Der Europäische Landbote - Robert Menasse - E-Book

Der Europäische Landbote E-Book

Robert Menasse

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Beschreibung

Robert Menasse reist nach Brüssel und erlebt eine Überraschung nach der anderen: offene Türen und kompetente Informationen, eine schlanke Bürokratie, hochqualifizierte Beamte und funktionale Hierarchien. Kaum eines der verbreiteten Klischees vom verknöcherten Eurokraten trifft zu. Ganz im Gegenteil, es sind die nationalen Regierungen, die die Idee eines gemeinsamen Europa kurzsichtigen populistischen Winkelzügen unterordnen. Damit werden sie zu Auslösern schwerer politischer und wirtschaftlicher Krisen in der EU. Menasses furioser, dem Geist Georg Büchners verpflichteter Essay fordert nichts weniger als "die Erfindung einer neuen, einer nachnationalen Demokratie".

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Zsolnay E-Book
Robert Menasse Der Europäische Landbote
Die Wut der Bürger und der Friede Europas
oder
Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss
Paul Zsolnay Verlag
Der Brüssel-Aufenthalt des Autors wurde unterstützt von der Stiftung »Het beschrijf« (Brüssel) und dem »Admiral Charity Fonds« (Wien).
2. Ebookversion März 2014
ISBN 978-3-552-05618-3
Alle Rechte vorbehalten
© Paul Zsolnay Verlag Wien 2012
Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke
Nachdenken über das Abendland in der Nacht.
1.
Wenn man auf einer Europakarte alle politischen Grenzen, die es im Lauf der geschriebenen Geschichte je gegeben hat, mit einem schwarzen Stift einzeichnet, dann liegt am Ende über diesem Kontinent ein so engmaschiges schwarzes Netz, dass es fast einer geschlossenen schwarzen Fläche gleichkommt. Welche schwarze Linie auf dieser schwarzen Fläche kann da augenfällig als natürliche Grenze gelten?
Wenn man dann auf dieser Karte für jeden Krieg, der in Europa je stattgefunden hat, mit einem roten Stift eine Linie zwischen den kriegführenden Parteien zieht, Schlachtfelder und Frontverläufe markiert, dann verschwindet das Netz der Grenzen völlig unter einem rotgefärbten Feld.
2.
Ein Facebook-Freund aus Hannover, ein belesener, politisch interessierter und engagierter Mann, postete heute, da ich diesen Essay zu schreiben beginne: »Die EU ist unser Untergang!« Sofort reagierten zahllose »friends« mit »likes«.
Ja! Die EU ist unser Untergang! Und das ist gut so!
Ich möchte versuchen, dies zu begründen.
Bevor man mit der Kritik an der EU beginnt (und es gibt genug, das in höchstem Maße frag- und kritikwürdig ist), sollte man sich die oben skizzierte Karte Europas vor Augen führen, diese blutrote Fläche, unter der Reiche und Staaten und Städte immer wieder verschwunden sind. Und man sollte sich daran erinnern, was der historische Vernunftgrund dafür war, das Projekt, das vorläufig zur heutigen EU geführt hat, ins Werk zu setzen.
Mitte des vergangenen Jahrhunderts lag Europa bekanntlich wieder einmal in Trümmern. Vier Kriege innerhalb einer einzigen Lebenszeit, der Deutsche Krieg (1866), der Deutsch-Französische Krieg (1870/71), beide sogenannte nationale Einigungskriege, und vor allem die beiden europäischen Kriege, die zu Weltkriegen wurden und die im Grunde ein »zweiter Dreißigjähriger Krieg« zur Potenz waren (1914 bis 1945), hatten den Kontinent in nicht gekanntem Ausmaß verwüstet. Die Ideologie der selbstbestimmten, selbstbewussten, selbstherrlichen Nation, die Dynamik des Nationalismus, die »Erbfeindschaft« zwischen den Nationen, der Versuch, »nationale Interessen« gegen andere Nationen mit aller Gewalt durchzusetzen, hatte Abermillionen Menschen das Leben gekostet, unendliches Leid über die Lebenden gebracht und in einer Kulmination des entfesselten Nationalismus zu jenem grauenhaften Menschheitsverbrechen geführt, für das »Auschwitz« heute als Chiffre steht.
Es gab so gut wie nichts mehr: Die Infrastruktur war weitgehend zerstört, die Industrien schwer beschädigt oder konfisziert, Hilfsmittel und Güter waren knapp. Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Es herrschte eine Situation, in der den Großeltern selbst der heute Uneinsichtigen klar war: Das soll nie wieder geschehen dürfen! Wenn es nun gelingen sollte, aus dieser Misere herauszukommen, dann musste dies so geschehen, dass sich die Katastrophen, die der Nationalismus und die Interessenkonflikte der Nationen produziert hatten, nicht mehr wiederholen können.
Friedensverträge zwischen den Nationen, das war die Erfahrung, sind das Papier nicht wert, auf dem sie verbrieft und besiegelt sind. Die Nationen – das war nun die Idee der Gründerväter des europäischen Friedensprojekts – müssten institutionell und ökonomisch so verflochten und in wechselseitige Dependenz gebracht werden, dass das Verfolgen jeglichen Eigeninteresses gar nicht mehr anders als in gemeinschaftlichem Handeln möglich ist. Nur so könnten Solidarität statt Nationalitätenhass, nachhaltiger Friede und gemeinsamer Wohlstand hergestellt werden.
Der historische Vernunftgrund der späteren EU ist also der blutig erfahrungsgesättigte Anspruch, den Nationalismus in einer nachnationalen Entwicklung zu überwinden, die durch supranationale Institutionen organisiert und vorangetrieben werden muss. Mit der OEEC, der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, wurde 1947 die erste supranationale Institution in Europa geschaffen, unter Kontrolle der USA. Sie verteilte die Mittel des Marshallplans und koordinierte bereits die Wirtschafts- und Finanzpläne der am Marshallplan teilnehmenden Staaten. Das wird heute gerne vergessen: dass es damals nicht einfach nur Unterstützung und Hilfe für diese und jene zerstörte, wirtschaftlich bankrotte Nation gab, sondern dass Wiederaufbau und Wirtschaftswunder der europäischen Staaten wesentlich durch eine akkordierte, supranationale Wirtschaftspolitik möglich gemacht wurden. Bald darauf wurde die erste eigenständig europäische supranationale Institution geschaffen: mit der Montanunion zur gemeinsamen Kontrolle von Kohle und Stahl, 1951. Sie wurde von sechs europäischen Staaten gegründet (Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, Luxemburg und die Niederlande), die kurz davor noch Feinde, einander Aggressoren oder Opfer waren. Nun richteten sie zusammen eine »Hohe Behörde« ein, die im Bereich der Montanindustrie gemeinsame Regelungen für alle Mitgliedstaaten treffen konnte. Warum ausgerechnet Kohle und Stahl? Sie waren kriegswichtige Güter und zugleich von eminenter Bedeutung für den Wiederaufbau. Ihre Produktion und Verteilung zu vergemeinschaften und einer gemeinsamen Kontrolle zu unterwerfen war also gleichermaßen ein Desiderat der Friedenssicherung wie des wirtschaftlichen Aufschwungs des zerstörten Europas.
Damit war die nachnationale Entwicklung Europas definitiv angestoßen, sie führte in großen und kühnen, dann wieder vielen kleinen Schritten über die Römischen Verträge, die Verträge von Maastricht und Lissabon zur heutigen Europäischen Union.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die meisten Menschen langweilt, wenn man, selbst in kürzester Form, die Geschichte der EU erzählt. Ich bin ein Freund dieser Langweile. Denn ich wünsche weder mir noch jemandem anderen die zweifellos extrem spannende Geschichte, die ein Zerbrechen der EU und der Rückfall in ein Europa der konkurrierenden Nationen zweifellos zur Folge hätte.
Wer die gegenwärtige Krise der EU, die sogenannte Finanzkrise, ausgelöst durch das Haushaltsdefizit Griechenlands, für solidarisch unlösbar, und die jetzt notwendigen, konsequenten Schritte der Vereinigung Europas in Hinblick auf die öffentliche Meinung für nicht machbar hält, der sollte an den Beginn der Entwicklung zurückdenken und versuchen, sich Folgendes vorzustellen: Um die supranationale Hohe Behörde der Montanunion zu etablieren, war es notwendig, dass Frankreich Souveränitätsrechte an Deutschland abtritt. Wie wird wohl die Stimmung in Frankreich gewesen sein? Frankreich war eben noch von Deutschland besetzt und gedemütigt gewesen, nun aber befreit und Siegermacht, Deutschland in der öffentlichen Meinung der Franzosen eine endlich niedergerungene Bande von Kriminellen.
Es war kühn, es war riskant, es war am Ende äußerst knapp, aber es ist gelungen, im französischen Parlament gegen die öffentliche Meinung eine Mehrheit dafür herzustellen, die eigenen ökonomischen Interessen mit denen Deutschlands zu verschränken und die französische Wirtschaftspolitik einer Kontrolle auch durch Deutschland zu unterwerfen. Gerade in Deutschland sollte man sich heute mit größter Dankbarkeit daran erinnern.
Damals waren Menschen am Werk, die politische Größe hatten. Und der Anspruch »Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz« war für sie keine langweilige Floskel oder ein nervendes Mantra, sondern, aufgrund ihrer Erfahrungen, ihrer Traumata, der buchstäblich not-wendige Anspruch ihrer politischen Anstrengungen.
Gehen wir noch einen Schritt zurück, ganz an den Anfang. Wie war denn die Stimmung in der Bundesrepublik, als die OEEC gegründet wurde? Es war klar, dass die BRD das Kapital dringend benötigte, das aus den USA kam. Aber gar so begeistert und voll dankbarer Zustimmung war die öffentliche Meinung keineswegs. Man hatte den Krieg verloren, war in seinem nationalen Herrenmenschengedröhne desillusioniert – aber nun von den Siegern Geschenke annehmen zu müssen (die ja auch nicht uneigennützig waren), bewirkte in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung ein kollektives Gefühl der Demütigung, das trotzig machte, und es bewirkte nicht zuletzt die Angst, nach der militärischen Niederlage nicht nur die politische Souveränität, sondern nun auch die nationale kulturelle Identität zu verlieren. Bedeutende deutsche Philosophen, wahrlich nicht der Sympathie mit dem Nationalsozialismus verdächtig, wussten sich eins mit der »Volksstimmung«, wenn sie gegen den Jazz, die »amerikanische Negermusik«, nölten, brave deutsche Väter verboten ihren Kindern Coca-Cola, verbreiteten bei Humpen von Bier an den Stammtischen moderne Legenden von den Leber zersetzenden Eigenschaften dieses amerikanischen Getränks, die besten deutschen Pädagogen kampagnisierten mit ungeheurer Sickerwirkung über die Medien, die Elternvereine bis hinein in die Wohnzimmer der deutschen Kleinfamilien gegen den Schund der amerikanischen Micky-Maus-Hefte. Das Einfließen von Kapital wurde mit einem so heftigen wie schrulligen Kulturkampf beantwortet.
Konrad Adenauer und die damaligen politischen Eliten hatten, nach der Erfahrung mit der jüngst erst gedämpften NS-Begeisterung der Deutschen, mit profunder Desillusionierung erkannt, dass vox populi mitnichten vox Dei ist, und sie haben schneller als ihre Wähler gelernt, dass die institutionalisierten Verfahren der Demokratie zu politischer Verantwortung führen, die dann unabhängig von konjunkturellen Volksstimmungen wahrgenommen werden muss. Wären schon damals in der BRD demoskopisch erfasste Meinungen maßgeblich für Regierungsentscheidungen gewesen, die BRD wäre ein Agrarstaat geworden, möglicherweise Kartoffelexportweltmeister.
3.
Natürlich ist die EU in ihrem Ansatz daher ein Elitenprojekt. Die Gründer der supranationalen europäischen Institutionen hatten begriffen, dass nachhaltiger Friede auf diesem Kontinent nur durch eine Überwindung des Nationalismus geschaffen werden kann, und dass es dazu erforderlich ist, den Nationalismus nicht nur irgendwie zu »bändigen«, ihn zu einer fahnenschwingenden Fröhlichkeit bei internationalen Sportereignissen zu domestizieren, sondern dass ihm langfristig der Boden zur Gänze entzogen werden muss – und sein Boden ist der Nationalstaat. Die Utopie war, die Nationalstaaten durch die Verflechtung ihrer Ökonomien Schritt für Schritt zur Preisgabe von Souveränität zu zwingen, sie immer mehr zurückzudrängen, bis sie schlussendlich absterben und in einem grenzenlosen Europa aufgehen. Nur so würde es möglich sein, einen Frieden zu schaffen, der von den Nationalstaaten nicht als bloße neue Zwischenkriegszeit zum Aufrüsten für den nächsten Krieg genützt wird, um ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen schließlich wieder militärisch durchzusetzen.
Diese Idee vom notwendigen Absterben der Nationalstaaten war schon damals nicht mehrheitsfähig, obwohl die verheerenden Erfahrungen mit dem Nationalismus noch ganz frisch waren und jedem die Konsequenzen nationaler Ekstasen deutlich vor Augen standen. Und, so vernünftig diese Idee auch ist, sie kann heute noch weniger mit der Zustimmung der Mehrheit rechnen. Damit kommen wir zum Kern des Problems, das wir heute »die europäische Krise« nennen, die in vielen Details jedem bekannt, in ihrem Wesen aber noch immer nicht erkannt ist.
Elitenprojekt – das klingt natürlich ganz schrecklich in den Ohren von Demokraten. Aber drückt sich darin wirklich ein demokratiepolitisch begründetes Misstrauen aus? Tatsächlich zeigt sich in dieser Denunziation der EU als einem »Eliteprojekt« nicht die Befürchtung vieler Menschen, ihre politischen Partizipationsmöglichkeiten zu verlieren (sinkende Wahlbeteiligungen auch bei nationalen Wahlen sprechen da eine deutliche Sprache), sondern wesentlich eine Abwehrhaltung gegen den Verlust ihrer nationalen Identität. »Elite« steht und stand ja nie in Widerspruch zu »Demokratie« (zumindest – und das ist so evident, dass es hier keiner Belege dafür bedarf – in den bürgerlichen Demokratien der Nationalstaaten), sondern im Gegensatz zu »Volk« – und dieser Widerspruch wurde klassisch durch das »Gemeinsame« der »nationalen Identität« aufgehoben.
In der Kritik an den Demokratiedefiziten der EU zeigt sich in Wirklichkeit das Unbehagen am schleichenden Verlust einer Identität, die objektiv ohnehin immer Chimäre war, aber doch die Eliten und das Volk, in Abgrenzung von anderen, innerhalb einer Nation zusammenhalten konnte. Deshalb geschieht all dies gegenwärtig gleichzeitig, befeuert sich wechselseitig: die wachsende Kritik an den europäischen Demokratiedefiziten, die Wut auf die »eigenen« Eliten, die international verflochten und engagiert sind, und die wachsende Renationalisierung.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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