Der Tote am Flussufer - Ruth Rendell - E-Book

Der Tote am Flussufer E-Book

Ruth Rendell

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Beschreibung

Nichts ist je so, wie es scheint … Während eines morgendlichen Spaziergangs entdeckt Inspector Wexford in einem Fluss die blutüberströmte Leiche eines Truckers. Auch wenn die Fälle offensichtlich in keinem Zusammenhang stehen, sagt ihm sein Spürsinn, dass der Mord mit seinem letzten Fall zu tun hat: Ein Mann und seine Tochter waren unter mysteriösen Umständen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die einzige Zeugin: die überlebende Mutter, die seit dem Unfall im Koma liegt. Gerade als die Spur zu erkalten droht, geschieht das Unerwartete: Die Tochter der Familie taucht am Bett ihrer Mutter auf – quicklebendig … »Ruth Rendell gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten Romanautoren englischer Sprache. Ihre Bücher sollte jeder lesen, der exzellente Krimis oder hervorragende Literatur schätzt.« Bestsellerautor Scott Turow Preisgekrönte und feingezeichnete psychologische Spannung für die Leserinnen und Leser von Elly Griffiths und Martha Grimes – alle Bände der »Inspector Wexford«-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden. In Band 5 muss Inspector Wexford auf dem altehrwürdigen Myfleet Manor Lüge von Wahrheit unterscheiden …

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Während eines morgendlichen Spaziergangs entdeckt Inspector Wexford in einem Fluss die blutüberströmte Leiche eines Truckers. Auch wenn die Fälle offensichtlich in keinem Zusammenhang stehen, sagt ihm sein Spürsinn, dass der Mord mit seinem letzten Fall zu tun hat: Ein Mann und seine Tochter waren unter mysteriösen Umständen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die einzige Zeugin: die überlebende Mutter, die seit dem Unfall im Koma liegt. Gerade als die Spur zu erkalten droht, geschieht das Unerwartete: Die Tochter der Familie taucht am Bett ihrer Mutter auf – quicklebendig …

eBook-Neuausgabe November 2025

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1969 unter dem Originaltitel »The Best Man to Die« bei Hutchinson Ltd., London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1995 unter dem Titel »Mord am Polterabend« im Goldmann Verlag.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1969 by Ruth Rendell

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1995 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/afrizal und shutterstock/Frank Wagner

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)

 

ISBN 978-3-69076-974-7

 

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

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Ruth Rendell

Der Tote am Flussufer

Kriminalroman: Inspector Wexford ermittelt 4

Aus dem Englischen von Ilse Bezzenberger

 

Die Hauptpersonen

 

Charlie Hatton

ist ein liebenswerter Ehemann, sagt

Lilian Hatton

und vergießt bittere Tränen, die auch

Jack Pertwee

in den Augen stehen, aber ein Mann weint nicht, er handelt. Seine Frau

Marilyn Thompson

muß ohne den Trauzeugen Char­lie auskommen, denn

Maurice Cullam

war zwar Mitglied im Darts-Club, aber kein enger Freund von Charlie. Deshalb knöpft sich ihn

Chief Inspecter Wexford

auch als erstes vor. Er und

Inspecter Burden

beschäftigen sich mit dem Fall, bei dem ein paar viel, etliche we­nig und manche gar nichts wis­sen. Auch

Dr. Crocker

kann nur Mutmaßungen anstel­len, während

Sergeant Camb

unfreiwillig der Sache einen neuen Dreh gibt, als bei ihm die angeblich tödlich verunglückte

Nora Fanshawe

Jerome Fanshawe

auftaucht und sagt, daß zwar ihr Vater

tot sei und ihre Mutter

Dorothy Fanshawe

das entsetzliche Unglück schwer­verletzt überlebt habe, aber eine

Bridget Cuiross

kenne sie nicht. So wird der Kreis der befragten Personen größer.

Klytämnestra

könnte sich aus allem heraushal­ten, doch sie kann das Schnüffeln nicht lassen

Kapitel 1

 

Morgen früh würde Jack Pertwee heiraten, und der Darts-Club von Kingsmarkham versammelte sich im Dragon, um ihm, wie George Carter es nannte, das »letzte Geleit« zu geben.

»Das hör ich nicht gern, George«, sagte Jack, »schließlich werde ich geehelicht, nicht beerdigt.«

»Das kommt aufs Gleiche heraus.«

»Besten Dank! Dafür spendier ich dir noch einen Drink.« Er wollte zum Tresen hinübergehen, aber der Vorsitzende des Darts-Clubs hielt ihn zurück.

»Das ist meine Runde, Jack. Kümmer dich doch nicht um George. Marilyn ist ein wundervolles Mädchen, und du bist ein glücklicher Mann. Ich weiß, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, daß es hier keinen einzigen gibt, der morgen nicht gern in deiner Haut steckte.«

»In seinem Pyjama wohl eher«, meinte George. »Und den solltet ihr mal sehen! Schwarzes Nylon, Karate-Kimono, oh, là, là!«

»Halt die Klappe, George!«

»Also, was darf’s denn sein, die Herren?« fragte der Barmann geduldig. »Das gleiche noch mal?«

»Das gleiche noch mal, Bill, und für dich selbst auch eins. Nein, Jack, der Mensch ist ein monogames Tier, und es gibt auf Erden keine Partnerschaft, die an eine glückliche Ehe heranreicht. Vor allem, wenn man zum richtigen Zeitpunkt startet, wie du und Marilyn. Bißchen Geld auf der Bank, hübsche kleine Wohnung und nichts, was ihr euch vorzuwerfen hättet.«

»Ach, meinst du?« Jack hatte es eilig, die Sache mit dem ›richtigen Zeitpunkt‹ und ›nichts vorzuwerfen‹ als komisch abzutun, denn die Predigt des Vorsitzenden erinnerte ihn an die kurze – und immer noch zu lange – Unterredung, die er und Marilyn vor zwei Tagen im Büro des Vikars hatten über sich ergehen lassen müssen. Er kippte sein Bier hinunter und blickte unbehaglich in die Runde.

»Die ersten zehn Jahre sind die schlimmsten«, hörte er jemanden sagen, und er fuhr, plötzlich gereizt, herum.

»Ach verdammt, ist ja gut«, sagte er. »Ihr seid mir vielleicht eine schadenfrohe Bande. Und wie ich sehe, sind es die Junggesellen, die kein gutes Wort fürs Heiraten übrighaben.«

»Das stimmt«, kam ihm der Vorsitzende zu Hilfe. »Ein Jammer, daß hier nicht ein paar Ehemänner mehr sind, um mir den Rücken zu stärken, was, Jack? Charlie Hatton zum Beispiel. Das ist hier ‘n richtiger ... äh – na, wie heißt doch das Wort, das ich suche?«

»Frag mich doch nicht. Und was, zum Teufel, soll das auch? Du immer mit deinen Worten. Dies hier soll doch ein Männerabend sein und keine Jahresvollversammlung. Was wir brauchen, ist jemand, der ein bißchen Schwung in die Bude reinbringt.«

»Einer wie Charlie zum Beispiel. Was meinst du, wo der steckt?«

»Er hat gesagt, er würde spät kommen. Er kommt mit dem Laster von Leeds herunter.«

»Vielleicht ist er zuerst nach Hause gefahren.«

»Das macht der bestimmt nicht. Das letzte, was er am Mittwoch zu mir gesagt hat, war: ›Jack‹, hat er gesagt, ›ich schaff das zu deiner Jubelfeier am Freitag, und wenn ich das Letzte aus der Karre rausholen muß. Hab Lilian schon gesagt, sie soll mich erwarten, wenn sie mich sieht.‹ Nein, der kommt als erstes gleich hierher.«

»Ich hoffe bloß, ihm ist nichts passiert, das ist alles.« »Und was?«

»Na, schließlich ist er mit seinem Laster ja schon zweimal überfallen worden, stimmt’s?«

»Bist ‘n altes Waschweib, George«, sagte Jack, aber auch ihm war mittlerweile ein bißchen mulmig. Es war halb zehn, bloß noch eine Stunde, bis der Dragon zumachte. Charlie sollte sein Trauzeuge sein. Eine wundervolle Hochzeit gäbe das, wenn man seinen Trauzeugen um Mitternacht irgendwo in den Midlands mit eingeschlagenem Schädel auffinden würde!

»Los, trinkt mal«, sagte der Club-Witzbold, »und ich erzähl euch das Ding von dem Mädchen, das den Matrosen heiratet.«

»Kenn ich schon«, meinte Jack verdrossen.

»Nein, diesen bestimmt nicht. Das gleiche noch mal, Bill. Also, da ist dieses Mädchen, wißt ihr, und am Abend, bevor sie heiratet, sagt ihre Mutter: ›Also, was du auch tust, laß ihn bloß nicht ...?‹

»Krieg dich ein, Kumpel. Hier kommt Charlie.«

 

Sie waren alle große Burschen, so um die einsneunzig, aber Charlie Hatton war ein kleiner Kerl mit einem braunen Gesicht und sehr scharfen, hellen Augen. Die blitzten schnell und abschätzend über die versammelte Gesellschaft hin, ehe Charlie lächelte. Er zeigte einen Satz perfekter weißer Zähne, von denen niemand hier außer Jack wußte, daß sie falsch waren. Charlie war empfindlich gegenüber der Tatsache, mit dreißig falsche Zähne zu haben – warum hatte ihn nicht all die Milch während der Kriegszeit und all der Orangensaft auf Lebenszeit ausgerüstet wie seine Altersgenossen? –, aber daß Jack es wußte, machte ihm nichts aus. Überhaupt machte es ihm nichts aus, was Jack über ihn wußte, in vernünftigen Grenzen wohlverstanden, obwohl er ihm nicht mehr so rückhaltlos alles anvertraute, wie er es während der Zeit getan hatte, als sie gemeinsam die Kingsmarkhamer Grundschule durchliefen. Sie waren echte Freunde. In einem anderen Zeitalter und in einer anderen Gesellschaft hätte man vielleicht gesagt, daß sie einander liebten. Sie waren wie David und Jonathan, aber wenn jemand etwas Derartiges auch nur angedeutet hätte, Jack hätte ihm die Nase eingeschlagen, und Charlie erst ... Die Zecher im Dragon waren alle insgeheim, und mit einigem Stolz, davon überzeugt, daß Charlie zu allem fähig war.

Marilyn Thompson war die beste Freundin von Charlies Frau, Charlie sollte Jacks Trauzeuge sein, und eines Tages hoffte er, Pate bei Jacks erstem Kind zu werden. Wie oft hatten sie so zusammen getrunken, als Jungen, als Halbwüchsige, als Männer, wie oft waren sie unter demselben Sternenhimmel nebeneinander die vertraute High Street entlanggeschlendert, wo jedes Haus eine Landmarke, jedes Gesicht Teil einer gemeinsamen Geschichte war. Auch heute Abend hätten ebensogut nur sie beide und sonst niemand in der Kneipe sein können, die anderen waren nichts als Hintergrund, als Zuhörerschaft. Heute Abend entschwand Jack durch eine Tür, betrat neues Land – und wie immer würde Charlie auch dorthin mitgehen.

Falls solche Gefühle unter Charlies struppiger, schütter werdender Schädeldecke rumorten, so zeigte er sie nicht. Mit breitem Grinsen schlug er Jack auf den Rücken und lugte zwölf Zentimeter aufwärts in das gerötete, hübsche Gesicht des Bräutigams.

»Ich hab’s geschafft, alter Junge!« – Mein Bruder Jonathan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt; deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe ist ...

»Das hab ich auch stark gehofft«, sagte Jack, und sein Herz schwoll vor Freude. »Ich hätte es dir verdammt übelgenommen, wenn du es nicht geschafft hättest. Was willst du trinken?«

»Jedenfalls nicht diese Mückenpisse, um es gleich zu sagen. Elf geschlagene Stunden bin ich heute gefahren. Bist ein elender Geizhals, wenn du dich nicht zu Scotch aufschwingen kannst, Jack.«

»Laß mich ... Ich ...«

»Steck das weg. Es ist mir ein Vergnügen, ihr kennt mich doch. Sieben Doppelte, Bill, und du brauchst gar nicht so zu gucken. Kein Wunder, daß man meint, das Bier hier ist am Wasser gebaut. Den Laster hab ich ins Depot gefahren, und ich geh zu Fuß nach Haus, wenn es das ist, was dir Sorgen macht. Viel Glück, Jack, und mögen alle deine Sorgen immer nur klein sein!«

Charlie hatte schwungvoll seine Brieftasche gezückt, darauf bedacht, daß ihr Inhalt für alle Gäste der Kneipe sichtbar war. Seine Lohntüte lag ungeöffnet darin, und er öffnete sie auch jetzt nicht, sondern bezahlte seine Lage aus einem Bündel Banknoten, das mit einem Gummiband zusammengehalten war. Es war ein dickes Bündel, und wenn auch die meisten der Scheine grün waren, einige waren auch blau.

»Wie die Reichen so leben«, meinte George Carter.

»Wärst wohl froh, wenn du ‘n Bruchteil davon machtest, was?«

»Kein Grund, gleich sauer auf mich zu sein, Kumpel. Ich muß doch ‘n Ding am Kopp haben, den ganzen Tag Briefe zu sortieren, wo ich auf ‘nem Laster das Zeug bündelweise kassieren könnte.«

»Du mußt es ja wissen. Ist ja dein dämlicher Kopp. Bring ihn doch mal zum Klapsdoktor, wenn er dich stört.«

»Hört mal zu«, unterbrach der Witzbold des Clubs, »ich hab gerade von diesem Mädchen erzählt und was ihre Mutter sagt am Abend, bevor sie den Matrosen heiratet.«

»Wer heiratet?« fragte Charlie. »Ihre Mutter? Bißchen spät dafür, was? Okay, Kumpel, ich mach ja nur Spaß, aber den Witz haben Jack und ich schon im letzten Schuljahr gehört. Und der Matrose sagt: ›Also mach’s auf deine Tour, aber auf die Art kriegen wir nie Kinder.‹ Stimmt’s? Das ist der Knalleffekt?«

»Vielen Dank. Und gute Nacht.«

»Sei doch nicht so«, sagte Jack. Charlie hatte aber auch den Bogen raus, die Leute gegen den Strich zu bürsten. Komisch, daß er nie sauer auf ihn war. »Das ist jetzt meine Lage.«

»Kommt nicht in Frage, Jack. Noch mal sieben Doppelte, Bill. Jack, ich hab gesagt, steck das weg! Ich kann’s mir leisten. Wo das herkommt, ist noch viel mehr. Ich bin schließlich spät gekommen, also hab ich Vorfahrt, um aufzuholen, klar?«

»Für mich keinen mehr«, sagte der Mann, dem Charlie den Witz verdorben hatte. Er klopfte Jack auf die Schulter und sagte gute Nacht, während die anderen in betretenem Schweigen ihren Whisky tranken.

»Letzte Bestellungen, Gentlemen«, sagte der Barmann.

George Carter langte mit der Hand in die Tasche und brachte ein bißchen Kleingeld zutage. »Noch einen für den Nachhauseweg, Jack?«

Charlie blickte auf die Münzen. »Was ‘n das? Das Haushaltsgeld von deiner Alten?«

George wurde rot. Er war nicht verheiratet. Charlie wußte, daß er nicht verheiratet war, er wußte darüber hinaus, daß ihn seine ständige Freundin vor zwei Wochen verlassen hatte. George hatte gerade die Anzahlung für ein Haus zusammengehabt und die erste Rate für eine Eßzimmergarnitur bezahlt. »Du Scheißkerl«, sagte er.

Charlie blitzte ihn an, ein kleiner Kampfhahn mit gesträubten Federn.

»Mich nennt niemand einen Scheißkerl!«

»Gentlemen, ich bitte Sie«, beschwichtigte der Barmann.

»Ja«, sagte der Vorsitzende, »jetzt ist Schluß, Charlie. Und wenn du dich aufregst, daß die Leute so empfindlich sind – kein Wunder, so wie du auf ihnen rumhackst.« Er lächelte wohlwollend und warf sich in Rednerpose. »Jetzt, da der Abend zur Neige geht, meine ich, sollten wir die Gelegenheit ergreifen, unserm Jack hier die herzlichsten Glückwünsche des Darts-Clubs von Kingsmarkham zu übermitteln. Ich meinerseits ...«

»Gut, betrachten wir das als erledigt, ja?« sagte Charlie. »Ein aufrichtiges Dankeschön für den Vorsitzenden.« Er legte einen weiteren Fünfer auf den Tresen. So rot George geworden war, der Vorsitzende zuckte nur die Achseln und bedachte Jack mit einem Kopfnicken, bedeutsam und mitleidig, aber Jack ignorierte es. Dann ging er und nahm einen weiteren Mann mit sich.

Der Barmann wischte schweigend den Tresen sauber. Charlie Hatton war schon immer aggressiv gewesen, aber in den letzten Wochen war er unerträglich geworden, und die meisten Treffen hatten geendet wie dieses.

Von der ganzen Männerrunde waren jetzt nur noch Jack, Charlie, George und noch ein anderer übrig. Der war Fernfahrer wie Charlie, sein Name war Maurice Cullam, und bis jetzt hatte er kaum den Mund aufgemacht, außer um Alkohol hineinzukippen. Jetzt, nachdem er Zeuge des Hickhacks und der Niedertracht seiner Freunde geworden war, nahm er seinen letzten Drink und meinte:

»Kürzlich wieder mal was von McCloy gesehen, Charlie?«

Charlie gab keine Antwort, und es war Jack, der sagte: »Wieso, du vielleicht?«

»Ich doch nicht, Jack. Ich mach mir die Hände nicht dreckig. Geld ist schließlich nicht alles. Ich möchte ruhig in meinem Bett schlafen können.«

Statt des erwarteten Ausbruchs sagte Charlie sanft: »Wird auch Zeit, daß du’s tust. Daß du zur Abwechslung mal schläfst.«

Maurice hatte fünf Kinder, innerhalb von sechs Jahren geboren. Charlies Gag konnte als Kompliment gelten, und zu Georges und Jacks Erleichterung faßte Maurice ihn auch so auf. Er lächelte dümmlich über diesen Tribut an seine Virilität. Angesichts der Tatsache, daß Maurices Frau eine außerordentlich nichtssagende Person war, hätte Charlie noch etliche Anzüglichkeiten auf Lager gehabt, solche, die unübersehbar beleidigend gewesen wären. Aber er beließ es bei der Schmeichelei.

»Es ist Zeit, Gentlemen«, sagte der Barmann. »Ich wünsche Ihnen alles, was Sie sich selbst wünschen, Mr. Pertwee.« Der Barmann nannte Jack gewöhnlich beim Vornamen, und Jack wußte, »Mr. Pertwee« war eine Ehrenbezeugung, die sich nie wiederholen würde, der Respekt vor einem Bräutigam.

»Danke vielmals«, sagte er, »für den großartigen Abend. Bis bald.«

»Komm, machen wir uns auf die Socken, Jack«, meinte Charlie und steckte seine dicke Brieftasche weg.

Die Luft war mild und der Himmel übersät mit Sternen. Der Orion strahlte, sein Gürtel durchzogen von einer faserigen Hochsommerwolke.

»Wunderbare Nacht«, sagte Charlie. »Wird ein schöner Tag morgen, Jack.«

»Meinst du?«

»Glücklich die Braut, auf die die Sonne scheint.« Der Alkohol hatte George sentimental gemacht, und er zog kummervoll die Mundwinkel herunter, als er an seine Verflossene und an die Anzahlung für die Möbel dachte.

»Wein dich nur tüchtig aus, Kumpel«, sagte Charlie. »Nichts peppt ein Mädchen so auf wie ein bißchen Tränenvergießen.«

George leitete die Kingsmarkhamer Gruppe der Morris Dancers, und Charlie hatte ihn schon oft verspottet, wenn er in seinem schreiend bunten Kostüm, seinen Kappen und Glöckchen erschien. Er biß sich auf die Lippen und ballte die Fäuste. Dann zuckte er die Achseln und wandte sich ab.

»Kannst mich mal«, knurrte er. Die anderen sahen ihm nach, wie er schwankend die Straße überquerte und die York Street hinunterging. Jack hob unschlüssig die Hand zu einem vagen Gruß.

»Das hättest du nicht sagen sollen, Charlie.«

»Ach, der macht mich krank. Los, laßt uns mal ‘n bißchen was singen, ja? « Er legte einen Arm um Jacks Mitte und den anderen, nach kaum wahrnehmbarem Zögern, um Maurices.

»Eine von deinen alten Volksballaden, Charlie.«

Sie torkelten unter den alten, vorspringenden Häuserfronten entlang, und Jack mußte den Kopf einziehen, um nicht gegen eine schmiedeeiserne Lampe zu stoßen. Charlie räusperte sich und sang:

»Ach, liebste Mabel, hör mich an:

Im Park, da lauert ein Räubersmann.

Im christlichen Vereine,

da saß ich ganz alleine

und sang wie der Lerchen Klang.

’s ist nirgends so schön wie zu Haus,

aber heimgehen im Finstern? Oh, Graus!«

»Jippie!« johlte Jack in Wildwestmanier, aber seine Stimme erstarb, als Inspector Burden von der Kingsmarkhamer Kriminalpolizei aus der Queen Street auftauchte und ihnen über den Platz vor dem Olive and Dove entgegenkam. »‘n Abend, Mr. Burden.«

»’n Abend.« Der Inspector betrachtete sie mit distanziertem Ekel. »Wir wollen hier doch nichts veranstalten, was in ruhestörenden Lärm ausartet, was?« Er ging weiter, und Charlie Hatton kicherte.

»Bulle«, sagte er. «Ich wette, ich hab hier mehr in meiner Tasche, als der in einem Monat kriegt.«

»Dann mal gute Nacht, Jack«, sagte Maurice steif. Sie waren an der Kingsbrook-Brücke angekommen, wo der Fußweg nach Sewingbury abzweigte und dem Lauf des Flusses folgte. Maurice wohnte in Sewingbury, Charlie in einer der neuen Gemeindewohnungen am anderen Ende der Kingsbrook Road. Für beide war der Fußweg eine Abkürzung.

»Warte doch auf Charlie. Er hat den gleichen Weg.«

»Nein, möchte ich nicht, danke. Hab meiner Frau versprochen, daß ich gegen elf zu Hause bin.« Charlie hatte ihm den Rücken zugekehrt, als unmißverständliches Zeichen, daß er keinen Wert auf Maurices Gesellschaft legte. »Das Zeug hat’s in sich«, meinte Maurice, und sein Gesicht im Laternenschein war fahl. »Hätt wohl nicht alles durcheinander trinken sollen.« Er rülpste, und Charlie kicherte. »Mach’s gut, Jack, ich seh dich in der Kirche.«

»Mach’s gut, Kumpel.«

Maurice schwang sich über das Geländer und landete wie durch ein Wunder sicher auf den Füßen. Er ging an den Holzbänken vorbei, tauchte unter die Trauerweiden, und das letzte, was sie von ihm sahen, war sein schlingernder Schatten. Jack und Charlie waren allein.

Sie hatten eine Menge getrunken, und die Nacht war warm, aber plötzlich waren sie beide stocknüchtern. Beide liebten Frauen, aber sie waren bei dieser wie auch bei anderen Emotionen unfähig, sich auszudrücken. Bei keiner Empfindung jedoch waren ihre Zungen so gelähmt, wie bei der tiefen und reinen Freundschaft zwischen ihnen beiden.

Eine tiefe, allumfassende geistige Übereinstimmung herrschte zwischen ihnen. Ihre Frauen waren ihr Stolz und ihr größter Schatz, fürs Bett, für Herd und Heim, zum Vorzeigen, für ihre Männlichkeit. Aber ohne den anderen wäre ihr Leben unvollständig, hätte es ihnen an Impulsen und Kraft gefehlt. Abgesehen von dem Griechen, dem das Akropolis-Restaurant in Stowerton gehörte, hatten sie noch nie etwas von den Griechen gehört. Sie konnten das Gefühl nicht begreifen, das sie in Bann hielt, sie mit Schweigen lähmte und fast eine Art Verzweiflung preisgab.

Wäre Charlie ein anderer Mann gewesen, kultiviert, gebildet, weichherziger, oder hätte er in einer vergangenen Epoche gelebt, in der die Zungen sich bereitwilliger lösten, vielleicht hätte er Jack jetzt umarmt und ihm aus übervollem Herzen gesagt, wie sehr er seine Freude teile und daß er für das Glück des Freundes zu sterben bereit sei. Und wenn Jack ein anderer gewesen wäre, so hätte er Charlie gedankt für seine selbstlose Freundschaft, für sein großzügiges Darlehen, seine Gastfreundschaft und dafür, daß er durch ihn Marilyn Thompson kennengelernt hatte. Aber Charlie war ein gerissener kleiner Fernfahrer, und Jack war ein Elektriker. Liebe gab es zwischen Mann und Frau, Liebe war für die Ehe, und jeder von ihnen wäre eher gestorben, als sich etwas einzugestehen, das über die Feststellung hinausging, sie ›kämen gut miteinander aus‹. Sie lehnten über dem Brückengeländer, ließen Steinchen ins Wasser fallen, und Charlie sagte:

»Schätze, du brauchst deinen Schönheitsschlaf, ich werd mich also auf den Weg machen.«

»Wir haben dein Geschenk bekommen, Charlie. Ich wollte nichts davon sagen, bis die anderen gegangen wären, aber das ist echt ‘ne starke Sache, dieser Plattenspieler. Hat mich richtig umgehauen, als ich ihn gesehen hab. Muß dich ‘n Haufen Geld gekostet haben.«

»Hab ihn günstig gekriegt, mein Junge.« Ein weiterer Stein fiel und platschte in die Dunkelheit unter ihnen.

»Marilyn hat gesagt, sie würde Lilian schreiben.«

»Hat sie schon getan. Schon ehe ich losfuhr nach Norden, ist ein ganz toller Brief von ihr gekommen. Ein echt gebildetes Mädchen hast du da gekriegt, Jack. Die weiß, wie man einen Brief zusammenschreibt. Wenn man solchen Brief kriegt, dann tut einem die Ausgabe nicht leid. Und ich hab euch beide zusammengebracht, vergiß das nie!«

»Na, du verstehst dich eben drauf, sie auszusuchen, Charlie. Brauchst dir doch bloß Lilian anzugucken.«

»Tja, und ich geh jetzt wohl besser und seh mal nach ihr, was?« Charlie wandte sich dem Freund zu, und sein Schatten war kurz und schwarz gegen den langen von Jack. Er hob seine harte kleine Hand und schlug sie schallend in Jacks Rechte. »Also, ich verschwinde.«

»Ist wohl besser, Charlie.«

»Und falls ich morgen keine Gelegenheit dazu hab – na ja, ich bin kein Sprüchemacher wie Brian, aber alles, alles Gute, Jack.«

»Und ob du Gelegenheit haben wirst. Du mußt ‘ne Rede halten!«

»Also sparen wir’s solange auf, klar?« Charlie zog die Nase kraus, und seine Augen blinzelten. Die Schatten trennten sich, er verschmähte den Sprung über das Geländer. »Gute Nacht, mein Lieber.«

»Nacht, Charlie.«

Die Weiden hüllten ihn ein. Sein Schatten tauchte noch einmal auf, als der Weg anstieg und sich wieder senkte. Jack hörte ihn pfeifen: »Ach, liebste Mabel, hör mich an«, dann war der Schatten aufgesogen und verloren in den vielen Baumschatten, und auch das Pfeifen verhallte, und nirgends mehr war ein Geräusch, außer dem leisen Plätschern des Flusses, des Kingsbrook, der unentwegt über sein Kieselbett strömte.

Kapitel 2

 

Detective Chief Inspector Wexford machte sich nichts aus Hunden. Er hatte nie einen Hund gehabt, und jetzt, da eine seiner Töchter verheiratet und die andere Schülerin der Schauspielschule war, sah er keinen Grund, weshalb er sich einen ins Haus nehmen sollte. Mancher Hundegegner wechselt in die Reihen der Hundeliebhaber über, weil er zu schwach ist, dem Betteln geliebter Kinder zu widerstehen, aber in Wexfords Haushalt waren solche Bitten immer nur halbherzig gewesen, so hatte er diese Falle umgangen und war unbehelligt davongekommen.

Deshalb war er wenig erfreut, als er spät am Freitagabend nach Hause kam und in seinem Lieblingssessel diesen grauen Köter mit Ohren wie gestrickte Topflappen vorfand.

»Ist sie nicht süß?« fragte die Schauspielschülerin. »Ihr Name ist Klytämnestra. Ich wußte, es würde dir nichts ausmachen, sie hierzuhaben, bloß für vierzehn Tage.« Damit huschte sie aus dem Zimmer, um ans Telefon zu gehen.

»Wo hat Sheila ihn her?« fragte Wexford finster.

Mrs. Wexford war eine Frau, die nie viele Worte machte. »Sebastian.«

»Und wer um alles in der Welt ist Sebastian?«

»Irgendein Junge«, erwiderte Mrs. Wexford, »ist gerade erst weggegangen.«

Ihr Mann war drauf und dran, den Hund auf den Boden zu schubsen, aber dann besann er sich und ging schmollend hinaus, ins Bett.

Die Schönheit seiner Tochter war etwas, das nie aufgehört hatte, ihn zu verwundern. Sylvia, die ältere, verheiratete, war wohlgestalt und gesund, aber das war auch das Schmeichelhafteste, was man von ihr sagen konnte. Mrs. Wexford hatte eine großartige Figur und ein feines Profil, obwohl sie nie von dem Schlag gewesen war, der Schönheitskonkurrenzen gewann. Während er selbst ... Alles, was ihm fehlte, dachte er manchmal, war eigentlich ein Rüssel, damit er vollends wie ein Elefant aussähe. Sein Körper war mächtig und schwergewichtig, seine Haut die eines Dickhäuters, faltig und grau, und seine dreieckigen Ohren standen auf absurde Weise unter dem spärlichen Kranz farbloser Haare hervor. Wenn er in den Zoo ging, drückte er sich immer rasch am Elefantenhaus vorbei, damit nicht respektlose Betrachter womöglich Vergleiche anstellten.

Ihre Mutter und ihre Schwester waren gutaussehende Frauen, das Merkwürdige bei Sheila aber war, daß ihre Schönheit nicht etwa einfach eine Steigerung, eine stärkere Ausprägung von deren Beinahe-Hübschheit war. Sie sah aus wie ihr Vater! Als Wexford das zum ersten Mal bemerkte – sie war damals etwa sechs Jahre alt–, da hätte er beinahe losgebrüllt vor Lachen, so grotesk war die Ähnlichkeit zwischen diesem aparten Persönchen und ihrem plumpen Erzeuger. Und doch war diese hohe, breite Stirn seine Stirn, die kleine, schräge Nase war seine Nase, die spitzen – wenn auch in ihrem Falle anliegenden – Ohren waren seine Ohren, und in ihren riesigen grauen Augen fand er seine eigenen kleinen wieder. Als er jung war, hatte sein Haar auch diesen goldenen Flachston gehabt, war genauso weich und genauso fein gewesen. Blieb bloß zu hoffen, daß sie nicht eines Tages wie ihr Vater aussah, dachte er manchmal, nicht ohne sich innerlich ins Fäustchen zu lachen.

Am nächsten Morgen jedoch waren seine Gefühle gegenüber seiner jüngsten Tochter weder zärtlich noch von humorvoller Nachsicht. Der Hund hatte ihn zehn vor sieben durch langgezogenes Heulen geweckt, und jetzt, eine Viertelstunde später, stand er wutschnaubend auf der Schwelle zu Sheilas Zimmer.

»Dies hier ist keine Hundepension, verstehst du? Hörst du den Köter eigentlich nicht?«

»Den Acryl-Flokati-Hund, Paps? Armer Liebling, sie will doch Gassi gehen.«

»Wie nennst du den?«

»Acryl-Flokati-Hund. Sie ist natürlich eine Promenadenmischung, aber so nennt Sebastian sie. Weil sie so aussieht, als sei sie aus synthetischem Garn gemacht, weißt du? Findest du das nicht komisch? «

»Nicht besonders. Und warum kann sich dieser Sebastian nicht selbst um seinen Hund kümmern?«

»Er ist in die Schweiz gefahren. Sein Flugzeug muß inzwischen schon weg sein. « Sie tauchte unter den Laken auf, und ihr Vater sah, daß ihr Haar auf riesige, elektrisch aufgeheizte Lockenwickler gedreht war. »Es war mir peinlich, ihn gestern Abend den ganzen Weg zum Bahnhof zu Fuß gehen zu lassen.« Und anklagend setzte sie hinzu: »Aber du hattest ja den Wagen.«

»Es ist mein Wagen!« Wexford schrie es beinahe. Dieses Argument, das wußte er seit langem, war hoffnungslos. Er hörte seiner eigenen Stimme zu und bemerkte mit einer Art Horror, daß sich ein fast schmeichelnder Ton hineinschlich: »Wenn der Hund raus muß, wär’s dann nicht besser, wenn du aufstehst und ihn ausführst? «

»Kann ich nicht. Ich hab gerade mein Haar aufgedreht.« Unten ließ Klytämnestra ein gedehntes Heulen ertönen, das in dringliches Bellen überging. Sheila warf die Bettdecke zurück und setzte sich auf, eine Vision in pinkfarbenem Shorty.

»Allmächtiger Himmel!« explodierte Wexford. »Den Hund deines Freundes ausführen kannst du nicht, aber bei Tagesgrauen aufstehen und deine Haare aufdrehen, das kannst du!«

»Daddy ...« Der schmeichelnde Ton und die mittlerweile selten gebrauchte väterliche Koseform ließen Wexford ahnen, daß ein monströses Ansinnen an ihn gestellt werden sollte. Er funkelte und zog seine Augenbrauen auf die Art zusammen, vor der die Kingsmarkhamer Kleinkriminellen erzitterten. »Daddy, Paps, es ist solch herrlicher Morgen, und du weißt, was Dr. Crocker über dein Gewicht gesagt hat, und ich hab mir doch nun mal gerade die Haare aufgedreht ...«

»Ich geh jetzt unter die Dusche«, antwortete Wexford kalt.

Und das tat er. Als er aus dem Badezimmer wieder herauskam, heulte der Hund noch immer, und hinter Sheilas Tür dröhnte Popmusik. Eine degenerierte Männerstimme beschwor ihre Zuhörer, ihn, den Sänger, zu lieben oder ihn in Ruhe sterben zu lassen.

»Scheint ‘ne Menge Lärm im Haus zu sein, Liebling«, meinte Mrs. Wexford schläfrig.

»Du machst mir Spaß!«

Er öffnete Sheilas Tür. Sie legte gerade eine Gesichtsmaske auf.

»Also, dies eine Mal«, sagte der Chief Inspektor. »Ich tu es bloß, weil ich deiner Mutter noch ein bißchen Ruhe verschaffen will. Folglich kannst du als erstes mal dieses Ding da abstellen.«

»Du bist ein Engel, Daddy«, sagte Sheila, und träumerisch setzte sie hinzu: »Wahrscheinlich hat Klytämnestra sich jetzt schon verewigt.«

 

Klytämnestra. Von allen dämlichen, prätentiösen Namen für einen Hund ausgerechnet diesen! Aber was konnte man von einem, der Sebastian hieß, schon anderes erwarten? Immerhin hatte sie sich jedoch noch nicht »verewigt«. Sie sprang an Wexford in die Höhe, bellte frenetisch, und als er sie wegschubste, rannte sie im Kreis um ihn herum, wedelte wild mit dem Schwanz und flatterte mit den gestrickten Ohren.

Wexford fand die Leine, die Sheila entgegenkommenderweise an weithin sichtbarer Stelle, nämlich auf dem Kühlschrank, liegengelassen hatte. Ohne Zweifel, es würde ein wunderschöner Tag werden, ein Sommertag, wie es ihn nirgends in der Welt so gibt wie im Süden Englands, ein Tag, der mit Dunst beginnt, zu tropischer Herrlichkeit erblüht und in Blau und Gold und Sternen verglüht.

»Gar manch einen glorreichen Morgen«, deklamierte er vor Klytämnestra, »hab ich gesehen, schmeichelnd der Berge Spitzen mit königlichem Aug.«

Klytämnestra stimmte lautstark zu, sprang auf einen Hocker und jaulte hysterisch beim Anblick ihrer Leine.

»Trag deinen Leib nur schicklicher«, sagte Wexford kalt, indem er von Sonett auf Komödie umschaltete, ohne seinen Dichter zu wechseln. Er blickte aus dem Fenster. Dort war es, das ›königliche Aug‹, hell, geschmolzen und weißgolden. Statt der Berge Spitzen schmeichelte es den Wiesen am Kingsbrook und verwandelte den kleinen Fluß in ein Band schimmernden Metalls. Nein, es schadete ihm bestimmt nichts, diese ungezähmte Kreatur auf einen kurzen Ausflug in die Wiesen mitzunehmen, und das Erlebnis würde ihm eine prächtige Überlegenheit gegenüber Inspector Burden verschaffen, wenn er um halb zehn ins Polizeipräsidium ginge.

»Herrlicher Morgen, was?«

»Es war ein herrlicher Morgen, Mike. Das Schönste ist ja jetzt schon vorbei. Als ich so um halb sieben unten am Fluß war ...«

Er schmunzelte. Klytämnestra wimmerte. Wexford ging zur Tür, und der Hund quiekte vor Freude. Er machte die Leine fest und trat hinaus in den süßen Frieden eines Sommersamstages in Sussex.

 

Im Nachhinein mit einem Spaziergang vor dem Frühstück zu prahlen, das war eine Sache, sich jedoch allen Ernstes sehen zu lassen, wie man diese Laune der Natur, diese Mißgeburt durch öffentliche Straßen führte, das war eine ganz andere. Im unbestechlichen Hochsommerlicht betrachtet, sah Klytämnestra aus wie etwas, das lange vergessen tief unten im Strickkorb einer alten Frau gelegen hat und zu guter Letzt zum Stopfen hervorgeholt worden ist.

Mehr noch, nachdem sie sich ihren Herzenswunsch erfüllt hatte, um den sie ein so schamloses, neurotisches Theater aufgeführt hatte, war sie völlig lustlos geworden und trottete lammfromm einher, mit hängendem Kopf und hängendem Schwanz. Genau wie eine Frau, dachte Wexford bissig. Sheila war bestimmt genauso. Das Haar runter von den Wicklern, das Gesicht gereinigt ... Höchstwahrscheinlich war sie jetzt in aller Ruhe unten, um ihrer Mutter eine Tasse Tee zu machen. Wenn man bekommt, was man will, dann will man nicht mehr, was man bekommt ... On a fait le monde ainsi.

Immerhin, er würde die öffentlichen Straßen meiden.

Von dieser Seite der Stadt aus führte der Fußweg über die Wiesen zum Ufer des Flusses, wo er sich teilte. Der eine Weg führte zu der neuen Gemeindesiedlung und nach Sewingbury, der andere zum Zentrum der Kingsmarkhamer High Street bei der Kingsbrook-Brücke. Wexford hatte durchaus nicht die Absicht, sich auf den sogenannten Sabbatweg, das Pflichtmaß von zweitausend Ellen, zu begeben, und jetzt, da sie die Kingsbrook Road mit diesen Mietkästen zugebaut hatten, bestand auch kein Anreiz mehr, dort hinzugehen. Stattdessen würde er zum Fluß hinunterspazieren, den Weg zur Brücke einschlagen und auf dem Heimweg bei Braddan gleich seine Police Revue mitnehmen. Immer vergaßen sie, sie ihm zusammen mit der Zeitung zu schicken.

Ländliche Weidegebiete sind gewöhnlich eingezäunt. Diese Wiesen dagegen waren mit Hecken und Stacheldraht voneinander getrennt. Große rotbraune Kühe grasten darauf. Dunst lag in dünnen Schleiern über den Senken, und wo Felder brachlagen, stand das Gras hoch, hoch genug für den Heuschnitt. Wexford, im tiefsten Herzen ein Landmensch, wunderte sich immer darüber, daß Stadtmenschen Gras als grün bezeichneten, wo es in Wirklichkeit doch vielfarbig war wie Josephs Mantel. Die Spitzen der Gräser neigten sich schwer von Samen, ockerfarben, kastanienbraun und pudergrau, und der ganze dicke Teppich der Weide war bestickt mit dem purpurnen Faden des Sauerklees, dem Giftgelb der Butterblumen und überzogen von der flaumigen, cremezarten Spitze der Spiräen. Und über alles das breiteten die schwankenden, wispernden Samenstände und der hauchzarte Dunst einen silbernen Schimmer.

Die Eichen hatten das lebhafte Gelbgrün des Spätfrühlings noch nicht verloren, eine Farbe, so hell, so frisch und überall sonst in Natur und Kunst so unerreicht, daß es noch keinem gelungen war, es ihm gleichzutun, daß man es nirgends sonst fand, weder auf Gemälden noch in Geweben noch an den Kleidern der Frauen. An solchen Dingen würde die Farbe auch grob wirken, wenn man sie nachahmte, aber hier, gegen diesen blaßblauen, weit und breit wolkenlosen Himmel, war sie nicht grob. Sie war zauberhaft. Wexford sog in tiefen Atemzügen die würzige, pollengeladene Luft ein. Er hatte noch nie Heufieber gehabt und fühlte sich prächtig.

Die Hündin, die vielleicht einen Straßenpflasterspaziergang befürchtet hatte, schnupperte ebenfalls in die Luft und wurde sichtlich lebhafter. Sie schnüffelte im Gestrüpp herum und wedelte mit dem Schwanz. Wexford löste den Karabinerhaken der Leine und ließ sie frei laufen.

Mit einer gewissen Bedächtigkeit begann er, über die Aufgaben des vor ihm liegenden Tages nachzudenken. Heute Morgen war die schlimme Sache mit der Körperverletzung beim Sondergericht anhängig, aber das mußte eigentlich alles in einer halben Stunde abgewickelt sein. Dann bestand die Möglichkeit, daß das zum Verkauf stehende Silber auf dem Samstagmorgen-Markt womöglich gestohlenes Gut war. Da sollte wohl besser jemand hingehen und nach dem Rechten sehen ... Und ganz gewiß gab es auch noch die übliche Liste von Freitagabend-Einbrüchen.

Mrs. Fanshawe hatte im Royal Hospital von Stowerton nach sechswöchigem Koma das Bewußtsein wiedererlangt. Man würde heute mit ihr sprechen müssen. Aber das war Sache der Uniformierten, nicht seine. Gott sei Dank mußte er nicht der Frau beibringen, daß ihr Mann und ihre Tochter bei dem Verkehrsunfall, bei dem sie sich einen Schädelbruch zugezogen hatte, ums Leben gekommen waren.

Vermutlich würde man die vertagte gerichtliche Untersuchung über dieses Unglückspaar wiederaufnehmen. Burden bezweifelte, daß die Frau sich vielleicht doch erinnern könnte, warum der Jaguar ihres Mannes auf der leeren Überholspur der zweibahnigen Straße ins Schleudern geraten war und sich überschlagen hatte. Meist stellte sich mit solchem Koma ein barmherziger Gedächtnisausfall ein, und wer wollte bestreiten, daß es ein Segen war? Es war geradezu unmoralisch, die arme Frau jetzt mit Fragen zu quälen, bloß um des Nachweises willen, daß die Bremsen des Jaguars versagt hatten oder daß Fanshawe die Geschwindigkeitsgrenze überschritten hatte. Und es war ja auch nicht so, daß ein weiteres Fahrzeug in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. Aber natürlich war es eine Frage der Versicherung. Wie auch immer, das war nicht seine Sorge.

Die Sonne schien auf die sanften Wellen des Flusses, und die langen Weidenblätter berührten eben seine goldene, gekräuselte Wasserfläche. Eine Forelle schoß in blitzend schillerndem Sprung empor. Klytämnestra lief ans Wasser und trank gierig. In dieser Welt des reinen, rasch fließenden Wassers, der unnachahmlichen Eichen und Wiesen, neben denen sich Bayeux-Teppiche wie Wischlappen ausnähmen, da war kein Platz für sich überschlagende Wagen und Blutvergießen und zerschmetterte Körper, die auf blutigem, schlüpfrigem Asphalt herumlagen.

Der Hund planschte im Wasser; dann schwamm er. Im Sonnenschein war sogar die graue, handgestrickte Klytämnestra schön. Die großen, flachen Steine unter ihrem schmalen Körper mit dem angeklatschten, krausen Fell wiesen die marmorne Maserung des Achats auf. Über dem Wasser hing ein goldener Dunstschleier, flirrend vom Tanz der Myriaden winziger Fliegen. Und Wexford, der Atheist, der profane Mann, dachte, Herr, wie vielgestaltig sind deine Werke auf Erden.

 

Auf der anderen Seite des Flusses war ein Mann. Er ging langsam, knappe fünfzig Meter vom gegenüberliegenden Ufer entfernt und parallel dazu, spazierte von Sewingbury in Richtung Kingsmarkham. Er hielt ein Kind an der Hand, und auch er hatte einen Hund bei sich, einen großen, streitlustig aussehenden schwarzen Hund. Wexford hatte die Vorstellung – die zum Teil auf den Beobachtungen aus seinem Bürofenster beruhte –, daß zwei Hunde, wenn sie einander begegneten, unweigerlich miteinander rauften. Klytämnestra würde aus einem Kampf mit diesem großen schwarzen Teufel jammervoll hervorgehen. Wexford brachte es nicht über sich, seinen Schützling beim Namen zu rufen. Er pfiff. Klytämnestra nahm keine Notiz davon. Sie hatte das gegenüberliegende Ufer erreicht und schnoberte in einer im Wasser treibenden Masse aus Buschwerk und entwurzeltem Gras herum. Weiter flußaufwärts war eine Insel aus Unrat gegen das Ufer getrieben worden. Wexford, der eben noch so romantisch gewesen war, fühlte sich geradezu gepeinigt bei diesem Indiz menschlicher Gleichgültigkeit gegenüber den Schönheiten der Natur. Er konnte ein Bündel karierten Stoffes erkennen, eine alte Decke vielleicht, einen Ölkanister und, ein Stück entfernt davon, einen im Wasser treibenden Schuh. Klytämnestra bestärkte seine geringe Meinung von allem, was hündisch war, indem sie sich mit wedelndem Schwanz und aufgestellten Ohren an diese vom Wasser durchtränkte Unratmasse heranmachte. Ekelhafte Kreaturen, Hunde, dachte Wexford, Straßenschnüffler und Müllschlucker. Er pfiff noch einmal. Die Hündin blieb stehen, und er wollte sich schon gratulieren zu seiner Autorität und der wirksamen Methode, sie herbeizuzitieren, als das Vieh sich mit einem Satz vorwärts stürzte und das Stoffknäuel mit dem Maul packte.

Das Bündel bewegte sich schwer und ließ das Wasser schwappen. Der Hund ließ es fahren, und seine Nackenhaare sträubten sich. Dieses langsame und irgendwie urweltliche Aufrichten der grauen Haarmatte löste in Wexford einen merkwürdigen Kälteschauer aus. Die Sonne schien sich zu verdunkeln. Er vergaß den schwarzen Hund, der immer näherkam, und seine Freude an dem schönen Morgen war dahin. Klytämnestra gab ein unirdisches, schneidendes Heulen von sich, die Lefzen zurückgezogen, der Schwanz eine starre Verlängerung des Rückgrats.

Das Bündel, das sie aufgestöbert hatte, trieb ein wenig ab ins tiefere Wasser, und als Wexford hinschaute, hob sich aus dem durchtränkten Stoff langsam eine bleiche, dünne Hand, leblos wie die marmorierten Steine. Die Finger hingen schlaff herab, und doch schienen sie auf ihn zu zeigen.