Die Tote im Pfarrhaus - Ruth Rendell - E-Book

Die Tote im Pfarrhaus E-Book

Ruth Rendell

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Beschreibung

Ein idyllischer Vorort in England, ein schrecklicher Mord und zu viele Verdächtige ...

Eigentlich wollte Inspector Wexford seinen Ruhestand genießen. Doch das Nichtstun erweist sich als ziemlich langweilig. Umso erfreuter ist er, als ihn sein alter Freund Mike Burden um Hilfe bei einem Fall bittet: Reverend Sarah Hussein wurde erwürgt im Pfarrhaus aufgefunden. Eine alleinerziehende Frau mit indischen Wurzeln als Geistliche? Das war vielen Einwohnern von Kingsmarkham ein Dorn im Auge. Doch auch ein brisantes Geheimnis aus ihrer Vergangenheit könnte der Grund für ihren Tod sein ...

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Buch

Eigentlich wollte Inspector Wexford seinen Ruhestand genießen. Doch das Nichtstun erweist sich als ziemlich langweilig. Umso erfreuter ist er, als ihn sein alter Freund Mike Burden um Hilfe bei einem Fall bittet: Reverend Sarah Hussain wurde erwürgt im Pfarrhaus aufgefunden. Eine alleinerziehende Frau mit indischen Wurzeln als Geistliche? Das war vielen Einwohnern von Kingsmarkham ein Dorn im Auge. Doch auch ein brisantes Geheimnis aus ihrer Vergangenheit könnte der Grund für ihren Tod sein …

Autorin

Ruth Rendell wurde 1930 in London geboren und lebte dort bis zu ihrem Tod 2015. Sie arbeitete als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. 1997 wurde sie mit dem Grand Master Award der Crime Writers’ Association of America, dem renommiertesten Krimipreis, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell ist auch unter dem Pseudonym Barbara Vine bekannt.

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Ruth Rendell

Die Tote im Pfarrhaus

Ein Inspector-Wexford-Roman

Deutsch vonKarin Dufner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »No Man’s Nightingale« bei Hutchinson, London.1. AuflageCopyright der Originalausgabe © 2013 by Kingsmarkham Enterprises Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Rainer SchöttleUmschlaggestaltung: © www.buerosued.deUmschlagmotiv: © Dave Wall/Arcangel ImagesJaB · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-15585-8V001www.blanvalet.de

1

Maxine war stolz darauf, drei Jobs zu haben. Immerhin gab es heutzutage immer mehr Leute, die gar keinen hatten. Für die hatte sie zwar kein Verständnis, beglückwünschte sich jedoch selbst zu ihrem eigenen Tatendrang. Zwei Vormittage in der Woche putzte sie bei Mrs. Wexford, zwei bei Mrs. Crocker und an den Nachmittagen bei zwei weiteren Frauen in Kingsmarkham. Sie erledigte die Gartenarbeit, wusch die Autos von Mr. Wexford und Dr. Crocker und babysittete jeden Abend, wenn sie gebraucht wurde, bei denen, deren Kinder noch so klein waren, dass sie beaufsichtigt werden mussten. Sie putzte für die Frauen und kümmerte sich um die Gärten und Autos der Männer, weil sie nie an diesen feministischen Gleichstellungsmist geglaubt hatte. Immerhin war es eine altbekannte Tatsache, dass Männer sich nicht um die Sauberkeit im Haus scherten, während eine normale Frau sich weder für Autos noch für den Rasen interessierte. Fürs Babysitten verlangte Maxine den Höchstpreis, außer wenn es um ihren eigenen Sohn und seine Lebensgefährtin ging. Ihre Enkelin versorgte sie kostenlos. Was die anderen betraf, mussten sie eben zahlen, wenn sie Kinder hatten. Schließlich hatte sie selbst vier zur Welt gebracht und wusste Bescheid.

Sie war eine gute Angestellte, zuverlässig, pünktlich und verhältnismäßig ehrlich, und stellte nur die Forderung, dass sie in bar bezahlt wurde. Wexford, immerhin ein kürzlich pensionierter Polizeibeamter, hatte sich zunächst quergestellt, aber schließlich genauso nachgegeben wie der Finanzbeamte am Ende der Straße. Immerhin hätten mindestens ein Dutzend anderer Haushalte fast jede Summe hingeblättert, um sich Maxines Dienste zu sichern. Sie hatte nur einen Fehler: Sie redete zu viel. Nicht nur während der Teepause oder wenn sie ging oder die Gartengeräte wegräumte, sondern ständig bei der Arbeit, und zwar mit jedem, der sich zufällig im Raum befand. Die Arbeit selbst wurde ordentlich erledigt, auch wenn sich ein steter Redestrom aus ihrem Mund ergoss.

Ihre Geschichte an diesem Tag handelte davon, wie ihr Sohn Jason, inzwischen Filialleiter des Questo-Supermarkts in Kingsmarkham, einen Kunden zurechtgestutzt hatte, der glaubte, sich über eine seiner Kassiererinnen beschweren zu müssen. Offenbar hatte die Frau ihn als »alten Mann« bezeichnet. Doch Jason hatte die Wogen elegant geglättet, den Mann beruhigt und ihn von der Schichtleiterin nach Hause fahren lassen. »Tja, mein Jason war ein richtiger Rabauke«, ergänzte Maxine, und das nicht zum ersten Mal. »Aber in keiner dieser Banden. Ich will nicht behaupten, dass er nicht ein paar Verwarnungen abgekriegt hätte, ein bisschen Ladendiebstahl, das lag ihm irgendwie im Blut. Und die ganze Nacht auf Achse, obwohl er noch minderjährig war … Getrunken hat er auch, na ja, Komasaufen nennt man das wohl. Und was das Ecstasy betrifft, ach, Designerdrogen heißt das ja inzwischen. Hoffentlich ist Mr. Wexford außer Hörweite und hat das jetzt nicht mitgekriegt. Die Sachen eben, weswegen er eingefahren ist. Doch seit er und Nicky ein Kind haben, hat er sich völlig verändert. Ein Mustervater, ich kann es noch immer kaum fassen.« Von erneutem Tatendrang beseelt, machte sie sich mit einem in Putzmittel getränkten Lappen über das Silber her, schwang anschließend den Staubwedel und widmete sich dann wieder dem Silber. »Inzwischen ist sie über ein Jahr alt, Isabella, aber als sie noch ganz klein war, ist Nicky nie in der Nacht aufgestanden. Das brauchte sie gar nicht, nein, mein Jason hat die Kleine aus ihrem Bettchen geholt, bevor sie nur einen Mucks von sich geben konnte. Er hat sie hin und her getragen und sie angesäuselt, wie ich es noch nie bei einem Kerl gehört habe. Wobei ich hinzufügen muss, dass Nicky ihm dafür nie dankbar war. Ich finde es unnatürlich, wenn eine Mum, die ein kleines Baby hat, die ganze Nacht durchschläft, und das habe ich ihr auch gesagt.«

Sogar Maxine musste ab und zu innehalten, um Luft zu holen. Dora Wexford ergriff die Gelegenheit beim Schopf und verkündete, sie müsse jetzt los. Maxines Geld befände sich in einem Umschlag auf dem Flurtisch. Während sie in den Wintergarten flüchtete, um ihrem Mann mitzuteilen, sie sei in etwa einer Stunde zurück, nahm der Monolog weiter seinen Lauf.

Wexford saß in einem Rattansessel in der Herbstsonne und tat das, was sich viele Männer und Frauen vornehmen, wenn sie erst einmal in Rente sind, aber nur selten wirklich in die Tat umsetzen. Er las Der Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Eigentlich hatte er sich in der Erwartung darangemacht, dass es eine schwierige Lektüre werden würde, das Buch aber rasch ziemlich spannend gefunden und jedes Wort genossen. Fast am Ende des ersten Bandes angelangt, freute er sich schon auf die fünf weiteren. Er meinte zu Dora, dies sei der richtige Zeitpunkt, ihn in Ruhe zu lassen.

»Du bist dran,« flüsterte sie.

»Ich wusste nicht, dass wir einen Zeitplan hatten.«

»Jetzt weißt du es. Du bist in der Pflicht.«

Sobald Dora fort war, stürzte Maxine sich auf den Staubsauger und klammerte sich daran fest, während sie zu Wexford hin über die Schulter spähte.

»Sie haben ja einen Reiseführer für Rom hier, wie ich sehe. Wollen Sie dort Ihren Urlaub verbringen? Meine Schwester und ich waren auf unserer Pauschalreise in fünf italienische Städte dort. Oh, es war wundervoll, aber so heiß, dass man es kaum glauben möchte. Zu meinem Jason habe ich gesagt, dass er und Nicky unbedingt ihre Flitterwochen dort verbringen müssten, falls sie es jemals zum Standesamt schaffen, um ihre Verbindung unauflöslich zu machen. Nur, dass Heiraten heutzutage zwecklos ist, wenn Sie mich fragen. Ich habe es nie getan, und ich schäme mich auch nicht dafür.« Sie schaltete zwar den Staubsauger ein, redete aber weiter. »Nicky bildet sich unbedingt eine große Hochzeit in Weiß ein, wie alle anderen heutzutage. Nur, dass das Tausende kostet. Sie wirft eben gern mit dem Geld um sich. Mein Jason hat zwar, anders als so viele, einen guten Job.« Ihre Stimme wurde vom Dröhnen des Staubsaugers übertönt, weshalb sie lauter sprach. »Wie ich es mir denke, wird mein Jason weder in die Flitterwochen noch sonst wohin fahren, ohne Isabella mitzunehmen. Er hält es nicht aus, das Kind mehr als die acht Stunden, die er arbeiten muss, aus den Augen zu lassen, geschweige denn eine ganze Woche. Er betet förmlich den Boden an, über den sie schreitet, nur, dass sie noch nicht schreitet, sondern eher krabbelt.« Eine Pause, um den Aufsatz am Rohr des Staubsaugers zu wechseln. Dann: »Haben Sie von der armen Vikarin gehört, die ermordet wurde? Und ich habe die Leiche gefunden! Es kam überall in den Zeitungen und im Fernsehen. Ich habe mir gedacht, dass Sie das interessiert, obwohl Sie nicht mehr im Geschäft sind. Bis vor ein paar Wochen habe ich bei ihr geputzt, aber da gab es ein paar Sachen, in denen wir uns einfach nicht einig wurden. Abgesehen davon, dass sie nie in bar bezahlen wollte, sondern nur online – ich muss schon bitten, so etwas lasse ich mir nicht bieten. Sie hat immer die Hintertür offen gelassen, und ich bin vorbeigekommen, um das Geld abzuholen, das sie mir schuldete. Ich habe einen Mordsschrecken gekriegt. Natürlich war da kein Blut, denn sie war ja erwürgt worden, doch ein Schock war es trotzdem. So was mag man sich doch nicht einmal ausmalen! Aber Sie mussten sich früher bestimmt über solche Sachen Gedanken machen, denn es war ja Ihr Job. Sicher sind Sie erleichtert, das alles hinter sich zu haben …«

Wexford stand auf, sein Buch fest in der Hand. »Ich nehme jetzt ein Bad!«, überschrie er das Dröhnen des Staubsaugers.

Erschrocken hielt Maxine in ihrem Monolog inne. »Es ist halb elf.«

»Ein ausgezeichneter Zeitpunkt, um ein Bad zu nehmen«, entgegnete Wexford auf dem Weg zur Treppe, während er die letzten Zeilen des ersten Bandes las, die einen ganz anderen Mord schilderten, nämlich den an Julius Cäsar … zur prächtigsten Zeit des Jahres, der Sonnenball wirkte bleich und glanzlos. Diese dunstige Jahreszeit, die man gewiss nicht mit der zu früh hereingebrochenen Finsternis der Passionsnacht vergleichen kann, wurde bereits von den meisten Dichtern und Historikern dieser denkenswerten Jahre besungen …

Sein Mobiltelefon läutete. Detective Superintendent Burden, auf der Kontaktliste als Mike verzeichnet.

»Ich mache mich gleich auf den Weg zum Pfarrhaus von St Peter’s und nehme Lynn mit. Ich dachte, du möchtest vielleicht auch dabei sein.«

Wexford hatte heute schon geduscht. Ein Bad um halb elf war wirklich nicht nötig, außer um Reißaus vor Maxine zu nehmen. »Sehr gerne.« Er versuchte, sich die Begeisterung nicht anmerken zu lassen, leider vergeblich.

»Überschlag dich nicht gleich vor Glückseligkeit. Keine große Sache«, erwiderte Burden überrascht.

»Für mich schon.«

Er schloss die Badezimmertür. Maxine würde sie vermutlich nicht öffnen, aber wahrscheinlich annehmen, dass er sich ein besonders ausgiebiges Bad gönnte. Der Staubsauger dröhnte immer noch, als er zur Haustür hinausschlüpfte und sie beinahe lautlos hinter sich zuzog, indem er den Schlüssel im Schloss umdrehte. Einen interessierten Zivilisten – und das war er ja wohl inzwischen – zu einem Einsatz in einem Mordfall hinzuzubitten, hatte Wexford nur selten getan, als er noch selbst Polizeibeamter gewesen war. Und dass er Superintendent Ede von der Londoner Polizei zu den Gruftermittlungen begleitet hatte, war eine völlig andere Angelegenheit, denn immerhin hatte er als Edes Assistent eine, wenn auch unbezahlte, Position innegehabt. Dieser Ausflug, diese willkommene Gelegenheit, Maxine zu entrinnen, fand nur deshalb statt, weil Vorgesetzter und Untergebener im Laufe der Jahre Freunde geworden waren. Burden wusste besser als jeder andere, dass Wexford darauf brannte, das Rätsel zu lösen, wer Reverend Sarah Hussain umgebracht hatte.

Abgesehen davon, was Maxine ihm am Vormittag erzählt hatte, beschränkte sich Wexfords Wissen über den Mordfall auf die Meldung in der gestrigen Ausgabe des Guardian und einen Nachrichtenbeitrag vorgestern im Fernsehen. Und natürlich hatte er beim Vorbeifahren am Pfarrhaus etwas gesehen. Er hätte im Internet recherchieren können, doch die grellen Schlagzeilen hatten ihn abgeschreckt. Sarah Hussain war bei Weitem nicht die einzige geweihte Priesterin in der Church of England gewesen. Doch vielleicht war sie die einzige, die als Tochter einer weißen Irin und eines indischen Einwanderers in Großbritannien geboren worden war. All das hatte in der Zeitung gestanden, zusammen mit einigen wenigen biografischen Daten und Informationen darüber, wie sie zum Christentum übergetreten war. Das Foto hatte eine magere Frau mit Adlernase in akademischem Talar gezeigt, dunkelhäutig, große, tief liegende Augen, das wenige unter der Kappe hervorlugende Haar schimmernd und pechschwarz. Als sie starb, war sie achtundvierzig und alleinerziehende Mutter gewesen.

Ihre Herkunft, ihr Aussehen – eher apart als hübsch –, ihr Alter, ihr Status als Alleinerziehende und vor allem ihr Übertritt in eine andere Religionsgemeinschaft lösten in ihm das Gefühl aus, dass ihr Leben nicht einfach gewesen sein konnte. Er hätte gerne mehr gewusst und zweifelte nicht daran, dass das bald der Fall sein würde. Im Moment konnte er nicht einmal genau sagen, wo sich der Mord ereignet hatte; nur dass er im Pfarrhaus stattgefunden haben musste. Er selbst hatte das Haus noch nie betreten, nur Dora. Mit Mike und DC Lynn Fancourt war er auf der Veranda der Kirche St Peter’s verabredet, und zwar auf der Seite, wo sich die Sakristei befand.

Bis zum Pfarrhaus war es ein Stück Wegs, und er hätte nicht notwendigerweise an der Kirche vorbeikommen müssen, um dort hinzukommen. Als er auf das Tor zusteuerte, das zur Queen Street führte, begegnete er einem jungen Mann, der einen Kinderwagen schob. Kein unbedingt außergewöhnlicher Anblick heutzutage, doch er erkannte Maxines Sohn Jason. Da er so fleißig war wie seine Mutter, wenn nicht gar ebenso verbissen, musste er, der Filialleiter eines Supermarkts, sich einen Tag freigenommen haben. Voller Neugier auf das Kind, dessen Vater den Boden anbetete, auf dem es krabbelte, spähte Wexford unter die Haube des Kinderwagens. Er sah ein hübsches blondes Mädchen mit rosigen Wangen, die lang bewimperten Augen waren im Schlaf geschlossen. Als Jason ihn finster anblickte, zog Wexford hastig den Kopf zurück. Offenbar begegnete Jason jedem Mann, der seine kleine Tochter betrachtete, mit Argwohn. Ganz recht, dachte Wexford, denn immerhin war er selbst der Vater von Töchtern, die inzwischen Frauen mittleren Alters waren.

Er war ein wenig zu früh dran, und zwar mit Absicht. Besser er wartete auf sie als umgekehrt. Allerdings kam Burden nur selten zu spät, und schon im nächsten Moment näherten die beiden sich von der High Street her. In all den Jahren, die Wexford Burden nun kannte, hatte er stets dessen weltmännische Eleganz bewundert. Wo hatte er nur gelernt, sich so zu kleiden? Soweit er wusste, ging Mike nicht öfter einkaufen als alle anderen seiner männlichen Bekannten. Und am Einfluss seiner Frauen konnte es auch nicht liegen. Weder die längst verstorbene Jean noch Jenny, seine derzeitige Frau, interessierten sich sehr für Kleidung und kümmerten sich nur darum, »ordentlich und einigermaßen modisch« auszusehen, wie es bei Jane Austen hieß. Dennoch stand Burden wieder in alter Frische vor ihm. Der dichte Haarschopf, inzwischen stahlgrau, ein beiges Sakko (sicherlich Kaschmir) über einem weißen Hemd mit beige und blau gemusterter Krawatte und eine perfekt gebügelte Hose aus Denim, bei der es sich eindeutig – woran erkannte man das bloß? – nicht um eine Jeans handelte.

»Schön, dich zu sehen«, sagte Burden, obwohl sie erst vor drei Tagen zusammen zu Mittag gegessen hatten.

»Guten Morgen, Sir«, meinte Lynn, der er seit mindestens einem Jahr nicht mehr begegnet war, respektvoll.

Zwischen Grabsteinen und Rosensträuchern gingen sie den Pfad entlang zur Vicarage Lane. Es war Oktober, und die Bäume ließen die ersten Blätter fallen. Im Gras lagen grüne, stachelige Kastanien.

»Ich weiß nicht, wie gut du über den Tod der armen Frau im Bilde bist, Reg«, begann Burden.

»Nur dass, was ich in der Zeitung gelesen und im Fernsehen gesehen habe.«

»Du gehst nicht in die Kirche, richtig?«

»Ich gebe ja nur ungern zu, dass meine Frau es tut, und das weißt du ja bereits. Sie kannte Sarah Hussain, aber nur aus der Gemeinde, nicht persönlich. Wo wurde sie getötet?«

»Im Pfarrhaus. In ihrem Wohnzimmer. Erklären Sie ihm alles, Lynn. Schließlich waren Sie eine der beiden Beamten, die die Leiche aufgefunden haben.«

2

Lynn schlug denselben respektvollen Ton an wie zuvor. »Vermutlich ist es Ihnen bereits bekannt, Sir – sie wurde von einer Frau namens Maxine Sams entdeckt. Sie war Reverend Hussains Zugehfrau und wollte Geld abholen, das diese ihr noch schuldig war. Sie ist keine Verdächtige.«

»Ich kenne sie, Lynn. Sie putzt auch bei uns.«

»Sie sagte, sie habe an der Hintertür geläutet, und als Miss Hussain nicht aufmachte, sei sie ins Haus gegangen. Offenbar haben sie es schon öfter so gehalten. Wenn die Vikarin oben war, hat sie häufig die Klingel nicht gehört. Die Hintertür war tagsüber unverschlossen. Maxine hat sie gerufen, bei ihrem Vornamen, wie die meisten Leute …«

»Das sollten Sie bei mir auch tun. So läuft es heutzutage.«

»Ja, Sir, ich weiß, aber ich kann das nicht. Es wäre respektlos.«

»Versuchen Sie es«, entgegnete Wexford. »Und jetzt erzählen Sie mir mehr über Maxine.«

»Als sie keine Reaktion erhielt, hat sie im Arbeitszimmer nachgesehen. Dann ist sie ins Wohnzimmer und hat die Leiche auf dem Teppich vorgefunden. Sie war erwürgt worden.«

»Es war«, griff Burden den Bericht auf, »wie sie beteuerte, ein schrecklicher Schock. Sie hat uns angerufen, das heißt, die Notrufnummer, und wir waren in knapp fünf Minuten hier. Ich muss zugeben, dass sie sich, abgesehen davon, dass sie redet wie ein Wasserfall, vorbildlich verhalten hat. Der Schock hat ihr nicht die Sprache verschlagen. Der Mordfall war so ungewöhnlich, ein dramatisches Ereignis, wenn man so sagen will, dass ich Lynn und Barry Vine begleitet habe. Wenige Minuten später erschien Mavrikiev. Erinnerst du dich noch an ihn?«

»Wie könnte ich den Prinzen der Pathologie vergessen? Ein weißblondes Geschöpf mit den wesentlichen Merkmalen Launenhaftigkeit, Eiseskälte und Undurchschaubarkeit. Er hat von der Geburt seines ersten Kindes erfahren, während er gerade an einer Leiche herumgefummelt hat, was einen positiven Einfluss auf ihn gehabt haben soll.«

»Inzwischen hat er vier Kinder, und ich habe keine großen Veränderungen an ihm bemerkt. Er hat mir nicht viel verraten. Außer, dass sie irgendwann zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags getötet wurde und dass die Erdrosselung von vorne stattfand. Also hat ihr Mörder sie angesehen. Der Anruf von Maxine Sams kam um halb sieben. Später kann er uns vielleicht etwas Genaueres sagen. Natürlich kamen die üblichen abfälligen Bemerkungen, die Polizei in ihrer Ignoranz – seine Worte – erwarte von Pathologen, dass sie Hellseher seien.«

Inzwischen hatten sie das Pfarrhaus fast erreicht, ein viktorianisches Gebäude aus der abscheulichsten architektonischen Phase des neunzehnten Jahrhunderts, der Vorgarten inzwischen abgesperrt mit blauweißem Flatterband. Der übliche provisorische Verschlag aus Planen und Stangen blockierte die Haustür. Die Hintertür, die sich eigentlich an der Seite des Gebäudes befand, stand offen. PC Copeland stand oben auf den drei Stufen, die hinaufführten.

»Guten Morgen, Sir«, sagte er. Wexford brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass dieser relative Neuling nicht ihn, sondern Burden meinte. Allerdings würde er sich daran gewöhnen müssen, vielleicht sogar noch öfter während der nächsten Tage.

Beim Eintreten fanden sie sich in einer Art Vorhalle am Ende eines Flurs wieder. Dieses viktorianische Spukschloss gehörte zu den wenigen Pfarrhäusern, die nicht an wohlhabende Leute auf der Suche nach einem Wochenenddomizil verkauft worden waren, sondern weiter dem amtierenden Geistlichen als Unterkunft dienten. Auf dem Weg durch die große Vorhalle, die vermutlich die Quadratmeterzahl eines modernen Einfamilienhauses hatte, dachte Wexford an die Familie, die hier vor hundertfünfzig Jahren gelebt hatte. Der Familienvater, wenn er Glück hatte, mit einem Gehalt von vielleicht achthundert pro Jahr, hatte ein angenehmes Leben geführt. Seine Frau, vorzeitig gealtert und ausgelaugt von zu vielen Geburten. Und der Nachwuchs, sieben oder acht Kinder. Alle Jungen besuchten teure Privatschulen, denn diese Leute gehörten zur besseren Gesellschaft. Die Mädchen wurden zu Hause von ihrer Mutter in Französisch, Musik und Handarbeiten unterwiesen, noch eine Aufgabe, die der Pfarrersfrau oblag. Und nun war die Pfarrerin eine Frau mit einem Kind – oder, genauer gesagt, das war sie gewesen.

Burden öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. »Alles ist noch so, wie sie es verlassen hat. Computer, Drucker und Tablet, oder wie die Dinger heißen. Und jede Menge Bücher, bei Weitem nicht alle theologisch.«

»Das ist sie, richtig?« Wexford wies auf ein gerahmtes Foto auf dem Schreibtisch. Darauf schien sie etwa im gleichen Alter zu sein wie die im Guardian abgebildete Frau, vielleicht ein wenig jünger, aber viel attraktiver, ja, sogar schön. Er konnte sich nicht an eine Begegnung mit Reverend Sarah Hussain erinnern, doch diese Frau war auf keinen Fall achtundvierzig.

»Ihre Tochter Clarissa, Sir«, erwiderte Lynn.

»Wohnt sie hier?«

»Hat sie«, antwortete Burden. »Wir haben befürchtet, sie könnte aufkreuzen, während wir alle an der Arbeit waren, und dann noch die vielen Autos draußen … nun, du kannst es dir ja denken. Lynn hat das Mobiltelefon der Toten gefunden. Clarissas Nummer war eingespeichert.«

»Sie ist nicht rangegangen, und ich konnte keine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen, nicht so eine Nachricht. Maxine hat uns erzählt, es gäbe da einen Mann namens Dennis Cuthbert, der so etwas wie der Küster ist. Ich habe ihn angerufen, aber als er hörte, was passiert ist, hat er sich so aufgeregt, dass nichts mehr mit ihm anzufangen war. Schließlich habe ich eine Freundin in Kingsmarkham erreicht und sie überredet, Clarissa auf die Mailbox zu sprechen, ihre Mutter habe einen Unfall gehabt, und zu ihr zu fahren. Die Frau heißt Georgina Bray und war mit Sarah Hussain befreundet. Maxine hat mir ihre Nummer gegeben. Später bin ich zu ihr. Sie wohnt in der Orchard Road. Also war ich da, als Clarissa eintraf. Es war ziemlich schlimm – nun, wie Mr. Burden schon sagte … Sie können es sich denken, Sir.«

Das Wohnzimmer, wo die Leiche gefunden wurde, war sogar noch größer als die Vorhalle, ein gewaltiger Saal mit einer von Balken gestützten Gewölbedecke und Spitzbogenfenstern mit Blick nach vorne hinaus. Die Terrassentüren waren offenbar erst kürzlich eingebaut worden. Überall strotzte es von dunkelbraunen Holzvertäfelungen. Nichts wies mehr darauf hin, was sich hier zugetragen hatte, doch das war nach dem Abtransport der Leiche zu erwarten. Erwürgen ist genauso tödlich wie Erschießen oder Erstechen, aber auf grausige Weise sauberer, dachte Wexford. Er blickte vom Boden auf, wo sie gelegen hatte, und betrachtete die Wand über dem Kamin, an der ein Ölgemälde hing. Es stellte dasselbe Mädchen dar wie auf dem Foto.

»Sie sieht nicht so indisch aus wie ihre Mutter«, stellte Lynn fest. »Wahrscheinlich sollte ich das nicht sagen, weil es nicht politisch korrekt ist. Sie ist wirklich attraktiv, oder? Erinnert mich an einen dieser Bollywood-Filme.«

Wexford bemerkte, wie hellhäutig das Mädchen auf dem Porträt war. Eher schön als »attraktiv«. »Wo ist sie jetzt?«

»Noch bei Miss Bray, Sir. Sie geht hier zur Schule. Oberschule Kingsmarkham. Das ist eine der Schulen, die die sechste Klasse beibehalten haben. Mr. Burden kann Ihnen sicher mehr erzählen.«

»Jenny ist ihre Klassenlehrerin«, erklärte Burden. »Clarissa ist vom Unterricht freigestellt, sicher noch für eine Woche.«

Sie warfen nur einen kurzen Blick ins Esszimmer und die übrigen Räume im Erdgeschoss. Die Küche war ungefähr zur selben Zeit eingebaut worden wie die Terrassentüren. Allerdings hatte der Zahn der Zeit stärker an ihr genagt als an den Türen. Die furnierten Schranktüren und blauweiß gesprenkelten Fliesen wirkten inzwischen antik. Während Lynn die Treppe hinauf vorausging, raunte Burden Wexford zu: »Können wir morgen zusammen zu Mittag essen? Ich würde dir gern noch einige Einzelheiten verraten.«

»Natürlich«, erwiderte Wexford, erleichtert, dass er diese Frage nicht hatte stellen müssen.

»Ich erinnere mich noch, wie du früher immer ›Wir sprechen uns noch‹ gesagt hast. Du hast behauptet, das sei ein Zitat von Shakespeare.«

Wexford lachte auf. »Kann durchaus sein.«

Sarah Hussains Schlafzimmer war spartanisch eingerichtet, nicht unbedingt eine Klosterzelle, doch auffällig karg. Ein schmales Bett, ein kleiner Spiegel hoch an der Wand, ein Rattanstuhl und ein kleiner runder Rattantisch, der als Nachttisch diente. Die Bücher darauf waren eine Gedichtsammlung von Herbert und die Apologia Pro Vita Sua von Newman. Sarah Hussain hatte die Seite mit einem gefalteten Brief eingemerkt. Auch ein Buch, das als langweilig galt, aber alles andere war als das, dachte Wexford, der es gelesen hatte. Während Burden die Tür des Wandschranks öffnete, ließ Wexford den Brief in der Tasche seines Regenmantels verschwinden. Nach Anblick des Schlafzimmers bedeutete der Inhalt des Schranks, mit einer Ausnahme, keine Überraschung für ihn. Zwei Hosenanzüge in gedeckten Farben, ein schwarzes Wollkleid, zwei Baumwollkleider, ein Baumwollrock, zwei Strickjacken, zwei indische Hosenröcke und zwei gemusterte Tuniken. Auf dem Regal über den hängenden Kleidungsstücken lagen ordentlich gefaltete Pullover.

»Was hatte sie an, als sie getötet wurde?«

Wexfords Frage schien Burden zu überraschen. »Lynn? Ich fürchte, ich erinnere mich nicht mehr.«

»Einen Salwar-Kameez«, antwortete Lynn. »Ziemlich ähnlich wie die da drin, Sir. Und eine Kette aus bunten Steinen, die Dinger, die man Meerglas nennt.«

»Hat sie sich oft so gekleidet?«

»In der Kirche offenbar nicht. Aber manchmal zu Hause.«

In Clarissas Zimmer sah es genau so aus, wie man es bei einer Siebzehnjährigen erwartet hätte. Bunte Farben, eine Jalousie anstelle von Vorhängen, eine Daunendecke ohne Überdecke, die Wände mit Fotos bedeckt. Dazu zwei Poster, eines von Blur, das andere von Lady Gaga. Wexford nahm ein gerahmtes Foto vom Ikea-Schreibtisch.

»Stand sie ihrer Mutter sehr nah?«

»Macht ganz den Eindruck, Sir.«

Wenn die Tochter einem Bollywood-Star ähnelte, wirkte die Mutter eher wie eine jüngere Version von Indira Gandhi: mageres Gesicht, hochintelligent, engagiert.

»Sie sieht klug aus, oder, Sir?«

»Hören Sie auf damit, Lynn«, schimpfte Wexford. »Ich lasse mich von niemandem mehr mit ›Sir‹ ansprechen. Wenn Sie es nicht über sich bringen, mich Reg oder Mr. Wexford zu nennen … als ich ein junger Polizist war, haben meine Kollegen Wex zu mir gesagt.«

Lynn lächelte nur, und sie kehrten zurück nach unten.

»Zeit, in die Orchard Road zu fahren«, meinte Burden zu ihr. »Clarissa erwartet Sie. Vielleicht ist sie jetzt besser in der Lage, über den Donnerstag zu reden. Das, woran sie sich noch erinnert, angefangen beim Frühstück.«

»Ich würde Sie gern begleiten«, sagte Wexford zögernd. »Es liegt auf meinem Nachhauseweg.«

»Warum nicht?«, erwiderte Burden. »Ich muss dich ja nicht eigens darauf hinweisen, schonend mit ihr umzugehen.«

Nur, dass dieser Ausspruch an sich schon eine Warnung war. Ihr Weg führte sie die Vicarage Lane entlang, vorbei an einem großen Haus mit dem Namen Dragonsdene, dessen Garten, wie Burden gesagt hatte, an den Pfarrgarten angrenzte. Es war kein Mensch zu sehen. »Anfangs dachte ich, so wie alle anderen und ganz eindeutig die Medien, dass da ein Verrückter sein Unwesen treibt. Das Werk eines Spinners ohne Motiv. Ein Typ, über den die Zeitungen so gerne berichten. Kerle, die herumpirschen und Frauen und ältere Ehepaare umbringen, Leute, die ihre Türen nicht abschließen, weil auf dem Land nie etwas passiert und man hier sicher ist. Und das könnte auch zutreffen. Nur, dass ich das inzwischen nicht mehr glaube. Sie passt nicht in diese Opferkategorie. Ihre Vergangenheit war – wie soll ich es ausdrücken? – zu engagiert, zu exotisch.«

»Erzählst du mir morgen mehr?«

»Werde ich«, entgegnete Burden und machte sich auf den Weg zum Polizeirevier.

Die Frau, die die Tür Orchard Road 14 öffnete, hatte geweint und brach bei ihrem Anblick sofort wieder in Tränen aus. Nicht unbedingt die beste Aufsichtsperson für ein Waisenmädchen, dessen Mutter gerade ermordet worden war, dachte Wexford, doch vielleicht lag er ja falsch. Möglicherweise war diese überbordende Anteilnahme genau das, was das Mädchen jetzt brauchte.

»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Georgina Bray. »Aber ich kann einfach nicht aufhören zu weinen. Es ist alles so schrecklich. Clarissa ist da drin. Sie weint nicht, obwohl ich wünschte, dass sie es täte.«

Sarah Hussains Tochter war mindestens so schön wie auf ihren Porträts. Sie hatte einen ruhigen, gelassenen Gesichtsausdruck, makellose Züge und eine elfenbeinweiße Haut. Nachdem sie Lynn zugenickt hatte, richtete sie ihre großen blauen Augen auf Wexford.

Er blickte zwischen den beiden Frauen hin und her. »Ich bin kein Polizist, obwohl ich früher einer war. Falls es Ihnen lieber wäre, wenn ich ginge, während DC Fancourt mit Ihnen spricht, tue ich es natürlich.« Er lächelte ihr zu. »Sie brauchen mich nicht zu dulden.«

»Nein, bitte bleiben Sie.« Georgina Bray sah Clarissa an, die wieder nickte.

Bis jetzt hatte sie keinen Mucks von sich gegeben, doch nun ergriff sie das Wort. »Ich bin erschüttert darüber, was meiner Mutter zugestoßen ist. Aber nicht nur, weil es so schrecklich ist. Es ist einfach so unfair. Sie hat so ein schweres Leben hinter sich, so vieles, was sie unglücklich gemacht hat. Jetzt hätte sie ein Recht auf einen Ausgleich gehabt. Und was hat sie bekommen? Sie ist erwürgt worden …«

Ganz gleich, was Sarah Hussain auch in ihrer Vergangenheit zugestoßen sein mochte, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich danach zu erkundigen. Aber vielleicht wussten Lynn, Burden oder Karen Malahyde ja bereits davon. Lynn wartete ab, als ahne sie, dass Clarissa weitersprechen würde und keine weitere Aufforderung nötig hatte. Und sie behielt recht.

»Ich glaube nicht an Gott. Schon seit Jahren nicht mehr, obwohl ich das Mum nie verraten habe. Ich wollte sie nicht unglücklich machen, nachdem sie hierhergekommen war, um … Gott zu dienen, wie sie es nannte. Die miesen Briefe spielten keine Rolle, in denen stand, dass sie nicht zur Geistlichen geeignet sei. Auch nicht, dass die Gemeinde sich von ihr abgewandt und dieser Cuthbert sie abgelehnt hat. Sie konnte das alles ertragen, weil sie Gott geliebt hat.« Obwohl dem Mädchen Tränen in die Augen traten, blieb ihre Stimme fest. »Als ihre Eltern starben, dachte sie, Gott habe sie verlassen. Und als ihr Mann starb. Dann passierten noch mehr schreckliche Dinge. Doch Gott kam zurück und sagte ihr, sie solle Theologie studieren und sich zur Priesterin weihen lassen. Sie hat es getan und war endlich glücklich, weil Gott sie liebte. Nur, dass das nicht gestimmt hat, richtig? Er liebt niemanden. Er hat ihr nie etwas gesagt, weil es ihn nicht gibt.« Wexford dachte, dass sie nun in Tränen ausbrechen würde, aber nein. Ihr Gesicht war versteinert wie harter weißer Marmor. »Ich war das einzig Gute in ihrem Leben, außer Gott.« Sie wandte sich an Georgina. »Ich denke, ich gehe jetzt rauf in mein Zimmer. Ich bin müde. Ich bin dauernd so müde.«

Nachdem sie den Raum verlassen und die Tür leise hinter sich geschlossen hatte, saßen alle schweigend da.

Wexford sprach als Erster. »Waren Sie gut mit Miss Hussain befreundet, Miss Bray?«

Wexford wusste nicht mehr, ob er Frauen mit Miss, Mrs. oder sonst irgendwie anreden sollte, doch offenbar hatte er den richtigen Ton getroffen, denn Georgina verbesserte ihn nicht. Ihre Augen waren zwar noch feucht, doch die Tränen waren versiegt. »Ich habe sie an der Universität kennengelernt. Das war vor dreißig Jahren. Aber wir haben einander aus den Augen verloren und uns Weihnachtskarten geschickt und so weiter. Dass sie hierher nach St Peter’s gekommen ist, war ein völliger Zufall. Bis dahin hatte sie keinerlei Verbindungen nach Kingsmarkham. Ich wohne nur hier, weil mein Mann hier einen Job hat. Ich gehe zwar nicht zur Kirche, engagiere mich aber sozial. Wir haben uns beim Mütterverein wiedergesehen.« Sie sah Wexford herausfordernd an. »Lachen Sie nicht. Der Mütterverein tut eine Menge Gutes, insbesondere in Sachen häusliche Gewalt, und das ist ein Thema, mit dem ich mich gut auskenne.«

»Ich hatte nicht vor zu lachen«, erwiderte Wexford nachsichtig. »Sie kämpfen also gegen häusliche Gewalt?«

»Ich kämpfe gegen gar nichts. Ich kenne mich einfach nur aus.«

Wie sie es ausdrückte, klang es nach persönlichen Erfahrungen. Wexford kam zu dem Schluss, dass er genug gesagt hatte, und überließ Lynn das Reden.

»Letztens meinten Sie, Sie seien Ihre einzige Freundin.«

»Das hat sie gesagt, obwohl sie noch eine Freundin in Reading hatte, wo sie früher gewohnt hat. Oh, und sie sagte noch, ihr fehle offenbar das Talent, Freundschaften zu schließen. Sie wisse nicht, wie das funktioniert, ganz im Gegensatz zu mir, und dass wir wieder an früher angeknüpft haben, ging auf meine Initiative zurück. Allerdings hatte ich trotzdem ein schlechtes Gewissen. Wie Sie wissen, habe ich einen Mann und drei Kinder. Aber die sind schon erwachsen und aus dem Haus. Deshalb engagiere ich mich ehrenamtlich. Ich hatte nicht so viel Zeit für sie, wie ich hätte haben sollen. Ständig halte ich mir vor, dass ich an diesem Nachmittag im Pfarrhaus hätte sein sollen. Ich hätte bei ihr sein müssen … die arme liebe Sarah …«

»Sie mussten sich nicht eigens verabreden, um im Pfarrhaus vorbeizuschauen, richtig?« Kurz hoffte Lynn, auf etwas gestoßen zu sein.

»Oh, nein, nein. Wenn ich nur da gewesen wäre, dann wäre das alles nie passiert. Ich sollte mir keine Vorwürfe machen, aber ich fühle mich trotzdem schuldig.« Georgina Bray brach wieder in lautes Schluchzen aus und durchweichte eine Handvoll Taschentücher.

Als er hereinkam, war Dora zu Hause. Maxine, gerade im Gehen begriffen, was sich stets eine Weile hinzog, erzählte ihr gerade ausführlich von seiner Bösartigkeit. »Tja, wie ich Ihnen schon gesagt habe, es tut mir wirklich leid, aber ich habe das Bad nicht sauber gekriegt. Falls sie einen fiesen Schmutzrand in der Wanne vorfinden, ist das ganz allein Mr. Wexfords Schuld. Ganz abgesehen davon, dass ich es ziemlich eigenartig, eigentlich eher sonderbar finde, ein Bad zu nehmen, wenn man zwei Duschen im Haus hat. Um mich kurz zu fassen, ich bin also nach oben, mit Putzmittel, Schwamm und so weiter, aber die Tür war, wie erwartet, geschlossen. Er war ziemlich lange in der Wanne, doch wenn jemand so viel Wasser verbraucht, obwohl uns eine Dürre droht, sollte er das auch so gut wie möglich ausnutzen, das ist meine Meinung.« Darauf folgte ein langer Blick auf Wexford mit missbilligend zusammengepressten Lippen. »Nun, als ich nach etwa zwanzig Minuten wiederkam, war die Tür noch immer zu. Abgeschlossen, vermutete ich, aber hätte ich etwa daran rütteln sollen?«

»Keine Ahnung. Warum nicht?«, unterbrach Wexford.

Ein trockenes Auflachen. »Tja, wenn Sie das nicht wissen, werde ich es Ihnen bestimmt nicht erklären.« Maxine tat es trotzdem. »Natürlich habe ich angenommen, dass Sie da drin waren, und das noch nach anderthalb Stunden. Es war schon gut nach zwölf, Mittagszeit. Und dann kam Mrs. Wexford, und ich hielt es für meine Pflicht, ihr das mitzuteilen. Nicht dass sie das von mir verlangt hätte, aber ich werd ja wohl noch meine Aufgaben kennen, oder?«

Dora besänftigte sie, vergewisserte sich, dass sie auch ihr Geld bekommen hatte, schenkte ihr das verschwörerische und leicht entnervte Lächeln, das Frauen normalerweise für das unverständliche Verhalten von Männern übrig haben, und scheuchte sie dann hinaus.

»Warum hast du vormittags um halb elf gebadet?«, fragte sie.

»Habe ich nicht. Ich habe es lediglich angekündigt. Doch vielleicht halte ich es in Zukunft an Maxines Tagen wirklich so. Wenn ich nicht geflüchtet wäre, hätte ich sie wahrscheinlich gefeuert.«

»Ach, herrje, tu das bloß nicht, Reg.«

Maxine hatte zehn Minuten pausenlos auf Dr. und Mrs. Crocker eingeredet, während diese versuchten, sich eine DVD von Mad Men, Staffel drei, anzuschauen. Sie hatte ihnen die gesamte Lebensgeschichte ihres Sohns Jason, angefangen von seiner Steißgeburt – qualvolle Wehen, beinahe hätten er und sie es nicht überlebt – bis zum heutigen Tage erzählt und sich dann ihrer grausigen Entdeckung im Pfarrhaus von St Peter’s zugewandt. Dr. Crocker hatte, wenn es darum ging, Frauen in ihre Schranken zu weisen, eindeutig eine härtere Hand als Wexford und wies sie an, sich wieder an die Arbeit zu machen, damit er und seine Frau fernsehen konnten. Maxine ließ sie etwa eine Viertelstunde lang in Ruhe, denn sie hatte keine Wahl, weil sie auf dem Vorgartenweg und der Terrasse Laub fegen musste. Dann jedoch kehrte sie zurück und merkte an, einigen Experten zufolge solle man tagsüber nicht fernsehen, weil es der Gesundheit, nicht zu vergessen den Augen, schade. Sie habe ihren Kindern nie erlaubt, vor sechs Uhr abends vor dem Fernseher zu sitzen.

»Ich bin hier der Gesundheitsexperte, nicht Sie«, entgegnete Dr. Crocker. »Also überlassen Sie meine Augen getrost mir. Und jetzt gehen Sie und machen Sie die Tür hinter sich zu.«

Sie sei es nicht gewöhnt, dass ihre Klienten so mit ihr redeten, erzählte sie Jason und Nicky, als sie auf dem Heimweg bei ihnen vorbeischaute.

»So nennst du sie also? Klienten?« Nicky hatte nichts gegen ihre Schwiegermutter – nun, als Schwiegermutter ging sie noch einigermaßen an –, erhielt jedoch einen leichten Konfrontationskurs aufrecht, weil es sich schließlich nicht gehörte, sich mit der Mutter seines Ehemannes zu vertragen. Das war eine allgemein bekannte Tatsache. »Das ist echt schräg.«

Maxine, selbst Anhängerin des Schwiegermutter-Schwiegertochter-Konflikts, ließ sich nicht lumpen. »Benutz mir gegenüber nicht solche Wörter. Ich weiß, dass du die Schule ohne Abschluss verlassen hast.«

»Hör schon auf, Mum«, sagte Jason. Er sah fern, Isabella auf den Knien. »Schräg ist kein Schimpfwort. Nicky würde in Issys Gegenwart nie fluchen. Erzähl weiter von Dr. Crocker.«

Also berichtete Maxine weiter von Dr. Crocker, wobei ihr Publikum die Auffassung kundtat, sein Verhalten weise auf ein Frühstadium von Alzheimer hin. Das Gleiche gelte für Wexford, als sie sein Bad, stattgefunden oder nicht, schilderte.

»Ich habe ihn heute Morgen gesehen, als ich mit Issy draußen war. Seit seiner Pensionierung ist er sehr gealtert. Er ging gerade mit einem Polizisten und einer Polizistin auf den Friedhof und dann weiter, wahrscheinlich, um sich das Pfarrhaus anzusehen. Tja, ich weiß es nicht genau, aber diesen Eindruck hat es gemacht, oder, Issy?«

»Dada, Dada«, wiederholte Isabella das einzige Wort, das sie bis jetzt beherrschte.

»Mein kleiner Liebling«, meinte Jason und küsste sie auf den Scheitel. »Sie fängt sehr früh mit dem Sprechen an. Das ist ein Zeichen von Intelligenz. Es würde mich nicht wundern, wenn sie mal an die Uni geht, vielleicht nach Oxford. Oder sie wird Model. Warum nicht beides?«

Niemand widersprach. In diesem Punkt waren sie sich einig. »Schlafenszeit, mein Schätzchen«, sagte Jason und brachte sie selbst nach oben. »Mum kommt gleich und wünscht dir eine gute Nacht.«

Wieder mit Nicky allein, setzte Maxine ihre Sticheleien fort. »Du weißt nicht, was für ein Glück du hast, einen Burschen wie ihn abgekriegt zu haben. Du musst für das Baby keinen Finger krumm machen.«

»Hör bitte auf damit.«

Nicky ging nach oben, um Isabella gute Nacht zu sagen. Ohne darauf zu warten, dass einer von beiden wieder nach unten kam, machte sich Maxine auf den Heimweg. An der Ecke Peck Road und Khouri Avenue (nach einem Stadtrat mit asiatischen Wurzeln benannt) begegnete sie Jeremy Legg, Jasons und Nickys Vermieter. Sie hatten sich noch nie gut verstanden – niemand außer Leggs Freundin verstand sich gut mit ihm –, doch sie plauderten ein wenig und schafften es sogar, die Form zu wahren.

»Guten Abend«, sagte Maxine. Den Gruß sprach sie in einem schneidenden Ton aus, den sie niemandem sonst gegenüber angeschlagen hätte.

»Hallo«, erwiderte Legg. »Sie haben wohl Ihren Sohn besucht.«

»Die Fensterscheibe im vorderen Schlafzimmer hat einen Riss, um den sich jemand kümmern müsste. Eine Kleinigkeit für Sie, wenn Sie Platz in Ihrem vollen Terminkalender finden.«

Es war allgemein bekannt, dass Legg, der seit seinem neunundzwanzigsten Lebensjahr von einem geheimnisvollen Rückenleiden befallen war, von Frührente, seinen Mietern und dem Einkommen seiner Freundin lebte. »Reparaturen sind Sache des Mieters, nicht des Vermieters«, entgegnete er und vergaß nicht, auf dem Weg zu seinem Auto ein wenig zu hinken. Er fuhr nach Hause zu Fionas Häuschen in Springfield.

3

Das Gebäude, das Jeremy Legg in der Ladysmith Road besaß, hatte er vor fünf Jahren von seiner Mutter geerbt. Es war an eine Einwandererfamilie vermietet. Sein anderes Haus, das in der Peck Road, gehörte eigentlich gar nicht ihm, sondern der Bezirksregierung von Kingsmarkham. Jahrelang hatte er dort mit seiner Frau gewohnt, die ihn schon vor längerer Zeit wegen eines anderen verlassen hatte. Da in Kingsmarkham und den umliegenden Dörfern keine öffentlich geförderten Eigenheime verfügbar waren, blieb jungen Paaren, die von einem Immobilienkredit nur träumen konnten, nur die Möglichkeit, zur Miete zu wohnen. Das hübsche Häuschen, das er mit Fiona Morrison bewohnte, gehörte hingegen ihr. Sie hatten sich im Pub kennengelernt, wo Fiona Whisky und Jeremy Orangensaft trank. Soweit alle wussten, trank und rauchte er nicht, während sie beides tat. An jenem Abend hatte sie so viel getrunken, dass er sie nach Hause fahren musste. Er war ein paar Jährchen älter als sie und auch keine Schönheit. Außerdem hinkte er, wenn es ihm in den Kram passte. Dennoch hatte sie sich in ihn verliebt. Das kam Jeremy ebenfalls gut zupass. Wenn er bei ihr einzog, konnte er das Haus in der Peck Road in der Siedlung Muriel Campden Estate, das er derzeit bewohnte, vermieten. Sein Plan ging auf.

Fiona hatte sich alles genau überlegt. Sie wollte ein Baby, und mit einundvierzig blieben ihr ihrer Berechnung nach noch etwa drei Jahre, um schwanger zu werden. Jeremy war der optimale Partner und bestens geeignet als zukünftiger Vater dieses Wunschkindes. Er hatte seine Frührente, zwei Mieteinkommen, von denen jedes das Doppelte der Frührente einbrachte, und ein Auto. Und, was das Wichtigste war, er blieb zu Hause, war Hausmann und nicht berufstätig und würde auch nie wieder einen Job finden. Also würde sie nach der Geburt des Kindes an ihren Arbeitsplatz am Empfang eines Brillengeschäfts zurückkehren können. In einem Land der Eigenheimbesitzer, wie Großbritannien es einmal gewesen war und immer noch sein mochte, war es unvermeidlich, dass viele Menschen in Häusern und Wohnungen lebten, die nach dem Tod ihrer Eltern an sie übergegangen waren.

»Am besten geht’s dir als Einzelkind«, hatte Wexford eines Abends zu seiner Frau gesagt. »Man muss sich als Kleinkind nur so schrecklich aufführen, dass sie keine weiteren mehr haben wollen. Später muss man sichergehen können, dass die Eltern das Haus auch besitzen, und sich mit ihnen gut stellen. Was könnte schlimmer sein, als sich mit dem – oder eher der, die den anderen überlebt hat, auf dem Totenbett zu überwerfen? Dann fällt alles an den Staat oder an Kinder in der Dritten Welt.«

»Was bist du doch für ein Zyniker.«

»Nein, nur Realist.«

»Aber wir haben zwei«, wandte Dora ein.

»Ja, aber wir sind die Ausnahme. Unsere Kinder brauchen beide kein Haus.«

Fiona Morrison hingegen hatte ein Haus gebraucht, und das, was sie nach dem Tod ihrer Großmutter bekam, war ein ausgesprochen hübsches, strohgedecktes Häuschen am Ende der Church Lane in Stringfield. Sie pflegte den Vorgarten, weil es sonst auf Besucher und Passanten einen schlechten Eindruck gemacht hätte. Im Garten hinter dem Haus sah es weniger ordentlich aus. Fiona war einfach zu müde, nachdem sie die Kunden des Optikers empfangen und die Rechnungen verschickt hatte, während Jeremy einfach zu faul zum Unkrautjäten und Rasenmähen war. Sie machte ihm keine Vorwürfe, weil sie ihn gern hatte und weil er mit ihr ein Kind zeugen würde. Deshalb ärgerte sie sich ziemlich über Jeremys Vorschlag aus heiterem Himmel, sie könnten doch ein Baby adoptieren. Bei ihm klang es so, als sei das eine einfache Möglichkeit, die allen offenstand. »Wir könnten auch ein Pflegekind nehmen, als eine Art Versuch, um zu sehen, wie wir das hinkriegen.«

»Was, und wenn es uns nicht gefällt, schicken wir es wieder zurück?«

Erst seit sehr kurzer Zeit zweifelte sie daran, dass sie mit Jeremy die richtige Wahl getroffen hatte, auch wenn sie ahnte, dass sie sehr überstürzt mit ihm zusammengezogen war. Als er nun hereinkam, spürte sie wieder die Fremdheit, die er ausstrahlte, wenn er das Haus betrat, die Treppe hinunterstieg oder sich einfach nur ihr gegenüber in einen Sessel setzte. Es war, als habe er sich in seine Gedanken zurückgezogen, ohne etwas zu sehen, zu hören oder überhaupt wahrzunehmen, am allerwenigsten sie. In diesem Zustand konnte er sich durchaus bewegen und tat es auch, für sie fühlte es sich an, als schlafwandelte er. War das vielleicht Autismus? Konnte das der Grund sein? Sie wusste es nicht und hatte keine Ahnung, an wen sie sich wenden sollte. Wieder einmal fragte sie ihn, ob alles in Ordnung sei.

Seine Antwort klang so, wie sie sich die Stimme eines Schlafwandlers vorstellte, genauso monoton wie neulich, als er vorgeschlagen hatte, sie könnten doch ein Baby adoptieren. »Gut. Mir geht es gut. Und dir?«

Sein Aussetzer, wenn es denn einer war, dauerte etwa fünf Minuten. Dann war er wieder vorbei.

In Kingsmarkham hatten Restaurants jeder ethnischen Richtung eröffnet, seit in den Sechzigern das typisch englische Café, wo es Fish & Chips, Würstchen mit Kartoffelbrei, Würstchen im Schlafrock, Schinkenbraten oder Schweinekotelettes gegeben hatte, nach und nach den Bach runtergegangen war. Fish & Chips waren nie aus der Mode gekommen, während Würstchen mit Kartoffelbrei plötzlich wieder in waren, und genau das hatte Detective Superintendent Burden in einem Restaurant namens Spirit of Montenegro bestellt. Wexford bevorzugte gegrillte Sardinen mit Couscous.

»Was essen die Leute denn so in Montenegro?«

»Vermutlich das Gleiche wie wir«, erwiderte Wexford. »Obwohl ich glaube, dass die Würstchen anders schmecken als die Dinger, mit denen du aufgewachsen bist.«

»Du kannst ein Glas Wein trinken. Ich nicht, das macht keinen guten Eindruck.«

Beide erinnerten sich an damals, als Wexford sich eine wohlverdiente Arbeitspause gegönnt und in einem Biergarten mit einem Krug in der Hand fotografiert worden war. Die Aufnahme war auf der Titelseite der Lokalzeitung erschienen. Das hatte er nie vergessen, obgleich es keine Rolle mehr spielte.

»Wahrscheinlich könnte der Courier ein Foto von mir bringen, wie ich, berauscht vom Chardonnay, in der Gosse liege, ohne dass es einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken würde.«

»So weit würde ich nicht gehen«, erwiderte Burden. Nach all den Jahren war er noch immer nicht sicher, ob Wexford scherzte. »Außerdem magst du Chardonnay sowieso nicht.«

Das Essen wurde mit einem Glas Weißwein und einem Krug Leitungswasser serviert. »Als deine Putzfrau die Leiche gefunden hat«, sagte Burden, »habe ich eine voreilige Schlussfolgerung gezogen. Ich bin automatisch davon ausgegangen, dass der Täter einer dieser Spinner war, die ein ziemlich großes Gebiet durchstreifen, um alleinstehende Frauen umzubringen. Aber das habe ich dir ja schon erzählt. Es gab vor ein paar Wochen einen Fall mit einer Frau, die allein in einem Häuschen am Stadtrand von Myringham wohnte. Und ich war so dumm zu glauben, Sarah Hussain könnte auch eines seiner Opfer gewesen sein. Natürlich ein Irrtum. Der Psycho in Myringham wurde am nächsten Tag gefasst und zum Zeitpunkt des Mordes gerade von der Polizei verhört.«

»Wie dem auch sei«, erwiderte Wexford. »Sarah Hussain war keine alleinstehende Frau, richtig?«

»Du meinst, dass ihre Tochter bei ihr gewohnt hat? Ja und nein. Wie du sicher weißt, verbringen siebzehnjährige Mädchen ihre Abende normalerweise nicht zu Hause bei ihrer Mutter. Wer auch immer das getan hat, muss gewusst haben, dass Clarissa zwar dort wohnte, aber entweder in der Schule war, kurz darauf wieder wegging oder gleich nach der Schule etwas vorhatte, was auch immer.«

»Also hängst du nicht mehr der Theorie an, der Mörder könnte ein Fremder gewesen sein?«

»Inzwischen habe ich eine neue. Wir haben überhaupt keine Zeugen, verstehst du? Was seltsam ist. Wir haben sämtliche Nachbarn abgeklappert und uns die Aufnahmen der Überwachungskameras angesehen. Viel war da nicht zu holen gewesen, obwohl es auf der Veranda der Kirche eine Kamera gibt. Sie wurde angebracht, nachdem es in Kirchen zunehmend zu Metalldiebstählen gekommen war. Auf dem Band war nichts, was uns verraten würde, wer zwischen zwei und fünf Uhr an diesem Nachmittag das Pfarrhaus betreten hat.«

Burden nickte zweifelnd. »Wie ist dein Fisch?«

»Gar nicht so schlecht. Warum unterscheiden sich frische Sardinen nur so von denen aus der Dose? Es könnte beinahe eine andere Fischart sein. Bei Ananas ist es genauso.«

Burden kannte Wexford gut genug, um keine weitere Erklärung einzufordern. »Die Würstchen sind zu stark gewürzt, und es ist viel zu viel Knoblauch drin. Der Kartoffelbrei ist aus der Packung.« Mit einem leisen Seufzer schüttelte er den Kopf. »Die Möblierung im Pfarrhaus, tja, du hast es ja selbst gesehen. Fast alles die Hinterlassenschaften des alten Mr. Kirkbridge. Wir haben jede Menge Fingerabdrücke entdeckt: die von Sarah Hussain, Clarissa, Maxine Sams, keine männlichen. Natürlich könnte auch eine Frau die Mörderin sein. Heutzutage haben viele Frauen genügend Kraft für so was.«

»Ich nehme an, die Befragung der Nachbarn hat nichts ergeben.«

»Nun, da gibt es nicht viele Nachbarn, oder? Die Vicarage Lane ist ziemlich abgelegen, falls man nicht zum Pfarrhaus will. Aber genau das hat offenbar jemand an diesem Nachmittag gewollt.«

»Der Mann mit den Handschuhen?«

»Verzeihung?«

»Er muss Handschuhe getragen haben, oder? Nur, um das Haus zu betreten und sich dort aufzuhalten. Vorausgesetzt, der Mord war geplant.«

»Stimmt. Wir haben die Anwohner der Straße hinter dem Haus befragt. St Peter’s Path. Das heißt, bei höchstens sechs Häuschen haben wir geklingelt, denn der Rest sind nur abgeschlossene Garagen. Niemand hat einen Fremden auf dem St Peter’s Path gesehen. Der wichtigste Zeuge, negativ betrachtet, ist der Bursche, der den Garten des Hauses direkt neben dem Pfarrhaus pflegt. Das ist das Haus mit dem Namen Dragonsdene – frag mich nicht, warum –, an dem wir gestern vorbeigekommen sind. Der Gärtner, er heißt Duncan Crisp, hat gerade Blumenzwiebeln eingesetzt, und zwar in einem Beet mitten in einer großen gepflasterten Fläche gleich am Zaun zum Pfarrhaus. Er wohnt erst seit etwa einem Monat hier und kümmert sich seit zwei oder drei Wochen um den Garten von Dragonsdene. Barry Vine hat er erzählt, er habe, während er dort war, niemanden gesehen, der das Pfarrhaus vom St Peter’s Path her betreten hätte.«

»Und wann genau war das?«

»In der fraglichen Zeit. Er hat um eins angefangen und um halb fünf Feierabend gemacht. Barry Vine hatte freien Blick auf den Garten nebenan. Falls jemand im Garten des Pfarrhauses gewesen wäre, hätte er ihn gesehen. Es war ein strahlend sonniger Tag. Crisp ist zwar schon ein bisschen älter, aber mit seinen Augen ist alles in Ordnung.«

»Was genau meinst du mit älter? Wie du dir vorstellen kannst, ist das ein wunder Punkt bei mir.«

»Oh, keine Ahnung. Zwischen sechzig und achtzig.«

»Und was kommt danach?«

»Frag mich, wenn du so weit bist«, lachte Burden. »Möchtest du ein Dessert?«

»Nein. Ich hätte liebend gern einen Pudding, doch den werde ich mir verkneifen. Kaffee, bitte. Und als du deine These vom umherziehenden Psychopathen aufgegeben hattest, wo bist du dann gelandet?«

»Nun, ich versuche, politisch korrekt zu sein, ohne mich zum Narren zu machen«, antwortete Burden. »Doch sie war zur Hälfte Inderin, und hier wimmelt es von versteckten Rassisten. Inderin darf ich noch sagen, oder?«

»Was mich betrifft, ja, aber ›Asiatin‹ wäre vielleicht angebrachter.«

»Viele Leute haben sie abgelehnt, weil sie zur Hälfte Asiatin und, tja, eine Frau war. Offenbar einschließlich Dennis Cuthbert, dem Küster. Allerdings lehnt der alles ab, was sich in der Kirche in den letzten hundert Jahren verändert hat. Man möchte doch meinen, dass man sich inzwischen an weibliche Geistliche gewöhnt hat. Der Himmel weiß, wie viele weibliche Vikare es mittlerweile in diesem Land gibt.«

»Meine Frau würde sagen, dass der Herrgott es wüsste. Ich weiß bloß, dass es viele sind. Ich bin nur deshalb darüber im Bilde, weil Dora mir erzählt hat, es habe jede Menge Ressentiments gegen die arme Sarah Hussain gegeben. Eigentlich dachte ich, das hätte sich inzwischen gelegt. Sie hat auch Cuthbert erwähnt. Bei den Leuten, die solche Vorurteile pflegen, schien die Abneigung nachgelassen zu haben, nachdem bekannt wurde, dass sie vom Hinduismus zum Christentum konvertiert ist, und zwar in früher Jugend, als Teenager, glaube ich.«

»Laut Guardian mit fünfzehn.«