Der kalte Hauch der Angst - Ruth Rendell - E-Book

Der kalte Hauch der Angst E-Book

Ruth Rendell

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Beschreibung

Wenn Leidenschaft tödlich endet … Der exzentrische Maler Rupert Margolis und seine Schwester Ann, ein ehemaliges Model, sorgen im stillen Kingsmarkham für Aufregung: Als Rupert seine Schwester nach einer Partynacht auf der Polizeiwache als vermisst meldet, glaubt Inspector Wexford zunächst an eine schnelle Aufklärung des Falls. Erst als ein mysteriöser Brief auftaucht, der den Tod Anns und den Namen des angeblichen Täters enthüllt, ahnt der Polizeichef, dass der Fall viel komplizierter ist als zunächst angenommen. Was verbarg die temperamentvolle Schönheit für dunkle Geheimnisse? Auf seiner Suche nach der Wahrheit macht Wexford schließlich eine schockierende Entdeckung … »Ruth Rendells Romane sind ein Spiegel aller Spielarten menschlicher Schwächen und Täuschungsmanöver.« Bestsellerautorin Donna Leon Preisgekrönte und feingezeichnete psychologische Spannung für die Leserinnen und Leser von Elizabeth George und Val McDermid – alle Bände der »Inspector Wexford«-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden. In Band 4 muss Inspector Wexford einen Mord auf einem Junggesellenabschied aufklären …

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Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Der exzentrische Maler Rupert Margolis und seine Schwester Ann, ein ehemaliges Model, sorgen im stillen Kingsmarkham für Aufregung: Als Rupert seine Schwester nach einer Partynacht auf der Polizeiwache als vermisst meldet, glaubt Inspector Wexford zunächst an eine schnelle Aufklärung des Falls. Erst als ein mysteriöser Brief auftaucht, der den Tod Anns und den Namen des angeblichen Täters enthüllt, ahnt der Polizeichef, dass der Fall viel komplizierter ist als zunächst angenommen. Was verbarg die temperamentvolle Schönheit für dunkle Geheimnisse? Auf seiner Suche nach der Wahrheit macht Wexford schließlich eine schockierende Entdeckung …

eBook-Neuausgabe November 2025

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1982 unter dem Originaltitel »Wolf to the Slaughter« bei Arrow Books Ltd., London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Schweiß der Angst« bei Goldmann.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1967 by Ruth Rendell

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/kabir und shutterstock/Yevhen Rehulian, KITTIPONG SOMKLANG

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mm)

 

ISBN 978-3-69076-973-0

 

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Ruth Rendell

Der kalte Hauch der Angst

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Else Bezzenberger

 

Für Don

Nur Puppen, mit denen das Schicksal spielt,

sind wir auf Erden hier.

Erkennen muß ein jeder das, der klareren Gesichts.

Figuren auf dem Schachbrett gleich

geschoben werden wir.

Dann nimmt man uns hinweg und legt

uns in den Sarg des Nichts.

Rubai des Omar Chajjam

Bedenk, der Krug voll süßen Weins

in seiner flücht’gen irdischen Erscheinung

ward aus dem Staube derer, die einst lebten und

heiter liebten.

Die kalte Lippe, die ich heute küsse,

wie viele Küsse sie wohl einstmals gab und nahm?

Rubai des Omar Chajjam

Kapitel 1

 

Als ob sie die Absicht hätten, jemanden umzubringen.

Die Polizei jedenfalls hätte das bestimmt vermutet, wenn sie den viel zu schnell fahrenden Wagen auf der dämmrigen Straße gestoppt hätte. Dann hätten der Mann und das Mädchen aussteigen und erklären müssen, weshalb sie eine derart bedrohliche Waffe bei sich hatten. Und die Erklärung hätte der Mann geben müssen, denn das Mädchen wäre nicht imstande gewesen, das zu beantworten. Obendrein wirkten die Regenmäntel, die sie beide trugen, wie eine Tarnung, wie Gangsterkleidung, fuhr es ihr durch den Kopf, während sie die dünnen Regenfäden beobachtete, die in der hereinbrechenden Dunkelheit die Scheibe hinunterrannen. Und dann noch dieses Messer, hieb- und stichbereit!

»Wozu hast du das eigentlich bei dir?« fragte sie. Es waren ihre ersten Worte, seit sie Kingsmarkham und seine vom Nieselregen verwaschenen Straßenlaternen hinter sich gelassen hatten. »Du kannst Ärger kriegen, wenn du so ein Ding besitzt.« Ihre Stimme klang nervös, was allerdings nicht allein auf das Messer zurückzuführen war.

Er drückte den Knopf, der die Scheibenwischer in Bewegung setzte. »Mal angenommen, das alte Mädchen kommt uns plötzlich komisch«, meinte er, »hat sich’s womöglich anders überlegt. Könnte doch sein, daß ich ihr ein bißchen Gottesfurcht beibringen muß.« Er ließ einen Fingernagel die Klinge entlangfahren.

»Mir gefällt das nicht besonders«, erwiderte das Mädchen, und wieder meinte sie nicht bloß das Messer.

»Wolltest du vielleicht lieber zu Hause bleiben, mit der Aussicht, daß er jeden Augenblick hereinplatzt? Ist ja schon ein reines Wunder, daß du’s geschafft hast, seinen Wagen loszueisen.«

Statt einer Antwort sagte sie zögernd: »Ich möchte übrigens diese Frau, diese Ruby, nicht sehen. Ich bleibe im Wagen sitzen, außer Sichtweite, während du zur Tür gehst.«

»Klar, und sie verduftet nach hinten heraus. So hab ich die ganze Sache ja auch am Sonnabend arrangiert.«

Von Stowerton sah man zunächst nur einen orangefarbenen Schimmer, verstreute Lichter, die im Dunst schwammen. Sie fuhren durch das Zentrum, wo die Läden bereits geschlossen waren, mit Ausnahme des Waschsalons. Frauen, die tagsüber arbeiteten, saßen vor den Maschinen und sahen zu, wie ihre Wäsche hinter den Bullaugen herumwirbelte, und ihre Gesichter sahen in dem grellweißen Licht grün aus vor Müdigkeit. Cawthornes Tankstelle und Autowerkstatt an der Ecke der Kreuzung lag im Dunkeln, aber das dahinterliegende viktorianische Haus war festlich erleuchtet, und aus der offenen Haustür dröhnte Tanzmusik. Das Mädchen lauschte auf die Töne und kicherte leise in sich hinein. Dann flüsterte sie ihrem Begleiter etwas zu. Da es aber lediglich die Cawthornes und ihre Party betraf und nicht das, was sie selber vorhatten, nickte er nur zerstreut und fragte:

»Wie spät?«

Beim Einbiegen in die Seitenstraße konnte sie die Kirchturmuhr sehen. »Gleich acht.«

»Na prima«, sagte er. Er schnitt eine Grimasse in Richtung Festbeleuchtung und Musik, machte mit zwei Fingern eine anzügliche Geste und meinte: »Cawthorne, der alte Knacker – ich wette, der gäbe was drum, jetzt in meinen Schuhen zu stecken.«

Die Straßen waren grau und regennaß, und eine sah aus wie die andere. Alle vier Meter wuchsen kümmerliche Bäume aus dem Asphalt, deren verzweifelt kämpfende Wurzeln Risse in der Teerdecke hinterlassen hatten. In endloser Eintönigkeit zogen sich die geduckten Reihenhäuser hin, alle ohne Garage, so daß beinahe vor jedem ein Wagen halbwegs auf den Gehsteig hinausragte.

»Hier ist es schon, Charteris Road Nummer zweiundachtzig, das Haus an der Ecke dort. Na schön, im Vorderzimmer brennt ja Licht. Ich dachte schon, sie würde womöglich kneifen und uns hängenlassen, hätte am Ende kalte Füße gekriegt und wäre abgehauen.« Er ließ das Messer in der Tasche verschwinden. Das Mädchen sah zu, wie die Klinge zurückschnappte und im Schaft verschwand. »Das wäre mir nämlich gar nicht lieb gewesen«, murmelte er.

Und das Mädchen erwiderte ruhig, wenn auch mit verhaltener Erregung in der Stimme: »Mir auch nicht.«

Der Regen hatte es vorzeitig Nacht werden lassen. Es war dunkel im Wagen, zu dunkel, um das Gesicht des anderen erkennen zu können. Ihre Hände trafen sich, als sie sich gemeinsam abmühten, das kleine goldene Feuerzeug in Gang zu setzen. Im Schein der kleinen Flamme glühten seine dunklen Gesichtszüge förmlich auf. Es verschlug ihr den Atem.

»Du bist schön«, flüsterte er, »mein Gott, bist du schön!« Er berührte ihren Hals und fuhr mit den Fingern in die Höhlungen über dem Schlüsselbein. Eine Weile saßen sie einfach da und blickten einander an, und die Flamme legte Kerzenschimmer und weiche Schatten über ihre Gesichter. Dann ließ er das Feuerzeug zuschnappen und stieß die Wagentür auf. Sie drehte das kleine, viereckige, goldene Ding in den Händen, und ihre Augen hatten Mühe, die Inschrift zu entziffern: ›Für Ann, die mein Leben erhellt.‹

Die Straßenlaterne an der Ecke warf einen Streifen Licht von der Bordkante bis zur Pforte. Als er ihn durchquerte, stand sein Schatten sekundenlang hart und schwarz in diesem Abend voller verwaschener Umrisse. Das Haus, auf das er zuging, war armselig und schäbig, der Vorgarten zu klein für einen Rasen; er war nichts als ein Stück kahler Erde, ein dürftiges Geviert, von Steinen umgeben wie ein Grab.

Auf der obersten Stufe stellte er sich ein wenig links von der Haustür auf, so daß die Frau, die gleich auf sein Klopfen öffnen würde, nicht mehr sah als nötig. Zum Beispiel brauchte sie ja nicht das Heck des grünen Wagens zu sehen, das regennaß im Laternenlicht glitzerte. Er wartete ungeduldig und trat von einem Fuß auf den anderen. An den Fenstersimsen hingen Regentropfen wie Glasperlenketten.

Jetzt hörte er drinnen Geräusche und Bewegung. Steif vor Anspannung räusperte er sich. Den Schritten folgte ein plötzliches Aufleuchten des rhombusförmigen Fensterchens in der Mitte der Tür, und während das mehrfache Klicken des Türschlosses ertönte, erschien darin ein halb ängstlich, halb geschäftstüchtig dreinblickendes Gesicht, faltig und stark geschminkt unter brandrotem Haar. Er fuhr mit beiden Händen in die Taschen, umschloß mit der rechten einen glattpolierten Griff und war eisern entschlossen, dafür zu sorgen, daß die Sache hier glatt ginge.

 

Und als die Sache dann schiefgegangen war, so grauenhaft schief, da befiel ihn ein Gefühl schicksalhafter Ausweglosigkeit. Es hatte so kommen müssen, früher oder später, auf diese oder jene Weise! Irgendwie schafften sie es, in ihre Mäntel zu kommen, und er mühte sich, das Blut mit dem Schal zurückzudämmen.

»Ein Arzt«, stöhnte sie unentwegt, »einen Arzt oder ins Krankenhaus!« Aber er wollte davon nichts wissen, wenn es irgend zu vermeiden war. Das Messer steckte wieder in seiner Tasche, und er wollte nichts weiter als frische Luft, als den Regen auf dem Gesicht spüren und in den Wagen kommen.

Nackte Todesangst malte sich auf ihrer beider Gesichter. Er ertrug es nicht, ihr in die Augen zu blicken, diese entsetzensstarren Augen, rot verfärbt, als spiegele sich das Blut in den Pupillen. Gelähmt von Panik, klammerten sie sich aneinander, wankten den Gartenweg entlang, vorüber an dem Grabgeviert aus Erde. Irgendwie bekam er die Autotür auf, und sie fiel über den Vordersitz.

»Steh auf!« befahl er. »Reiß dich zusammen. Wir müssen hier verschwinden!« Aber seine Stimme klang wie aus weiter Ferne, so weit entfernt, wie ihnen früher der Tod erschienen war. Mit kreischenden Rädern schoß der Wagen die Straße hinunter. Ihre Hände flatterten, und ihr Atem rasselte.

»Du wirst das überstehen, bestimmt! Es war doch nicht schlimm, die winzige Klinge!«

»Warum hast du das gemacht? Warum? Warum?«

»Das alte Mädchen, diese Ruby ... Aber jetzt ist es zu spät.« Zu spät – Schablone letzter Worte ... Aus dem Cawthorneschen Haus dröhnte Musik, als der Wagen an der Autoservice-Firma vorüberfuhr, kein Trauergesang, sondern heiße Tanzmusik. Die Haustür stand offen, und wie ein ausgerollter Teppich fiel gelbes Licht über die Pfützen der Straße. Der Wagen raste weiter, vorüber an den Geschäften. Hinter den letzten Siedlungshäusern hörten die Straßenlaternen auf. Es hatte aufgehört zu regnen, aber die Landschaft lag in Dunstschwaden gehüllt. Die Straße verlief durch einen Tunnel schweigender Bäume, von denen das Wasser troff, ein riesiger, nasser Schlund, der den Wagen über seine feuchte, schlüpfrige Zunge einsog.

Über den Teppich aus Licht, sorgsam die Pfützen meidend, strebten Partygäste hinein und heraus. Musik schlug ihnen entgegen, heiße, trockene Musik, ein scharfer Kontrast zum heutigen Abend. Soeben trat ein junger Mann aus dem Haus, das Glas in der Hand.

Er war zwar durchaus vergnügungshungrig, steckte voller »joie de vivre«, aber die Möglichkeiten dieser Party hatten sich für ihn bereits erschöpft. Der Betrunkene dort in seinem geparkten Wagen, den er leutselig anredete, ignorierte ihn. Da trank er sein Glas leer und stellte es auf einer Dieselzapfsäule ab. Traurig, weit und breit kein Mensch, mit dem man reden konnte! Lediglich so ein armes, scharfgesichtiges altes Mädchen, wahrscheinlich auf dem Weg nach Hause, vermutete er, weil die Kneipen jetzt schlossen. Lauthals deklamierend trat er auf sie zu:

»Komm, machen wir das Beste aus dem Lebenssold, bevor auch wir zum Staub uns neigen!«

Sie grinste ihn an. «Hast recht, Kleiner, amüsier dich nur!«

Er war wohl kaum in der richtigen Verfassung, Auto zu fahren, jedenfalls nicht im Augenblick. Außerdem hätten ihm, ehe er seinen eigenen Wagen freibekommen hätte, mindestens sechs andere Wagen Platz machen müssen, und deren Fahrer amüsierten sich noch alle drinnen auf der Party. Also marschierte er kurzentschlossen in heiterster Stimmung zu Fuß los, mit der unbestimmten Hoffnung, daß ihm noch irgendjemand Besonderes über den Weg laufen werde.

Es hatte wieder angefangen zu regnen, und ihm behagte das kalte Gefühl der Tropfen auf seinem heißen Gesicht außerordentlich.

Die Straße nach Kingsmarkham gähnte ihm entgegen. Wohlgemut und ohne eine Spur von Müdigkeit stiefelte er drauflos. Weit vorn, ganz in der Ferne, sozusagen in der Kehle dieses tiefen, feuchten Schlundes, sah er die Lichter eines parkenden Wagens.

»Welche Lampe hält das Schicksal hier bereit für seine Kinder, strauchelnd in der Dunkelheit?«

Kapitel 2

 

Einen Tag und eine Nacht hatte der scharfe Ostwind gebraucht, um die Straßen zu trocknen. Bestimmt würde der Regen wiederkehren, aber im Moment war der Himmel von hartem, bitterem Blau. Quer durch das Stadtzentrum lärmte der Kingsbrook mit aufgeregt schäumenden kleinen Wellen über die glatten runden Steine.

Der Wind war scharf, man fühlte ihn nicht nur, man hörte ihn auch. Er fegte durch die Gassen, welche die alten Ladenzeilen gegen die neuen Geschäftshäuser abgrenzten, und er entlockte den blattlosen Ästen Töne wie Eulenschreie, wenn er sie gegen Ziegel und Schiefer peitschte. Die Leute, die auf den Stowerton-Bus in Richtung Norden oder auf den Pomfret-Bus in Richtung Süden warteten, schlugen die Mantelkragen hoch, um ihre Gesichter zu schützen. Die vorüberfahrenden Autos hielten die Fenster fest geschlossen, und wenn ein Radfahrer die Kuppe des Brückenbogens erreichte, der sich über den reißenden Fluß spannte, dann sprang der Wind ihn an, daß er einen Augenblick gleichsam auf der Stelle trat, ehe er sich ins Zeug legte und auf der anderen Seite abwärts hoppelte, vorüber am Hotel Olive and Dove.

Einzig an den Narzissen im Schaufenster des Blumengeschäftes konnte man erkennen, daß es April war und nicht Dezember. Sie nahmen sich hinter dem schützenden Glas ebenso schmuck und untadelig aus wie die Verkäufer und Büroangestellten, die froh sein konnten, an diesem unwirtlichen Vormittag nicht draußen sein zu müssen. Zu ihnen gehörte – jedenfalls im Augenblick – auch Kriminalinspektor Michael Burden, der von seiner wohlisolierten Wetterwarte aus über die High Street hinblickte.

Das Kingsmarkhamer Polizeipräsidium nämlich, ein atemberaubend moderner Bau, gewährte einen Überblick über die ganze Stadt, obwohl es von seinen nächsten Nachbarn durch eine veritable Wiese getrennt war. Heute Morgen war darauf sogar ein Pferd angepflockt, das sah genauso verfroren und verdrießlich aus, wie Burden sich gefühlt hatte, als er vor zehn Minuten angekommen war. Er ließ sich immer noch vor einer Düse der Warmluftheizung auftauen, die einen warmen Luftstrom gegen seine Beine blies. Er hielt zwar nicht so viel von literarischen Zitaten wie sein Vorgesetzter, der Chefinspektor Wexford, aber an diesem ekelhaften Donnerstagmorgen konnte man wirklich behaupten, daß der April der grausamste aller Monate sei, weil er zwar noch keinen Flieder, aber doch Traubenhyazinthen fahrlässig aus der toten Erde lockte. Die nämlich drängten sich tatsächlich dort unten auf dem Vorplatz des Präsidiums in Steinschalen aneinander, mit spärlichen Blüten, die unter dem nassen, zerdrückten Blattwerk nahezu erstickten. Wer immer sie dort hingepflanzt hatte, sicherlich war es in der Absicht geschehen, mit ihrer Blütenfarbe ein Pendant zu schaffen zu der blauen Lampe über dem Vordach. Aber der lange Winter hatte das vereitelt. Burden hatte eher das Gefühl, auf Tundravegetation hinunterzublicken statt auf die Resultate eines englischen Frühlings.

Er trank den Rest des heißen, ungesüßten Tees, den Sergeant Camb ihm gebracht hatte. Der Tee war ohne Zucker, weil Burden ihn so am liebsten mochte, nicht aus Gründen der Selbstzucht. Sein Körper und sein Windhundgesicht waren von Natur aus hager und asketisch, einerlei, was immer er aß. Heute Morgen trug er übrigens einen neuen Anzug, konservativ, wie er nun einmal in puncto Kleidung war, und er schmeichelte sich selbst, daß er darin aussähe wie ein Bankdirektor auf Urlaub. Mindestens würde niemand, der ihn unvoreingenommen in diesem Büro mit seinem Spannteppich, den geometrisch gemusterten Vorhängen und der prätentiösen Glasskulptur sah, ihn für einen Kriminalbeamten in seiner alltäglichen Umgebung halten.

Er stellte die Teetasse auf den Unterteller aus schwarzer Prinknach-Keramik zurück und heftete seinen Blick mißbilligend auf eine Gestalt drüben auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vielleicht war er heute derartig befangen in der Korrektheit des eigenen Äußeren, daß er nur den Kopf schütteln konnte über diesen Gammler dort unten mit seinem langen Haar und der mehr als unkonventionellen Kleidung. Die Fenster waren ein wenig beschlagen. Burden wischte säuberlich ein Guckloch frei und spähte hindurch. Man fragte sich manchmal, wohin es heutzutage wohl noch kommen würde mit der männlichen Kleidung? Schon der junge Inspektor Drayton war ja ein typisches Beispiel moderner Schlampigkeit, aber der dort unten erst! Eine geradezu exotisch stachelige Pelzjacke, die eher zu einem Eskimo gepaßt hätte, dazu ein langer lila und gelber Schal, den man nicht einmal etwa als Abzeichen einer bestimmten Universität entschuldigen konnte, darunter blaßblaue Jeans und Wildlederstiefel. Jetzt kam er über die Straße – ein Trottel von einem Fußgänger! – und betrat den Vorplatz des Präsidiums. Als er sich jetzt auch noch niederbeugte und die Dolde einer Traubenhyazinthe abriß, um sie in sein Knopfloch zu stecken, da hätte Burden am liebsten das Fenster aufgerissen und ihn angebrüllt, aber dann ließ er es doch lieber, um nicht die kostbare warme Luft hinauszulassen. Das letzte, was er sah, ehe der junge Mann unter dem Vordach verschwand, war sein Schal, die flatternden roten Fransen.

Geradezu wie in der Carnaby Street, dachte Burden verwirrt. Er war erst kürzlich mit seiner Frau zum Einkaufen in London gewesen, und sie hatte sich für jene verschrobenen Gestalten dort weit mehr interessiert als für die Geschäfte. Wenn er nach Hause käme, würde er ihr also erzählen, daß es gar nicht notwendig war, fast sechzig Kilometer in einem stickigen Eisenbahnzug zu fahren, wo es sozusagen vor ihrer eigenen Haustür weitaus verrücktere Anblicke gab. Bald würde selbst dieser stille Winkel von Sussex wohl von ihnen überschwemmt sein, dachte er seufzend, während er sich an seinen Schreibtisch setzte, um sich Draytons Bericht über diesen Diebstahl einiger Stücke Waterfordglas vorzunehmen.

Nicht schlecht, gar nicht schlecht! Wenn man seine Jugend und seine Unerfahrenheit berücksichtigte, dann machte sich Drayton wirklich gut. Allerdings – da gab es Lücken, wichtige Fakten waren außer Acht gelassen worden ... Ach ja, wenn man auf dieser Welt irgendetwas erledigt haben wollte, dann mußte man es fast immer selbst tun, dachte er erbittert. Er nahm seinen Regenmantel vom Haken – sein Wintermantel war in der Reinigung, denn schließlich war es ja April – und ging die Treppen hinunter.

Tagelang war das schwarzweiße Schachbrettmuster des Fliesenbodens in der Halle bis zur Unkenntlichkeit von schmutzigen Fußabdrücken überzogen gewesen, heute jedoch strahlte es in hellem Glanz. Burdens wohlgepflegte Schuhe spiegelten sich förmlich darin. Die moderne, langgeschwungene Ellipse des Schaltertresens und die unbequemen roten Plastikstühle boten sich heute in der scharfgestochenen Kühle dar, wie sie Wind und trockene Luft selbst einem Interieur verleihen.

Gleichfalls versunken in sein Spiegelbild, das die blanken Fliesen zurückwarfen, saß, die knochigen Hände schlaff an den Seiten herabhängend, der Mann, den Burden auf der Straße gesehen hatte. Beim Geräusch der Schritte, die die Halle durchquerten, blickte er abwesend in die Richtung, wo Sergeant Camb am Telefon redete. Anscheinend hatte er ein Anliegen und war nicht etwa, wie Burden vermutet hatte, gekommen, um den Müll abzuholen oder eine Sicherung auszuwechseln oder auch nur, um irgendwelche obskuren Informationen an Inspektor Martin zu verhökern. Vielmehr sah es so aus, als sei er ein vollgültiges, unschuldiges Mitglied der Öffentlichkeit mit irgendwelchen kleinen Problemen. Ob er einen Hund verloren oder eine Brieftasche gefunden hatte? Sein Gesicht war blaß und schmal, die Stirn ausladend, die Augen alles andere als ruhig. Als Camb den Hörer niederlegte, trat der Mann mit merkwürdig unterwürfiger Verlegenheit an den Tresen.

»Ja, Sir?« sagte der Sergeant. »Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Margolis. Rupert Margolis.« Merkwürdige Stimme. Burden hätte eher eine Art Cockney, den Dialekt der Gegend, erwartet, irgendetwas, das zu seiner Kleidung gepaßt hätte, jedenfalls nicht diese dekadent-kultivierte Kraftlosigkeit. Margolis machte eine betonte Pause, nachdem er seinen Namen genannt hatte, so, als erwarte er eine ungeheure Reaktion. Er legte den Kopf auf die Seite, als warte er auf Ausrufe des Entzückens oder auf Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Aber Camb nickte nur zögernd. Der Besucher hüstelte leicht und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

»Ich dachte«, begann er schließlich, »ob Sie mir vielleicht sagen könnten, wie man es anstellt, eine Putzfrau zu finden?«

Weder Hunde noch Brieftaschen, noch Sicherungen, noch Spitzeldienste! Dieser Bursche wollte einfach nur sein Haus saubergemacht kriegen! Ganz schön beschämende Fehleinschätzung, beziehungsweise eine heilsame Lektion, sich nicht zu oberflächlichen Schlußfolgerungen hinreißen zu lassen! Burden lächelte in sich hinein. Was der Kerl wohl dachte, wo er hier war? Auf dem Arbeitsamt, auf dem Informationsbüro für Rat suchende?

Camb, der so leicht durch nichts aus der Ruhe zu bringen war, bedachte Margolis mit einem Lächeln, das den Fragenden eigentlich hätte ermutigen können, Burden jedoch wußte, daß sich hinter diesem Lächeln philosophische Resignation verbarg, gipfelnd in der Maxime, daß es auf dieser Welt nichts gab, was es nicht gab.

»Also, mein Herr, das Arbeitsamt ist nur fünf Minuten von hier entfernt. Gehen Sie die York Street hinunter, an Joy Jewels vorbei, und dort ist es direkt neben der Red Star Garage. Versuchen Sie es doch einmal da. Und wie wäre es zum Beispiel mit einem Inserat im Lokalblatt oder mit einem Aushang in Grovers Schaukasten?«

Margolis runzelte die Stirn. Seine Augen hatten die Farbe eines Vogeleis, ein helles, grünliches Blau, und wie ein Vogelei waren sie mit bräunlichen Flecken gesprenkelt. »Ich bin so ungeschickt mit all diesen praktischen Dingen«, sagte er bekümmert und ließ den Blick über die prätentiöse Ausstattung der Halle gleiten.

»Sehen Sie, normalerweise kümmert sich meine Schwester um all so was, aber die ist am Dienstag auf und davon gegangen, allem Anschein nach jedenfalls.« Er seufzte tief und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Tresen. »Das ist nämlich das zweite, was mir Sorgen macht. Im Moment bin ich vollkommen im Stich gelassen. Kein Mensch kümmert sich um mich.«

»Wie gesagt, das Arbeitsamt, Sir«, wiederholte Camb unerbittlich, wandte sich ab und griff hastig nach ein paar im Luftzug aufwirbelnden Papieren, als Inspektor Drayton von draußen hereintrat. »Ich werde mich wohl oder übel mal um diese Tür kümmern müssen. Ist ja reine Verschwendung, hier drinnen zu heizen!«

Margolis machte keine Anstalten zu gehen, sondern sah zu, wie der Sergeant den verchromten Türgriff auf und nieder bewegte und sich vorbeugte, um den Schnapper zu überprüfen.

»Ich frag mich bloß, was Ann wohl macht«, redete er hilflos weiter. »Es sieht ihr so gar nicht ähnlich, einfach abzuhauen und mich in meinem ganzen Chaos sitzenzulassen.«

Burdens Geduld war nahezu erschöpft. »Wenn Sie sonst weiter keine Nachricht für mich haben, Sergeant, dann fahr ich jetzt nach Sewingbury hinüber. Und Sie können mich begleiten, Drayton.«

»Keinerlei Nachrichten«, bestätigte Camb, »aber ich habe gehört, Monkey Matthews ist wieder auf freiem Fuß.«

»Dachte ich mir schon, daß es wieder mal soweit ist«, erwiderte Burden.

Die Heizung des Wagens arbeitete auf vollen Touren, und Burden ertappte sich bei dem Wunsch, Sewingbury wäre sechzig Kilometer entfernt und nicht sechs. Die Scheiben fingen bereits an, unter ihrer Atemluft zu beschlagen, als Drayton in die Kingsbrook Road einbog.

»Wer ist Monkey Matthews, Sir?« fragte er und gab Gas, weil die Geschwindigkeitsbegrenzung aufgehoben war.

»Richtig, Sie sind ja noch nicht so lange bei uns. Monkey ist ein Gauner, ein Dieb und ein Hochstapler im Kleinformat. Wir haben ihn letztes Jahr eingebuchtet, weil er versucht hat, jemanden in die Luft zu jagen, und zwar auf sehr kleinkarierte Weise, mit einer hausgemachten Bombe nämlich. Er ist so um fünfzig, sagenhaft häßlich und hat verschiedene menschliche Schwächen. Unter anderem ist er ein Schürzenjäger.«

Vollkommen ernst meinte Drayton: »Monkey – das klingt nicht gerade sehr menschlich.«

»Er sieht auch eher aus wie ein Affe«, erklärte Burden kurz angebunden, »wenn Sie das meinen.« Schließlich bestand ja kein Grund, eine simple Bitte um Sachinformation in eine Unterhaltung ausarten zu lassen. Daran war Wexford schuld, der hatte eine Vorliebe für Drayton und zeigte das auch. Man brauchte eben nur anzufangen, sich Untergebenen gegenüber kumpelhaft zu geben und mit ihnen Witze zu reißen, und schon nutzten sie das aus. Er wandte Drayton den Rücken zu, blickte durchs Seitenfenster über die frostigen Felder hin und fuhr betont sachlich fort: »Er raucht wie ein Schornstein und hat einen entsprechenden Friedhofshusten. Mit dem kriegen Sie’s bestimmt noch zu tun, ob Sie wollen oder nicht. Halten Sie nur die Augen offen.« Besser, er hörte es gleich so klipp und klar von ihm und nicht in Wexfords stark ausgeschmückter Version. Der Chefinspektor hielt sich eine Menge zugute auf eine gewisse joviale Kameraderie, die ihn mit solchen Typen wie Monkey verband, und für jemanden in seiner Position war das ja auch völlig in Ordnung. Konfrontierte man jedoch jemanden wie Drayton von vornherein mit dem eher komischen Aspekt eines solchen Falles – wer konnte wissen, wohin das noch führte!

Mit einem verstohlenen Seitenblick umfaßte er das dunkle, harte Profil des jungen Mannes. Sie waren doch alle gleich, diese Jungen – argwöhnisch, verschlossen, und unterwärts dann nichts als Nerven und Komplexe!

»Zuerst zu Knobby Clark, Sir?«

Burden nickte. Wie lange wollte Drayton sein Haar eigentlich noch wachsen lassen? Womöglich wochenlang, bis er aussah wie ein Schlagzeuger in einer dieser Popgruppen? Wexford hatte natürlich recht, wenn er fand, sie müßten ja nicht allesamt sofort als Polizisten zu erkennen sein – vom Regenmantel bis zu den Schuhen, aber dieser Dufflecoat hier war nun wirklich das Letzte. Man brauchte Drayton nur zwischen eine Gruppe von Gaunern zu stellen, und es wäre unmöglich, die Schafe von den Ziegen zu unterscheiden.

Der Wagen hielt vor einem kleinen, billigen Juwelierladen.

»Doch nicht hier im Halteverbot, Drayton!« fuhr Burden den Jungen scharf an, noch bevor er die Handbremse gezogen hatte. Sie gingen hinein. Ein dicker Mann von sehr kleiner Statur, auf dessen Stirn sich ein dunkelrotes Muttermal bis weit über den kahlen Schädel hinzog, stand hinter einer gläsernen Verkaufsvitrine und fingerte an einem Armband und einem Ring herum.

»Gräßlich kalter Vormittag«, sagte Burden.

»Ja, schlimm, Mr. Burden.« Knobby Clark, Juwelier und gelegentlich auch Hehler gestohlener Sachen, trat unruhig ein, zwei Schritte seitwärts. Er war zu klein, um über die Schulter der Kundin hinwegzusehen, deren Schmuckstücke er soeben taxierte. So kam der ganze massige Kopf in Sicht, der aussah wie das Riesenexemplar eines Knollengemüses, wie eine Steckrübe vielleicht oder ein Kohlrabi – ein Eindruck, der vor allem durch die ungleichmäßige Färbung des Muttermals hervorgerufen wurde.

»Sie brauchen sich nicht zu beeilen«, meinte Burden, »ich habe Zeit, notfalls den ganzen Tag.«

Er widmete seine Aufmerksamkeit ein paar ausgestellten Carriage Glocks. Die Frau, mit der Knobby feilschte, war – das hätte er schwören können – durch und durch korrekt und wohlanständig. Sie trug einen dicken Tweedmantel, der ihr bis weit über die Knie reichte, obgleich sie ziemlich jugendlich wirkte, und die Handtasche, aus der sie die in ein feines, frisches Taschentuch gehüllten Schmuckstücke hervorgeholt hatte, war bestimmt einmal sehr teuer gewesen. Ihre Hände zitterten ein wenig, und Burden sah, daß sie zwei Eheringe trug. Das Zittern der Hände hätte sich vielleicht mit der eisigen Kälte in Knobbys ungeheiztem Laden erklären lassen, für das Zittern ihrer Stimme hingegen konnten nur die Nerven verantwortlich sein, die Nerven und das verständliche Widerstreben einer solchen Frau, überhaupt herkommen zu müssen.

Zum zweiten Male an diesem Tag war er überrascht von dem Ton und dem Akzent einer Stimme. «Ich war immer der Überzeugung, dieses Armband sei wertvoll«, sagte sie, und es klang ein wenig beschämt. »Alle Geschenke, die mein Mann mir gemacht hat, waren es.«

»Kommt darauf an, was man unter wertvoll versteht«, versetzte Knobby, und Burden wußte, daß der gewinnende Unterton und die Servilität, hinter der sich eiskalte Unnachgiebigkeit gegenüber Bitten und Argumenten verbarg, für seine Ohren bestimmt waren.

»Ich werde Ihnen sagen, was ich tue: Ich gebe Ihnen für beides zusammen einen Zehner.«

Wie ein Rauchwölkchen hing ihr erschrocken ausgestoßener Atem in der eisigen Atmosphäre. »O nein, das kann ich nicht!« Sie versuchte, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken, aber als sie mit dem Taschentuch hantierte, schepperte das Armband leise vibrierend gegen die Glasplatte.

»Wie Sie wollen«, sagte Knobby Clark achselzuckend. Ungerührt sah er zu, wie die Handtasche zuschnappte. »Nun, Mr. Burden, und was kann ich für Sie tun?«

Burden erwiderte zunächst gar nichts. Er begriff die Demütigung der Frau, man sah ihr ihre Enttäuschung an, die mehr wie verletzte Liebe wirkte als wie gekränkter Stolz. Mit einem höflichen »Entschuldigen Sie bitte« schob sie sich an ihm vorbei, während sie ihre Handschuhe überstreifte und dabei jene merkwürdige Disziplin der Augen wahrte, die, wie es heißt, zu den Exerzitien der Nonnen gehört. Geht auf die Vierzig zu, konstatierte er im Geiste, nicht mehr hübsch, hat mal bessere Tage gesehen. Er hielt ihr die Tür auf.

»Ach, vielen Dank«, sagte sie, nicht gerade überschwänglich, aber doch mit leisem Erstaunen, so, als sei sie früher, vor langer Zeit, an dergleichen Aufmerksamkeit gewöhnt gewesen, die sie jetzt für immer verloren glaubte.

»Sie haben wohl nicht zufällig was von diesem Zeug hier zu Gesicht bekommen?« eröffnete Burden drohend das Gespräch und hielt Knobby eine Liste der gestohlenen Glasgegenstände unter die Knollennase.

»Das habe ich Ihrem jungen Mann doch bereits gesagt, Mr. Burden.«

Drayton reckte sich unmerklich in die Höhe, und um seinen Mund erschien ein harter Zug.

»Ich glaube, ich sehe mich mal selbst ein bißchen bei Ihnen um.« Knobby riß den Mund auf, um zu widersprechen, und die Goldfüllungen seiner Zähne glänzten mit den Uhren um die Wette. »Nun schreien Sie bloß nicht nach einem Durchsuchungsbefehl, dazu ist es viel zu kalt.«

Die Suche erbrachte nichts. Burdens Hände waren rot und steif, als sie aus dem Hinterzimmer zurückkamen. »Aladins Höhle in der Arktis«, brummte er.

»Okay, das genügt für den Augenblick.« Knobby war nicht nur ein Hehler, sondern gelegentlich auch ein Informant. Burden schob seine Hand in die Brusttasche, wo die Brieftasche die Linie des neuen Anzugs ein wenig störte.

»Haben Sie uns vielleicht irgendetwas zu erzählen?«

Knobby legte seinen Gemüsekopf auf die Seite. »Monkey Matthews ist wieder da«, versuchte er es hoffnungsvoll.

»Erzählen Sie mir was, das ich noch nicht weiß«, fuhr Burden ihn barsch an.

 

Die Schwingtür war in Ordnung gebracht, als sie zurückkamen. Dafür war es jetzt schwierig, sie überhaupt zu öffnen. Sergeant Cambs saß an seiner Schreibmaschine, mit dem Rücken zum Tresen. Sein erhobener Finger verharrte in der Luft, und er blickte leicht irritiert drein. Als er Burden sah, polterte er los, so ärgerlich es seine Frohnatur zuließ:

»Ich bin den Burschen jetzt erst losgeworden!«

»Wen losgeworden?«

»Na, diesen Clown, der hier reinkam, als Sie weggingen.«

»Warum sind Sie auch immer so mitfühlend.«

»Ich glaube, der hat gehofft, ich schicke ihm Wachtmeister Peach in seine Kate runter, um sie sauberzumachen, wenn er bloß lange genug jammert. Im Quince Cottage wohnt der, unten im Pump Lane. Lebt da mit seiner Schwester zusammen. Bloß, die hat sich aus dem Staub gemacht und hat ihn in seinem Dreck sitzengelassen. Ist Dienstagabend auf ‘ne Party gegangen und nicht wieder zurückgekommen.«

»Und hergekommen ist er, weil er eine Putzfrau sucht?« Burden fand das ein bißchen bedenklich, andererseits verlängerten sie auch nicht gern unnötig ihre Vermißtenliste, wenn es sich vermeiden ließ.

»Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll«, hat er gesagt. ›Sonst ist Ann nie weggegangen, ohne mir einen Zettel zu hinterlassen.‹ – Ann hier und Ann dort! Da kann man sich wirklich nur fragen: Bin ich meines Bruders Hüter?«

Der Sergeant war ein redseliger Mensch, und Burden konnte nicht umhin, sich zu fragen, wie weit Cambs eigene Schwatzhaftigkeit wohl Rupert Margolis’ Herzensergießungen gefördert hatte. »Ist der Chef schon da?« fragte er.

»Da kommt er gerade, Sir.«

Wexford hatte seinen Wintermantel an, diesen scheußlichen grauen Mantel, der nie während eines Kälteeinbruches zufällig in der Reinigung war, weil er nämlich überhaupt niemals gereinigt wurde. Seine Farbe und die merkwürdig runzlige Beschaffenheit des Stoffes suggerierten unausweichlich den ohnehin naheliegenden Vergleich mit einem Elefanten, als der Chefinspektor jetzt schweren Schrittes die Treppe herunterkam, die Hände in die Taschen gebohrt, wo sich die Umrisse seiner Fäuste auch dann noch abzeichneten, wenn sie leer waren.

»Lunch im Carousel, Sir?« schlug Burden vor.

»Gut, warum nicht.« Wexford griff nach der Schwingtür und mußte noch einmal kräftig nachdrücken, weil sie klemmte. Mit unterdrücktem Grinsen setzte sich Camb wohlgemut wieder an seine Schreibmaschine.

»Irgendwas Neues inzwischen?« fragte Burden, als ihnen zwischen den Hyazinthenschalen der Wind ins Gesicht fuhr.

»Nichts Besonderes«, entgegnete Wexford und drückte sich den Hut fester in die Stirn. »Monkey Matthews ist wieder draußen.«

»Ach, wirklich?« meinte Burden, streckte die Hand aus und spürte die ersten Tropfen eines eisigen Regens.

Kapitel 3

 

Wenn Chefinspektor Wexford an einem Freitagmorgen an seinem Rosenholzschreibtisch saß und die Wochenendbeilage des DAILY TELEGRAPH las, so war das ein sicheres Indiz dafür, daß das Leben in Kingsmarkham geradezu bedächtig verlief. Vor ihm stand eine Tasse Tee, die Zentralheizung atmete köstliche Wärme aus und die neuen, blaugrauen, handgewebten Vorhänge waren zum Schutz gegen den deprimierenden Anblick des pladdernden Regens halb zugezogen. Wexford überflog einen Artikel über die Strände von Antigua und zog den Scherenarm seiner Arbeitslampe tiefer herunter, um besseres Licht zu haben. In seinen kleinen steingrauen Augen erschien ein Ausdruck spöttischer Belustigung, als sein Blick an der ungewöhnlich üppigen Reklame für Kleidung, Accessoires und Pflegeartikel hängenblieb. Sein eigener Anzug war grau, doppelreihig, und er beutelte sowohl unter den Armen als auch an den Taschen. Gelangweilt blätterte er weiter. Ihn interessierten weder Aftershave-Lotions noch Haarcreme, noch Diät. Er war nun mal korpulent und schwer, war immer schon vierschrötig gewesen und würde es auch bleiben, und sein Gesicht war häßlich, das Gesicht eines Silens mit Stupsnase und breitem Mund. Den Klassikern zufolge war Silenos der ständige Begleiter des Bacchus, aber das Äußerste, was Wexford mit Bacchus gemein hatte, war ein gelegentliches gemeinsames Gläschen mit Inspektor Burden im Olive and Dove.

Auf der zweitletzten Seite stieß er auf einen Artikel über Kunst, der seine Aufmerksamkeit weckte. Wexford war kein unkultivierter Mann, und der Artikel begann ihn zu interessieren. Er betrachtete gerade eingehend die Farbfotografien – zwei von Gemälden und eine vom Maler selbst –, als Burden eintrat.

»Na, viel kann ja nicht los sein«, meinte Burden, als er die Wochenendbeilage sah und daneben Wexfords unordentlich aufgeschichtete Korrespondenz. Er trat hinter den Chefinspektor und blickte ihm über die Schulter. »Die Welt ist doch verdammt klein«, meinte er. Sein Ton ließ Wexford aufblicken.

»Der Kerl da war gerade gestern hier.« Dabei tappte er mit dem Finger auf das abgebildete Gesicht.

»Wer? Rupert Margolis?«

»Was, der ist Maler? Ich hielt ihn mehr für einen Popper.«

Wexford grinste. »Hier steht, daß er ein neunundzwanzig Jahre altes Genie ist, dessen Gemälde ›Die Morgendämmerung des Nichts‹ soeben von der Tate Gallery angekauft worden ist.« Er überflog die Zeilen. »Margolis, dessen sogenannte ›Schmutzmalerei‹ nicht mit der derzeitigen Epoche des ›Theaters der Grausamkeit‹ zusammenfällt, benutzt für seine Arbeiten neben Farbe auch Kohlenstaub, Teeblätter und anderes mehr. Er ist fasziniert von den wundervoll mannigfaltigen Möglichkeiten, stoffliche Strukturen verfremdet einzusetzen, usw., usw. ... Nun kommen Sie, Mike, machen Sie nicht solch ein Gesicht. Man muß schließlich dem Neuen aufgeschlossen bleiben! – Und was wollte er hier?«

»Er suchte eine Haushaltshilfe.«

»Oh, jetzt sind wir also schon ein Vermittlungsbüro für Hauspersonal, was? Burdens Butler-Büro!«

Lachend las Burden den Absatz unter dem dicken Zeigefinger des Chef Inspektors laut vor: »›Verschiedene Arbeiten aus Margolis’ brillantem Gesamtwerk sind die Früchte eines zweijährigen Aufenthaltes auf Ibiza. Seit einem Jahr jedoch haben er und seine Schwester Anita ihren Wohnsitz in Sussex genommen. Margolis arbeitet in einem Atelier aus dem sechzehnten Jahrhundert, dem umgestalteten Wohnraum des sogenannten Quince Cottage in Kingsmarkham. Und hier, unter dem blutroten Quittenbaum, der der alten Kate den Namen gab, hat er gewissermaßen nach sechsmonatiger, peinvoller Schwangerschaft unter Schöpferqualen sein Meisterwerk zur Welt gebracht, sein ›Nichts‹, wie er es eigenbrötlerisch nennt.‹«

»Ziemlich viel Geburtshelferlatein«, seufzte Wexford. »Tja, das können wir uns nun nicht leisten, Mike, so einfach ein ›Nichts‹ zur Welt zu bringen!«

Aber Burden hatte sich mit dem Magazin auf den Knien hingesetzt. »Gar nicht uninteressant, das hier«, meinte er und las vor: »›Anita, ein ehemaliges Modell und Playgirl aus Chelsea, ist oft in der High Street von Kingsmarkham zu sehen, wenn sie mit ihrem weißen Alpine-Sportwagen zum Einkaufen fährt‹ ... Ich hab sie also wohl nie gesehen, denn anscheinend: einmal gesehen – nie wieder vergessen! Aber hören Sie weiter: ›dreiundzwanzig Jahre alt, dunkel, makellos schön, mit bezwingenden grünen Augen. Sie ist die Ann von Margolis’ Porträt, für das ihm ein südamerikanischer Sammler zweitausend Pfund geboten hat. Ihrer Fürsorge und Anteilnahme an seinem Schaffen verdankt Margolis die Anregung zu einigen seiner besten Arbeiten, und hier ist auch, wie manche Leute sagen, der Grund zu finden, weshalb sie vor sechs Monaten ihre Verlobung mit dem Dichter und Schriftsteller Richard Fairfax löste.‹«

Wexford fingerte nervös an der Glasskulptur herum, die erst kürzlich zusammen mit den Vorhängen und dem Schreibtisch als Dekoration im Polizeipräsidium erschienen war. »Warum kaufen Sie sich eigentlich nicht selbst den TELEGRAPH, wenn Sie so wild darauf sind?« brummte er.

»Ich lese es doch bloß, weil es von lokalem Interesse ist«, verteidigte sich Burden. »Komisch, was so alles um einen herum vorgeht, und man weiß nichts davon.«

Vieldeutig zitierte Wexford: »Noch manche Perle, voll des reinsten Lichts, liegt in des dunklen Ozeans geheimen Gründen.«

»Von dunklen, geheimen Gründen weiß ich nichts.« Burden reagierte stets sehr empfindlich auf Kritik an seiner Heimatstadt. Er klappte das Magazin zu. »Schöne Perle ist mir das. Dunkel und makellos schön, mit bezwingenden grünen. Augen. Geht auf Partys und kommt nicht nach Hause ...«

Der Blick, der Burden traf, war wie ein kalter Blitz. »Was sagen Sie da?«

Überrascht blickte Burden auf. – »Ich sagte, sie geht auf Partys und kommt nicht nach Hause.«

»Klar, das hab ich ja gehört.« Hellwache Schroffheit klang aus Wexfords plötzlicher Ungeduld. Der frozzelnde Unterton seiner Stimme, während sie den Artikel gelesen hatten, war abrupt verschwunden, aus witzelnder Ironie war knallharte Unverbindlichkeit geworden.

»Ich weiß, was Sie gesagt haben. Ich möchte wissen, warum Sie es gesagt haben. Woher wissen Sie das?«

»Wie ich bereits sagte, war unser Genius auf seiner Jagd nach einer Scheuerfrau auch bei uns. Dabei geriet er in eine Unterhaltung mit Camb, und dem hat er erzählt, seine Schwester sei am Dienstagabend zu einer Party gegangen, und er habe sie seither nicht mehr gesehen.«

Wexford erhob sich langsam. Das schwere, faltige Gesicht sah verdutzt aus, aber es lag auch noch etwas anderes darin. Zweifel? Angst? »Moment mal – Dienstagabend?« fragte er stirnrunzelnd. »Sind Sie sicher, daß es Dienstagabend war?«

Burden hielt nichts von Geheimnistuerei zwischen Kollegen. »Sehen Sie, Sir, er hat sie nicht mal als vermißt gemeldet. Wozu also die Panik?«

»Was heißt hier Panik!« Er schrie es fast. »Mike, wenn ihr Name Ann ist und wenn sie am Dienstagabend verschwunden ist, dann wird es ernst! Kein Bild von ihr hier drin, wie?« Wexford schnippte hastig die Seiten des Magazins, das er Burden einfach weggerissen hatte, umeinander. »Nein, kein Bild«, sagte er verärgert. »Wetten, daß der Bruder auch keins hat?«

Burden versuchte zu beschwichtigen: »Seit wann geraten wir eigentlich derartig aus dem Häuschen, bloß weil es einem alleinstehenden Mädchen – einem gutaussehenden, wahrscheinlich reichen Mädchen – in den Sinn kommt, mit einem Freund ins Blaue zu verschwinden?«

»Seit eben jetzt«, fauchte Wexford. »Seit heute Morgen. Hier ...« Der Stapel Papiere, Wexfords morgendliche Posteingänge, sah zwar aus wie ein Abfallhaufen, aber er fand den Umschlag mit einem Griff und hielt ihn Burden hin. »Da, das gefällt mir gar nicht, Mike.« Er schüttelte einen dicken, gefalteten Bogen heraus. Die Glasskulptur, indigoblau und transparent, warf ihren diffusen, leuchtenden Abglanz darüber hin wie eine Blase aus Tinte.

»Aus und vorbei ist es mit der Geruhsamkeit«, sagte er.

 

Es war ein anonymer Brief, der jetzt dort lag, wo das Magazin gelegen hatte. Die Worte waren mit rotem Kugelschreiber geschrieben.

»Sie wissen ja selbst, wie viele von solchen Dingern wir ständig kriegen«, meinte Wexford. »Ich war schon drauf und dran, ihn in den Papierkorb zu werfen.«

Eine nach rückwärts geneigte Handschrift, eine große, offensichtlich verstellte Schrift. Weder war das Papier schmutzig, noch waren die Worte obszön. Der Abscheu, den Burden empfand, galt lediglich der Feigheit des Schreibers, seinem widerwärtigen Wunsch, sich einen Nervenkitzel zu verschaffen, ohne sich zu erkennen zu geben.

Stumm las er: