Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit - Doreen Bryant - E-Book

Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit E-Book

Doreen Bryant

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Beschreibung

Für rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen Deutschlands ist Deutsch nicht die Erstsprache bzw. nicht die alleinige Erstsprache und der Bedarf, mehr über Erwerbsspezifika und Unterstützungsmöglichkeiten zu erfahren, wächst im schulischen und vorschulischen Bereich. Dieses Studienbuch gibt zunächst einen Überblick über verschiedene Erwerbsszenarien und den Erwerbsprozess beeinflussende Faktoren. Es folgen differenzierte Einblicke in die deutsche Sprache aus der Perspektive der Lernenden, um potenzielle Schwierigkeiten sichtbar werden zu lassen und um didaktische Handlungsspielräume aufzuzeigen. Der umfassendste Teil des Lehrbuches präsentiert aktuelle sowie "klassische" Erwerbsstudien für insgesamt sechs zentrale Sprachbereiche, dokumentiert dabei die methodische Breite der Erwerbsforschung und regt zum eigenen wissenschaftlichen Arbeiten an. Das Buch richtet sich an Studierende, Referendare, Lehrkräfte sowie Aus- und Fortbildende, die über sprachwissenschaftliche Grundkenntnisse verfügen und sich detaillierte Einblicke in den Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit wünschen, um ihr sprachdiagnostisches und sprachdidaktisches Handeln auf ein solides Fundament zu stellen.

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Doreen Bryant / Tanja Rinker

Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0941-8105

ISBN 978-3-8233-8322-2 (Print)

ISBN 978-3-8233-0324-4 (ePub)

Inhalt

DankZur Einführung in das Studienbuch0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster ÜberblickTeil IDeutsch aus der Lernendenperspektive: Schwierigkeiten verstehen und überwinden helfenEinleitung1 Prosodische und lautliche Aspekte1.1 Sprachrhythmus1.2 Wortakzent1.3 Silbenstruktur1.4 Lautsystem1.4.1 Konsonanten1.4.2 Vokale2 Wortschreibung3 Wortbildung4 Flexion4.1 Verbflexion4.2 Nominalflexion4.2.1 Genus4.2.2 Kasus4.2.3 Numerus5 Wortstellung6 Lokalisierungsausdrücke6.1 Lokale Verben: Bewegungs- und Positions-/Kontaktmodus6.2 Lokalisierungskonstruktionen: einstellig, zweistellig, pleonastisch6.3 Lokale Basisrelationen6.4 Obligatorische Teilraumspezifizierung7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV)Teil II Studien zum Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit8 Phonologie8.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand8.2 Phonologie im Erstspracherwerb8.3 Phonologie im bilingualen Erwerb / Zweitspracherwerb8.4 Studie 1: Neurophysiologische Marker der Phonemverarbeitung8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern8.5.1 Studie 2: Erwerb von Phonemen bei türkisch-deutschen Kindern8.5.2 Studie 3: Phonemerwerb türkisch-deutscher und russisch-deutscher Kinder im Vergleich8.5.3 Studie 4: Entwicklungsverläufe und Einflussfaktoren im Phonemerwerb bei türkisch-deutschen Kindern9 Wortschatz9.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand9.2 Wortschatz im Erstspracherwerb9.3 Wortschatz im bilingualen Erwerb9.4 Studie 1: Entwicklung von Nomen und Verben bei russisch-deutschen Kindern9.5 Studie 2: Der Einfluss des elterlichen Inputs9.6 Studie 3: Inputdominanz und Entwicklung der Herkunftssprache Russisch9.7 Studie 4: Lexikalische Entwicklung bei türkisch-deutschen Kindern10 Genus10.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand10.2 Genus im Erstspracherwerb10.3 Genus im Zweitspracherwerb10.3.1 Ein kurzer Überblick ausgewählter Aspekte10.3.2 Studie 1: Nominalgruppeninterne und -externe Kongruenz bei Grundschulkindern10.3.3 Studie 2: Prädiktive Nutzung von Genuskongruenz bei Erwachsenen10.4 Genus im Erst- und Zweitspracherwerb: Zusammenfassung11 Plural11.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand11.2 Plural im Erstspracherwerb11.3 Plural im Zweitspracherwerb11.4 Studie 1: Erwerb der Pluralflexion bei türkisch-deutschen Kindern11.5 Studie 2: Strategien im Pluralerwerb11.6 Studie 3: Pluralvariation im L1- und L2- Erwerb: soziale, dialektale und methodische Faktoren12 Wortstellung12.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand12.2 Wortstellung im Erstspracherwerb12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb12.3.1 Früher Zweitspracherwerb12.3.2 Studie 1: Erwerbsabfolge im ungesteuerten L2-Erwerb Erwachsener12.3.3 Studie 2: Erwerbsabfolge im gesteuerten L2-Erwerb französischsprachiger SchülerInnen12.3.4 Studie 3: Zum Einfluss der L1 (Russisch/Türkisch) auf den Verbstellungserwerb bei Grundschulkindern12.3.5 Studie 4: Vergleich von Verbstellung und Subjekt-Verb-Kongruenz bei kindlichen und erwachsenen Deutschlernenden13 Lokalisierungsausdrücke13.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand13.2 Lokalisierung im Erstspracherwerb13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb13.3.1 Studie 1: Zum Erwerb lokaler Relationen bei Kindern mit Türkisch und Russisch als L113.3.2 Studie 2: Zur Rolle sensomotorischer Repräsentationen bei erwachsenen Deutschlernenden13.3.3 Studie 3: Zur Versprachlichung räumlicher Bewegung bei erwachsenen Deutschlernenden14 LiteraturANHANG: Vokale und Konsonanten des Deutschen (Transkriptionszeichen, Artikulationsmerkmale)Index

Dank

Ohne unsere Studierenden, die sich einen kompakten Überblick über die Erwerbsforschung zum Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit wünschten, gäbe es dieses Studienbuch nicht. Daher gilt ihnen unser erster Dank – auch für das Feedback beim Erproben einzelner Kapitel in Seminaren und Kolloquien.

Ein Buch in Zeiten der Corona-Pandemie zu verfassen, war eine ganz besondere Herausforderung – gerade in der heißen Phase schlossen Bibliotheken, war der Zugang zum eigenen Büro erschwert, mussten Kinder zu Hause betreut und beschult werden. Dass wir dennoch (beinahe fristgerecht) dieses Buch fertigstellen konnten, erfüllt uns mit Freude (und auch ein bisschen Stolz). Ohne die große Unterstützung unserer Partner und Familien hätten wir das Projekt nicht so ohne Weiteres stemmen können. Daher möchten wir uns bei Jürgen sowie Loren, Lia und Aiden und natürlich auch den Großeltern ganz besonders bedanken.

Ein herzlicher Dank geht auch an unsere MitarbeiterInnen, die das kritische Gegenlesen des Manuskripts übernommen haben (in alphabetischer Reihenfolge aus den Standorten Tübingen und Eichstätt): Theresa Bloder, Nora Budde-Spengler, Amelie Eisinger, Beate Erhard, Slavica Stevanović, Anna Fiona Weiß. Ebenso danken wir den Hilfskräften für die Unterstützung bei Recherchen, Layout und Literaturverzeichnis sowie den Studierenden, die einzelne Kapitel „Studi-Checks“ unterzogen haben: Michaela Bittl, Elisa Heinzmann, Aylin Özbey, Florian Siegmund, Sarah Unger, Diana Weskott. Danke an Birla Erhard für das Anfertigen zahlreicher Zeichnungen.

 

Abschließend sei unserer Lektorin Kathrin Heyng ganz herzlich gedankt für all ihre Unterstützung bei der Umsetzung unserer Studienbuchidee.

 

Wir wünschen unseren Lesenden eine anregende und vor allem auch ertragreiche Lektüre!

 

Doreen Bryant & Tanja Rinker

Tübingen, Eichstätt im Februar 2021

Zur Einführung in das Studienbuch

Ziele und Verortung in der Studienliteratur des Themenfeldes

Dieses Studienbuch verfolgt im Wesentlichen zwei Hauptziele – ein praxisorientiertes und ein forschungsorientiertes. Zum einen geht es um die Vermittlung von Grundlagen für eine linguistisch und ontogenetisch motivierte Sprachförderung. Eine wichtige Voraussetzung für ein wirkungsvolles sprachförderliches Handeln ist die Fähigkeit, die Lernersprache möglichst genau zu analysieren, um zur Initiierung der nächsten Entwicklungsschritte passgenaue didaktische Angebote machen zu können. Ergänzend zum Einsatz standardisierter Testverfahren bedarf es daher für den alltäglichen Umgang mit den Lernenden gut ausgebildeter sprachförderdiagnostischer Kompetenzen. Um diese ausbilden zu können, ist es erforderlich zunächst einmal den Lerngegenstand in seiner Vielschichtigkeit zu durchdringen und sich der spezifischen Erwerbsaufgaben und Herausforderungen bewusst zu werden. Erwerbsstudien liefern sprachphänomenbezogen weitere wichtige Details für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung. So hilft beispielsweise die Kenntnis von typischen Progressionen in den untersuchten Sprachbereichen einerseits dabei, zielsprachliche Abweichungen eines Lernenden adäquat zu interpretieren und andererseits dabei, die erwerbslogisch nächsten Schritte anzubahnen.

Zum anderen soll das Studienbuch in die Erwerbsforschung zum Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit einführen. Anhand ausgewählter aktueller und „klassischer“ Erwerbsstudien, die die methodische Breite des Feldes dokumentieren, werden die Lesenden an Forschungsdiskurse herangeführt und zum eigenen wissenschaftlichen Arbeiten angeregt.

Dementsprechend richtet sich das Studienbuch an Studierende, Referendare, Lehrkräfte sowie Aus- und Fortbildende, die sich für ihr sprachdiagnostisches und sprachdidaktisches Handeln differenzierte Einblicke in den Lerngegenstand und in verschiedene Erwerbsszenarien des Deutschen wünschen sowie an alle aus den genannten Gruppen, die sich für zentrale Sprachbereiche des Deutschen einen Forschungsüberblick verschaffen wollen und die sich anhand weiterführender Reflexions- und Lektüreaufgaben in die Erwerbsforschung vertiefen möchten.

Mit der Kombination aus linguistischer/sprachkontrastiver und spracherwerbsbezogener Annäherung an das Deutsche im Kontext von Mehrsprachigkeit, der Forschungsorientierung und dem Anspruch aus den Theorie- und Erwerbserkenntnissen didaktische Implikationen abzuleiten, schließt dieses Buch eine Lücke in der Studienliteratur und ergänzt die bereits vorliegenden Einführungswerke und Handbücher zu Deutsch als Zweitsprache (u.a. Hoffmann et al. 2017; Jeuk 2021; Kniffka & Siebert-Ott 2021; Rösch 2011), zu Mehrsprachigkeit (u.a. Müller et al. 2011; Riehl 2014; Roche 2012) und Praxishandbücher zur DaZ/DaF-Didaktik (u.a. Geist & Kraft 2019; Kalkavan-Aydin 2018).

Verortung in Spracherwerbstheorie und Sprachdidaktik

Eine der entscheidenden Fragen in der Spracherwerbstheorie betrifft die Rolle des InputInputs. Diesbezüglich gibt es zwei grundlegend verschiedene Auffassungen. Der nativistischen Annahme zufolge ist der Mensch für den Erwerb der Sprache prädisponiert, d.h. ein erheblicher Teil der Sprachbeherrschung – auf der Theorieebene als UniversalgrammatikUniversalgrammatik (UG) beschrieben – ist angeboren und muss im Laufe der ersten Jahre aktiviert und sprachspezifisch moduliert werden. Dem InputInput kommt in diesem theoretischen Framework lediglich eine Triggerfunktion zu. So bewirken bestimmte Strukturen im Input des Kindes, dass von der UG bereitgestellte Parameter in zielsprachlicher Weise gesetzt werden (u.a. Chomsky 1981).

Während Befürworter der nativistischen Theorie der Interaktion mit der Umwelt und dem konkreten Sprachangebot der Umgebung eine geringe Bedeutung beimessen, rücken gerade diese Aspekte in der gebrauchsbasierten (usage-basedusage-based) Spracherwerbskonzeption in den Vordergrund (u.a. Behrens 2009; Tomasello 2003).1

InputInput wird – auch wenn der Begriff dies suggeriert – nicht zwangsläufig zum Intake. Dies gilt gleichermaßen für den Erst- und Zweitspracherwerb. Im Erstspracherwerb wird die an das Kind gerichtete Sprache idealerweise an den kognitiven und sprachlichen Entwicklungsstand angepasst (u.a. Ritterfeld 2000). Sie liefert in den ersten Lebensjahren bei transparentem Situationsbezug insbesondere jene Strukturen in hoher Frequenz und kategorialer Salienz, die das semantisch-konzeptuelle und morphologisch-syntaktische Grundgerüst der Zielsprache ausmachen (Bryant 2012: 14). Der an Zweitspracherwerbende gerichtete Input ist für gewöhnlich weniger angepasst an den aktuellen Entwicklungsstand und in Qualität und Quantität oftmals nicht hinreichend strukturiert. Die Sprachförderung kann und sollte unter Berücksichtigung erwerbslogischer Sequenzen bei der InputoptimierungInputoptimierung ansetzen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten den Input erwerbsbegünstigend zu gestalten, auf die hier allerdings nicht im Detail eingegangen werden kann.2 Im Rahmen einer strukturfokussierten Inputanreicherung sollten die Zielstrukturen in bedeutungsvollen, typischen Gebrauchskontexten präsentiert werden, die Form-FunktionszusammenhängeForm-Funktionszusammenhänge wahrnehmen lassen.

So ließen sich beispielsweise dynamische Positionsverben (stellen, legen, hängen) und lokale Präpositionen (in, auf, an, unter, über, neben) mit AkkusativrektionAkkusativrektion im Kontext einer Aktion des Zimmereinrichtens vermitteln (Stell / leg X auf / in YAkk), statische Positionsverben (stehen, liegen, hängen) und lokale Präpositionen (s.o.) mit DativrektionDativrektion im Kontext einer Zimmerbeschreibung (X steht / liegt auf / in YDat). Die Lernenden erfahren so implizit (oder mit zusätzlichen Erklärungen auch explizit), dass das Deutsche eine (konsequente) PositionsverbsprachePositionsverbsprache ist und dass den Kasusformen unterschiedliche Funktionen im Raumausdruckssystem zukommen. Darüber hinaus lernen sie handlungs- oder bildgestützt an prototypischen Verwendungsweisen orientiert einige der Raumpräpositionen des Deutschen kennen.

Will man ein bestimmtes Muster (z. B. das der dynamischen/direktionalen oder der statischen Lokalisierung) etablieren, ist es von Vorteil zunächst nur wenige und prototypische Repräsentanten auszuwählen. Die sog. TypefrequenzTypefrequenz, die sich auf die Vertreter eines zugrundeliegenden Musters bezieht, sollte also am Anfang eher niedrig gehalten werden. Die TokenfrequenzTokenfrequenz, die sich auf die Vorkommenshäufigkeit eines konkreten Elements bezieht, sollte jedoch hoch sein. Durch eine hohe Tokenfrequenz wird eine stabile Ankerstruktur gelegt, während die Typefrequenz zur Analogiebildung und Mustererkennung anregt (u.a. Tomasello 2003). Auch in der (spontanen) mündlichen Interaktion mit den Lernenden ergeben sich für die Lehrkraft vielfache Möglichkeiten ihre Äußerungen so zu strukturieren, dass die Lernenden auf bestimmte Kontraste oder Ausdrucksvarianten aufmerksam werden.3

Allein auf der Basis von Inputverarbeitung wird die L2-Entwicklung allerdings noch nicht hinreichend vorangetrieben. Sprachverstehen ist möglich, auch ohne den InputInput bis ins letzte Detail analysiert zu haben. Sprachlernende sind nur dann, wenn sie selbst OutputOutput erzeugen, wirklich gezwungen, sich der Formseite der Sprache zu stellen und ihre eigenen Strukturen mit denen der Zielsprache zu vergleichen und dabei gegebenenfalls Differenzen zu bemerken (Swain 1985; Swain & Lapkin 1995).

In diesem Buch werden daher beispielhaft und sprachphänomenbezogen Anregungen für eine strukturfokussierte Inputanreicherungstrukturfokussierte Inputanreicherung und für eine systematische Outputelizitierung gegeben.

Aufbau und Hinweise für die Nutzung des Studienbuches

Kapitel 0 führt in verschiedene Erwerbsszenarien ein und sensibilisiert dabei für die lebensweltliche Variation innerhalb einzelner Erwerbstypen und für das komplexe Zusammenspiel zahlreicher den Erwerb beeinflussender Faktoren. Es wird ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass eine pauschale Zuordnung zu einem bestimmten Erwerbstyp den Blick für individuelle Erwerbsspezifika versperren kann.

Teil I stellt insgesamt sieben Sprachbereiche aus der Lernendenperspektive vor und zeigt die jeweiligen Zielstrukturen betreffend verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten auf. Teil II knüpft an den linguistischen Ausführungen an und präsentiert für sechs Sprachbereiche eine Auswahl an Erwerbsstudien. Da der Erstspracherwerb für den Zweitspracherwerb üblicherweise als Vergleichsmatrix herangezogen wird, ist den Studien zum Zweitspracherwerb immer ein Überblick der Erstspracherwerbsbefunde zum jeweiligen Phänomenbereich vorgeschaltet.4

Teil I und Teil II bieten Inhalte und Aufgaben für mindestens zwei Lehrveranstaltungen. Es ist möglich, sich Teil I zunächst in seiner Gesamtheit zu erarbeiten, um sich dann in einem Folgeseminar Teil II zuzuwenden. Alternativ wählt man nacheinander aus Teil I einen Sprachbereich (z. B. prosodische und lautliche Aspekte) und dann die dazu jeweils passenden Erwerbsstudien (z. B. zur Phonologie) aus Teil II. Es wurde darauf geachtet, dass die Kapitel beider Teile auch jeweils für sich stehen können, um damit einzelne Seminarsitzungen gestalten zu können. Es sei aber darauf hingewiesen, dass die Kapitel von Teil II, weil sie das Wissen von Teil I voraussetzen, in Bezug auf die Terminologie und die inhaltliche Dichte anspruchsvoller sind.

Jedes Kapitel beginnt mit einer Aktivierung, um auf das jeweilige Thema einzustimmen und bereits an vorhandenes Wissen anzuknüpfen.

Am Ende eines jeden (Unter-)Kapitels finden sich Aufgaben mit unterschiedlichem Anspruch und Schwierigkeitsgrad – zu erkennen an der Anzahl der Sterne.

* Reproduktion ** Anwendung*** Vertiefung

Aufgaben, die überprüfen, ob ausgewählte Inhalte des gelesenen Kapitels wiedergegeben werden können, sind mit einem Stern versehen. Aufgaben, die das Gelesene anwenden lassen oder zur Reflexion darüber anregen, sind mit zwei Sternen ausgewiesen. (Für einen Teil der Aufgaben aus der Zwei-Sterne-Kategorie finden sich auf der Verlagshomepage unter dem Link www.meta.narr.de/9783823383222 Lösungsskizzen.) Die besonders anspruchsvollen, mit drei Sternen markierten Aufgaben beinhalten in aller Regel zusätzliche Lektürehinweise, um das zuvor Gelesene zu vertiefen und in einen größeren Forschungskontext einzubetten oder um komplexe Problemstellungen zu bearbeiten. Aufgrund der jedem Kapitel folgenden Aufgaben unterschiedlicher Niveaustufen eignet sich das Studienbuch auch gut für den Einsatz in heterogenen Seminargruppen (z. B. mit BA- und MA-Studierenden), aber auch zum Selbststudium oder zur Examensvorbereitung.

0Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

Aktivierung

Versuchen Sie aus den Beschreibungen zu entnehmen, in welchen Kontexten die Kinder ihre Sprachen gebrauchen und wie sie ihre Fähigkeiten in diesen einschätzen. Worin sehen Sie Gemeinsamkeiten und worin Unterschiede in den mehrsprachigen Lebenswelten der drei Kinder?

Kasten 1:

Drei mehrsprachige Mädchen beschreiben ihren Sprachgebrauch zu Hause und haben hierzu eine Sprachenfigur1 gestaltet.

Mädchen 1

Mädchen 1: „Ich kann Kurdisch, Englisch und Türkisch. In der Familie spreche ich sehr oft Türkisch, nicht so oft Kurdisch. Ich kann die Sprache noch nicht sehr gut. Englisch sprech ich nur im Unterricht, meist oder eher gar nicht zu Hause. Mit meinem Bruder sprech ich zu Hause ganz oft nur Türkisch oder Deutsch. […] In der Schule sprech ich manchmal mit meiner Kusine Türkisch, wenn wir was zusammen sagen wollen. Mit meiner Mama sprech ich immer Türkisch, bisschen Deutsch. Mit meinem Papa soll ich, darf ich, oder was Ähnliches wie muss ich, Kurdisch sprechen, weil ich das noch nicht so gut kann. Ich bin Kurdin und muss diese Sprache können.“

 

Beschreibung der Sprachenfigur: „Hier oben in den Haaren oder eher im Kopf ist Deutsch, weil ich Deutsch ganz gut kann und irgendwie im Bauch ist Kurdisch, weil ich Kurdin bin. Im rechten FußFuß ist Englisch, weil ich das zu Hause nicht mache, nicht extra lerne, sondern in der Schule und Türkisch im linken Fuß, weil ich das einfach nicht mag. Türkisch-Sprache. Und dann noch einen Mund gemalt aus der kurdischen Flagge.“

Mädchen 2

Mädchen 2: „Ich sprech Englisch und Deutsch. Zu Hause sprech ich mit meiner Mama nur Deutsch und mit meinem Papa nur Englisch. Mit meinem Bruder sprech ich manchmal Deutsch und manchmal Englisch. Mit meiner Oma und meinem Opa aus Deutschland sprech ich nur Deutsch, und mit meinen Tanten und meinen Onkeln in Amerika nur Englisch.“

 

Beschreibung der Sprachenfigur: „In den Kopf und in die Hose und in den Schuh hab ich Deutsch gemacht, weil ich in Deutschland geboren bin, weil ich Deutsch spreche und weil meine Mutter Deutsch spricht. Und ich hab in den Pullover die amerikanische Flagge gemalt, weil ich auch zu 50 % amerikanisch bin wegen meinem Vater, weil der ist in den USA geboren.“

Mädchen 3

Mädchen 3: „Zu Hause sprech ich nur Deutsch und Ukrainisch. Mit meiner Mutter red ich nur Ukrainisch, aber wenn ich was nicht versteh, dann sagt sie es mir auch auf Deutsch. Mit meinem Vater red ich nur Deutsch. Mit meiner Oma mit der red ich Ukrainisch, aber wenn ich was nicht versteh, dann hilft mir Mama.“

 

Beschreibung der Sprachenfigur: „Ich hab die deutsche Flagge in den Kopf gemalt, da ich die Sprache am besten kann. Und die ukrainische Flagge in die Hände, weil ich nicht so gut Ukrainisch spreche und ich daher auch viel mit den Händen erkläre. Und im FußFuß ist die britische Flagge, weil die vom Kopf weit entfernt ist und ich halt noch viel dazu lernen kann bei der Sprache. Aber da bin ich halt auch froh drüber, weil neue Sprachen zu lernen macht Spaß.“

 

 

(Mündliche Produktionen, leicht redigiert)

*****

 

Rund 40 % der Kinder unter fünf Jahren in Deutschland haben einen Migrationshintergrund (Stat. Bundesamt 2019)2. Ein großer Anteil dieser Kinder ist zu Hause mit mindestens einer weiteren Sprache in Kontakt. Wie intensiv beispielsweise Mutter oder Vater ihre Herkunftssprache(n) mit den Kindern nutzen, wie gut und gerne die Kinder diese Sprachen sprechen, welche Sprachen die Geschwister oder die Freunde sprechen, ist allerdings höchst unterschiedlich. Die drei Mädchen, die in Kasten 1 ihre Mehrsprachigkeit beschreiben, können nur einen kleinen Ausschnitt der Vielfalt der Szenarien abbilden, wie Kinder mit verschiedenen Sprachen aufwachsen. Viele Wege führen in die Mehrsprachigkeit: Jedes Elternteil spricht eine oder mehrere Sprachen, die Familiensprache unterscheidet sich von der Umgebungssprache, ein längerer Aufenthalt in einem anderen Land erfolgt, Sprachen werden in der Schule gelernt und so weiter. All diese Umstände und persönliche Entscheidungen können zu Mehrsprachigkeit bei Kindern (und Erwachsenen) führen und hierbei zu jeweils individuellen Erwerbsprofilen.

Ungeachtet dessen sucht die Forschung nach interindividuellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, um auf der Basis gewisser Übereinstimmungen spezifische Erwerbs(typ)gruppen zu identifizieren. Der monolinguale Erstspracherwerb der Zielsprache (in diesem Buch des Deutschen) dient hierbei in der Regel als Vergleichsbasis. Man betrachtet verschiedene sprachliche Phänomenbereiche (z. B. Phoneminventar, NominalflexionNominalflexion, Wortstellung) des Deutschen und vergleicht den diesbezüglichen Erwerbsverlauf, die Erwerbsgeschwindigkeit und den erreichten Endzustand.

Da Kinder im ungesteuerten3 Erwerb einer weiteren Sprache im Allgemeinen erfolgreicher zu sein scheinen als Erwachsene und dieser Erwerbsvorteil nach Erklärungen verlangt (vgl. u.a. Pagonis 2009), lag und liegt ein besonderer Fokus der Spracherwerbsforschung auf dem Alter zu Erwerbsbeginn. Nach der wohl bekanntesten Hypothese der Kritischen PeriodeKritische Periode (u.a. Lenneberg 1967) schließt sich im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren aufgrund neuronaler Reifungsprozesse das Zeitfenster, in dem die bei Geburt vorhandene Spracherwerbsfähigkeit zur Verfügung steht. Danach sei eine Sprache nicht mehr beiläufig im Kontakt mit Sprechern dieser Sprache zu erwerben, sondern müsse nun bewusst und mit gewissen Anstrengungen erlernt werden. Die Hypothese der Kritischen Periode erfreute sich zwar einer großen Anhängerschaft, konnte aber empirisch nie bestätigt werden. Eine deutlich differenziertere Sicht auf den Zweitspracherwerb bietet das (sich an der Idee der Kritischen Periode anlehnende) Konzept der sensiblen Phasen, demzufolge es für spezifische sprachliche Phänomenbereiche bestimmte Zeitfenster gibt, in denen der L2-Erwerb dem L1-Erwerb (nahezu) gleicht (Meisel 2007). Nach dem Verstreichen des für ein bestimmtes grammatisches Phänomen (z. B. Wortstellung) anzunehmenden optimalen Zeitfensters lassen sich in der Lernersprache Merkmale beobachten, die in dieser Ausprägung im L1-Erwerb nicht vorkommen. So gleicht der Erwerb der Wortstellung (siehe Kapitel 12) im ErwerbsalterErwerbsalter von 3-4 Jahren weitgehend dem Erwerb der Wortstellung monolingualer Kinder (Tracy 2007). Sind die Kinder bei L2-Kontakt jedoch schon 6-7 Jahre alt, dann treten im Satzbau zielsprachliche Abweichungen auf, die wir im monolingualen Erwerb deutschsprachiger Kinder so nicht beobachten können und die z.T. auf den Einfluss der Erstsprache zurückzuführen sind (Haberzettl 2005).

Mit voranschreitendem ErwerbsalterErwerbsalter – so die Annahme – wird die Lernersprache der von Erwachsenen im ungesteuerten Erwerb zunehmend ähnlicher (Meisel 2007). Auf diesem Weg scheinen einige Zeitfenster besonders relevant, die dann auch in der Erwerbsliteratur wiederkehrend zur Klassifizierung von Spracherwerbstypen herangezogen werden.

Eine übliche Einteilung mehrsprachiger Kinder basiert somit auf der Chronologie des Erwerbs zweier oder mehrerer Sprachen: Als Erstsprache (= L1) wird die Sprache verstanden, die meist im familiären Kontext von Geburt an erworben wird. Beim simultanen oder doppelten ErstspracherwerbErstspracherwerb, doppelter (2L1; manchmal auch bilingualer Erstspracherwerb) erwirbt ein Kind von Geburt an zwei Sprachen4. Vom simultanen ErwerbErwerb, simultaner wird der sukzessive ErwerbErwerb, sukzessiver abgegrenzt, bei dem der Erwerb einer zweiten (bzw. weiteren) Sprache erst dann einsetzt, wenn der Erwerb der ersten Sprache(n) „zumindest in den Grundzügen vollzogen ist“ (Rothweiler 2007: 106). Beim sukzessiven Erwerb unterscheidet man zwischen kindlichem Zweitspracherwerb und Zweitspracherwerb von Jugendlichen und Erwachsenen. Wie in Abb. 0.1 dargestellt, wird in Bezug auf die Kindheit noch eine weitere Differenzierung nach frühemZweitspracherwerb, früher (ab 3-4 Jahren) und spätemZweitspracherwerb, später (ab 6-7 Jahren) Zweitspracherwerb vorgenommen (siehe u.a. Rothweiler 2007; Schulz & Grimm 2019).

Der simultane Erwerb von zwei und mehr Sprachen wird nur allzu oft als Erfolgsgarant beschrieben. So heißt es beispielsweise in Meisel (2007: 97), dass bilingual aufwachsende Kinder „eine grammatische Kompetenz [erreichen], die sich qualitativ nicht von der vergleichbarer Monolingualer unterscheidet“ (Meisel 2007: 97). Hingegen seien bei einem zeitlich später einsetzenden Erwerb einer weiteren Sprache nicht alle Lernenden erfolgreich (Meisel 2007: 99).

Abb. 0.1:

Spracherwerbstypen der Zwei-/Mehrsprachigkeit in chronologischer Abfolge (eigene Grafik, D.B.).

Auf der Zeitachse, die das ErwerbsalterErwerbsalter in Jahren darstellt, sind durchgehende und gestrichelte Linien zu sehen. Während in Bezug auf die mit durchgehender Linie markierten Intervalle in der Erwerbsliteratur weitgehende Einigkeit herrscht, wird der gestrichelt markierte Abschnitt entweder dem darüber angeordneten oder dem rechts davon stehenden Erwerbstyp zugeordnet.

Die in Abb. 0.1 dargestellte Unterteilung in Spracherwerbstypen der Zwei-/Mehrsprachigkeit, die auch vielen Erwerbsstudien zugrunde liegt, wird der Komplexität mehrsprachiger Profile natürlich keineswegs gerecht. Folgt man einer chronologischen Betrachtungsweise, wären die Kinder in Kasten 1 als simultan-bilingual bzw. -multilingual zu bezeichnen, da sie von Geburt an mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind und die jeweiligen Sprachen (Ukrainisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch, Deutsch) von einem Elternteil zu Hause gesprochen werden. Die lebensweltliche Mehrsprachigkeitsrealität entspricht allerdings nicht bei jedem der Kinder den zuvor skizzierten Erwartungen. Das heißt, auf der Basis einer chronologischen Nomenklatur wie „simultaner Erstspracherwerb“ oder „früher Zweitspracherwerb“ können keine verlässlichen Aussagen über tatsächlich erreichte Kompetenzen getroffen werden. Genauso wie Kompetenzunterschiede zwischen den Sprachen bei simultan-bilingual aufwachsenden Kindern erwartet werden können, führt auch ein Beginn des Zweitspracherwerbs bei Schuleintritt oder später nicht notwendigerweise zu reduzierten Sprachkompetenzen in dieser Sprache. Während neurobiologische Veränderungen im Laufe von Kindheit und Jugend, die auch u.a. das Sprachlernen beeinflussen, unbestritten sind, zeigt sich in vielen Studien, dass das ErwerbsalterErwerbsalter zwar ein Faktor sein kann, aber keinesfalls der einzige und möglicherweise auch nicht der entscheidende.

Würde man die sprachlichen Hintergründe der oben vorgestellten mehrsprachigen Kinder systematisch untersuchen, ergäbe sich ein komplexes Geflecht von Faktoren, die sich verschiedentlich auf die sprachlichen Kompetenzen in den jeweiligen Sprachen auswirken.

 

Auf einige der potenziellen EinflussfaktorenEinflussfaktoren sei im Folgenden kurz eingegangen:

Neben dem Zeitpunkt des Erstkontakts mit der L2 wird in den meisten Erwerbsstudien auch die KontaktdauerKontaktdauer mit der L2 angegeben. Seltener, weil auch schwerer zu ermitteln, wird jedoch die Intensität des KontaktsIntensität des Kontakts mit den jeweiligen Sprachen berücksichtigt: Während eine Kontaktdauer von beispielsweise sechs Jahren bei einem sechsjährigen Kind mit dem ErwerbsalterErwerbsalter (= Geburt) gleichgesetzt werden könnte, erweist sich diese Angabe bei genauerer Betrachtung als zu grob. Der Umfang des Sprachkontakts kann innerhalb von Familien mit bilingualem Sprachangebot (Mutter Sprache 1, Vater Sprache 2), und sogar auch zwischen Geschwistern, erheblich variieren. Abb. 0.2 illustriert die Bandbreite des Anteils der beiden Sprachen Italienisch und Deutsch, die in italienisch-deutschen Familien von fünf Kindern einer ersten Klasse seit Lebensbeginn mit ihnen gebraucht wurde (= Input) sowie ihre produktiven Wortschatzkompetenzen (Nomen) im Deutschen und im Italienischen.

 

a)

b)

Abb. 0.2:

InputInput der Eltern und Nomenproduktion bei fünf italienisch-deutschen Kindern.

a) Anteil des Italienischen und des Deutschen von Geburt bis zur 1. Klasse seitens der Mutter und des Vaters. Dieser Anteil wurde kumulativ aus Angaben aus einem Elternfragebogen errechnet. In b) ist die Summe der produzierten Nomen im Italienischen (dunkelgrau) und im Deutschen (hellgrau) in einem Wortschatztest (CLT, Rinker & Gagarina 2014, siehe Kap. 9.3) abgetragen. Maximal zu erreichende Rohwerte: 32. (Ausschnitt eigener Daten, T.R.)

Wie sich die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder entwickeln, hängt maßgeblich von der Quantität und Qualität des Inputs ab. Der sozioökonomische Hintergrundsozioökonomische Hintergrund der Familien ist diesbezüglich ein gewichtiger Einflussfaktor. Gut ausgebildete (und verdienende) Eltern, vor allem Mütter, beeinflussen den Erhalt von Herkunftssprachen günstig (Lauro, Core & Hoff 2020). Zudem haben bereits viele Studien aus ein- und mehrsprachigen Familien belegt, dass in Familien mit einem höheren sozioökonomischen Hintergrund mehr mit Kindern gesprochen wird und die Gespräche kognitiv anspruchsvoller sind. Dadurch erreichen diese Kinder in der Regel bessere sprachliche Kompetenzen (Hart & Risley 1995; Hoff & Place 2012).

Die Möglichkeiten des Sprachkontakts hängen oftmals auch vom PrestigePrestige der Sprachen der Sprachen innerhalb einer Sprechergemeinschaft ab. Welche Sprache wird beispielsweise an Schulen als Fremdsprache erworben (hohes Prestige), welche Sprache ist wirtschaftlich gesehen von größerer Bedeutung? In Deutschland hat das Englische einen sehr hohen Stellenwert (meistgewählte Fremdsprache, höchste Anzahl bilingualer Einrichtungen5), wobei die Anzahl der HerkunftssprecherInnen des Englischen sehr gering ist6.

Eine weitere wichtige Rolle in der Entwicklung mehrerer Sprachen spielt die BildungsumgebungBildungsumgebung (siehe Abb. 0.3). Werden bestimmte Sprachen unterdrückt und sind an der Schule oder Kita unerwünscht, ist es für Kinder schwieriger, diese zu erhalten und weiter auszubauen. Gibt es herkunftssprachliche Angebote? Wie wird das Deutsche gefördert? Welche Sprachen sprechen die anderen Kinder? Auch die Einstellungen der Lehrkräfte zur Mehrsprachigkeit sowie ihre methodisch-didaktischen Kompetenzen im Umgang mit mehreren Sprachen sind relevant für die mehrsprachige Entwicklung.

Hinzu kommen beim Erwerb mehrerer Sprachen zahlreiche in den Kindern liegende Faktoren wie nicht verbale kognitive Fähigkeiten oder phonologische Verarbeitungsfähigkeiten (Lauro et al. 2020). Kinder mit guten Fähigkeiten in diesen Bereichen haben eine größere Chance, mehrsprachig zu werden und zu bleiben. Gute phonologische Fähigkeiten, wie die Fähigkeit, sich eine kurze Sequenz von Silben zu merken oder Laute zu unterscheiden (siehe Díaz et al. 2016), sind Teil des sogenannten SprachtalentSprachtalents oder der Sprachbegabung (Ameringer et al. 2018). Ebenso sind Persönlichkeitsmerkmale wie die Motivation, eine Sprache zu erwerben oder zu erhalten oder auch eigene Einstellungen gegenüber Sprachen und ihren Sprechern gegenüber, einflussreich.

Abb. 0.3:

EinflussfaktorenEinflussfaktoren auf den Erwerb mehrerer Sprachen nach Kersten (2020: 83)

Da diese Grafik sich insbesondere auf den schulischen Erwerb von Fremdsprachen bezieht, fehlen Angaben wie Sprachkontaktdauer oder ErwerbsalterErwerbsalter. Dennoch bildet diese Grafik die Komplexität der Einflussfaktoren und der Zusammenhänge gut ab.

Wie hier deutlich geworden sein sollte, ist jedes mehrsprachige Aufwachsen individuell und der einzelne Lernende und der Komplex der EinflussfaktorenEinflussfaktoren auf den Erwerb der unterschiedlichen Sprachen einzigartig.

In den Neurowissenschaften hat sich daher auch die Betrachtungsweise der neuronalen Grundlagen des Erwerbs mehrerer Sprachen deutlich verändert. In der vielfach zitierten Studie von Kim et al. (1997) wurden, noch unter Annahme eines stark wirkenden Altersfaktors, unterschiedliche AktivierungsmusterAktivierungsmuster bei erwachsenen Probanden, die zwei Sprachen von Geburt an erworben hatten und Probanden, die eine weitere Sprache erst mit rund 11 Jahren erworben hatten, beobachtet. Die Sprachkompetenzen wurden allerdings nicht berichtet. Hingegen konnten Perani et al. (1998) Effekte der SprachkompetenzSprachkompetenz und nicht des Erwerbsalters nachweisen: Während bei niedriger Sprachkompetenz in der L2 andere Areale als in der L1 aktiviert werden, sind es bei hoher Sprachkompetenz identische Aktivierungsmuster für beide Sprachen.

In einer neueren Studie, rund 20 Jahre später, zeigen De Luca, Rothman, Bialystok und Pliatsikas (2019) differenzierte Effekte der sog. „language experience factors“ (L2-Alter, Dauer des L2-Sprachkontakts, L2-Gebrauch in sozialen Settings, L2-Gebrauch zu Hause) auf der neuronalen Ebene. Sowohl die Dauer als auch der Sprachgebrauch zeigen Veränderungen auf der strukturellen aber auch auf der funktionellen Ebene des Gehirns und belegen, wie sich das Gehirn optimal auf seine Umwelt einstellt. Vielversprechend sind auch Ansätze, die z. B. die individuelle Inputsituation bei der Analyse neuronaler Gruppendaten berücksichtigen (z. B. die individuelle Anzahl von Stunden im Kontakt mit einer Sprache und die Ausprägung einer neuronalen Reaktion auf einen Lautkontrast; García-Sierra et al. 2011, 2016).

 

Dieses einleitende Kapitel sollte zunächst einmal sensibilisieren für die Komplexität und Vielschichtigkeit des Spracherwerbs im Kontext von Mehrsprachigkeit. Die nachfolgenden Aufgaben regen an, die eigene Mehrsprachigkeit zu reflektieren und gängige Einstellungen gegenüber der Mehrsprachigkeit kritisch zu hinterfragen.

Aufgaben
1.*

Nennen Sie drei zentrale EinflussfaktorenEinflussfaktoren, die den Erwerb mehrerer Sprachen beeinflussen.

2.**

Beschreiben Sie möglichst detailreich Ihre eigene Mehrsprachigkeit und gehen Sie auch darauf ein, wie sich diese über die Jahre verändert hat. Verwenden Sie in Ihrer Darstellung auch visualisierende Elemente (z. B. Sprachenfigur oder einen Zeitstrahl).

3.**

Warum ist es hilfreich, sich als (angehende) Lehrkraft mit der eigenen Mehrsprachigkeit auseinanderzusetzen?

4.***

Bislang haben wir uns nur auf die sog. „äußere MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, äußere“ konzentriert – auf das Beherrschen mehrerer Einzelsprachen (u.a. des Deutschen.). Das Deutsche (wie jede andere Sprache auch) stellt allerdings ein Gesamtsprachsystem dar, das aus verschiedenen Varietäten besteht und zusammengehalten wird durch die Standardvarietät. Lesen Sie in Girnth (2007) nach, welche Dimensionen von Varietäten zu unterscheiden sind und ergänzen Sie Ihre Mehrsprachigkeitsdarstellung von Aufgabe 2 um Ihre sog. „innere MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, innere“, d.h. um innerdeutsche Varietäten, die Sie (mehr oder weniger) beherrschen.

5.***

Es kursieren eine Reihe von Mythen rund um Mehrsprachigkeit und so manches Vorurteil hat sich in vielen Köpfen festgesetzt. Lesen Sie von den sieben Mythen, die Rosemarie Tracy im Jahr 2006 auf einem Kongress zur frühen Mehrsprachigkeit dar- und widerlegte (https://www.sagmalwas-bw.de/uploads/tx_news/BWS_FrueheMehrsprachigkeit_2011.pdf, abgerufen am 06.03.2021). Welche der beschriebenen Mythen und Vorurteile begegnen Ihnen noch immer im Alltag und welche Möglichkeiten sehen Sie, diesen entgegenzutreten?

Teil IDeutsch aus der Lernendenperspektive: Schwierigkeiten verstehen und überwinden helfen

Einleitung

Wohl kaum etwas erscheint uns so selbstverständlich und natürlich wie die eigene(n) Erstsprache(n), in die wir mühelos hineingewachsen sind – ohne über Regelhaftigkeiten, Ausnahmen oder (aus sprachvergleichender Sicht) ungewöhnliche Phänomene nachgedacht zu haben. Erst durch den Sprachvergleich wird der Blick für die Besonderheiten der eigenen Sprache geschärft und man beginnt zu erahnen, was die Lernenden in Abhängigkeit ihrer Herkunftssprache beim Erschließen der Zielsprache – in diesem Buch Deutsch – zu leisten haben und mit welchen Unwägbarkeiten sie dabei konfrontiert sind. Die Leserinnen und Leser dieses Buches, die Deutsch als Fremdsprache oder späte Zweitsprache erworben haben, wissen um die potenziellen Schwierigkeiten, denn sie haben sich im Zuge des Sprachlernens bewusst mit der Sprache auseinandergesetzt. Den Lesenden, die mit Deutsch aufgewachsen sind (sei es als Erst- oder als frühe Zweitsprache), die die Sprache also ganz nebenbei erworben haben, sind deutschspezifische Eigenarten, an denen sich Deutschlernende abarbeiten müssen, oftmals gar nicht bewusst. Will man eine Sprache, die man selbst ohne Mühe erworben hat, vermitteln, tut man gut daran, sich vorab einmal auf die Lernendenperspektive einzulassen und mit kontrastiver Brille die Zielsprache mit den Herkunftssprachen zu vergleichen, um mögliche Schwierigkeiten für die Lernenden zu antizipieren.

Natürlich gibt es sie nicht, wie es der Titel dieses Buchteils suggerieren mag: die eine Lernendenperspektive auf das Deutsche. Lernende gehen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen an den Start: Sie sind verschiedenen Alters beim ersten SprachkontaktSprachkontakt und waren mehr oder weniger intensiv in Kontakt mit der deutschen Sprache; sie haben verschiedene Herkunftssprachen und möglicherweise bereits eine oder mehrere Fremdsprachen gelernt; sie lernen Deutsch in alltäglichen Situationen der zielsprachlichen Umgebung und/oder im Sprachunterricht; auch gibt es große Unterschiede in Bezug auf die Sprachlernbegabung und die Motivation für das Deutschlernen. Nur wer ein hohes Maß an Zielsprachlichkeit anstrebt, muss sich auch auf jene sprachlichen Bereiche einlassen, die aus kommunikativer Sicht kaum einen beachtenswerten Nutzen bringen, dafür aber mit einem hohen Lernaufwand verbunden sind. Obgleich jeder Lernende aufgrund individueller Voraussetzungen und Lernbedingungen der deutschen Sprache auf eigene Weise begegnet, lassen sich doch für alle sprachlichen Ebenen Charakteristika des Deutschen aufzeigen, die überindividuell als besondere Herausforderungen empfunden werden. Der Fokus in diesem ersten Teil des Studienbuches liegt auf einigen ausgewählten sprachlichen Phänomenen, von denen bekannt ist, dass sie (in Abhängigkeit phänomenspezifischer Konstellationen von Herkunfts- und Zielsprache) vielen Deutschlernenden Schwierigkeiten bereiten. Diese sprachlichen Bereiche werden (wo es sich anbietet aus kontrastiver Perspektive) so dargestellt, dass die potenziellen Schwierigkeiten nachvollziehbar werden, um im Anschluss daran erste Anregungen zu geben, wie den Lernenden geholfen werden kann, diese zu überwinden bzw. sie gar nicht erst aufkommen zu lassen.

1Prosodische und lautliche Aspekte

Aktivierung

Auch weit fortgeschrittene Deutschlernende zeigen mitunter einen „merklichen Akzent“ (Hirschfeld & Reinke 2018: 15). Die Aussprachefähigkeit lässt sich nicht ohne Weiteres linear an Sprachniveaustufen koppeln, wie es der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GeR) vorgibt, der beispielsweise dem B1-Niveau noch einen „fremden Akzent“ zugesteht, auf dem B2-Niveau aber bereits eine „natürliche Aussprache und Intonation“ erwartet (ebd. 15).

Versuchen Sie anhand der unter www.meta.narr.de/9783823383222 bereitgestellten drei verschiedenen Sprachproben herauszuhören, worin sich diese von der standardnahen Aussprache des Deutschen unterscheiden.

Berücksichtigen Sie dabei insbesondere die Wortbetonung (welche SilbeSilbe(n) werden besonders betont?), die Artikulation von mehreren Konsonantenhäufungen (KonsonantenclusterKonsonantencluster) am Silbenanfang oder am Silbenende, von Vokalen (lang / kurz) und von KonsonantenKonsonanten.

Tragen Sie Ihre Höreindrücke mit konkreten Beispielen von abweichenden Realisierungen in die folgende Tabelle ein.

 

Sprachprobe 1

L1: _________

Sprachprobe 2

L1: _________

Sprachprobe 3

L1: _________

Wortbetonung

 

 

 

KonsonantenclusterKonsonantencluster

 

 

 

VokaleVokale

 

 

 

KonsonantenKonsonanten

 

 

 

Die drei Erstsprachen der Deutschlernenden sind Russisch, Italienisch und Türkisch. Ordnen Sie die Sprachproben den drei Erstsprachen (L1) zu. Woran haben Sie sich bei der Zuordnung orientiert?

*****

1.1SprachrhythmusSprachrhythmus

Unter SprachrhythmusSprachrhythmus versteht man die bestimmten Regularitäten folgende zeitliche Gliederung lautsprachlicher Äußerungen (Pompino-Marschall 2009: 248). Entscheidend hierbei sind die prosodischen Grundeinheiten, von denen man annimmt, dass sie tendenziell in gleichmäßigen Abständen aufeinander folgen (Isochronie-HypotheseIsochronie-Hypothese). Bezüglich der zugrundeliegenden Einheiten lassen sich Sprachen dem akzentzählenden, silbenzählenden oder morenzählenden1RhythmustypRhythmustyp zuordnen. Deutsch zählt zu den akzentzählenden Sprachen (wie auch Englisch, Niederländisch, Russisch). Bei diesem Rhythmustyp ist der Isochronie-Hypothese zufolge der Abstand zwischen den betonten Silben – also die Dauer eines Betonungsintervalls – annähernd gleich. Diese Einheit wird auch als FußFuß bezeichnet. Ein Fuß umfasst immer eine betonte SilbeSilbe und die dazugehörigen unbetonten Silben bzw. die unbetonten Silben bis zur nächsten AkzentsilbeAkzentsilbe. Bei den silbenzählenden Sprachen (z. B. Französisch, Spanisch, Türkisch) sind im Kontrast zu den akzentzählenden Sprachen die Betonungsintervalle von unterschiedlicher Dauer, die Silben als prosodische Grundeinheiten hingegen von gleicher Länge. Abb. 1.1 veranschaulicht die beiden Rhythmustypen. Dargestellt sind mit Bezug zur Zeitachse die Silben (σ) mit Hervorhebung der Akzentsilbe und die akzenttragenden Intervalle, die prosodischen Füße (Σ). Durch die Visualisierung wird deutlich, dass bei den akzentzählenden Sprachen, deren Betonungsintervalle tendenziell gleich lang sind, bei mehrsilbigen Füßen ein gewisser KomprimierungsdruckKomprimierungsdruck auf den unbetonten Silben lastet. In Abb. 1.1 sind sie daher deutlich kürzer dargestellt als die Akzentsilben. Der Komprimierungsdruck verursacht VokalreduktionVokalreduktion oder VokaltilgungVokaltilgung und kann sogar zum SilbenausfallSilbenausfall führen. So wird im Deutschen der ReduktionsvokalReduktionsvokal [ə] (der sog. Schwa-LautSchwa-Laut) oft gar nicht realisiert (z. B. spricht man Vogel laut DUDEN-Aussprachewörterbuch [fo:.gl] und Garten als [gar.tn] aus und nicht etwa [fo:.gəl] und [gar.tən]. In einigen Kontexten wirkt der Schwa-Laut silbenbewahrend (z. B. sehen, rennen, einen). Wird er an diesen Stellen getilgt, kommt es zum Silbenausfall. Damit ist dann in der akustischen Wahrnehmung beispielsweise die Akkusativform des indefinten Artikels (einen [ʔaɪ.nən] → [ʔaɪ.nən] → [ʔaɪn]) kaum mehr zu unterscheiden von der einsilbigen Nominativform ein, was sich erschwerend auf den Erwerb des nominalen Flexionsparadigmas auswirkt.

Abb. 1.1:

akzentzählendsilbenzählendIdealisierte Isochronie des akzentzählenden und silbenzählenden Rhythmustyps

Auch wenn die Isochronie-HypotheseIsochronie-Hypothese in ihrer strengen Form messphonetisch nicht aufrechterhalten werden kann, lassen sich in den Sprachen der unterschiedlichen Rhythmustypen verschiedene phonologische Merkmale beobachten, die als Auswirkungen einer Isochronie-Tendenz verstanden werden können (Pompino-Marschall 1995: 236).

Einige dieser Merkmale sind (neben der bereits erwähnten VokalreduktionVokalreduktion) in Tab. 1.1 dargestellt. Wir beschränken uns im Folgenden auf den akzentzählenden und den silbenzählenden Typ und vernachlässigen den eher selten vorkommenden morenzählenden Rhythmus (z. B. im Japanischen).

Tab. 1.1 mit den verschiedenen rhythmusassoziierten Phänomenen gibt eine ungefähre Vorstellung von der Komplexität der Lernaufgabe und zeigt gleichzeitig auf, welche Aspekte zu berücksichtigen sind, will man Deutschlernende einer silbenzählenden Erstsprache an den deutschtypischen SprachrhythmusSprachrhythmus heranführen. Von den kontrastierten Phänomenen sind es insbesondere der WortakzentWortakzent, die Silbenstrukturen und die distinktive VokalquantitätVokalquantität, die bekanntlich Schwierigkeiten bereiten. Die folgenden Abschnitte widmen sich diesen drei Bereichen.

Aufgaben
1.*

Wie lassen sich im Rahmen der Isochronie-HypotheseIsochronie-Hypothese die bei akzentzählenden Sprachen zu beobachtenden Komprimierungseffekte (VokalreduktionVokalreduktion bzw. Wegfall unbetonter Silben) erklären?

2.**

Welcher der drei Sätze entspricht (tendenziell) der isochronischen Beispielsequenz? Begründen Sie Ihre Antwort.

a.

Die Zeit wird umgestellt.

b.

Jürgen liebt Flohmärkte.

c.

Plötzlich erschien ein Geist.

 

3.***

In akzentzählenden Sprachen wird der Akzent „in vielfältigerer Weise grammatisch genutzt“ als in silbenzählenden Sprachen (Auer & Uhmann 1988: 250). Man denke beispielsweise an die Minimalpaare trennbarer und untrennbarer Verbformen ('umstellen vs. um'stellen, 'wiederholen vs. wieder'holen). Welche weiteren Bereiche, bei denen die Akzentsetzung Unterschiede bewirkt, fallen Ihnen für das Deutsche ein? Lesen Sie vergleichend bzw. ergänzend zu Ihren Überlegungen sowie zu weiteren Akzentphänomenen die Seiten 250-252 in Auer & Uhmann (1988).

1.2WortakzentWortakzent

Die überwiegende Mehrzahl deutscher Wörter ist in der Grundform oder in flektierter Form zweisilbig und entspricht dem trochäischen Betonungsmuster (betont – unbetont). Für morphologisch komplexe Wörter gilt die StammbetonungStammbetonung, vgl. (1) und (2). Das bedeutet, der WortakzentWortakzent ist nicht festgelegt auf eine bestimmte Silbenposition. Er wird daher auch als freier Wortakzentfreier Wortakzent bezeichnet.

(1)

'lauf

 

'lau.fen

 

ver.'lauf

 

ver.'lau.fen

 

ver.'lau.fen.de

(2)

'Haus

 

'häus.lich

 

'Häus.lich.keit

 

'Häus.lich.keit.en

Einen festen WortakzentWortakzent weisen zum Beispiel Tschechisch (Erstsilbenakzent), Polnisch (Akzent auf vorletzter SilbeSilbe) und Französisch (Letztsilbenakzent) auf (Roelcke 2011: 36). Auch im Türkischen liegt der Wortakzent – wie in (3) zu sehen – auf der letzten Silbe.

(3)

'ev

Haus

 

ev – 'ler

Häuser

 

ev – ler – 'im

meine Häuser

 

ev – ler – im – 'de

in meinen Häusern

Der sprachtypische Rhythmus und die sprachspezifischen Betonungsmuster prägen den Erstspracherwerb von Anfang an. Sie helfen den Kindern zunächst, den Lautstrom ihrer Umgebungssprache zu segmentieren, und etwas später auch dabei, sich die Wortstruktur zu erschließen. So nutzen deutsche Kinder die Betonung als Hinweis auf den Wortanfang, türkische Kinder hingegen auf das Wortende (Bredel 2013: 379). Während deutsche Kinder Betontheit mit lexikalischem und Unbetontheit mit grammatischem Material assoziieren, nutzen türkische Kinder hierfür Unterschiede im Vokalismus: Vokalische Stabilität dient ihnen als Indikator für lexikalisches Material und vokalische Varianz (durch die den Regeln der VokalharmonieVokalharmonie folgende Assimilation der Suffixe, vgl. evim 'mein Haus' vs. grubum 'meine Gruppe'), als Indikator für grammatisches Material (ebd. 379). Darüber hinaus bewirkt die finale Akzentposition, dass im Türkischen (anders als im Deutschen) an den StammStamm angefügte grammatische Morpheme betont werden. Sie sind damit der Wahrnehmung stärker zugänglich. Gewöhnt an diese prosodischen Markierungen ist der Erwerb des Deutschen, dessen grammatische Morpheme meist unbetont (und oftmals phonologischen Reduktionsprozessen ausgesetzt) sind, kein leichtes Unterfangen. Das SchriftsystemSchriftsystem kann hier aber ausgleichend wirken und sollte im Lernprozess von Beginn an gezielt genutzt werden, um Flexive und Derivationsaffixe leichter wahrnehmbar zu machen (s. Kap. 3). Einen weiteren Grund, das Medium Schrift konsequent zum Lernen der zielsprachlichen Betonungsmuster einzubeziehen, liefern Forschungsbefunde, denen zufolge Sprecher einer Sprache mit festem WortakzentWortakzent zum Teil Schwierigkeiten damit haben, den freien Wortakzent überhaupt wahrzunehmen (ebd. 379). Für eine entsprechende Sensibilisierung ist zu empfehlen, bei morphologisch komplexen Wörtern die StammbetonungStammbetonung zu visualisieren (z. B. wohn- → 'woh.nen, ge.'wohnt, 'wohn.lich, 'Woh.nung, Be.'woh.ner).

Aufgaben
1.*

Erklären Sie, wann und warum man beim Deutschen von einem freien WortakzentWortakzent sprechen kann.

2.**

Wählen Sie aus einem DaZ/DaF-Lehrwerk (A1-A2) einen kurzen Text aus und überlegen Sie, durch welche Markierungen / Hervorhebungen Sie den Lernenden zu einer zielsprachlichen Betonung verhelfen könnten.

1.3SilbenstrukturSilbenstruktur

Eine SilbeSilbe besteht aus Anlaut (OnsetOnset), Kern (NukleusNukleus) und Auslaut (KodaKoda). SilbenkernSilbenkern und SilbenkodaSilbenkoda bilden zusammen den ReimReim, vgl. Abb. 1.2. Die deutsche Sprache zeichnet sich durch eine variationsreiche SilbenstrukturSilbenstruktur aus. Im Onset deutscher Silben können bis zu drei KonsonantenKonsonanten (Saal, Stahl, Strahl) stehen. Die Silbenkoda kann unbesetzt bleiben (La.ma) und bis zu vier Konsonanten (hat, hast, holst, hilfst) aufweisen. In Abb. 1.2 ist das einsilbige Wort strolchst dargestellt, das mit maximaler Belegung von Onset und Koda zeigt, wie komplex deutsche Silben sein können.

Abb. 1.2:

Hierarchische SilbenstrukturSilbenstruktur mit maximaler Belegung von OnsetOnset und KodaKoda1

Deutschlernenden, in deren Herkunftssprache einfache Silben vom Typ KV (Konsonant-Vokal) oder KVK dominieren, bereiten KonsonantenclusterKonsonantencluster artikulatorische Schwierigkeiten. Oftmals wird ein sog. SprossvokalSprossvokal zwischen die KonsonantenKonsonanten geschoben (z. B. [fəragə]) oder es werden Phoneme ausgelassen (z. B. [svai] oder [vai] statt [tsvai] 'zwei'). Um die Lernenden langsam an die Komplexität deutscher Silben heranzuführen, bietet es sich an, zunächst Wörter auszuwählen, die eine AffrikateAffrikate enthalten. Affrikaten sind enge Verbindungen von einem PlosivPlosiv und einem FrikativFrikativ, die beide am gleichen Ort gebildet werden, zum Beispiel [ts] wie in Zeit und Platz oder [pf] wie in Pferd und Kopf. Auch Verbindungen wie beispielsweise [bl] für den Anlaut (Blume) und [st] für die KodaKoda (Gast), deren Konsonanten im Artikulationsort dicht beieinanderliegen, bieten sich für den Einstieg an.

Aufgaben
1.*

Was macht die SilbenstrukturSilbenstruktur des Deutschen für viele Lernende so schwierig?

2.**

Unterstreichen Sie in den folgenden einsilbigen Wörtern alle KonsonantenclusterKonsonantencluster im Anlaut und/oder im Auslaut. Heben Sie Konsonantencluster mit drei KonsonantenKonsonanten besonders hervor.

Brot, Sport, Klang, Zopf, Schnitt, Klee, Klotz, Stuhl, Korb, Sturz, weiß, Strom, Schrank, Wand, Glas

3.***

Im Rahmen von Einschulungsuntersuchungen kommen auch diagnostische Verfahren zur Einschätzung des Sprachstands zum Einsatz. Dabei sind zur Überprüfung des phonologischen Gedächtnisses längere Kunstwörter nachzusprechen. Informieren Sie sich im Kurzartikel von Grimm (2016), warum Kunstwörter an ein- und mehrsprachige Kinder ungleiche Anforderungen stellen und diskutieren Sie die Implikationen.

1.4Lautsystem

Wie bereits in der Einleitung angemerkt, wirkt sich das Alter zu Erwerbsbeginn in den einzelnen sprachlichen Domänen sehr unterschiedlich aus. Der lautliche Bereich gilt in dieser Hinsicht als besonders sensibel, da sich die Wahrnehmung bereits am Ende des ersten Lebensjahres auf die in der Erstsprache relevanten Laute einstellt. Diese wirken dann beim Erwerb der Zweitsprache wie ein Filter, sodass Laute der Zweitsprache, die den Lauten der Erstsprache ähneln, der Lautkategorie der Erstsprache zugeordnet werden, ohne sie weiter zu distinguieren. Dies kann sich dann in der Sprachproduktion in einer fremd klingenden Aussprache der zweiten Sprache bemerkbar machen. Auch fällt es Zweitsprachlernenden schwer, auf lautliche Distinktionen zu achten, wenn diese in der Erstsprache keine Bedeutungsunterscheidung bewirken: z. B. bei KonsonantenKonsonanten die Distinktion stimmlos vs. stimmhaftstimmlos vs. stimmhaft, vgl. [li:tɐ] vs. [li:dɐ], oder bei Vokalen die Distinktion gespannt (d.h. mit mehr Muskelanspannung artikuliert) vs. ungespannt, vgl. [mi:tə] vs. [mɪtə]. Aber nicht nur die Wahrnehmung hat sich auf das erstsprachliche Lautinventar eingestellt, sondern auch die Artikulation. Für bislang unbekannte Laute müssen neue Positionen und Bewegungsabläufe der an der Lautproduktion beteiligten Organe (z. B. Zungenspitze, Zungenrücken, Lippen) eingeübt werden. Bevor jedoch an der Aussprache der Laute gearbeitet wird, gilt es zunächst die Wahrnehmung zu schulen, wobei unbedingt die Schrift einzubeziehen ist, denn unvertraute Laute und Lautdistinktionen lassen sich leichter erhören, wenn man parallel zum akustischen Eindruck auf graphematische Unterschiede aufmerksam wird.

Es muss auch in diesem Abschnitt eine Auswahl potenzieller Schwierigkeiten getroffen werden. Obgleich auf das KonsonantenKonsonanten- und das Vokalsystem einzugehen sein wird, soll der Fokus auf Letztgenanntem liegen, da neben dem WortakzentWortakzent (s. Kap. 1.2) die korrekte Aussprache akzenttragender VokaleVokale als besonders wichtig für die Verständlichkeit gilt (vgl. Hirschfeld & Reinke 2018). Ein weiteres Argument liefert der Lautumfang: Im Sprachvergleich verfügt Deutsch über eine durchschnittliche Anzahl von Konsonanten, aber über weit mehr Vokale als die meisten Sprachen, was aus den oben genannten Gründen für fast alle Deutschlernende erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Doch bevor wir uns dem Vokalsystem etwas ausführlicher zuwenden, zunächst ein Blick auf die Konsonanten des Deutschen.

1.4.1KonsonantenKonsonanten

Das deutsche Konsonantensystem umfasst 21 Konsonantenphoneme – im Vergleich dazu: Arabisch: 52, Chinesisch: 17, Englisch: 24, Russisch: 33, Spanisch: 19, Türkisch: 20 (vgl. Hirschfeld & Reinke 2018).

KonsonantenKonsonanten werden im Unterschied zu Vokalen durch eine Enge (Frikative) oder durch einen Verschluss (Plosive, NasaleNasale) gebildet. Bei den Nasalen [m, n, ŋ] kann die Ausatemluft durch die Nase entweichen, bei Plosiven wird der Verschluss abrupt gelöst. Wird bei den stimmlosen Plosiven [p, t, k] der Verschluss „unter hohem Innendruck geöffnet, so wird die ausströmende Luft als AspirationAspiration (Behauchung) hörbar“ (DUDEN 2005: 56) – insbesondere am Wortanfang vor einem Vokal (Ramers 2002: 82), wie z. B. Paar [pha:ɐ]; Tal [tha:l]; kahl [kha:l]. Diese Aspiration fällt vielen Deutschlernenden (z. B. mit Russisch, Französisch, Spanisch oder Türkisch als Ausgangssprache) schwer, lässt sich aber leicht üben, indem man ein Blatt vor den Mund hält, das sich beim Behauchen des stimmlosen Plosivs am Wortanfang bewegen sollte (Hirschfeld & Reinke 2018: 224). Die (Nicht-)Realisierung der Aspiration, vgl. [pa:ɐ] vs. [pha:ɐ], bewirkt (im Unterschied zur Distinktion stimmlos vs. stimmhaftstimmlos vs. stimmhaft, vgl. [pa:ɐ] vs. [ba:ɐ]) keinen Bedeutungsunterschied, sie trägt aber zu einem zielsprachlichen Klangbild bei.

Eine für viele Lernende unerwartete (und auch aus dem Schriftbild nicht herleitbare) Besonderheit des Deutschen ist, dass am Wortanlaut von den beiden s-Lauten nur der stimmhafte Laut (Transkriptionszeichen: [z]) vorkommt, vgl. Sonne [zɔnə], süß [zy:s], sechs [zɛks]. Darauf sollten die Lernenden frühzeitig aufmerksam gemacht werden. Als besonders schwierig empfunden wird von vielen Deutschlernenden (z. B. mit Englisch, Italienisch, Portugiesisch, Türkisch als L1) die Realisierung von Ich- und Ach-Laut ([ç] und [x]). Russische Deutschlernende, die den Ach-Laut aus ihrer L1 kennen, artikulieren diesen dann häufig auch in Kontexten, in denen im Deutschen der Ich-Laut erforderlich wäre. Schwierigkeiten bereitet zudem der FrikativFrikativ [h] wie in [ho:f], und zwar nicht nur den russischen sondern auch (u.a.) den französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Deutschlernenden.

Auch die sogenannte AuslautverhärtungAuslautverhärtung (vgl. loben [lo:bən] vs. Lob [lo:p]) ist für Deutschlernende (z. B. mit Englisch, Arabisch, Chinesisch oder Italienisch als Ausgangssprache), die mit diesem phonologischen Prozess nicht vertraut sind, zunächst ein ungewöhnliches Phänomen. Bei der Auslautverhärtung wird in wort- und silbenfinaler Position der Kontrast stimmlos vs. stimmhaftstimmlos vs. stimmhaft zugunsten der unmarkierten stimmlosen Variante aufgegeben (Hall 2000: 97). Die stimmhaften Plosive und Frikative gelten als markierter, da sie mit mehr artikulatorischem Aufwand (Vibration der Stimmbänder) produziert werden. Sie kommen im Vergleich zu ihren stimmlosen Pendants auch seltener in den Sprachen der Welt vor (ebd. 88).1 Da es sich bei der Auslautverhärtung um einen NeutralisierungsprozessNeutralisierungsprozess zugunsten des unmarkierten Merkmals handelt, gelingt es den Lernenden – der MarkiertheitshypotheseMarkiertheitshypothese (Eckmann 1977: 321) zufolge2 –, die anfänglichen Schwierigkeiten relativ schnell zu überwinden.

Einen letzten im Bereich der KonsonantenKonsonanten zu besprechenden Lernschwerpunkt stellen die R-Laute dar. Lernende, deren Herkunftssprache (z. B. Japanisch und Chinesisch) nur über einen Liquid (R-oder L-Laut) verfügt und nicht etwa wie die deutsche Sprache (sowie ca. 75 % der Sprachen) über zwei Liquide (Hall 2000: 84), benötigen Unterstützung in der phonematischen Wahrnehmung der R- und L-Laute, die ausgetauscht im Deutschen eine Bedeutungsveränderung bewirken. Hier bietet es sich an, mit Minimalpaaren zu arbeiten. Das sind Wortpaare, die sich in nur einem PhonemPhonem unterscheiden: Reise – leise, Rektor – Lektor, Waren – Wahlen (Hirschfeld & Reinke 2018: 222).

Die im Weiteren skizzierten Schwierigkeiten betreffen deutlich mehr Deutschlernende und haben zu tun mit sprachspezifischen Artikulationsweisen sowie mit den R-VarianteR-Varianten des Deutschen. In Abhängigkeit der Position und Lautkombinatorik wird ein konsonantischer R-Laut (als velarer FrikativFrikativ bzw. als uvularer Vibrant) oder aber ein vokalischer R-Laut realisiert.

Um Lernende, in deren Herkunftssprache ein Zungenspitzen-R gesprochen wird (z. B. Türkisch, Spanisch, Russisch), an den frikativen, velar gebildeten R-Laut heranzuführen, schlagen Hirschfeld & Reinke (2018) vor, vom fast an gleicher Stelle zu artikulierenden Ach-Laut auszugehen und Wörter bzw. Wortgruppen nachsprechen zu lassen, „in denen an Silbengrenzen Ach- und R-Laut aufeinandertreffen: nach.rufen, auch_rot“ (ebd. 223).

Neben konsonantischen Varianten gibt es im Standarddeutschen wie oben bereits erwähnt auch eine vokalische Variante des R-Phonems. Das sogenannte vokalisierte R [ɐ] wird nach langen Vokalen gesprochen wie in Ohr [ʔo:ɐ], Tier [ti:ɐ], lehrt [le:ɐt], lehrst [le:ɐst] und in unbetonten Silben, die im SchriftsystemSchriftsystem mit zer-/ver-/her-/er-/-er kodiert werden (ebd. 73), z. B. verlaufen, erzählen, Mutter. Da das vokalisierte R einem entspannt artikulierten A-Laut ähnelt, schreiben Kinder im (lautbasierten) Schrifterwerb häufig *Muta statt Mutter. Das gleichzeitige Anbieten von Schriftbild und Klangbild hilft sowohl Kindern beim OrthografieerwerbOrthografieerwerb als auch älteren Deutschlernenden im Erkennen, wann ein konsonantisches und wann ein vokalisches R zu artikulieren ist. Mit der vokalischen Variante des deutschen R-Phonems ist der Bogen geschlagen vom Konsonantensytem zum Vokalsystem, dem wir uns nun im Folgenden zuwenden.

1.4.2VokaleVokale

Während es im Deutschen 16 VokaleVokale gibt, hat beispielsweise Türkisch 8 Vokale, Italienisch 7 und Persisch 6. Russisch, Griechisch und Spanisch verfügen jeweils über nur 5 Vokale (Hirschfeld & Reinke 2018). Das deutsche Vokalsystem stellt daher eine besondere Herausforderung für die Lernenden dar. Zum einen müssen sie sich in der Wahrnehmung ungewohnter lautlicher Kontraste üben und zum anderen müssen unter Berücksichtigung des Mundöffnungsgrades, der Zungenstellung und der Lippenform neue Artikulationsmuster trainiert werden. Während die fünf Vokale i, e, u, o, a in den Sprachen der Welt relativ häufig vorkommen, sind ü und ö eher selten. Diese Laute sind aber leicht anzubahnen, denn Mundöffnung und Zungenstellung entsprechen den (meist) vertrauten Vokalen i und e. Vorausgesetzt also, die Lernenden können i und e bereits aussprechen, lässt man sie diese artikulieren und bittet sie, dabei zusätzlich ihre Lippen zu runden. So entsteht aus einem i wie in liegen ein ü wie in lügen und aus einem e wie in lesen ein ö wie in lösen.

Weitaus schwieriger ist es, die Lernenden dafür zu sensibilisieren, dass das Deutsche bei betonbaren Vokalen zwischen gespannten (d.h. mit mehr Muskelanspannung artikulierten) und ungespannten Vokalen unterscheidet. Bevor wir auf diesen Unterschied zu sprechen kommen, werfen wir zunächst einen Blick auf das so genannte VokaltrapezVokaltrapez, das den Mundraum mit den verschiedenen Zungenlagen in horizontaler (vorn, zentral, hinten) und vertikaler (hoch, mittel, tief) Dimension darstellt (s. Abb. 1.3). Eingezeichnet sind alle 16 VokaleVokale des Deutschen mit ihren lautschriftlichen Symbolen, und zwar jeweils an der Stelle, wo sich die Zunge (der höchste Zungenpunkt) bei der Artikulation befindet. Um Deutschlernende für die verschiedenen Zungenlagen zu sensibilisieren, stellen die drei artikulatorischen Extreme [i], [u], [a] günstige Ausgangspunkte dar. Ausgehend von diesen äußeren Punkten, lassen sich dann Zwischenpositionen und feinere Unterschiede erarbeiten.

Neben den Parametern Zungenposition und Lippenrundung sind im deutschen Vokalsystem zwei weitere Eigenschaften relevant, die jedoch weitgehend korrelieren: Vokallänge und +/- Gespanntheit. Für die Artikulation der im VokaltrapezVokaltrapez außerhalb der Ellipse befindlichen VokaleVokale muss, da die Zunge eine größere Distanz von der entspannten Neutrallage des Mundmittelaums (hier wird der ZentralvokalZentralvokal [ə] gebildet) zurückzulegen hat, mehr Muskelanspannung aufgebracht werden (Ramers 2002: 79). Diese gespannten Vokale werden in betonter SilbeSilbe lang gesprochen, die ungespannten Vokale hingegen kurz – mit Ausnahme des ungespannten Vokals [ɛ], der in Akzentsilben auch lang (z. B. in Käse) vorkommen kann (ebd. 79).

Abb. 1.3:

VokaleVokale des Deutschen (nach Ramers 2002: 78)

Die Distinktion gespannt vs. ungespanntgespannt vs. ungespannt bzw. lang vs. kurzlang vs. kurz ist im Deutschen bedeutungsunterscheidendbedeutungsunterscheidend und muss daher unbedingt gelernt werden. Aber gerade diese Unterscheidung fällt vielen Deutschlernenden besonders schwer. In erster Linie betrifft dies Lernende, die aus Sprachen kommen, in denen die VokalquantitätVokalquantität nicht distinktiv ist (u.a. Türkisch, Spanisch, Russisch). Oftmals werden die VokaleVokale so artikuliert, dass sie in Bezug auf die Länge zwischen dem kurzen und dem langen Vokal der Zielsprache liegen. Die Arbeit mit kontrastierenden Vokalpaaren (gespannt/lang vs. ungespannt/kurz) ist daher besonders wichtig. Mit Hilfe sogenannter Minimalpaare (vgl. Tab. 1.2) rücken die relevanten Distinktionen ins Bewusstsein. Gegenüberstellungen von Wörtern wie [mi:tə] vs. [mɪtə], die sich nur hinsichtlich des Merkmals Gespanntheit/Länge unterscheiden, aber eine ganz andere Bedeutung haben, verdeutlichen, dass es leicht zu Missverständnissen kommen kann, wenn die Kontraste nicht hinreichend artikuliert werden. Dadurch wächst die Bereitschaft, sich auf diesen Lerngegenstand einzulassen. Wahrnehmungsübungen sollten immer vom Schriftbild begleitet werden, denn die Orthografie fungiert – wie es Röber (2012: 34) ausdrückt – „als Lehrmeisterin“. Wie die Schreibungen in Tab. 1.2 erkennen lassen, gibt die Schrift Hinweise darauf, ob der Vokal kurz oder lang ausgesprochen wird, und kann somit auch die akustische Wahrnehmung der Merkmalsausprägung lang vs. kurz unterstützen (s. Kap. 2). Einfache Wahrnehmungsübungen könnten daher so gestaltet werden, dass die Lernenden, nachdem die Bedeutung der Wörter geklärt ist, vor sich die Minimalpaare sehen und sich auf die Anweisungen der Lehrkraft „Zeigt auf [mi:tə], zeigt auf [mɪtə], zeigt auf [mɪtə], zeigt auf [mi:tə], …“ konzentrieren und Klangbild und Schriftbild miteinander verbinden. Später würden dann weitere die Lautdistinktion betreffende Minimalpaare hinzukommen ([bi:tə] vs. [bɪtə], [ʔim] vs. [ʔɪm]) und schließlich würde man mit Listen (wie in Tab. 1.2) arbeiten, die mehrere Vokaldistinktionen aufweisen. Auch mit Kunstwörtern (bliem vs. blim) oder Nachnamen (Bohl vs. Boll, Schmiedt vs. Schmidt) lässt sich gut an der Wahrnehmung des Kontrasts lang vs. kurz arbeiten. Die gleichen Materialien können dann im Anschluss an die Wahrnehmungsübungen, an das Sich-Einhören in die Lautkonstraste von den Lernenden zum Vorlesen verwendet werden.

Tab. 1.2:

MinimalpaareMinimalpaare zur Veranschaulichung der Distinktion gespannt vs. ungespanntgespannt vs. ungespannt

Aufgaben
1.*

Welche Aspekte im deutschen Konsonantensystem und im deutschen Vokalsystem könnten für einige Deutschlernende Schwierigkeiten bereiten?

2.**

Ergänzen Sie die Minimalpaarliste in Tab. 1.2 um jeweils ein weiteres Paar für jede Vokalopposition.

Gruppenaufgaben

3.***

Hirschfeld & Reinke (2018) kontrastieren in ihrem Lehrwerk Phonetik im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Orthografie und Phonetik die Zielsprache Deutsch mit insgesamt neun möglichen Herkunftssprachen, und zwar mit Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Türkisch.

Teilen Sie sich in Kleingruppen auf und wählen Sie jeweils eine der neun Ausgangssprachen. Erarbeiten Sie in der Kleingruppe die potenziellen Schwierigkeiten, mit denen Deutschlernende Ihrer gewählten Herkunftssprache in Bezug auf Betonungsmuster, SilbenstrukturSilbenstruktur und Lautsystem konfrontiert sind.

Präsentieren Sie entweder als Kleingruppe vor der Großgruppe Ihre Ergebnisse oder treffen Sie sich mit Abgesandten der anderen Kleingruppen, um jeweils als Experte von der untersuchten Sprachkonstellation zu berichten.

2Wortschreibung

Aktivierung

Im Fokus der Schriftvermittlung steht nur allzu oft die Perspektive des Schreibenden. Mancherorts sind die Kinder in den ersten Schuljahren angehalten nach Gehör zu schreiben, ohne dass diese Schreibprodukte korrigiert werden – ein ungünstiger Einstieg ins deutsche SchriftsystemSchriftsystem, das in erster Linie leserorientiert ist. Die meisten der orthografischen Regeln dienen der leichteren Erkennung von Silben, Wörtern, Phrasen oder Sätzen im Leseprozess und sind aus der Perspektive des Lesenden daher relativ einfach zu erschließen.

Welche orthografischen Regeln kennen Sie?

Welche dieser Regeln werden in dem Schüleraufsatz (Abb. 2.1) verletzt?

Bei Wortfehlschreibungen ist zu unterscheiden, ob es sich um Regelverletzungen handelt oder um falschgeschriebene Merkwörter. Finden Sie für beide Typen Belege im Text.

Abb. 2.1:

Aufsatz eines rechtschreibschwachen Fünftklässlers

Abb. 2.2:

Bildimpuls „Der Fahrraddieb“ (© Bryant/Erhard)

*****

 

Im vorhergehenden Kapitel 1 wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass zur besseren akustischen Wahrnehmung ungewohnter lautlicher Kontraste, Silbenstrukturen und AkzentmusterAkzentmuster parallel immer auch das Schriftbild als visuelles Stützsystem einzubeziehen ist.

Viele Deutschlernende sind bereits vertraut mit der einen oder anderen AlphabetschriftAlphabetschrift. Bei einer Alphabetschrift besteht eine enge Beziehung zwischen den Einheiten des Lautsystems, den Phonemen, und den Einheiten des Schriftsystems, den Graphemen. Im Idealfall lassen sich Phoneme und Grapheme eindeutig aufeinander abbilden. Im türkischen SchriftsystemSchriftsystem ist dies tatsächlich so. Das deutsche Schriftsystem ist von einem solchen lautgetreuen Abbild jedoch weit entfernt, sonst würden wir *lebm schreiben statt leben, *Nagl statt Nagel, *Lop statt Lob, *knalt statt knallt, *Hende statt Hände. Deutschlernende sollten also nicht der Illusion ausgesetzt werden, dass GraphemGraphem-PhonemPhonem-Korrespondenzen (GPK) zu einer zielsprachlichen Schreibung führen würden. Natürlich gibt es auch im deutschen Schriftsystem GPK-Regeln. Diese sind zum einen aber nicht ausreichend. Man denke beispielsweise an das Vokalsystem: Für 16 VokaleVokale stehen nur 9 Vokalgrapheme zur Verfügung (Bredel 2013: 375). Zum anderen werden die GPK-Regeln partiell überschrieben von prosodischen und morphologischen Regelhaftigkeiten.

Von zentraler Bedeutung für das deutsche SchriftsystemSchriftsystem ist der TrochäusTrochäus – das für das Deutsche mit Abstand wichtigste AkzentmusterAkzentmuster mit der Folge betonte SilbeSilbe, unbetonte Silbe (Eisenberg 2013: 31). Die meisten Wörter des Kernwortschatzes entsprechen in ihrer Stammform und/oder in flektierter Form diesem Fußtyp. Generell lässt sich sagen, dass Systematiken innerhalb des Schriftsystems vor allem dem Lesenden dienen. Sie sollen den Worterkennungs- und Leseprozess erleichtern. Abb. 2.3 veranschaulicht, wie dies bei der Visualisierung trochäischer Strukturen gelingt: Zunächst einmal signalisiert ein VokalgraphemVokalgraphem dem Auge eine zu lesende Silbe. Auch die unbetonte Silbe, in der lautsprachlich oft gar kein Vokal realisiert wird, enthält im geschriebenen Wort ein Vokalgraphem, und zwar immer <e>. Dieses GraphemGraphem wird nicht etwa [e] gesprochen. Es fungiert als verlässliche Markierung für die ReduktionssilbeReduktionssilbe. Damit ist die prosodische Struktur (betont – unbetont) im Schriftbild sofort erkennbar.

Abb. 2.3:

Der TrochäusTrochäus in Laut- und Schriftsprache

Wie bereits angesprochen, ist das Grapheminventar der VokaleVokale unterspezifiziert. Woher weiß man, ob die Vokalgrapheme <a>, <o>, <u>, <ü>, … im zu lesenden Wort dem kurzen oder dem langen Vokal entsprechen? (Nur das Digraphem <ie> steht verlässlich für [i:].) Ob der Vokal in der betonten SilbeSilbe ungespannt/kurz oder gespannt/lang gelesen wird, hängt maßgeblich von der SilbenstrukturSilbenstruktur ab. Ist die KodaKoda nicht belegt, (vgl. Abb. 2.4a), hat der Vokal – figurativ gesprochen – Raum sich auszudehnen. Der Vokal wird dementsprechend lang artikuliert. Ist die Koda besetzt und die Silbe damit geschlossen, vgl. (Abb. 2.4b), ist meist ein kurzer Vokal zu lesen. Eine visuelle Markierung zwischen Haupt- und ReduktionssilbeReduktionssilbe (Hü.te vs. Hüf.te, ha.ben vs. hal.ten, He.fe vs. Hef.te, Bo.gen vs. bor.gen, bö.se vs. Bör.se) kann Deutschlernenden am Anfang helfen, die Silbenstruktur schnell zu erfassen, denn von ihr hängt schließlich die Aussprache des Vokals ab.

Abb. 2.4:

Drei trochäische Typen in Laut- und Schriftsprache

Das in (c) von Abb. 2.4 dargestellte trochäische Muster weist ein SilbengelenkSilbengelenk auf: Der Konsonant besetzt sowohl die KodaKoda der ersten SilbeSilbe als auch den OnsetOnset der zweiten Silbe. Auch hier muss – wie in (b) – der Vokal wieder kurz gesprochen werden. Die Schriftsprache markiert ein Silbengelenk durch Verdopplung (Fachbegriff: GeminationGemination) des Konsonantengraphems (Hütte, Pappe, sollen, kommen). Diese Regel gilt allerdings nur für einfache Grapheme. Grapheme, die sich aus mehreren Buchstaben zusammensetzen, werden nicht verdoppelt: z. B. machen, waschen, Zange).

Die Schreibung der Doppelkonsonanz ist also in der SilbenstrukturSilbenstruktur begründet. Auch die folgende orthografische Markierung weist darauf hin, dass im deutschen SchriftsystemSchriftsystem die Erfassung der Silbenstruktur von zentraler Bedeutung ist. Das sogenannte silbentrennende <h> wird regelhaft dort eingesetzt, wo ansonsten zwei Vokalgrapheme zweier Silben direkt nebeneinander stehen würden: drohen statt droen, nähen statt näen, gehen statt geen. Dieses <h> wird nicht gesprochen. Es ist eine Art Lesehilfe, denn die Silbengrenze wird so leichter erkannt. (Das sogenannte silbenschließende <h> oder auch Dehnungs-hDehnungs-h wie in Boh.ne, Leh.rer, Höh.le. wird nur dann verwendet, wenn die zweite SilbeSilbe mit einem Sonoranten (m, n, l, r) beginnt – allerdings nur in jedem zweiten aller möglichen Fälle (Eisenberg 2013: 303), weswegen auf diese Schreibung hier nicht weiter eingegangen werden soll.)

Neben den GPK-Regeln und den in der SilbenstrukturSilbenstruktur begründeten Regularitäten gilt im deutschen SchriftsystemSchriftsystem das strenge Prinzip der StammkonstanzStammkonstanz