Teil für meinen Unmut verantwortlich. Vielleicht war sie bis gestern Kinderkrankenschwester gewesen und kannte sich im Gegensatz zu mir hervorragend mit den Ernährungsbedürfnissen und Durchfallerkrankungen von Säuglingen aus.

Wenigstens vertrödelte ich nicht die nächste Ausfahrt, Nikolassee, erreichte über die Spinnerbrücke die andere Seite der Avus und fuhr zurück Richtung Hüttenweg. Natürlich machte ich mir Sorgen um den Patienten Wurm. Er war mit Mitte sechzig nicht gerade jung, hatte aber bisher keine Zeichen von Altersdemenz oder Alzheimer gezeigt. Hatte sein Tumor schon ins Hirn gestreut? Verhielt er sich deshalb so gar nicht wie ein befehlsgewohnter Baulöwe gegenüber dem Dienstleister Arzt? Und, hätte er tatsächlich Hirnmetastasen, würde das etwas ändern? Würde es meine Haltung zur Forderung seines Bruders beeinflussen? Jedenfalls wollte ich morgen nachschauen, ob Kleinweg eigentlich schon ein CT oder eine MRT von seinem Gehirn gemacht hatte.

Etwas oberhalb der erlaubten Geschwindigkeit war ich nach guten fünf Minuten zurück an der Ausfahrt Hüttenweg. Wieder ging das Handy, diesmal ließ ich es seine Melodie spielen, bis ich mich auf dem Hüttenweg eingeordnet und an die Dunkelheit gewöhnt hatte, denn die Straße verläuft ohne jede Beleuchtung mitten durch den Grunewald. Es war erneut Schwester Manuela von der Chirurgie, die mir nur mitteilen wollte, dass sie das Medikament gefunden habe.

Mit der rechten Hand tastete ich nach der Halterung für das Handy, im Gegenverkehr blendete mich ein Halogenscheinwerfer. Ich meinte, einen Schatten wahrzunehmen, und stieg reflexartig auf die Bremse - zu spät. Ein furchtbarer Rums, mein Airbag öffnete sich. Vor mir quiekte es herzzerreißend, hinter mir quietschten Bremsen. Während der Airbag in sich zusammenfiel, sah ich, wie sich ein enormer Keiler vor meinem Golf aufrappelte, irritiert in die Gegend schaute und sich dann hinkend in Richtung Wald schleppte, allerdings noch vor den Bäumen zusammenbrach. Er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Ich schaltete die Warnblinkanlage ein und fuhr den Wagen an die Seite, damit sich der Stau hinter mir auflösen konnte.

„Haben Sie Vollkasko?"

„Das ist ein Wildschaden. Das muss ihm die Versicherung auf jeden Fall zahlen, geht auf Teilkasko."

„Aber er muss die Polizei rufen."

„Vorsicht, die Wildsau könnte uns angreifen."

„Nein, den Förster muss man anrufen."

Wenigstens drei Fahrer waren hinter mir ausgestiegen, einer holte jetzt eine starke Taschenlampe aus seinem Wagen. Der arme Keiler starrte direkt in den Strahl der Lampe, sah aber nicht so aus, als würde er in diesem Leben noch irgendwen angreifen. Dann begutachteten die Umstehenden den Schaden an meinem Wagen, schätzten Reparaturkosten und meinten, ich solle auf jeden Fall die Spur kontrollieren lassen, die könnte verzogen sein. Ich rief inzwischen bei der Polizei an.

„Gibt es Verletzte?"

„Ja, das Wildschwein."

„Läuft das da noch rum?"

„Nein. Es liegt neben der Straße."

„Behindern Sie oder das Tier den Verkehrsfluss?"

Auch das konnte ich verneinen. Dann, so die Auskunft, wäre die Sache kein Fall für die Polizei, sondern für den zuständigen Revierförster. Wenigstens konnte der Beamte mir dessen Nummer geben.

Es dauerte fast eine Stunde, bis der Förster auftauchte. Er habe von der Pfaueninsel kommen müssen, der eigentlich zuständige Kollege aus dem Grunewald sei im Urlaub. Die letzte halbe Stunde hatte ich gemeinsam mit Celine Wache bei der sterbenden Wildsau gehalten. Ich hatte Celine gleich nach dem Förster angerufen, sie war mit einem Taxi gekommen und hatte sich sofort an das Tier herangetraut. Wäre es nicht so ein gewaltiger Keiler gewesen, hätte sie ihn bestimmt in die Arme genommen. Wenigstens machte sie mir keine Vorwürfe.

„Ist die Sau tot?" fragte der Förster, als er aus seinem Wagen stieg.

Dem Tier war mittlerweile Blut aus der Schnauze geflossen, aber ab und zu war noch ein leises Röcheln zu hören. Der Förster sagte, wir sollten uns in den Wagen setzen, und holte sein Gewehr. Sein Bloodhound musste im Geländewagen bleiben, von wo er mich, die Schnauze auf der halb geöffneten Fensterscheibe, vorwurfsvoll anschaute. Ich drehte meine Scheibe hoch.

Celine kuschelte sich eng an meine Schulter.

„Soll ich losfahren?"

Sie schüttelte den Kopf. Unmittelbar danach fiel der Schuss.

„Jetzt können wir", sagte Celine.

Ich startete den Motor und dachte an den schlaflosen Herrn Wurm und dass es sterbende Wildschweine besser haben.

3

Auf dem Weg zur Klinik am nächsten Morgen war ich immer noch deprimiert. Natürlich traf mich keine Schuld an dem Tod des Wildschweins, aber trotzdem. Celine und ich hatten, nachdem die Formalitäten mit dem Förster erledigt waren, gestern Nacht nur kurz ein paar Dinge wegen unseres Urlaubs besprochen, keiner von uns fühlte sich noch nach einem gemütlichen Abend zu zweit. Und erst recht nicht nach Klamottensortieren. Eine Viertelstunde später war Celine gegangen. Ich hatte noch ein Bier auf die arme Wildsau getrunken und war ins Bett gefallen.

Jetzt, im üblichen Morgenstau am Dreieck Funkturm, überlegte ich, wann ich den Wagen zur Reparatur von Kotflügel und Scheinwerfer bringen könnte. Immerhin war erst April, ich würde auf dem Weg zur Klinik beziehungsweise nach Hause gelegentlich noch Scheinwerfer brauchen. Ideal wäre, die Sache während des Mallorcaurlaubs erledigt zu bekommen, aber im Moment fiel mir kein Tag ein, an dem ich das schaffen würde. Zumal unsere Billig-Airline plötzlich den Abflug von Samstagmorgen auf den Freitagabend vorverlegt hatte.

Auch ohne den Wagen in die Werkstatt zu bringen würde es durch meine Vertretung von Professor Kleinweg hektisch genug sein. Für heute zum Beispiel hatte die Klinikleitung auch noch eine Konferenz für alle Abteilungsleiter und deren Vertreter angesetzt, Thema: Steigerung der Effektivität der Arbeitsabläufe in der Humana-Klinik. Allen war klar, dass damit nicht die Verwaltung gemeint war. Doktor Valenta von der Intensivstation hatte läuten hören, man wolle unser Tablet-PCs mit einem Zusatzprogramm aufrüsten, in dem wir im Fünfminutentakt unsere Tätigkeit dokumentieren sollten. Marlies brachte ein angebliches Punktesystem für eingesparte Krankenhaustage pro Patient ins Spiel. Ich war gespannt.

Trotzdem schaffte ich es gleich morgens zu Herrn Wurm. Als ich sein Krankenzimmer betrat, beendete er gerade ein Telefongespräch. Er sah heute deutlich besser aus, sein Gesicht war fast rosig und das Atmen schien ihn weniger anzustrengen.

„Guten Morgen, Doktor Hoffmann", empfing er mich. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Sicher habe ich Ihnen gestern Abend einen tüchtigen Schreck eingejagt!" Ich zog mir den Besucherstuhl neben sein Bett und setzte mich. „Wahrscheinlich haben Sie gedacht, dass sich der alte Trottel nun nicht mal mehr an seinen Bruder erinnern kann."

„Na ja, ein bisschen Sorgen habe ich mir schon gemacht", gab ich zu. Ich erwähnte nicht, dass ich unter anderem an Hirnmetastasen gedacht hatte. Damit, dass sich Wurm heute wieder an seinen Bruder erinnerte, war die Möglichkeit längst nicht vom Tisch. Ich fragte: „Hat Ihr Bruder Ihnen erzählt, worüber wir gesprochen haben?"

„Natürlich. Gerade eben hat er mich angerufen. Ist doch klar, dass er wissen will, wie es um mich steht." Ein Hustenanfall unterbrach Wurm. Ich klopfte ihm den Rücken ab und stellte den Sauerstoff für seine Nasensonde vorübergehend etwas höher. „Auch wenn mein Zustand ziemlich offensichtlich ist."

In der Tat, eine normale Frage, die der Bruder da am Telefon gehabt hatte. Aber ebenso normal ist, dass wir, als Angehörige oder verantwortliche Schwestern und Ärzte, oft mehr Schwierigkeiten haben, das Leiden eines Patienten zu ertragen, als dieser selbst.

Herr Wurm beendete unser gemeinsames Schweigen. „Ich weiß doch, dass die Medizin mit mir am Ende ist. Machen Sie sich keine Sorgen, Doktor Hoffmann. Das ewige Leben auf Krankenschein gibt es nicht."

„Da haben Sie recht. Nicht einmal ohne Krankenschein, für Privatpatienten."

„Wissen Sie, Doktor Hoffmann, oft wäre ich lieber normaler Kassenpatient und nicht isoliert in diesem schicken Einzelzimmer. Aber dann bin ich wieder froh, nicht andere Patienten mit meinem Gehuste zu stören."

Wurm war ein schönes Gegenbeispiel für das unter uns Ärzten weit verbreitete Vorurteil, dass Privatpatienten per Definition eine Pest seien.

Wir kamen zurück auf die medizinischen Probleme. Meine Frage nach Kopfschmerzen verneinte er. Ich hatte einen Augenspiegel mitgebracht: Seine Pupillen waren in etwa gleich groß, eine Stauungspapille nicht zu erkennen. Das schloss Hirnmetastasen, also Tochtergeschwülste des Tumors, zwar nicht aus, aber wenigstens einen dadurch erhöhten Druck im Gehirn. Warum eigentlich „Tochtergeschwülste"? Warum nicht „Sohngeschwülste", ging es mir durch den Kopf. Gebiert eine bösartige Geschwulst nur Töchter?

Dann war da noch die Sache mit der Fistel zwischen Luft- und Speiseröhre. Das Loch von der Speiseröhre aus mit einer kleinen Prothese, einem Stent, abzudichten, wäre kein großer Eingriff, versicherte ich Wurm, und würde seinen Husten deutlich lindern. Er wolle es sich überlegen, antwortete er. Um mich nicht mit einem sofortigen Nein zu enttäuschen, wie mir schien. Zum Schluss brachte ich unser Gespräch noch einmal auf seinen Bruder.

„Ist Ihr Bruder eigentlich auch im Baugewerbe?"

Zum ersten Mal seit Tagen sah ich Herrn Wurm lächeln. Er ließ sich einen Moment Zeit, dann antworte er. „Ja. Ich glaube, das könnte man so sagen."

Das Zögern hatte mich wieder verunsichert. Wie stand es wirklich um Wurms Geisteszustand? Bevor ich mich verabschiedete, stellte ich eine einfache Testfrage.

„Sagen Sie, wie heißt Ihr Bruder eigentlich mit Vornamen?"

„Friedrich", kam es diesmal ohne Zögern.

Schnell drehte ich den Kopf zur Seite, damit Herr Wurm mein Erschrecken nicht sah. Natürlich gibt es jede Menge einfallslose Leute, also auch jede Menge einfallslose Eltern. Aber es war trotzdem schwer zu glauben, dass Wurms Eltern beiden Söhnen denselben Vornamen gegeben hatten.

Im Schwesternzimmer nahm ich mir die Krankenakte von Friedrich Wurm vor. Chefarzt Kleinweg hatte dessen Kopf weder durch den Computertomographen noch durch den Magnetresonanztomographen schieben lassen. Wahrscheinlich war das schon vor der Klinikeinweisung erledigt worden, im Rahmen des sogenannten Staging, wenn der Körper bei einer Tumorerkrankung routinemäßig nach Metastasen abgesucht wird. Aber in Wurms Akte gab es keine Unterlagen zu den Untersuchungen vor seiner Klinikaufnahme. Ich schaute auf die Uhr. Es war noch eben Zeit, mir auf dem Weg zu der Rationalisierungskonferenz Wurms ambulante Unterlagen im Sekretariat von Chefarzt Kleinweg zu besorgen.

„Das muss alles bei Ihnen auf der Privatstation sein", beschied mich Frau Krüger, unsere Chefsekretärin, nach kurzer Suche schulterzuckend.

„Nein, da haben wir absolut nichts an alten Untersuchungen.“

Erneutes Suchen, erneutes Schulterzucken. Den größten Teil seiner Patientenunterlagen führte Kleinweg nach wie vor schriftlich auf Papier. Erst wenn es zu einer stationären Aufnahme kam, musste er sich – widerwillig – der Elektronik fügen.

„Sie kennen ja das Chaossystem des Chefs, Doktor Hoffmann. Ich werde nachher noch einmal gründlich nachschauen und rufe Sie dann an."

Ich bedankte mich und hetzte zum Konferenzraum.

Kosovo, Ende Mai 1999

Die Sommer sind kurz in den Bergen des Kosovo.

Luca blickte in die ihm so vertraute Landschaft, die sein Bergdorf umgab. Direkt an die kleinen Gärten hinter den Häusern schlossen sich die Wiesen an, auf denen ihre wenigen Kühe und Schafe weideten. Dann kam schon der Wald, der so weit reichte wie das Auge, begrenzt nur von den Berggipfeln, deren Schnee in der Vormittagssonne glänzte. Erst jetzt, Ende Mai, standen die Obstbäume endlich in Blüte. Lange Winter, später Nachtfrost im Frühjahr, früher Nachtfrost im Herbst und die rauen Winde von den Bergen ließen sie nicht hoch werden. Doch irgendwie überlebten sie jedes Jahr, erschienen irgendwann über Nacht plötzlich Knospen, dann, ebenso plötzlich, Blüten und Blätter, und immer reichte die Zeit, dass sie vor dem ersten Frost reichlich Früchte trugen. Das ewige Wunder des Lebens.

Für Luca aber war heute der Tag zum Sterben.

Wie oft hatte er schon auf dem Markplatz gestanden und seinen Blick über die Landschaft schweifen lassen. Fast jeden Tag seines Lebens, bis auf die Zeit des Studiums und die paar Semester, die er dann an der Universität von Priština unterrichtet hatte. Das war nun schon zehn Jahre her; seitdem lebte er wieder hier, musste nur gelegentlich, zu Prüfungsterminen, den umständlichen Weg in die Hauptstadt auf sich nehmen. So hart das Leben im Dorf auch war, Luca liebte es.

Um diese Tageszeit trank er hier für gewöhnlich einen Mokka und beobachtete die dösenden Hunde oder schaute einfach in die Landschaft. Aber jetzt waren die Hunde verschwunden. Tot. Und vor die wilde, schöne Landschaft schob sich unbarmherzig ein anderes Bild. Mehr noch als in die Netzhaut hatte sich dieses Bild in sein Herz eingebrannt. Und quälte ihn weit mehr als der Gedanke an den nahen eigenen Tod.

Die Gänse hatten die Eindringlinge zuerst gehört und mit aufgeregtem Geschnatter gewarnt, gleich darauf hatten die Hunde angeschlagen. Ein paar Schüsse: das Hundegebell erstarb. Der Lärm hatte Luca aus einem ohnehin unruhigen Schlaf gerissen, vor den Fenstern war es noch dunkel. Auf Grund der Gerüchte und der Ereignisse in letzter Zeit schlief er schon seit Wochen in seiner Kleidung, zog zur Nacht lediglich die Schuhe aus. Er stürzte aus dem Bett und kletterte auf den Dachboden.

„Ihr müsst sofort weg. Schnell, schnell, beeilt euch“, hatte er die sechs albanischen Studenten, die dort im Heu übernachteten, eilig geweckt. „Sie kommen!“

Unnötig auszusprechen, wer da kam. Seit die Nato im März ihre Luftangriffe auf serbische Stellungen und die Hauptstadt Belgrad begonnen hatte, war die Situation der Albaner im Kosovo noch bedrohlicher, die Wut der Serben noch gefährlicher geworden.

„Und Bojana, Herr Professor? Was ist mit Ihrer Frau?“

Bojana weigerte sich, in Kleidung zu schlafen. Im Nachthemd und barfuß stand sie fröstelnd hinter Luca auf der Bodentreppe, die Arme schützend vor der Brust.

„Ich bin Serbin. Mir werden sie nichts tun.“

Davon war Luca nicht überzeugt. Aber das Thema hatten er und Bojana schon oft diskutiert, ohne dass seine Frau auf seine Warnungen gehört oder ihre Meinung geändert hatte.

Im diffusen Licht der heraufziehenden Dämmerung führte Luca seine sechs Studenten über Trampelpfade aus dem Dorf. Als die ursprünglich für serbische und albanische Kosovaren zweisprachig gegründete Universität von Priština 1989 ganz unter serbischen Einfluss geriet, albanisches Lehrpersonal entlassen wurde und nur noch nach serbischem Lehrplan unterrichtet werden durfte, hatten die Albaner-Kosovaren eine Art Privatuniversität gegründet. Unterrichtet wurde an bestimmten Tagen in Wohnungen in Priština und Umgebung, oder, wie die Englischkurse von Luca, in zwei- bis vierwöchigen Seminaren, während der die Studenten bei ihm zu Hause wohnten. Eine Lösung, die der Abgelegenheit seines Dorfes Rechnung trug. Und den Lernerfolg der Seminarteilnehmer unterstützte, mit denen auch während des Essens und ihrer Mitarbeit im Haushalt weitgehend Englisch gesprochen wurde. Lucas Studenten mussten sich ihre Diplome danach nicht kaufen wie viele ihrer Kommilitonen, zu den Abschlussprüfungen beherrschten sie die Fremdsprache tatsächlich und waren fit für den ersehnten Job irgendwo in Westeuropa oder den USA.

„Wartet einen Moment“, flüsterte Luca vor dem Haus des Schmieds, „und kein Wort!“ Nachdem das serbische Kommando die Hunde erschossen hatte, lag eine unheimliche Stille über dem Dorf, nur gelegentlich unterbrochen durch einen entsetzten Schrei von irgendwo, einem auf Serbisch gebrüllten Befehl oder auch einem Schuss. „Wir nehmen noch jemanden mit.“ Die Tochter des Schmieds wartete bereits hinter der Tür, ihr dick eingepacktes Baby in den Armen. Wortlos schloss sie sich ihnen an.

Beim Halal-Schlächter holten sie die Frau des Schlächters und ihre fünf Kinder ab, ein paar Häuser weiter die Kinder des Flickschusters.

„Darf ich mein Kaninchen mitnehmen?“

Für ein, zwei Sekunden knipste Luca die Taschenlampe an. Er hatte die kleine Xara schon lange nicht mehr gesehen, der verwitwete Flickschuster ließ seine Mädchen kaum aus dem Haus. Längst war Xara nicht mehr klein und die jetzt wohl Dreizehnjährige machte ihrem Vornamen „die Schöne“ alle Ehre. Unter ihrem Hemd deuteten zwei kleine Hügel die zukünftige Frau an. Sie war genau in dem Alter und die Art von Mädchen, an dem die serbischen Kommandos ihren brutalen Spaß hatten.

„Natürlich darfst du dein Kaninchen mitnehmen. Aber beeil dich!“

Als die Gruppe unter Lucas Führung den Wald erreicht hatte, zählte sie über zwanzig Menschen. Keiner ihrer serbischen Nachbarn hatte sich ihnen in den Weg gestellt. Dies war ein Dorf, in dem Albaner und Serben seit Jahrzehnten friedlich nebeneinander lebten und arbeiteten.

„Haltet euch südlich, das dürfte am sichersten sein. Aber seid trotzdem vorsichtig, dass ihr nicht einer anderen serbischen Patrouille in die Arme lauft. Und probiert immer wieder, ob ihr endlich Handyempfang habt. Spätestens oben, bei der alten Hütte, müsste es klappen. Von dort aus müsstet ihr Hilfe rufen können.“

Wegen der Berge ringsum gab es im Dorf keinen Handyempfang und der versprochene Anschluss an das Telefonnetz war seit Jahren ein Versprechen geblieben. Er hätte ihnen ohnehin nichts genützt, die Telefonleitungen kappten die Kommandos stets als Erstes. Luca überschlug grob die Chancen: die Chancen dieser kleinen Gruppe und, mehr noch, die Chancen der im Ort zurückgebliebenen Albaner. Auch seine körperlich fitten Studenten würden mindestens eine halbe Stunde für den Aufstieg bis zur alten Hütte benötigen. Wenn sie von dort per Handy die UCK erreichten, die albanische „Befreiungsarmee des Kosovo“, wo waren deren Männer dann aktuell? Wie lange würden sie brauchen, um ihnen zu Hilfe zu kommen? Würden sie das Dorf rechtzeitig erreichen?

Mit einem unguten Gefühl überließ Luca die kleine Gruppe ihrem Schicksal und kehrte um, dem eigenen Schicksal entgegen. Was war mit Bojana?

Die Sonne hatte es noch nicht über die Gipfel geschafft, aber es war Tag geworden, als Luca sein Haus erreichte. Die Haustür stand offen, kein gutes Zeichen. Vorsichtig betrat er den mit kleinen Feldsteinen gepflasterten Flur.

„Bojana?“

Schwere Stiefel stampften vom Schlafzimmer die Treppe hinunter.

„Ach, der Herr des Hauses ist zurück!“

Der Soldat trug eine blaue Uniform, ein anderes Blau allerdings als das der serbischen Sonderpolizei. Am seinem Gürtel hing ein Messer, lang wie eine Machete. Seine Kalaschnikow war auf Luca gerichtet.

„Willkommen zu Hause, Herr Professor!“

„Was habt ihr in meinem Haus zu suchen?“

Luca war sich der Dummheit, der Sinnlosigkeit seiner Frage bewusst. Und doch, sollte er stumm bleiben? Den Überfall wortlos akzeptieren?

Die Antwort bekam er sofort. Mit dem Kolben der Kalaschnikow.

„Sonst noch eine Frage, Herr Professor?“

Der Schlag hatte Luca nicht niedergestreckt, aber für einen Moment war er desorientiert.

„Meine Frau!?“

Der Serbe lachte.

„Ja, wie kann man eine so schöne Frau alleine lassen, Siptar! Aber mach dir keine Sorgen, mein Kamerad kümmert sich um sie.“

Jetzt erst nahm Luca die Geräusche von oben wahr, über deren Bedeutung er sich keine Illusionen machte. Er rappelte sich auf und drängte in Richtung Treppe. Der Serbe stellte sich ihm in den Weg.

„Nicht so eilig. Du kommst schon noch zum Zugucken! Jetzt schauen wir beide uns erst einmal in deinem Haus um.“

Mit dem Gewehrkolben stieß er Luca in Richtung Küche. Hier hatten die Serben schon ganze Arbeit geleistet. Die Stühle waren umgestürzt, die Schubladen aus dem Küchenschrank gerissen wie auch die Vorräte aus dem altersschwachen Kühlschrank. Auf dem Tisch lag das wenige Silberbesteck und was sonst noch die Eindringlinge als wertvoll oder wenigstens verkäuflich erachteten. In der Wohnstube sah es nicht besser aus. Die Couch und die beiden Sessel, ein Hochzeitsgeschenk von Bojanas Eltern, präsentierten durch zerschnittene Bezüge hindurch ihre Innereien, die guten Gläser und das gute Geschirr von der Anrichte lagen in Scherben auf dem Boden.

Ein erneuter Schlag mit dem Kolben.

„Wo habt ihr die Waffen versteckt?“

Luca war klar, was den Verdacht des Serben erregte: die Landkarte des Kosovo an der Wand. Tatsächlich hatten Bojana und er versucht, anhand dieser Karte und der Sendungen der Radiostation „Freies Kosova“ täglich den Grad ihrer Gefährdung abzuschätzen. Und hatten ihn falsch abgeschätzt, wie sich gerade herausstellte. Obgleich, weit entfernt konnten die UCK-Kämpfer nach den letzten Meldungen nicht sein.

---ENDE DER LESEPROBE---