Die Welt von morgen - Robert Menasse - E-Book

Die Welt von morgen E-Book

Robert Menasse

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Beschreibung

Robert Menasse erklärt und verteidigt – im Jahr der Europawahl – die europäische Idee, lädt aber auch dazu ein, die systemischen Widersprüche der Union zu kritisieren und zu überwinden. Die Alternative, vor der wir stehen, ist nicht kompliziert: Entweder gelingt das historisch Einmalige, nämlich der Aufbau einer nachnationalen Demokratie, oder es droht ein Rückfall in das Europa der Nationalstaaten. Das wäre eine weitere Niederlage der Vernunft – mit den Gefahren und Konsequenzen, die uns aus der Geschichte nur allzu bekannt sein sollten.

In Die Welt von Gestern schildert Stefan Zweig das kosmopolitische Europa vor 1914. Als er seine Erinnerungen niederschreibt, existiert es nicht länger, »weggewaschen ohne Spur« von der faschistischen Barbarei. Zweig stirbt 1942. Aber das übernationale Europa bekommt nach 1945 eine zweite Chance. Visionäre stoßen ein epochales Friedensprojekt an, Grenzen fallen, der Nationalismus weicht der Kooperation.

Doch auch dieses Projekt könnte schon bald Geschichte sein. Demokratische Defizite führen zu Protest. Mannigfaltige Krisen machen den Menschen Angst. In vielen Mitgliedstaaten schüren Politiker, die von den Erfahrungen der Gründer nichts mehr wissen (wollen), einen neuen Nationalismus. Heute steht Europa wieder am Scheideweg. Wie wird Die Welt von morgen aussehen?

»Die Lehren aus der Geschichte und unsere zeitgenössischen Erfahrungen führen zum selben Schluss: Nur eine gemeinsame transnationale Politik kann eingreifen, kann gestalten und ordnen, was ansonsten Zerstörung, Verbrechen und Misere produziert.«

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Seitenzahl: 188

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Cover

Titel

Robert Menasse

Die Welt von Morgen

Ein souveränes, demokratisches Europa – und seine Feinde

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2024.

Erste Auflage 2024Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Frontispiz: Bayerische Staatsbibliothek München, Res/EUR. 561-16/18,urn:nbn:de:bvb:12-bsb10916599-9

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-518-77855-5

www.suhrkamp.de

Motto

Als Heimat empfand ich das europäische Festland, je mehr ich von ihm in meine Bildung – und in meine Gebilde – aufnahm. Vor 1914 reiste man ohne Pass von der atlantischen Küste bis an das Schwarze Meer, von Skandinavien bis nach Sizilien. […] »Ausland« war eine Sache der Übereinkunft, und eigentlich Redensart. […]

Überall war man etwas mehr als ein Zugelassener; sich in ein Volk zu mischen, stand jedem frei, und den jeweiligen Staat konnte er übersehen. Eine Vorbedingung des geeinten Europa war erfüllt, unsere private Unabhängigkeit von Landesgrenzen.

Heinrich Mann (1941)

Ein bloß bindendes, ein übernationales, ein panhumanistisches Ideal […] bringt niemals jenen elementaren Anreiz wie das stolz Absondernde, das jedesmal den Feind jenseits der eigenen Landesgrenzen […] aufzeigt.

Immer werden es darum die Parteigeister leichter haben, welche die ewig menschliche Unzufriedenheit in eine bestimmte Windrichtung jagen; der Humanismus aber, der für keinerlei Hassleidenschaft Raum hat, setzt heroisch die geduldige Anstrengung auf ein fernes und kaum sichtbares Ziel, er ist und bleibt ein Ideal, solange das Volk, das es sich träumt, solange die europäische Nation nicht verwirklicht ist.

Stefan Zweig (1934)

Jura öffnet den Weg für alles, Literatur macht das Verständnis für alles größer.

Jean-Claude Juncker (2019)

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Motto

1. Der Europäische Niemand.

2. Das schwarze Loch.

3. Utopie und Geschichte in einem Punkt.

4. Die Welt von morgen. Eine optimistische Vermutung?

5. Die Zukunft, populär.

6. Der Status quo.

7. Ist das Glas also halb voll oder halb leer?

8. Noch einmal von vorn beginnen, aber dieses Mal mit der Kultur?

9. Mit Kultur beginnen.

10. Europäische Werte. Eine Frage.

11. Nationale Identität.

12. Exkurs zum Thema: Angst/Ängste/Wut.

13. Zur Verteidigung der Nation.

14. Das singen sie noch immer.

15. Führ und wider.

16. Der deutsche Mensch als Symptom.

17. Erleichterung?

18. Europäische Werte. Noch eine Frage.

19. Die Werte grundsätzlich: Die Menschenrechte.

20. Alltag. 

21. Der Preis der Werte. Beispiel.

22. Begriffe klären.

23. Die Balance demokratischer Defizite als Ende der Demokratiegeschichte?

24. Was ist Demokratie?

25. Eine demokratische Union.

26. Wie kann man das Uhrwerk wechseln, ohne dass die Zeit stehenbleibt?

27. Zukunft: Utopie? Phantasie statt Science-Fiction! ‌ ‌ ‌

28. Todesangst. ‌ ‌

29. Wie geht es weiter?

30. Was tun?

31. Klarheit, bitte!

32. Warum ist schon das Einfache nicht einfach?

33. Kann sich das Niemand vorstellen? Eine nachnationale Demokratie?

34. Europäische Republik?

35. Zukunft als Folge wirtschaftlicher Zwänge?

36. Primat der wirtschaftlichen Interessen. Eine Erinnerung.

37. Symbolpolitik. Wir Verlierer.

38. Schluss. ‌ ‌

Fußnoten

Informationen zum Buch

Die Welt von Morgen

1. Der Europäische Niemand.

Am Anfang des 18. Jahrhunderts erschien in deutschen Landen eine Flugschrift mit dem Titel Der Europäische Niemand. (Sie ist heute in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt.) Das war mehr als hundert Jahre vor dem Hessischen Landboten eine kritische Reflexion von Zeitgenossenschaft, aber mit dezidiert europäischer Perspektive. Wer war dieser Niemand? Der Verfasser? Wollte er anonym bleiben, zumal er »in allerhand vertraulichen Gesprächen von neuen und alten Staats=Angelegenheiten/ Hof-Intriguen/ Kriegs= und Friedens=Begebenheiten« kritisch und pointiert berichtet? Anonym zu bleiben mag dem Verfasser und Herausgeber durchaus angebracht erschienen sein, aber tatsächlich ist »Niemand« auch der Leser, an den sich die Flugschrift richtet, wie deren Untertitel mit dialektischem Witz festhält: »Der Europäische Niemand, Welcher Niemanden zu beleidigen/Jederman aber nützlich zu seyn/beflissen ist«.

Nun hätte eine Schrift mit diesem Anspruch auch »Der Europäische Jedermann« heißen können – aber diesen galt es erst zu bilden, indem ihm europäischer Nutzen offeriert wird. Doch solange Niemand bereit ist, ohne gleich beleidigt zu sein, mit Informationen beliefert zu werden, die seinen Vorurteilen, seiner beschränkten Weltsicht, seinen ideologischen Verblendungen widersprechen, und dem schlicht Gewohnten, dem er sich mit Wut oder mit Resignation ergeben hat, so lange ist und bleibt dieser Niemand der Adressat! Der Europäische Niemand!

Ich lese den »16. Theil« aus dem Jahr 1719. Es ist – wir sind ja in Europa – ein Jahr der Kriege. Die Russen überfallen Schweden, die Österreicher erobern Sizilien, die Franzosen marschieren in Spanien ein … Zugleich erscheint mit riesigem internationalem Erfolg der Roman Robinson Crusoe von Daniel Defoe, die große Erzählung von der Erhebung eines Niemand zum modernen Individuum, das aus eigener Kraft, ohne Herrn über sich, eine Zivilisation errichtet, in freier Entwicklung seiner Fähigkeiten, mit den Ressourcen, die es vorfindet und lernt sich anzueignen. Dieser Roman ist die literarische Revolution dieser Epoche: der Vorschein bürgerlicher, unternehmerischer Individualität und Überwindung der Schicksalsergebenheit, als Modell durchgespielt auf einer einsamen Insel.

Zur gleichen Zeit beschwört Der Europäische Niemand eine europäische Kultur, in der die Idee des freien Individuums wieder zurückgeholt und verwurzelt wird im Sozialen: Mitten im Waffengeklirre entwickelt diese Flugschrift Vorstellungen für ein friedensstiftendes Sozialsystem und proklamiert die Freiheit eines jeden, sich »eine Lebens=Art zu erwehlen«, wobei er aber seine Talente in die Gemeinschaft eines bürgerlichen Lebens einzubringen habe, um nicht bloß alleine in seinem Hause ein Philosoph, oder eben auf einer einsamen Insel ein Unternehmer zu sein. Und der Verfasser sinniert ironisch liebevoll darüber, dass es auch zur Entfaltung der deutschen Individualität gehört, sich nach französischer Art zu kleiden oder französischen Wein zu genießen. Was damals Mode war, 150 Jahre vor dem Deutsch-Französischen Krieg.

Dieser Fund hat mich fasziniert. Die Vorstellungen von einem friedlichen, sozialen Europa, das in kultureller Vielfalt verbunden ist, wurzeln tief in der europäischen Geschichte, als konkrete Utopien, die jeweils die zu ihrer Zeit neuen Entwicklungen radikal weiterdenken oder sich als Kritik den zu überwindenden politischen Realitäten entgegenstellen. Als literarischer Vorschein, als essayistische oder philosophische Reflexion. Immer wieder wurde gesagt: Träumereien! Von Dichtern und Intellektuellen! Ja, Träume im konkreten Sinn des Begriffs: Verarbeitung von Erlebnissen und Erfahrungen, Bildgebung von Fragen, die die Träumer emotional beschäftigten.

Von der Kritik an kultureller Distinktion über die Kritik an Kleinstaaterei und Feudalwillkür zur Kritik am Nationalismus, seinen Aggressionen und seiner Beschränktheit in Hinblick auf transnationale Probleme. Kommt diese Geschichte Niemand bekannt vor? Es wäre Jedermann nützlich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die reale wirtschaftliche und politische Entwicklung der europäischen Einigung Tempo. Sie hat von der Montanunion über die Wirtschaftsgemeinschaft bis zur Gründung der politischen Union weiter getragen, als sich noch unsere Großeltern hätten vorstellen können. Aber die jetzt fälligen und notwendigen nächsten Schritte der europäischen Einigung sind blockiert. Warum? Es wird wohl keiner behaupten, es mangle an Realpolitikern. Also fehlt es an Träumern?

Ich bin der Europäische Niemand, muss keine Überzeugten überzeugen, will keine Munition liefern für Wutausbrüche der Nationalisten, auch wenn wir uns mit der Wut vieler Bürger beschäftigen müssen. Ich will beflissen sein, Niemanden zu beleidigen. Zu Jedermanns Nutzen.

2. Das schwarze Loch.

Ist die Europäische Union ein schwarzes Loch? Ein Gebiet, in dem die Materie in sich selbst zusammengefallen ist, wodurch sich eine enorme Menge Masse auf einem unglaublich kleinen Raum konzentriert? Dieser Raum wird »Brüssel« genannt. Siebenundzwanzig Staaten, fast vierhundertfünfzig Millionen Menschen auf einer Fläche von über vier Millionen Quadratkilometern: zusammengefallen und verdichtet auf »Brüssel«.

Die EU scheint nur noch als diese Chiffre zu existieren: »Brüssel«, das die Souveränität der Nationalstaaten, »nationale Interessen« und vor allem die Demokratie, die nur als nationale vorstellbar sei, verschlucken will, im Weltraum, der Europa heißt.

So erscheint heute der vorherrschende politische Europadiskurs. Aber auch in der literarischen oder intellektuellen Auseinandersetzung existiert die EUim Sinne ihrer Idee im deutschen Sprachraum in einem schwarzen Bewusstseinsloch, schlicht auch nur als »Brüssel«.

Es gibt von zeitgenössischen europäischen Autoren Bücher über Globalisierung und (Post-)Kolonialismus, kenntnisreiche und analytische Literatur über Allerwelt, aber auf vergleichbarem Niveau so gut wie nichts über Europa, über die EU, über den großen Transformationsprozess des eigenen Kontinents, die Grundlage und die Rahmenbedingungen unseres Lebens, Handelns, Denkens, Hoffens und Scheiterns. Selbst ein von mir bewunderter Großintellektueller wie Hans Magnus Enzensberger, als er von seiner luziden Zeitgenossenschaft der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im 21. angekommen war, konnte ach zu EU auch nur »Brüssel« assoziieren, das er »sanftes Monster« nannte – eine Demonstration seines kritischen Geistes, der keine große Lust zu haben schien, zu verstehen, was er kritisierte. Und er beglückte damit sehr viele Menschen, die genau das brauchten: in ihrem Selbstgefühl als kritische Geister bestätigt zu werden, begeistert davon, dass dabei keines ihrer Vorurteile infrage gestellt wurde.

Globalisierungsgewinner, die die Globalisierung nicht verstehen, und EU-Profiteure, die keine Ahnung von der EU haben, und Opfer nationalistischer Verblendungen, die sich ihre Misere nur so erklären können, dass die Nationalisten, die sie bisher gewählt haben, noch nicht nationalistisch genug waren, und Populisten, die nicht einmal populär sind: Sie alle, links und rechts, verbindet das Selbstgefühl bzw. die Selbstdarstellung, kritische Bürger zu sein, und die Wähler sind in ihren Ressentiments und Aggressionen nur durch ihre Parteipräferenzen gespalten. (Hier sieht man, welche Konsequenzen es hat, wenn »Kritisch-Sein« an und für sich zum gesellschaftlichen Fetisch gemacht wird – dann sind alle kritisch, aber ohne gemeinsames Fundament. Es soll Zeiten gegeben haben, da beruhte Kritik auf Analyse, ihr Besteck war Theorie und Methode. Weiß das niemand?)

Manchmal, an Sonntagen, erscheint »Brüssel« als eine transzendente Macht, an die Fürbitten gerichtet werden, aber während der Woche, im politischen Alltag, als eine Bedrohung, der gegenüber sich Staats- und Regierungschefs aufblähen mit der Beteuerung: Wir lassen uns nicht verschlucken!

Das ist natürlich politischer Unsinn. Aber wirksam. Denn real wird Europa durch die Chiffre »Brüssel« tatsächlich gespalten. Da ist einerseits das Europa der gemeinsamen Institutionen, das nach der Meinung von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern unzulässig und bedrohlich in das Leben der Menschen in den Mitgliedstaaten hineinwirkt, nationale Souveränität absaugen und die Politik des Kontinents zentralisieren will, und andererseits sind da die immer noch als natürlich und geradezu einzig menschengerecht empfundenen Nationalstaaten, das Europa der »Vaterländer«, deren Regierungen sich gegen »Brüssel« wehren, Souveränitätsrechte zurückholen und die EU, wenn schon nicht komplett zerstören, zumindest von der politischen Union zur bloßen Wirtschaftsgemeinschaft zurückbauen möchten.

Ich bin, wie versprochen, Niemand, der die Absicht hat, jemanden zu beleidigen, aber ich will versuchen, zu begründen, warum das ziemlich dumm ist, wissend, dass die Dummen nicht sich selbst dumm finden, sondern mich. Aber, vielleicht zu Jedermanns Nutzen: Diskutieren wir das!

3. Utopie und Geschichte in einem Punkt.

Vor rund siebzig Jahren sind europäische Nationen bewusst und planvoll in einen gemeinsamen nachnationalen Prozess eingetreten. Das ist ein Faktum, und Niemand wird sich wundern, wenn ich diesen Sachverhalt wiederhole, nur damit das jetzt fix und unmissverständlich als Voraussetzung für alle weiteren Diskussionen über die EU klargestellt ist: Europäische Nationen sind bewusst (!) und planvoll (!!) in einen nachnationalen (!!!) Prozess eingetreten. Und das nicht, weil ein paar Politiker zufällig mit einem Schnapshändler zusammengesessen hatten und gerade so bei Laune waren. Diese Generation hatte in nur einer Lebenszeit ihre Erfahrungen mit gleich mehreren verheerenden nationalistischen Kriegen gemacht. Aufgewachsen in der vergifteten Atmosphäre nach dem Deutsch-Französischen Krieg, erlebte sie die Balkankriege, den Ersten Weltkrieg, den Einmarsch Polens in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, daraufhin den Polnisch-Sowjetischen Krieg, und den Zweiten Weltkrieg. Wie gesagt: das alles nur während der Dauer eines Menschenlebens. In Europa.

Es waren nach dem Ersten Weltkrieg wohl starke Friedensbewegungen entstanden, aber all die schönen Parolen, die Waffen niederzulegen, die Manifeste zur Ächtung von Krieg als Mittel der Politik, die Friedensdemonstrationen – all das konnte nichts nützen, weil der Aggressor selbst nicht infrage gestellt wurde, nämlich die Nation, als Idee und politisches Faktum. Friedensverträge zwischen Nationen waren, wie sich zeigte, das Papier nicht wert, auf dem sie besiegelt wurden. (Das zeigt sich bis heute immer wieder! Man denke zum Beispiel an den »Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Partnerschaft« zwischen Russland und der Ukraine.) Diese Verträge waren bloße Termingeschäfte, um Zeit für Aufrüstung zu gewinnen. Betrug und Selbstbetrug, pastellfarbene Luftblasen, die zerplatzen mussten, wenn die sogenannten »nationalen Interessen« im wahrsten Sinn des Wortes wieder schlagend wurden: der Kampf um Territorium, Bodenschätze, Märkte, Einflusssphären und ach, ganz wichtig, zur Bestätigung von Nationalstolz und nationalem Überlegenheitsgefühl.

Die Gründergeneration des europäischen Einigungsprojekts, das zur heutigen EU geführt hat, hat aus diesen Erfahrungen eine konsequente Lehre gezogen, sie hat den Aggressor erkannt, benannt und einen Plan entwickelt, ihn zu überwinden: den Nationalismus.

Der Nationalismus hatte zu den größten Menschheitsverbrechen geführt und Europa verwüstet. Das sollte nie mehr geschehen können. Die Idee war bekanntlich, verfeindete Nationen zu verflechten, ihre jeweiligen Interessen unter gemeinsame Kontrolle zu stellen und in gemeinsamer Verwaltung zu gemeinsamen Interessen zu entwickeln. An diesem Punkt ist aus historischer Erfahrung eine Utopie und aus dieser Utopie ein realer historischer Prozess geworden: das nachnationale Europa under construction. Ohne diese politische Entscheidung und ihre schrittweise Umsetzung wäre »Nie wieder!« eine bloße Floskel.

Und dann geschah etwas, das man füglich als Beweis für die These, es gebe eine List der Geschichte, anerkennen muss. Die Idee, ein nachnationales Europa aufzubauen, war, wie gesagt, die Konsequenz aus historischen Erfahrungen. Es war ein Befriedungsprojekt für unseren Kontinent, gleichsam eine Sicherung, dass sich Geschehenes in Zukunft nicht mehr wiederholen kann. Es war also wesentlich bezogen auf Geschichte, auf historische Erfahrungen. Aber eine Vorstellung davon, wie sich die Zukunft global entwickeln würde, hatten die Gründer des europäischen Einigungsprojekts naturgemäß nicht haben können. Und dann stellte sich heraus: Die Zukunft hieß Globalisierung. Sie entwickelte sich ungeplant, anarchistisch und mit größter Dynamik, sie durchbrach nationale Grenzen, zerstörte nationale Souveränität in Hinblick auf die wesentlichen Bedingungen der Produktion und Reproduktion unseres Lebens. Globalisierung bedeutet die Schaffung von transnationalen Produktions- und Lieferketten, allseitige Abhängigkeiten voneinander, um Güter herzustellen, die in allen Weltteilen und Klimaten zugleich verbraucht werden. Globalisierung produziert dramatische Krisen und Abhängigkeiten, die mit nationaler Politik, so wir dem Traum von nationaler Souveränität immer noch anhingen, gar nicht mehr gemanagt werden können.

Das nenne ich List der Vernunft, und das sollte den Europaskeptikern ein einsichtiges Argument für die Sinnhaftigkeit der europäischen Einigung sein: Die Entwicklung, die in Europa als Konsequenz unmittelbarer historischer Erfahrungen angestoßen wurde, erweist sich heute aufgrund der zeitgenössischen globalen Entwicklung als einzig zukunftstaugliche. Denn trans- und nachnationale Politik wird in Europa bereits seit siebzig Jahren geplant und schrittweise entwickelt. Sie ist daher objektiv der Globalisierung voraus. Das Problem ist allerdings, dass die europäischen Staatenlenker bis hin zur Kommissionspräsidentin immer wieder verkünden, dass »wir«, die jeweilige Population der europäischen Nationalstaaten oder die Europäer insgesamt, im Weltengefüge mit seinen großen Machtblöcken ein »Niemand« seien und dass wir endlich »fit« für die Globalisierung gemacht werden müssten – statt zu begreifen und zu kommunizieren, dass die EU eigentlich einen Vorsprung hätte und füglich als Avantgarde in der Welt bezeichnet werden müsste. Denn in Hinblick auf die notwendige und mögliche bewusste Gestaltung transnationaler Prozesse verfügt nur die EU über langjährige Erfahrung und also Expertise.

Hätte, müsste, wäre. Schaut man sich die Politik hinter den »Fit für die Globalisierung«-Phrasen an, sieht man sehr schnell, dass von den europäischen Politikern die Vorteile und Möglichkeiten europäischer Gemeinschaftspolitik gar nicht erkannt werden, vielmehr kämpfen, bitten, betteln und beten sie kurzsichtig um kurzfristige nationale »Erfolge«, und das heißt »Standortpolitik«. Bitte lieber Multi, investiere bei uns und nicht bei einem anderen (Mitglied der Union), wir zahlen dir die Infrastruktur, kommen dir bei der Steuer entgegen. – Nein! Nein! Komm zu uns, wir bieten noch niedrigere Steuersätze! – Und so weiter. Dies als Fitnessprogramm für die Globalisierung zu verstehen und gleichzeitig vor den Nationalisten verständnisvoll in die Knie zu gehen, ist ein grotesker, selbstzerstörerischer Widerspruch, und die Standort-Konkurrenz der europäischen Staaten ist just die Politik, gegen die das europäische Einigungsprojekt gegründet wurde: Konkurrenz um Ressourcen, mit nationaler Emphase. Stört das Niemand?

4. Die Welt von morgen. Eine optimistische Vermutung?

Die Lehren aus der Geschichte und unsere zeitgenössischen Erfahrungen führen zum selben Schluss: Nur eine gemeinsame transnationale Politik kann eingreifen, kann gestalten und ordnen, was ansonsten Zerstörung, Verbrechen und Misere produziert. Geplant war die Überwindung des Nationalismus, und man kann füglich darüber streiten, wie weit die Gründergeneration vorausgeblickt hatte und ob sie sich perspektivisch sogar auch ein Absterben der Nationalstaaten hatte vorstellen können. Denkt man darüber nach, hätte es eine innere Logik, und es gäbe logische Argumente für seine Notwendigkeit. Die EU hatte, durch ihre Utopie, die über mehr als ein halbes Jahrhundert in Realpolitik übersetzt wurde, einige Schritte in diese Richtung gemacht. Aber dürfen wir von der Geschichte Logik erwarten? Die Geschichte bietet Verwüstungen und Wunder und wieder Zerstörung und kurzfristige Konsequenzen und Vergessen. Logik? Ist womöglich nur ein Pausenfüller.

Aber dies ist unbestreitbar: Die EU ist das vorläufige reale Ergebnis einer konkreten Utopie, eines Blicks in die Welt von morgen, in eine Zukunft, auf der Basis von historischen Erfahrungen und von Gestaltungswillen. Hingegen die nationalistische Kritik daran – was will sie, was stellt sie sich unter Zukunft vor? Die Rückkehr in eine Geschichte, die es nie gegeben hat (ein glückliches, ethnisch definiertes Volk lebt auf seinem Territorium in freier Selbstbestimmung in Frieden und allgemeinem Wohlstand und trotzt allen Stürmen der Geschichte). Eine Rückkehr ins Nie-Gewesene ist keine Zukunft. Der Nationalismus hat keine Zukunft. Aber er kann die vorläufige zerstören.

5. Die Zukunft, populär.

Dass die Welt von morgen nachnational sein wird (und soll), war gestern noch äußerst populär – zumindest zwei Jahrzehnte lang nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das kann man an massenkulturellen Phänomenen der sechziger Jahre ablesen, zum Beispiel an extrem erfolgreichen, von den Massen begeistert konsumierten Science-Fiction-Romanen oder -Filmen, die in ihrer besonderen Form wohl kaum phantasiert hätten werden können ohne die Erfahrungen mit den nationalistischen Kriegen und ohne die darauf folgenden realen politischen Schritte Europas in eine nachnationale Zukunft.

Im Jahr 1957 war mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet worden. Es hieß Wirtschaftsgemeinschaft, aber ihre Entscheidungen waren große Schritte in Hinblick auf Gemeinschaftspolitik: Für die EWG-Länder waren im Handel die nationalen Grenzen beseitigt, es wurden keine Zölle mehr eingehoben. Außerdem einigten sich die teilnehmenden Staaten auf eine gemeinsame Kontrolle der Lebensmittelproduktion, damit die ausreichende Ernährung der Populationen dieser Länder sichergestellt war.

Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer, das überdeutliche Symbol der Spaltung der deutschen Nation, man kann auch sagen, der pragmatischen Anerkennung ihrer Zerstörung. Wir müssen hier nicht beteuern, dass der Mauerbau ein Verbrechen war, er war eine Konsequenz des großen nationalistischen Kriegs und bedeutete den definitiven Eintritt Deutschlands in nachnationale politische Systeme: Westanbindung und EWG auf der einen und Ostblock auf der anderen Seite. Und Anfang September just dieses Jahres erschien das erste Heft der Reihe Perry Rhodan, mit einem bis dahin für sogenannte »Schundhefte« ungekannten Verkaufserfolg. Die Handlung beginnt im Jahr 1971, in dem die Welt in drei Blöcke gespalten ist, einen Westblock, einen Ostblock und eine von China dominierte Asiatische Föderation. Aber die Menschen erkennen, dass militärisch aufgerüstete, konkurrierende Blockbildungen so wenig wie Nationen den Frieden auf Erden sichern können. Es ging beim Projekt Perry Rhodan nur vordergründig um den Aufbruch zu den Sternen, vielmehr wollte diese Heftreihe die Sehnsucht so vieler Menschen ausdrücken, »die Unterschiede zwischen Nationen, Völkern, Religionen und Hautfarben endlich zu begraben«, wie ein Redakteur schrieb. Perry Rhodan war die Projektion von Friedensprojekt und Gemeinschaftspolitik in die Zukunft, die Reihe überwand die Mauer schon im Jahr ihrer Entstehung, ohne die Nation zu restaurieren, sie hob sie in einer nachnationalen Menschheit auf.

Und bald darauf produzierte das öffentlich-rechtliche Fernsehen (es gab noch kein anderes) eine Science-Fiction-Serie, die zum Straßenfeger wurde, nämlich Raumpatrouille Orion. In der Intro sagte eine sonore Stimme: »Hier ist ein Märchen von übermorgen. Es gibt keine Nationalstaaten mehr, es gibt nur noch die Menschheit«, und nicht nur ich, auch meine Mutter war so ergriffen, dass ich, der tunlichst nicht fernsehen sollte, mir alle Folgen anschauen durfte.

Es wird immer wieder kritisch angemerkt, die EU sei doch nur ein Elitenprojekt. Aber in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war die kollektive Phantasie schon weiter als die der heutigen politischen Eliten.

Das ist bezeichnend und markiert einen Epochenwandel: Vor dem Zweiten Weltkrieg erfanden die Söhne von europäischen jüdischen Flüchtlingen in den USA, Jerry Siegel und Joe Schuster, die Figur des Superman, den mit außerirdischen Kräften ausgestatteten Superhelden, der alles Böse von den USA abwenden kann. Und nach dem Krieg entwickelten deutsche Autoren, Walter Ernsting und Karl-Herbert Scheer, die Figur des Perry Rhodan, der als Bürger einer nachnationalen Welt auch außerirdische Abenteuer besteht.

6. Der Status quo.

Was der EU heute also schmerzhaft fehlt, ist Phantasie. Sogar die historische, nämlich die Phantasie der Gründergeneration zu begreifen. Und was Europa am meisten bedroht, sind die politischen Phantasten. Das sind jene, die ihren Wählern Heil versprechen durch die Renationalisierung ihrer Staaten und die das schäbige Spiel spielen, mit Vetos im Europäischen Rat die Entwicklung der EU zu blockieren, um dann ihren Wählern sagen zu können: Ihr seht, die EU funktioniert nicht, wir müssen eine nationale Lösung finden.

Man kann die aktuelle Situation in einem Satz zusammenfassen: Die EU entwickelt sich fort!

Das ist eine gute und eine schlechte Nachricht zugleich.

Die Gute ist, dass die Krisen zu heftig sind, die Herausforderungen der Zukunft zu groß, als dass die Union in einer bloßen Balance ihrer Widersprüche verharren könnte. Ja, doch, die EU