Der Fremde im Haus - Ruth Rendell - E-Book

Der Fremde im Haus E-Book

Ruth Rendell

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Beschreibung

Er war der perfekte Untermieter. Doch dann zeigt er sein wahres Gesicht, und du kannst ihm nicht entkommen ...

Zum ersten Mal in seinem Leben verläuft für Carl alles nach Plan. Sein Romandebüt wird veröffentlicht, er hat ein Haus in Londons Stadtmitte geerbt, und er ist glücklich verliebt. Um jetzt noch für den nötigen Geldfluss zu sorgen, sucht er sich einen Untermieter, den er für einen wahren Glücksfall hält. Doch der vermeintlich zuvorkommende Dermot streift nachts durchs Haus, taucht im Dunkeln hinter Türen auf und durchwühlt Schränke und Schubladen. Als er schließlich von einem tragischen Unglück in Carls Bekanntenkreis erfährt, setzt dies eine Kette verhängnisvoller Ereignisse in Gang ...

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Buch

Zum ersten Mal in seinem Leben verläuft für Carl alles nach Plan. Sein Romandebüt wird veröffentlicht, er hat ein Haus in Londons Stadtmitte geerbt, und er ist glücklich verliebt. Um jetzt noch für den nötigen Geldfluss zu sorgen, sucht er sich einen Untermieter, den er für einen wahren Glücksfall hält. Doch der vermeintlich zuvorkommende Dermot streift nachts durchs Haus, taucht im Dunkeln hinter Türen auf und durchwühlt Schränke und Schubladen. Als er schließlich von einem tragischen Unglück in Carls Bekanntenkreis erfährt, setzt dies eine Kette verhängnisvoller Ereignisse in Gang …

Autor

Ruth Rendell wurde 1930 in London geboren und lebte dort bis zu ihrem Tod 2015. Sie arbeitete als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. 1997 wurde sie mit dem Grand Master Award der Crime Writers’ Association of America, dem renommiertesten Krimipreis, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell ist auch unter dem Pseudonym Barbara Vine bekannt.

 

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Ruth Rendell

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2015by Kingsmarkham Enterprises Ltd Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Dr. Rainer Schöttle Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagabbildung: © Maria Petkova / Trevillion Images KW · Herstellung: sam Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-19057-6V001 www.blanvalet.de

Interview mit Ruth Rendell

»Was fasziniert Sie an Psychopathen? …«

»Tja«, antwortet Rendell in ihrem kultivierten Akzent, »ich fühle Empathie mit Menschen, die von grauenhaften Impulsen angetrieben werden. Der Drang zu töten ist ganz sicher eine schreckliche Last. Ich versuche – erfolgreich, wie ich glaube –, in meinen Lesern Mitgefühl für meine Psychopathen zu wecken, denn ich empfinde es.«

Sunday Telegraph Magazine, 10. April 2005

1

Seit vielen Jahren schon sammelte Wilfred Martin Proben von Medikamenten aus der alternativen Medizin, homöopathische Mittel und Kräuterpillen. Die meisten davon nahm er nie selbst ein, ja, er probierte sie nicht einmal aus, weil er ihnen nicht traute, sondern bewahrte sie einfach in einem Badezimmerschränkchen in einem Haus in Falcon Mews im Londoner Stadtteil Maida Vale auf. Nach seinem Tod fielen sie – wie das Haus und die gesamte Einrichtung – an seinen Sohn Carl.

Carls Mutter riet ihm, das ganze Zeug wegzuwerfen. Die Sachen seien Müll, bestenfalls harmlos, wenn nicht gar gefährlich. Außerdem nähmen all die Fläschchen, Gläschen und Säckchen nur Platz weg. Doch Carl entsorgte nichts davon, weil es ihm zu lästig war. Er war mit anderen Dingen beschäftigt. Hätte er geahnt, dass diese Medikamente, vor allem ein bestimmtes Präparat, sein Leben verändern, auf den Kopf stellen und letztlich ruinieren würden, er hätte den gesamten Kram in eine Plastiktüte gekippt und diese im großen Müllcontainer am Ende der Straße versenkt.

Carl hatte das ehemalige Haus der Familie in Falcon Mews am Anfang des Jahres übernommen, da seine Mutter nach der Scheidung seiner Eltern nach Camden gezogen war. Eine Weile verschwendete er keinen Gedanken an den Inhalt seines Badezimmerschränkchens, denn bei ihm drehte sich alles um seine Freundin Nicola, seinen soeben erschienenen Roman mit dem Titel An der Schwelle des Todes und um die Vermietung der obersten Etage seines Hauses. Er hatte keine Verwendung für die beiden Zimmer plus Küche und Bad, die Mieteinnahmen jedoch bitter nötig. Obwohl begeistert von der Veröffentlichung seines Erstlingswerks, war er mit dreiundzwanzig nicht mehr so naiv zu glauben, allein von der Schriftstellerei leben zu können. Die Mieten in Londons Stadtmitte hatten inzwischen astronomische Höhen erreicht, weshalb Falcon Mews, eine halbmondförmige Seitenstraße, die die Sutherland Avenue mit der Castellain Road in Maida Vale verband, eine Top-Adresse und darum sehr begehrt war. Also schaltete er eine Anzeige im Paddington Express, in der er verfügbaren Wohnraum anbot, und schon am nächsten Morgen wollten zwanzig Interessenten bei ihm vorsprechen. Warum er sich für Dermot McKinnon, den ersten Bewerber, entschied, konnte er nie so recht sagen. Vermutlich lag es daran, dass er keine Lust hatte, Dutzende von Leuten ins Verhör zu nehmen, ein Entschluss, den er noch bitter bereuen sollte.

Allerdings nicht zu Anfang. Dermots einziger offensichtlicher Nachteil schien sein Aussehen zu sein – die schiefen gelben Zähne zum Beispiel und dass er extrem mager und rundschultrig war. Doch man lehnt einen Mieter schließlich nicht wegen seines wenig ansprechenden Äußeren ab, dachte Carl. Außerdem konnte der Mann zweifellos die Miete bezahlen. Dermot arbeitete in der Sutherland-Tierklinik eine Straße weiter und konnte ein Empfehlungsschreiben der dortigen Cheftierärztin vorweisen. Carl bat ihn, jede Monatsmiete am Ende des Vormonats zu entrichten, und vielleicht war sein erster Fehler die Bitte, den Betrag nicht per Banküberweisung zu bezahlen, sondern ihn in Form von Bargeld oder eines Schecks in einem Umschlag vor seiner Tür zu hinterlegen. Carl war zwar klar, dass diese Vorgehensweise heutzutage recht ungewöhnlich war, doch er wollte den Eingang der Miete buchstäblich erleben können, indem er die Scheine in den Händen hielt. Dermot erhob keine Einwände.

Carl hatte, ermutigt von seiner Agentin Susanna Griggs, die meinte, er solle sich endlich an die Arbeit machen, mit seinem zweiten Roman begonnen. Allerdings rechnete er nicht mit einem Vorschuss, ehe das Werk nicht fertig war und Susanna und seine Lektorin es gelesen und angenommen hatten. Für eine Taschenbuchausgabe von An der Schwelle des Todes hatte er keine Honorarzahlung zu erwarten, da niemand damit rechnete, dass es in dieser Form aufgelegt werden würde. Dennoch empfand sich Carl – sowohl ein publizierter Autor mit guten Aussichten als auch Vermieter, der Mieteinnahmen hatte – als ziemlich wohlhabend.

Um seine Wohnung zu erreichen, musste Dermot das Haus durch Carls Vordertür betreten und zwei Stockwerke hinaufsteigen. Doch er machte keinen Lärm und lebte sehr zurückgezogen. Carl hatte bereits festgestellt, dass sein Mieter gern mit festen Redewendungen um sich warf. Und eine Zeit lang schien alles wirklich zu klappen wie am Schnürchen. Die Miete wurde pünktlich am Monatsletzten in Zwanzigpfundscheinen in einem Umschlag bezahlt.

Die Häuser in Falcon Mews waren alle ziemlich klein, sehr unterschiedlich in der Bauweise und in langen, einander gegenüberliegenden Reihen angeordnet. Die Straße war kopfsteingepflastert mit Ausnahme der beiden Enden, die an der Sutherland Avenue mündeten und wo die Anwohner ihre Autos parken konnten. Das Haus, das Carl geerbt hatte, war ockergelb gestrichen und verfügte über weiße Fensterrahmen und weiße Blumenkästen. Hinten gab es einen kleinen, ziemlich verwilderten Garten, in dessen hinterster Ecke ein Holzschuppen voller defekter Gartengeräte stand, unter anderem auch ein nicht mehr funktionstüchtiger Rasenmäher.

Was die alternativen Medikamente betraf, nahm Carl einmal eine kleine Dosis einer Substanz namens Benzoesäure, als er erkältet war. Angeblich unterdrückte das Zeug Husten mit Auswurf, wirkte allerdings nicht. Abgesehen davon würdigte er den Schrank, wo die Fläschchen und Gläschen wohnten, keines Blickes.

Jeden Morgen um zwanzig vor neun machte sich Dermot McKinnon auf den Weg in die Sutherland-Tierklinik und kehrte um halb sechs in seine Wohnung zurück. Sonntags ging er in die heilige Messe. Wenn Dermot es ihm nicht erzählt hätte, hätte Carl nie gedacht, dass er regelmäßig die Kirchen in der näheren Umgebung, zum Beispiel St. Saviours in der Warwick Avenue oder St. Mary’s in Paddington Green, besuchte.

Eines Sonntagmorgens begegneten sie sich auf der Straße. »Bin unterwegs zur Morgenmesse«, sagte Dermot.

»Wirklich?«

»Ich gehe jeden Sonntag hin«, erwiderte Dermot und fügte hinzu: »Je besser der Tag, umso besser die Tat.«

Carl war mit seiner guten Freundin Stacey Warren zum Kaffeetrinken verabredet. Die beiden hatten sich in der Schule kennengelernt und sich danach an derselben Universität eingeschrieben, wo Carl Philosophie und Stacey Schauspiel studiert hatte. Noch während ihres Studiums waren Staceys Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Stacey hatte eine beträchtliche Summe Geld geerbt, genug, um sich eine Wohnung in Primrose Hill zu kaufen. Sie wollte Schauspielerin werden und hatte dank ihrer schlanken Figur und ihres schönen Gesichts eine Rolle in einer Fernseh-Sitcom mit dem Titel Station Road ergattert. Ihr Gesicht war dem Publikum über Nacht ein Begriff geworden, während es mit der schlanken Figur schon nach wenigen Monaten vorbei gewesen war.

»Ich habe über sechs Kilo zugenommen«, sagte sie über den Tisch ihres Stammlokals Café Rouge hinweg zu Carl. »Was soll ich nur machen?« Die anderen Gäste warfen ihr nicht sehr diskrete Blicke zu. »Die wissen alle, wer ich bin. Sie glauben, ich werde fett. Was soll nur aus mir werden?«

Carl, der sehr dünn war, hatte keine Ahnung, wie viel er wog, und es war ihm auch egal. »Wahrscheinlich wäre eine Diät angebracht.«

»David und ich haben uns getrennt. Es fällt mir sehr schwer, das zu verkraften. Soll ich mich jetzt auch noch zu Tode hungern?«

»Ich kenne mich mit Diäten überhaupt nicht aus, Stacey. Man muss sich doch nicht gleich tothungern, oder?«

»Ich würde lieber eine dieser Wunderdiätpillen nehmen, für die sie im Internet Werbung machen. Kennst du dich damit aus?«

»Warum sollte ich?«, erwiderte Carl. »Ist nicht so mein Ding.«

Die Kellnerin brachte das Stück Karottenkuchen und die beiden Schokoladenplätzchen, die Stacey bestellt hatte. Carl schwieg.

»Ich habe nicht gefrühstückt«, sagte sie.

Carl nickte nur.

Auf dem Nachhauseweg dachte er noch immer über Stacey und ihr Problem nach. Er kam an der Buchhandlung vorbei, die seinem Freund Will Finsford gehörte. Es war die einzige inhabergeführte Buchhandlung im Umkreis von vielen Kilometern, und Will hatte ihm gebeichtet, er läge vor Sorge, dass er werde zumachen müssen, nachts wach. Vor allem, seit der Bioladen am Ende der Straße nicht nur Konkurs angemeldet, sondern sogar Besuch vom Gerichtsvollzieher erhalten habe.

Carl sah, dass er die Auslage von Bestsellern im Schaufenster umsortierte, und trat ein.

»Hast du irgendwelche Bücher zum Thema Abnehmen da, Will?«

Will musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Du siehst doch jetzt schon aus, als hättest du die Schwindsucht.«

»Nicht für mich. Für eine Bekannte von mir.«

»Hoffentlich nicht für die wunderschöne Nicola«, erwiderte Will.

»Nein, für jemand anderen. Für eine Freundin, die fett geworden ist. Dieses Wort darf man eigentlich nicht mehr benutzen, oder?«

»Bei mir ist dein Geheimnis sicher. Schau mal die Regale in der Gesundheitsabteilung durch.«

Carl konnte nichts entdecken, was er für brauchbar hielt. »Komm doch mal abends vorbei«, schlug er vor. »Bring Corinne mit. Die wunderschöne Nicola würde euch so gern wieder mal sehen. Wir rufen euch an.«

Will sagte zu und beschäftigte sich wieder mit seiner Schaufensterdekoration.

Als Carl weiterging, wurde ihm klar, dass er eigentlich gar kein Buch wollte. Stacey hatte von Pillen gesprochen. Er fragte sich, ob sich in der Tabletten- und Tinkturensammlung seines Vaters, wie er sie inzwischen nannte, womöglich Schlankheitsmittel befanden. Da Wilfred Martin immer schlank gewesen war, hatte er so etwas sicherlich nicht selbst eingenommen. Doch einige Medikamente hatten ja angeblich eine zusätzliche Wirkung. Reinere Haut zum Beispiel oder eine bessere Verdauung.

Carl hatte seinen Vater als ziemlich wortkarg und verschroben wahrgenommen. Obwohl er seinen Tod bedauerte, hatten sie nie viel gemeinsam gehabt. Er fand es schade, dass sein Vater das Erscheinen von Auf der Schwelle des Todes nicht mehr erlebt hatte. Allerdings hatte er Carl das Haus und das damit zu erzielende Einkommen hinterlassen. War das sein Weg gewesen, der Berufswahl seines Sohnes seinen Segen zu geben? Carl hoffte das sehr.

Als er nach Hause kam, war alles still, doch das war immer so, ganz gleich, ob sich Dermot zu Hause aufhielt oder nicht. Er war ein pflegeleichter Mieter. Carl ging nach oben und bemerkte, dass die Badezimmertür offen stand. Dermot hatte in seiner Wohnung in der obersten Etage ein eigenes Bad, also keinen Grund, dieses hier zu benutzen. Wahrscheinlich hatte er selbst vergessen, die Tür zuzumachen, dachte Carl, als er ins Bad trat und die Tür hinter sich schloss.

Wilfreds Pillen und Tinkturen befanden sich in einem in fünf Fächer unterteilten Schränkchen links vom Waschbecken. Carl benutzte nur das oberste; er brauchte nicht viel Platz, da seine Zahnbürste, die Zahnpasta und der Deoroller auf dem Regal über dem Waschbecken lagen. Er musterte die Sammlung von Fläschchen, Röhrchen, Döschen, Päckchen, Tuben, Behältern und Blisterfolien und fragte sich, warum er den ganzen Kram bloß behalten hatte. Sicher nicht aus sentimentalen Gründen. Er hatte seinen Vater zwar geliebt, aber nie auf solche Weise für ihn empfunden. Ganz im Gegenteil, er betrachtete die Pillen und Tinkturen zum Großteil als Quacksalberei und überflüssigen Quatsch. Als er willkürlich ein paar Döschen herausholte, stellte er fest, dass die Tabletten angeblich Herzprobleme heilten und Herzversagen vorbeugten. Und dennoch hatte sein Vater zwei Herzinfarkte erlitten und war nach dem zweiten gestorben.

Nein, hier war nichts, was eine Gewichtsabnahme förderte, sagte sich Carl. Am besten warf er alles weg und machte reinen Tisch. Aber was mochte in dem großen wiederverschließbaren Plastikbeutel im zweiten Fach von oben sein? Gelbe Kapseln, von denen viele mit DNP beschriftet waren. Die narrensichere Methode, eine Gewichtszunahme zu verhindern, versprach das Etikett. Hinter dem Beutel mit den Kapseln befand sich ein Karton voller Tütchen, die ebenfalls DNP enthielten, allerdings in wasserlöslicher Pulverform.

Als er nach dem Plastikbeutel griff, bemerkte er, dass das Etikett zu einer vorsichtigen Anwendung riet und davor warnte, die empfohlene Dosis zu überschreiten. Das übliche Kleingedruckte also, das sogar auf Paracetamolpackungen stand. Er ließ den Beutel an seinem Platz und begab sich nach unten, um DNP online zu recherchieren. Doch noch ehe er den Computer erreichte, läutete es an der Tür, und ihm fiel ein, dass Nicola – die wunderschöne, kluge, reizende Nicola – heute den Tag und die Nacht mit ihm verbringen wollte. Während er aufmachen ging, nahm er sich vor, ihr einen Schlüssel zu geben. Er wollte, dass sie eine dauerhaftere Rolle in seinem Leben spielte. Dank Nicola, des neuen Romans und des zuverlässigen Mieters war das Leben schön.

Für den Moment waren die Schlankheitspillen vergessen.

2

Zunächst schien der Beruf eines Vermieters keine großen Anforderungen zu stellen. Dermot zahlte nahezu ohne Schwierigkeiten zum vereinbarten Termin seine Miete. Das hieß, er tat es die ersten beiden Monate lang. Der 31. März war ein Montag. Um halb neun saß Carl wie üblich beim Frühstück, als er Dermots Schritte auf der Treppe hörte. Normalerweise folgte darauf ein Klopfen an der Tür. Diesmal jedoch nicht. Die Haustür fiel ins Schloss, und Carl stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Er sah Dermot in Richtung Sutherland Avenue gehen. Vielleicht würde die Miete ja heute später kommen, dachte er.

Eigentlich las Carl nur selten Zeitung, mit Ausnahme einiger ausgewählter Artikel online. Doch am 1. April kaufte er einige Zeitungen, um festzustellen, ob er die Aprilscherze erkennen würde. Der beste, von dem er je gehört hatte – er war vor seiner Geburt erschienen –, lautete, die Arme der Venus von Milo seien an einem Mittelmeerstrand angespült worden. Auch die heutigen brachten ihn zum Lachen, und als er bei seiner Mutter eintraf, hatte er die fehlende Miete völlig vergessen. Heute war nicht nur der 1. April, sondern auch der Geburtstag seiner Mutter, und Carl war mit einer Cousine und zwei engen Freundinnen zur Feier des Tages zum Mittagessen eingeladen. Seine Mutter fragte ihn, ob sie seine Freundin auch hätte einladen sollen. Aber er erklärte ihr, Nicola sei an ihrem Arbeitsplatz in der Gesundheitsbehörde in Whitehall. Es war ein wunderschöner sonniger Tag, und er ging die Hälfte des Heimwegs zu Fuß, bevor er in den Bus Nummer 46 stieg.

Doch die Angelegenheit mit der fehlenden Miete war noch nicht geklärt, von Dermots Umschlag keine Spur. Als Carl am nächsten Morgen sehr früh aufwachte, machte er sich Sorgen. Ihm widerstrebte es, Dermot zur Rede zu stellen. Beim bloßen Gedanken daran brach ihm der Schweiß aus. Gerade trank er eine Tasse sehr starken Kaffee, als er Dermots Schritte hörte. Falls sich die Haustür öffnete, sagte er sich, würde er sich zwingen, hinauszugehen und das Geld einzufordern. Stattdessen klopfte Dermot an die Küchentür und überreichte ihm den Umschlag. Beim Lächeln zeigte er seine abstoßend gelblichen Zähne. »Dachten Sie, ich wollte Ihnen einen Aprilstreich spielen?«, fragte er.

»Was? Nein, nein, natürlich nicht.«

»Nur ein Irrtum«, erwiderte Dermot. »Irren ist menschlich. Bis später.«

Carl war unglaublich erleichtert. Dennoch zählte er das Geld, nur um auf Nummer sicher zu gehen. Alles war so, wie es sein sollte: zwölfhundert Pfund. Nicht annähernd genug, angesichts der heutigen Preise, hatte seine Mutter getadelt. Aber für Carl war es eine Menge Geld.

Er kippte Müsli in eine Schale, denn er hatte plötzlich Hunger bekommen. Doch die Milch war sauer geworden, weshalb er den Inhalt der Schale wegwerfen musste. Allerdings lief, abgesehen von der Milch, alles wunderbar. Ein guter Zeitpunkt also, um weiter an seinem neuen Roman zu arbeiten, einem ernsthafteren Werk als der erste. Carl betrachtete die Notizen, die er sich über den Friedhof von Highgate gemacht hatte, die Recherche für die ersten vier Kapitel. Vielleicht hätte er dem Friedhof gestern noch einen Besuch abstatten sollen. Doch er glaubte, dass er genug Material beisammenhatte, um das erste Kapitel zu schreiben. Die einzige Störung war ein Anruf von Stacey. Es wunderte ihn immer wieder, dass Freunde ihre (in seinen Augen belanglosen) Sorgen bei ihm abluden.

»Es tut mir so leid, Carl.« Offenbar glaubte sie, dass sie diese simple Entschuldigung zu einer langen Klagetirade über ihr Gewicht berechtigte.

»Ich arbeite, Stacey.«

»Ach, du schreibst?«

Er seufzte auf. Die Leute sprachen das stets so aus, als sei Schreiben eine schnelle und einfache Angelegenheit. Sollte er das DNP erwähnen? Nein, damit würde er sie nicht zum Schweigen bringen. Ganz im Gegenteil, sie würde sofort hierher eilen. Und so gern er sie auch hatte, er musste arbeiten. Stattdessen lauschte er, brummelte etwas Mitfühlendes und griff schließlich zu der Notlüge, um die Menschen, die zu Hause arbeiten, manchmal nicht herumkommen.

»Ich muss aufhören, Stacey. Da ist jemand an der Tür.«

Trotzdem konnte er nicht schreiben. Es war absurd und eigentlich ein wenig peinlich, sich plötzlich so glücklich und sorglos zu fühlen, weil er ein Kuvert mit zwölfhundert Pfund erhalten hatte. Geld, das rechtmäßig ihm gehörte und das man ihm geschuldet hatte. Wenn er es sich genauer überlegte, war die Miete sein einziges sicheres Einkommen. Mit einem Buchhonorar konnte er in nächster Zeit nicht rechnen. Die Miete brachte ihm Erleichterung und Glück.

Heute würde er ganz sicher nicht schreiben können. Die Sonne schien. Er würde hinaus und zu der großen Grünanlage namens Paddington Recreation Ground gehen, sich auf dem Rasen in die Sonne legen und durch die Äste der Bäume den blauen Himmel betrachten.

3

Es war nicht der 1. April oder gar der Tag der Arbeit, sondern der 2. Mai, als die nächste Miete eintraf.

Carl war nicht so nervös wie im Vormonat. Nicola hatte die Nacht bei ihm verbracht, doch er hatte ihr nichts von der verspäteten Mietzahlung im April erzählt. Schließlich hatte er das Geld erhalten, und alles hatte ein gutes Ende genommen. Am 2. Mai war sie zur Arbeit gegangen, bevor Dermot das Haus verließ. Also war sie nicht Zeugin geworden, wie Carl auf die Schritte seines Mieters horchte, und hatte sein Erstaunen nicht gesehen, als die Haustür zufiel, ohne dass Dermot an die Küchentür geklopft hatte. Vielleicht würde er ja später zahlen, und genau das geschah auch.

Sie begegneten sich in der Vorhalle. Carl wollte zum Einkaufen, und Dermot kam um halb sechs von der Tierklinik nach Hause.

»Ich habe etwas für Sie«, sagte Dermot und überreichte ihm einen Umschlag.

Carl fragte sich, ob Dermot allen Ernstes den ganzen Tag einen Umschlag mit zwölfhundert Pfund mit sich herumgetragen hatte. Aber eigentlich spielte es keine Rolle: Er hatte sein Geld. Er würde seine kläglichen und überdies dahinschmelzenden Ersparnisse nicht antasten müssen, um mit Nicola eine Woche Urlaub zu machen. Obwohl sie nur nach Cornwall und nicht ins Ausland fuhren, freute er sich schon auf den Aufenthalt in Fowey.

Vor ihrer Abreise hatte Stacey noch einmal ziemlich verzweifelt angerufen, diesmal sogar auf dem Mobiltelefon. Er hatte ihr gesagt, er werde wegfahren, doch sie müsse vorbeikommen, wenn er zurück sei. Sie könnten essen gehen, und er werde sich etwas zu ihrem Gewichtsproblem überlegen. Warum hatte er ihr das versprochen? Wahrscheinlich, weil ihm das DNP eingefallen war. Er schob den Gedanken beiseite. Er konnte niemandem beim Abnehmen helfen.

Er und Nicola fuhren mit dem Paar nach Fowey, das sie einander vorgestellt hatte und mit dem sie, zum Teil aus diesem Grund, noch eng befreundet waren. Sie hatten sich prima amüsiert, und als sie Paddington Station erreichten, bat Carl Nicola, mit ihm nach Falcon Mews zu kommen. »Ich meine, um mit mir zusammenzuleben«, sagte er. »Für immer.« Er fühlte sich wohl mit Nicola. Sie hatten dieselben Interessen – Bücher, Musik, die Natur. Es gefiel ihr, dass er Schriftsteller war. Er liebte sie.

»Ich muss zurück in meine Wohnung, um es meinen Mitbewohnerinnen zu erzählen. Aber dann mache ich es. Ich will es. Eigentlich wollte ich dich auch schon fragen, aber … tja, wahrscheinlich bin ich ein bisschen altmodisch. Ich dachte, es wäre nicht richtig, wenn ich es anspreche und nicht du. Weil ich eine Frau bin und so.«

Drei Tage später zog sie ein.

Am Tag vor Nicolas Umzug kam Stacey vorbei. Sie und Carl hatten sich in einem Restaurant um die Ecke zum Essen verabredet. Davor wollte Stacey ins Bad, um ihr Make-up aufzufrischen. Es mochte an ihrer Karriere als Schauspielerin und Model liegen, dass sie sich, besonders um die Augen herum, stark schminkte.

Ein paar Minuten später ging Carl nach oben, um sich eine Antihistamintablette gegen seinen Heuschnupfen zu holen. Er ließ die Badezimmertür einen Spalt weit offen. Stacey folgte ihm hinein. Sie gehörte zu den Menschen, die stets behaupteten, an derselben Krankheit zu leiden, wenn ihnen jemand von einem Zipperlein erzählte. »Komisch, dass du das sagst. Ich habe nämlich auch Heuschnupfen.« Er öffnete das Schränkchen und entdeckte die Antihistamine im obersten Fach. Stacey stand hinter ihm, schilderte ihre Symptome und spähte ihm über die Schulter.

»Wo hast du dieses Zeug her?«, fragte sie. »Nimmst du das alles?«

»Das ist von meinem Dad. Ich habe es geerbt. Du weißt schon, als ich das Haus, die Möbel und alles andere bekommen habe.«

Er fasste ins Regal und holte den Beutel mit den gelben Kapseln heraus. »Angeblich wird man davon schlank. Wahrscheinlich hat er es im Internet bestellt.«

»Hat dein Dad das geschluckt?«

»Unmöglich. Er war so mager wie ein Skelett.«

Sie nahm ihm den Beutel aus der Hand und musterte ihn. »DNP«, sagte sie. »Dinitrophenol. Einhundert Kapseln.« Dann studierte sie die Anleitung und entdeckte den Preis, der auf der Packung stand. Einhundert Pfund.

Carl griff nach dem Beutel und stellte ihn zurück ins Fach, allerdings nicht nach hinten.

»Ich könnte sie online ordern«, meinte sie. »Aber wenn du sie schon einmal hast … Würdest du mir fünfzig Stück verkaufen?«

Verkaufen? Er wusste, dass er sie ihr eigentlich hätte schenken sollen. Doch das Hotel in Fowey, in dem er mit Nicola gewohnt hatte, war nicht gerade eines der preiswerten Sorte gewesen. Außerdem waren die Restaurants, die sie in verschiedenen Ferienorten in Cornwall besucht hatten, genauso teuer gewesen wie in London – eher so wie die, um die sie in London einen Bogen machten. Deshalb hatte der Urlaub, obwohl er sich die Kosten mit Nicola geteilt hatte, ein größeres Loch in seinen Geldbeutel gerissen als erwartet. Fünfzig Pfund für diese Tabletten waren zwar nicht viel, allerdings eine Finanzspritze. Hinzu kam, dass Stacey es sich leisten konnte. Ganz sicher, wenn sie abnahm und ihre Rolle in der Sitcom behielt.

»Okay«, erwiderte er, zählte fünfzig Tabletten in einen Zahnbecher ab und gab ihr den Beutel mit den restlichen fünfzig.

Als er ins Erdgeschoss ging, hörte er, dass Dermot die Eingangstür schloss und das Haus verließ. Hatte er womöglich auf dem Weg nach unten sein Gespräch mit Stacey belauscht? Vielleicht. Aber was spielte das schon für eine Rolle?

Inzwischen hatte Stacey sich fertig geschminkt und kam zu ihm hinunter. Sie schlenderten die Straße hinauf zu Raoul’s in der Clifton Road. Draußen auf dem Gehweg überreichte sie ihm die fünfzig Pfund.

Er vergaß die Transaktion, nicht zuletzt deshalb, weil Nicola eingezogen war und er sich fragte, warum sie so lange damit gewartet hatten – vor zwei Jahren hatte Jonathan sie einander vorgestellt. Allerdings kam Carl mit seinem Roman nicht voran, und er hatte ein Stadium erreicht, in dem er mit zwei oder drei Absätzen am Tag kämpfte. Wenn Nicola sich danach erkundigte, antwortete er stets, alles sei in bester Ordnung. Er hatte keine Ahnung, woher diese Schreibblockade rührte.

Der Mai in London war ein angenehm warmer Monat. Da es sich als sinnlos und unproduktiv erwiesen hatte, auf seinen Computerbildschirm zu starren, hatte Carl sich angewöhnt, am späten Vormittag, wenn Nicola in der Arbeit war, loszugehen und sich eine Ausgabe des Evening Standard zu besorgen. Er zog den Evening Standard allen anderen Tageszeitungen vor, weil er kostenlos war.

Er starrte auf die Titelseite des heutigen Tages, wo ein Farbfoto von Stacey drei Spalten füllte. Sie war wunderschön, lächelte jedoch nicht, sondern hatte eine grüblerische Pose eingenommen. Auf der theatralischen Porträtaufnahme war ihr dichtes blondes Haar über die Schultern drapiert. Sie wurde als wegen ihrer Hauptrolle in Station Road bekannte Vierundzwanzigjährige beschrieben, die von einer Freundin, welche einen Schlüssel besaß, tot in ihrer Wohnung in Primrose Hill aufgefunden worden war. Laut Polizei ging man nicht von einer Straftat aus.

Das konnte doch nicht wahr sein – war allerdings nicht abzustreiten. Carl brach der Schweiß aus. Als er die Haustür aufschloss, läutete das Telefon. Es war seine Mutter Una.

»Ach, Schatz, hast du gehört, was der armen Stacey zugestoßen ist?«

»Es steht im Standard.«

»Sie war ja eine Schönheit, bevor sie so viel zugenommen hat. Früher habe ich einmal gedacht, dass du sie vielleicht heiratest.«

Seine Mutter gehörte einer Generation an, in der die Ehe für Frauen den höchsten Stellenwert einnahm. So oft hatte er ihr vergeblich zu erklären versucht, dass Mädchen heutzutage nur noch selten Lust hatten zu heiraten. Das Thema kam nur aufs Tapet, wenn sie schwanger wurden, und häufig nicht einmal dann.

»Tja, jetzt kann ich sie nicht mehr heiraten, oder? Sie ist tot.«

»Oh, Schatz.«

»Wir waren befreundet«, erwiderte er. »Mehr nicht.«

Die Antwort seiner Mutter drang kaum zu ihm durch, als er über Stacey nachdachte. Er konnte nicht fassen, dass sie tot war. Wahrscheinlich hatte sie gegessen, um sich zu trösten. Ihre Esssucht war das Gegenteil von Anorexie gewesen. Wenn es Essen gab, insbesondere Butter, Käse, Schinken, Obstkuchen oder irgendetwas mit fetter Sauce, hatte sie verkündet, dass sie so etwas nicht anrühren dürfe, sie dürfe nicht einmal davon träumen. Doch sie konnte nicht widerstehen. Und als er beobachtet hatte, wie sie in die Breite ging – deutlich sichtbar, ihr Leibesumfang hatte sich scheinbar bei jedem ihrer Treffen vergrößert –, hatte er aufgehört, sich mit ihr zu verabreden. Er hatte sie nur noch in ihrer Wohnung in Pinetree Court, Primrose Hill, besucht, wenn sie ihn anflehte, sie nicht zu verlassen. Bitte, bitte, komm. Bei diesen Gelegenheiten hatte er den Eindruck gehabt, dass sie sich nur in seiner Gegenwart vollstopfte, um ihn zu ärgern. Natürlich konnte das nicht ihr Motiv gewesen sein, obwohl es so gewirkt hatte, insbesondere, wenn ihr die Mayonnaise vom Kinn tropfte und Krümel von Karottenkuchen oder Makronen überall an ihrem eng anliegenden Angorapulli hingen. Ihre früher so schönen Brüste hatten sich in gewaltige Berge aus klebrigen Kuchenbröseln verwandelt.

Sie waren nie ein Paar, sondern immer nur beste Freunde gewesen. Und jetzt war sie tot.

»Ein Mann und eine Frau können nicht befreundet sein«, lauteten die Worte seiner Mutter. »Ich frage mich, ob das das Problem war, dessentwegen sie sich mit Essen getröstet hat.«

»Du meinst, sie hätte aufgehört zu essen, wenn ich sie geheiratet hätte?«

»Sei nicht albern, Carl.«

Er malte sich aus, er sei mit Stacey verheiratet gewesen und neben ihr die Sutherland Avenue entlanggeschlendert. Ein zunehmend lächerlicher Anblick. Er war sehr schlank, was nichts damit zu tun hatte, was er aß oder nicht aß. Der Grund waren einzig und allein seine dünne Mutter und sein dünner Vater.

Er setzte sich an den Computer und berührte den winzigen, blau leuchtenden Schalter. Der Monitor zeigte das übliche Bild: ein grüner Hügel und dahinter ein violetter Berg. Einmal war Dermot hereingekommen, als er den Computer gerade eingeschaltet hatte, und hatte ein Kirchenlied angestimmt, das von einem weit entfernten grünen Hügel und einer nicht vorhandenen Stadtmauer handelte. Nun fiel Carl jedes Mal dieses dämliche Kirchenlied ein, wenn er den Computer anwarf, und manchmal summte er es sogar vor sich hin. Eigentlich hatte er mit der Maus die Datei Heilige Geister. doc anklicken und sich wieder seinem Roman widmen wollen. Doch stattdessen ging er ins Internet und sagte sich, dass er Einzelheiten über die gelben Kapseln recherchieren musste, die er Stacey verkauft hatte. Der kleine Pfeil schwebte über Google. Er tippte die Buchstaben DNP ein, hielt aber inne. Er hatte Angst.

Er schloss die Augen, denn er wollte es nicht wissen, noch nicht, vielleicht nie, und klickte auf »Programm beenden«.

4

Vier Tage bevor Carl den Artikel über Staceys Tod las, betrat Lizzie Milsom deren Wohnung. Es war ziemlich unvorsichtig, die Schlüssel zu seinem Zuhause draußen zu deponieren, und außerdem recht schwierig, wenn es sich bei diesem Zuhause um eine Wohnung handelte. Aber Stacey Warren tat es trotzdem, und viele ihrer Freunde wussten Bescheid.

Pinetree Court bestand aus vier Wohnungen, alle mit verschiedenfarbigen Türen. Die Tür im Erdgeschoss war blau, die im ersten und zweiten Stock gelb beziehungsweise grün. Eine Treppe führte hinunter zur Souterrainwohnung, deren Tür, wie Stacey Lizzie erzählt hatte, rot war. Stacey wohnte im ersten Stock. Sie verstecke ihre beiden Schlüssel an einem einzigen Schlüsselring im Schrank unter der Treppe, die an der Haustür endete. Der Schrank, der nicht über ein Schloss verfügte, enthielt die Mülltonnen der vier Bewohner. Am Boden gab es einen lockeren Backstein. Und in dem Loch darunter befanden sich Staceys Ersatzschlüssel.

Da Stacey ihr erzählt hatte, sie werde an diesem Vormittag unterwegs sein, hob Lizzie Milsom den lockeren Backstein an und nahm sich den Schlüssel. Dann ging sie in die Vorhalle und die Stufen in den ersten Stock hinauf. Vor Staceys Tür blieb sie stehen und lauschte. Stille. Offenbar waren alle Bewohner in der Arbeit. Lizzies Absicht war, sich ein kleines wertloses Objekt wie eine Keramik, einen Briefbeschwerer oder einen Kugelschreiber zu suchen – etwas, das man vielleicht zu Weihnachten geschenkt bekam – und ihn mitzunehmen, nachdem sie ihn durch einen anderen wertlosen Gegenstand ersetzt hatte. Dazu hatte sie auch einen mitgebracht: einen schwarz-weißen Serviettenring aus Plastik. So etwas zu tun – und sie tat es oft –, vermittelte ihr ein Gefühl der Macht. Die Menschen hielten ihre Privatsphäre für geschützt – war sie aber nicht.

Sie steckte den Schlüssel in Staceys gelbe Wohnungstür und schloss auf.

Lizzie war keine Schönheit, allerdings eines der Mädchen, die als anziehend galten, ohne dass jemand hätte sagen können, woran das gelegen haben sollte. Sie hatte hübsches, langes, dichtes blondes Haar, große, unschuldig dreinblickende braune Augen und schlanke Hände mit Fingernägeln, die sie mit verschiedenfarbigem Lack verzierte, der niemals abblättern durfte. Außerdem hatte sie eine gute Figur. Sie hätte sich gern elegant gekleidet, konnte es sich jedoch nicht leisten.

Sie und Stacey kannten einander schon seit Jahren. Ihre Elternhäuser hatten so dicht beieinandergestanden, dass sie zusammen in die Schule in Brondesbury gleich am Ende der Straße gegangen waren. Lizzie war nicht zum ersten Mal in Staceys Wohnung, aber es war ihr erster heimlicher Besuch.

Auf der Suche nach einem Deko-Objekt oder einem anderen überflüssigen Gegenstand durchkämmte sie den Wohnbereich. Nach einer Weile entschied sie sich für einen kleinen Terminkalender, unbenutzt und drei Jahre alt, allerdings mit Staceys eingeprägtem Namen innen auf dem Einband. Der Serviettenring wurde an die entsprechende Stelle gelegt, und der Terminkalender verschwand in Lizzies Handtasche.

Die Zimmer in Staceys Wohnung waren groß. Das heißt, das Wohnzimmer war groß, weshalb Lizzie annahm, dass es sich mit dem Schlafzimmer genauso verhalten musste. Sie beschäftigte sich etwa eine halbe Stunde damit, alles zu erkunden und in Schränken und Schubladen zu kramen. Sie hatte nicht die Absicht, noch etwas mitzunehmen. Und das, was sie mitgenommen hatte, würde sie wieder zurückbringen. Allerdings war sie neugieriger als die meisten Menschen, und wenn sie sich in einer fremden Wohnung befand, kannte ihre Wissbegier keine Grenzen mehr. Außerdem war sie eine geschickte Lügnerin. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass jemand die Wohnung betreten sollte, die sie gerade durchforstete, hatte sie immer eine Ausflucht – sie nannte das Begründung – parat. Der Wohnungsinhaber habe sie gebeten nachzuschauen, ob er das Gas abgeschaltet oder nicht etwa das Bügeleisen angelassen habe.

Zwanzig spannende Minuten verbrachte sie damit, Staceys Schreibtischschubladen zu kontrollieren, wo sie ein Bündel Zwanzigpfundscheine, einige Werbebroschüren zum Thema Gewichtsabnahme, eine unbezahlte Stromrechnung und einen Umschlag entdeckte, der Fotos von einer nackten Stacey aus den Tagen enthielt, bevor sie in die Breite gegangen war. Lizzie sagte sich, dass sie ja keine Diebin sei, und nahm sich nur zwei Zwanzigpfundscheine, während ein prinzipienloser Mensch alles eingesteckt hätte. Danach ging sie in die Küche, wo sie im Kühlschrank, in dem ansonsten Lebensmittel und Getränke fehlten, eine halb volle Flasche Campari entdeckte. Sie genehmigte sich einen Schluck, musste husten und fragte sich, womit er wohl verdünnt werden sollte. Stacey hatte ein traumhaft großes Bad, in dem sogar ein Ellipsentrainer und eine Rudermaschine Platz gefunden hatten. »Oft benutzt sie die bestimmt nicht«, sagte Lizzie laut.

Beinahe hätte sie das Schlafzimmer ausgelassen. Sie hatte keine Interesse daran, Staceys Unterwäsche zu durchwühlen oder ihre Feuchtigkeitscreme auszuprobieren. Allerdings war ihr der Campari zu Kopf gestiegen, weshalb sie es für ratsam hielt, sich ein Weilchen hinzulegen. Sie öffnete die Tür und erstarrte. Stacey, bekleidet mit einem Spitzennachthemd und einem Morgenmantel aus Samt, lag neben ihrem gewaltigen Doppelbett rücklings auf dem Boden. Neben ihr befanden sich ein seines Inhalts entleertes Plastikpäckchen und ein Glas, in dem offenbar Wasser war. Auf dem hellgelben Teppich waren hellgelbe Kapseln verstreut.

Lizzie wusste, dass Stacey tot war, obwohl sie nicht hätte sagen können, wie sie das festgestellt hatte. Sie schrie nicht. Insgeheim vertrat sie die Ansicht, dass sich Frauen, die beim Anblick oder Auffinden einer Leiche schrien, nur wichtig machen wollten. Sie hätten sich doch auch einfach zusammenreißen können. Also gab sie kein Geräusch von sich.

Sie kniete sich auf den Boden und fühlte Stacey den Puls. Allerdings war das eigentlich überflüssig. Die kalte Gesichtshaut und die eisigen, feuchten Hände genügten ihr, um zu schlussfolgern, dass Stacey schon seit einer ganzen Weile dort lag. Vermutlich seit dem letzten Abend. Außerdem war ihr klar, dass sie die Polizei und vielleicht einen Krankenwagen rufen musste. Hinzu kam, dass sie nun, da Stacey tot war, keine Begründung für ihre Anwesenheit in der Wohnung mehr brauchte. Es würde nur ein klein wenig peinlich werden. Als sie auf ihrem Mobiltelefon die Notrufnummer wählte, wunderte sie sich, wie schnell jemand an den Apparat ging.

»Polizei«, erwiderte sie, als man ihr verschiedene Optionen anbot. »Ich habe gerade meine beste Freundin tot aufgefunden.«

Stacey war zwar nicht ihre beste Freundin, doch die kleine Notlüge war unumgänglich. Sie hätte sich betrogen gefühlt, wenn sie einmal auch nur annähernd die Wahrheit gesagt hätte. Die Erklärung, sie habe die Wohnung mit ihrem eigenen Schlüssel betreten, einem Schlüssel, den Stacey ihr gegeben hatte, war die einzige Methode, die Sache mit der besten Freundin zu untermauern. Sie durfte es nicht übertreiben.

Die Telefonistin bat sie, bis zum Eintreffen der Polizei in der Wohnung zu bleiben, und natürlich stimmte sie zu. Sie setzte sich, denn trotz ihrer vorgeblichen Abgebrühtheit stand sie ziemlich unter Schock und befürchtete, anderenfalls zu stürzen. Während sie auf den Polizisten und mögliche Begleiter wartete, legte sie den Terminkalender zurück ins Wohnzimmer und steckte ihren Serviettenring wieder ein. Das war das Beste so. Was, wenn sie ihre DNA-Spuren daran fanden?

Allein mit ihren Gedanken und wieder gestärkt, ließ Lizzie sich in einem Lehnsessel im Wohnzimmer nieder und fragte sich, was wohl aus der Wohnung werden würde. Sie hatte Stacey gehört, schuldenfrei und gekauft vom Erbe ihrer Eltern. Stacey war stolz auf ihre finanzielle Unabhängigkeit gewesen. Zudem sicher, dass sie weiter schauspielern und große Rollen in Fernsehserien ergattern würde, wenn sie erst einmal wieder abgenommen hatte. Ihre Eltern waren bei einem Autounfall auf der M25 ums Leben gekommen, als Stacey noch die Universität besucht hatte. Als der Unfall geschah, hatte Stacey bei ihrer Tante Yvonne Weatherspoon und deren Kindern gewohnt und war auch während ihrer Studienzeit dort geblieben. Lizzie fragte sich, ob sie Yvonne anrufen und ihr von Staceys Tod erzählen sollte, überlegte es sich aber anders (was vielleicht ein Fehler war). Sollte die Polizei das doch übernehmen. Sie hatte ihre Nummer nicht, und auch wenn sie Staceys Tante flüchtig kannte, hatte sie sich nie mit ihr vertragen.

Im Gegensatz zu Stacey wohnte Lizzie in einem gemieteten Einzimmerapartment in der Iverson Road in Kilburn. Die Miete war angesichts des Standards gesalzen, denn die Wohnung war klein, feucht und dringend renovierungsbedürftig. Während Lizzie in Staceys Wohnung saß, dachte sie an das Apartment und auch daran, wie ungern sie dorthin zurückkehren wollte. Ihre Stelle als Hilfslehrerin in einer Privatschule war ziemlich schlecht bezahlt, hatte allerdings ihre Vorteile. Zu Fuß zur Arbeit gehen zu können war einer davon. Ein kostenloses Mittagessen ein anderer. Eigentlich hatte sie in der Schule kein Anrecht auf ein kostenloses oder überhaupt ein Mittagessen. Aber niemand bemerkte es, wenn sie von einem oder mehreren der unberührten Teller aß, die sie aus der Schulmensa mitgehen ließ. Einmal in der Woche aß sie bei ihren Eltern zu Abend. Nicht weil sie Lust dazu hatte, sondern weil sie wusste – und es keinen Moment lang vergaß –, dass ihr Vater die Hälfte ihrer Miete bezahlte. Nun, ihr Vater und ihre Mutter, wie sie es laut ihrer Mutter ausdrücken sollte. Auch wenn Lizzie den Grund nicht einsah, denn ihre Mutter arbeitete nicht oder war, wie sie es lieber formulierte, nicht berufstätig. Keine Brötchenverdienerin, wie ihr Vater meinte, der bis zu seiner Verrentung recht wohlhabend gewesen war.

Ziemlich wehmütig dachte Lizzie an die Kartoffelpastete und den leckeren Nachtisch, die ihre Mutter am heutigen Abend auftischen würde, als es an der Tür klingelte.

Die Polizei war eingetroffen.

5

Carl war noch nie bei einer Leichenschau gewesen und hatte auch nicht die Absicht, dieser hier beizuwohnen. Dass sie stattfinden würde, und zwar sehr bald, lauerte dräuend in seinen Gedanken. Die ganze Zeit grübelte er darüber, wenn auch unfreiwillig, weil er sie am liebsten vergessen und die ganze Sache mit Stacey aus seinem Gedächtnis verbannt hätte. Wenn ihm doch nur der Termin bekannt gewesen wäre, hätte er wegfahren können, vielleicht nach Brighton oder nach Broadstairs, wo er einmal mit einer Freundin ein Wochenende verbracht hatte. Doch auch wenn er die Stadt verließ, würde das nicht verhindern, dass er eine Zeitung oder die Fernsehnachrichten zu Gesicht bekam. Außerdem konnte er sich – so wie alles andere in seinem Leben – keine weitere Reise leisten.

Dermot löste das Problem für ihn. Am 1. Juni, einen Tag nachdem die Miete fällig gewesen wäre, klopfte er an die Wohnzimmertür und überreichte ihm das Geld (diesmal einen Scheck). Er sagte, er sei auf dem Weg zu Stacey Warrens Leichenschau und fügte hinzu, er erwarte, Carl dort zu sehen.