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Eure Kinder sind nicht mehr sicher … An einem stürmischen Februarnachmittag verschwindet im beschaulichen Kingsmarkham die kleine Stella Rivers – und wird nie wieder gesehen … Nachdem die Suchaktionen erfolglos bleiben und auch keine Lösegeldforderungen bei den Eltern eingehen, muss Inspector Wexford mit dem Schlimmsten rechnen. Als wenige Monate später ein fünfjähriger Junge verschwindet, sind der Kommissar und sein Team alarmiert. Ihr einziger Hinweis: Ein Brief mit einer blonden Locke des Vermissten. Alles deutet darauf hin, dass in seiner Heimatstadt ein verrückter Kindesmörder sein Unwesen treibt – für Wexford und seine rechte Hand, Inspector Burden, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um das Leben des kleinen John zu retten … »Ruth Rendell ist für mich die Beste.« Bestsellerautorin Donna Leon Preisgekrönte und feingezeichnete psychologische Spannung für die Leserinnen und Leser von Val McDermid und Peter Robinson – alle Bände der »Inspector Wexford«-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden. In Band 7 wird Inspector Wexford in eine Mordermittlung verwickelt – in seiner eigenen Familie …
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Seitenzahl: 340
Veröffentlichungsjahr: 2025
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An einem stürmischen Februarnachmittag verschwindet im beschaulichen Kingsmarkham die kleine Stella Rivers – und wird nie wieder gesehen … Nachdem die Suchaktionen erfolglos bleiben und auch keine Lösegeldforderungen bei den Eltern eingehen, muss Inspector Wexford mit dem Schlimmsten rechnen. Als wenige Monate später ein fünfjähriger Junge verschwindet, sind der Kommissar und sein Team alarmiert. Ihr einziger Hinweis: Ein Brief mit einer blonden Locke des Vermissten. Alles deutet darauf hin, dass in seiner Heimatstadt ein verrückter Kindesmörder sein Unwesen treibt – für Wexford und seine rechte Hand, Inspector Burden, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um das Leben des kleinen John zu retten …
eBook-Neuausgabe Dezember 2025
Die englische Originalausgabe erschien 1971 unter dem Titel »No More Dying Then« bei Hutchinson Ltd., London. Die deutsche Erstausgabe erschien 1996 im Wilhelm Goldmann Verlag, München
Copyright © der Originalausgabe 1971 by Ruth Rendell
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Frank Wagner und AdobeStock/Nasnut
eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (mk)
ISBN 978-3-96148-599-4
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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].
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Ruth Rendell
Kriminalroman: Inspector Wexford ermittelt 6
Aus dem Englischen von Monika Elwenspoek
dotbooks.
So zehrst am Tod du, der am Menschen zehrt;
und ist Tod tot, hat Sterben aufgehört.
Shakespeare, Sonett 146
»Die Schönwetterperiode, die wir oft Mitte Oktober haben, ist allgemein als St. Lukas Little Summer bekannt. Das mit dem ›kleinen Sommer‹ bedarf keiner Erklärung; und St. Lukas hat sich durch den 18. ergeben, der zufälligerweise der Tag dieses Heiligen ist.« Station Sergeant Camb bedachte Harry Wild mit dieser ebenso interessanten wie nutzlosen Information, streckte sich genießerisch in der warmen Herbstsonne und lächelte sein Gegenüber salbungsvoll an.
»Ach, wirklich? Vielleicht schreibe ich was in meiner Kolumne ›Gehört, Notiert‹ darüber.« Wild zog an seiner übelriechenden alten Pfeife und stützte mit Lederflicken besetzte Ellbogen auf den Tresen. Er gähnte. »Haben Sie nicht ein bißchen was Aufregenderes für mich?«
Camb ließ sich durch das Gähnen anstecken und gähnte seinerseits. Zum dritten Mal machte er eine Bemerkung über das schwüle Wetter, dann schlug er sein Buch auf.
»Zusammenstoß zweier Fahrzeuge an der Kreuzung Kingsmarkham High und Queen Street«, las er. »Keine Verletzten. Das war Sonntag. Kein Thema für den Courier, oder? Siebzehnjähriges Mädchen vermißt, aber wir wissen schon, wo sie ist. Ach, und ein Pavian ist aus der Tierhandlung entlaufen ...« Wild sah mit mildem Interesse auf. »...Nur haben sie ihn auf ihrem eigenen Balkon gefunden, wo er sich in der Mülltonne verkrochen hatte.«
»Welch ein langweiliges Nest«, sagte Wild. Er steckte sein Notizbuch weg. »Aber ich habe mich ja fürs ruhige Leben entschieden. Ich könnte morgen in Fleet Street anfangen, wenn ich Lust hätte. Ich müßte nur einen Ton sagen, und schon wäre ich da, wo sich wirklich was tut.«
»Klar.« Camb wußte sehr wohl, daß Wild als Chefreporter beim Kingsmarkham Courier blieb, weil Bequemlichkeit und allgemeine Unfähigkeit, wie auch sein inzwischen fortgeschrittenes Alter, ihn für eine bedeutendere Zeitung kaum geeignet erscheinen ließen. Wild kam regelmäßig aufs Revier, länger als es Cambs Erinnerung lieb war, und jedes Mal redete er über Fleet Street, als habe er abgelehnt, und nicht umgekehrt. Doch um des lieben Friedens und der angenehmen Atmosphäre willen erhielten sie das Märchen aufrecht. »Bei mir ist es genau dasselbe«, sagte er. »Wie oft hat Mr. Wexford mich im Lauf der Jahre nicht schon angefleht, zu überlegen, ob ich zum C.I.D. gehen will, aber ich wollte nie. Ich bin nicht ehrgeizig. Was natürlich nicht heißt, daß mir die Befähigung gefehlt hätte.«
»Sicher hätten Sie die gehabt.« Als fairer Mitspieler gab Wild das Lob zurück. »Aber wohin führt dieser Ehrgeiz denn? Sehen Sie sich Inspektor Burden an, um ein Beispiel zu nehmen. Noch keine vierzig und total ausgelaugt, wenn ich das mal sagen darf.«
»Na, er hat ja auch viel durchgemacht, oder? Auf die Weise seine Frau zu verlieren, und das mit zwei unmündigen Kindern.«
Wild gab einen tiefen, kummervollen Seufzer von sich. »Das«, meinte er, »war eine tragische Geschichte. Krebs, wenn ich mich recht erinnere.«
»Stimmt. Letztes Jahr um diese Zeit munter wie ein Fisch im Wasser, und Weihnachten tot. Erst fünfunddreißig. Macht einen irgendwie nachdenklich.«
»Mitten aus dem Leben. Kommt mir vor, als hätt’s ihn hart getroffen. Die beiden haben wohl sehr aneinander gehangen?«
»Mehr Liebes- als Ehepaar.« Camp räusperte sich und stand strammer, als die Fahrstuhltür aufging und Chief Inspector Wexford heraustrat.
»Na, Sergeant, wieder mal beim Tratschen? Tag, Harry.« Wexford warf nur einen kurzen Blick auf die beiden leeren Teetassen auf dem Tresen. »Das erinnert mich hier von Woche zu Woche mehr an Kaffeeklatsch beim Müttergenesungswerk.«
»Ich war gerade dabei«, sagte Camb würdevoll, »Mr. Wild von unserem entsprungenen Pavian zu erzählen.«
»Liebe Güte, eine heiße Neuigkeit. Da läßt sich doch was draus machen, Harry. Terrorisiert die Bevölkerung, Mütter wagen Kinder nicht aus den Augen zu lassen. Kann eine Frau sich sicher fühlen, solange diese wilde Bestie unsere Gefilde durchstreift?«
»Er ist gefunden worden, Sir. In einer Mülltonne.«
»Sergeant, wenn ich nicht wüßte, daß Sie dazu gar nicht fähig sind, würde ich sagen, Sie machen sich über mich lustig.« Wexford bebte vor verhaltenem Lachen. »Wenn Inspector Burden kommt, sagen Sie ihm, daß ich gegangen bin, ja? Ich möchte gern für ein paar Stunden unseren Altweibersommer genießen.«
»St. Lukas Little Summer, Sir.«
»Tatsächlich? Ich lasse mich belehren. Wünschte, ich hätte die Zeit, solch faszinierende Einzelheiten meteorologischen Wissens auszugraben. Sie können mitfahren, Harry, falls Sie mit Ihrem Affenzirkus hier fertig sind.«
Camb feixte. »Die Firma dankt«, sagte Wild.
Es war schon nach fünf, aber immer noch sehr warm. Der Sergeant reckte sich und wünschte, Constable Peach käme, damit er ihn in die Kantine schicken konnte, frischen Tee zu holen. Noch eine halbe Stunde, dann hatte er Feierabend.
Kurz darauf klingelte das Telefon.
Eine Frauenstimme, tief und wohltönend. Schauspielerin, dachte Camb. »Entschuldigen Sie, wenn ich störe, aber mein kleiner Sohn ... Er ist – also, er hat draußen gespielt, und jetzt ist er – er ist verschwunden. Ich weiß nicht ... mache ich vielleicht zuviel Aufhebens?««
»Nicht im Mindesten, gnädige Frau««, sagte Camb beruhigend. »Dazu sind wir ja da, daß man uns stört. Wie war der Name?««
»Lawrence. Ich wohne Fontaine Road 61, in Stowerton.««
Camb zögerte einen Moment. Dann fiel ihm ein, daß Wexford angeordnet hatte, alle Fälle vermißter Kinder sollten ans C.I.D. gemeldet werden. Sie wollten keinen weiteren Fall Stella Rivers ...
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Lawrence, ich verbinde Sie mit jemandem, der Ihnen helfen wird.«« Er stellte durch, hörte Sergeant Martins Stimme, legte auf.
Sergeant Camb seufzte. Schade, daß Harry ausgerechnet jetzt gegangen war, gerade wenn die einzige Neuigkeit seit Wochen kam. Er konnte den armen alten Harry anrufen ... Morgen genügte auch noch. Das Kind würde man sowieso finden, wie den Affen. Verlorengegangene Menschen und Sachen fanden sich in Kingsmarkham normalerweise wieder, und das in mehr oder weniger gutem Zustand. Camb drehte den Kopf in der Sonne wie eine Scheibe Toast vor einem offenen Feuer. Es war zwanzig nach fünf. Um sechs würde er sich in Severn Court, Station Road an den Abendbrottisch setzen; danach ein kleiner Gang mit seiner Frau zum Dragon, dann fernsehen ...
»Kleines Nickerchen, Sergeant?« ertönte eine eisige Stimme, scharf wie eine frisch ausgepackte Rasierklinge. Camb kippte vor Schreck beinah vom Stuhl.
»Oh, Entschuldigung, Mr. Burden. Das ist die Wärme, sie macht einen schläfrig. St. Lukas Little Summer nennt man das, weil ...«
»Sind Sie denn ganz und gar von der Rolle, verdammt noch mal?« Burden hatte früher nie geflucht. Sie hatten sich sogar über ihn lustig gemacht auf dem Revier, weil er den Namen des Herrn nie mißbräuchlich führte oder »verdammt« sagte oder all die üblichen Dinge. Camb hatte es früher besser gefallen. Er fühlte, wie er rot wurde, und nicht von der Sonne. »Gibt’s was für mich?« blaffte Burden.
Camb sah ihn traurig an. Inspector Burden tat ihm entsetzlich leid, sein Herz zog sich zusammen für den leidgeprüften Kollegen, und deshalb verzieh er ihm die Demütigung und Zurechtweisung vor Martin und Gates und sogar vor Peach. Camb konnte sich nicht vorstellen, wie es war, seine Frau zu verlieren, die Mutter seiner Kinder, und allein und verzweifelt zurückzubleiben. Burden war so dünn. Die Backenknochen zeichneten sich scharf unter der straff gespannten Haut ab, und seine Augen glitzerten bösartig, wenn man ihn flüchtig ansah, aber wenn man genauer hinschaute, war der Anblick fast nicht zu ertragen. Er war mal ein recht ansehnlicher Mann gewesen. Englischer Typ, blond und mit frischem Teint. Aber jetzt waren alle Farbe und alles Leben aus ihm gewichen, und er wirkte grau. Er trug noch immer eine schwarze Krawatte, so eng zusammengezogen, daß man meinte, sie müsse ihn erwürgen.
Damals, als es geschehen war, hatte der Sergeant wie alle anderen sein Beileid ausgedrückt, und das war in Ordnung, es wurde erwartet. Später dann hatte er versucht, etwas Herzlicheres, Persönlicheres zu sagen, und Burden hatte sich gegen ihn gewandt wie einer, der sein Schwert zieht. Er hatte schreckliche Dinge gesagt. Sie von diesem zurückhaltenden, beherrschten Mann zu hören war viel schlimmer als von den Kingsmarkhamer Rowdies, die immer so redeten. Wie wenn man ein hübsches Buch aufschlägt, von jemand geschrieben, dessen Bücher man schätzt und sich in der Bücherei extra zurücklegen läßt, und auf ein Wort stößt, das sonst immer nur durch Pünktchen ersetzt wird.
Obwohl Camb in diesem Augenblick eigentlich lieber etwas Freundlicheres gesagt hätte – war er nicht alt genug, um der Vater dieses Mannes zu sein? –, seufzte er nur und antwortete mit seiner ausdruckslosen, offiziellen Stimme: «Mr. Wexford ist nach Hause gegangen, Sir. Er sagt, er ...«
»Das ist alles?«
»Nein, Sir. Da ist ein vermißtes Kind und ...«
»Warum, zum Teufel, sagen Sie das nicht gleich?«
»Ist schon alles in die Wege geleitet«, stammelte Camb. »Martin weiß davon und hat bestimmt Mr. Wexford angerufen. Hören Sie, Sir, es steht mir nicht zu, mich da einzumischen, aber – also, warum gehen Sie nicht einfach nach Hause, Sir?«
»Wenn ich Ihren Rat brauche, Sergeant, frage ich Sie. Das letzte vermißte Kind ist nie gefunden worden. Ich werde nicht nach Hause gehen.« Wozu auch. Er sprach es nicht aus, aber die Worte waren da, und der Sergeant hatte sie gehört. »Geben Sie mir eine Leitung nach draußen, ja?«
Camb tat wie geheißen, und Burden sagte: »Meine Wohnung.« Als Grace Woodville am Apparat war, übergab Camb den Hörer an ihren Schwager. »Grace? Mike hier. Warte nicht mit dem Essen auf mich. Ein Kind wird vermißt. Ich komme wahrscheinlich gegen zehn.«
Burden knallte den Hörer auf und ging zum Fahrstuhl. Camb starrte zehn Minuten lang ausdruckslos auf die Türen, dann kam Sergeant Mathers herunter, um ihn abzulösen.
Der Bungalow in der Tabard Road sah genauso aus wie zu Jean Burdens Lebzeiten. Die Böden glänzten, die Fenster blitzten, und in den Steingutvasen standen Blumensträuße – um diese Jahreszeit waren es Chrysanthemen. Schlichtes englisches Essen wurde zur geregelten Zeit aufgetragen, und die Kinder wirkten gepflegt wie von einer liebevollen Mutter. Um halb neun waren die Betten gemacht, gegen neun hing die Wäsche auf der Leine, und eine wohlklingende, fröhliche Stimme begrüßte die Nachhausekommenden.
Grace Woodville hatte für all das gesorgt. Das Haus genauso zu führen wie zuvor ihre Schwester und mit den Kindern ebenso umzugehen, wie sie es getan hatte, war ihr als einzig möglicher Weg erschienen. Sie selbst sah ihr schon so ähnlich, wie ein Nichtzwilling seiner Schwester nur sehen kann. Und es hatte sich als richtig erwiesen. Manchmal schienen John und Pat es beinah zu vergessen. Sie kamen zu ihr, wenn sie verletzt oder in Schwierigkeiten waren oder etwas Interessantes zu erzählen hatten, genau wie sie es bei Jean getan hatten. Sie schienen glücklich zu sein, die Wunde vom vergangenen Jahr schien langsam zu verheilen. Für die Kinder und das Haus und die praktischen Alltagsdinge hatte es sich als richtig erwiesen, aber nicht für Mike. Natürlich nicht. Hatte sie das wirklich angenommen?
Sie legte den Telefonhörer auf und schaute in den Spiegel, aus dem Jeans Gesicht ihr entgegenblickte. Solange Jean noch lebte, hatte sie es nie so empfunden, ihr Gesicht war ihr ganz anders, kantiger und energischer und ausgefüllter und – ja, warum sollte man es nicht sagen? – intelligenter erschienen. Nun sah es aus wie Jeans. Die Lebhaftigkeit, der scharfe Witz waren daraus verschwunden, und das war nicht weiter verwunderlich, wenn sie überlegte, wie sie ihre Tage verbrachte, mit Kochen und Saubermachen und Trösten und dem Warten auf einen Mann, der alles als selbstverständlich ansah.
»John?« rief sie laut. »Das war dein Vater. Er kommt nicht vor zehn nach Hause, ich glaube, wir sollten schon mal essen, oder?« Seine Schwester suchte im Garten Raupen für ihre Sammlung, die sie in der Garage hatte. Grace hatte mehr Angst vor Raupen als die meisten Frauen vor Mäusen oder Spinnen, doch sie mußte vorgeben, sie zu mögen, ja sich sogar für sie zu begeistern, weil sie doch Pat die Mutter ersetzen mußte. »Pat! Essen, Schätzchen. Beeil dich.«
Das kleine Mädchen war elf. Sie kam herein und schob die Streichholzschachtel auf, die sie in der Hand hielt. Beim Anblick der fetten grünen Kreatur darin krampfte sich Grace alles zusammen. »Sehr hübsch«, meinte sie schwach. »Ein Lindenschwärmer?« Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht, und wie alle Kinder wußte Pat Erwachsene zu schätzen, die sich bemühten.
»Sieh dir bloß mal das niedliche Gesichtchen an.«
»Ja. Ich hoffe, sie kann sich noch verpuppen, bevor die Blätter fallen. Daddy kommt nicht zum Abendessen.«
Pat zuckte gleichmütig die Schultern. Sie hatte im Moment nicht sonderlich viel für ihren Vater übrig. Er hatte ihre Mutter mehr geliebt als sie, soviel wußte sie jetzt, und daß er sie eigentlich nun besonders liebhaben müßte, um ihren Verlust wiedergutzumachen. Ein Lehrer in der Schule hatte ihr gesagt, das täten alle Väter. Sie hatte gewartet, aber er hatte es nicht getan. Schon immer war er oft spät von der Arbeit nach Hause gekommen, aber jetzt blieb er fast die ganze Zeit weg. So hatte sie ihre schlichte, tierhafte Liebe auf Tante Grace übertragen. Es wäre nett, dachte sie bei sich, wenn John und ihr Vater fortgingen und sie und ihre Tante allein ließen. Dann könnten sie beide es wirklich schön haben und noch bessere und sogar seltenere Raupen sammeln und Bücher über Naturgeschichte und Naturwissenschaften und das Bolschoi-Ballett lesen.
Sie setzte sich neben ihre Tante an den Tisch und fing an von der Schinken-Geflügel-Pastete zu essen, die genauso schmeckte wie die von ihrer Mutter.
Ihr Bruder sagte: »Wir haben heute in der Schule über die Gleichheit der Geschlechter diskutiert.«
»Das ist ein interessantes Thema«, meinte Grace. »Was hast du dazu gesagt?«
»Ich habe das Reden den anderen überlassen. Eins habe ich aber gesagt, daß weibliche Gehirne weniger wiegen als männliche.«
»Tun sie gar nicht«, widersprach Pat.
»Doch, tun sie. Stimmt’s, Tante Grace?«
»Stimmt leider«, sagte Grace, die Krankenschwester gewesen war. »Das heißt aber nicht, daß sie nicht genauso gut sind.«
»Ich wette«, meinte Pat mit einem rachsüchtigen Blick auf ihren Bruder, »ich wette, meins wiegt mehr als deins. Mein Kopf ist größer. Und überhaupt, das ist alles langweilig, Diskussionen und so ’n Zeug. Nur Gerede.«
»Komm, Schatz, iß deine Pastete.«
»Wenn ich groß bin«, sagte Pat und fing damit ein Dauerthema an, »dann werde ich nicht reden und diskutieren und all so öde Sachen. Ich mache meinen Abschluß – nein, vielleicht warte ich doch lieber, bis ich meinen Doktor habe – und dann gehe ich nach Schottland und erforsche die Lochs, alle ganz tiefen Seen, und dann entdecke ich die Monster, die da drin leben, und dann ...«
»Es gibt keine Monster. Sie haben gesucht und nie eins gefunden.«
Pat beachtete ihren Bruder nicht. »Ich werde Taucher haben und ein Spezialboot und eine ganze Mannschaft, und Tante Grace sorgt für uns alle und kocht für uns.«
Ein heftiger Streit entbrannte daraufhin zwischen den beiden. Es konnte durchaus so kommen, dachte Grace. Das war das Schreckliche, es konnte durchaus so kommen. Manchmal sah sie es vor sich, wie sie weiter hier lebte, bis die beiden erwachsen waren und sie alt und Pats Haushälterin. Wozu sonst würde sie dann sonst schon noch taugen? Und was spielte es für eine Rolle, ob ihr Gehirn weniger oder mehr oder genauso viel wog wie das eines Mannes, wenn es in einem kleinen Haus im tiefsten Sussex vor sich hin schrumpfte?
Bei Jeans Tod war sie als Schwester in einem großen Londoner Lehrkrankenhaus gewesen und hatte ihre sechs Wochen Jahresurlaub genommen, um herzukommen und sich um Mike und seine Kinder zu kümmern. Nur sechs Wochen wollte sie bleiben. Man verbrachte nicht Jahre seines Lebens mit Ausbildung, nahm Gehaltseinbußen in Kauf, um weitere Qualifikationen zu erwerben, ging zwei Jahre in die USA, um in einer Bostoner Klinik die neuesten Geburtshilfemethoden zu lernen, nur um dann alles aufzugeben. Im Krankenhaus hatte man ihr gesagt, sie solle nicht gehen, aber sie hatte nur gelacht. Doch aus den sechs Wochen waren sechs Monate geworden, dann neun, zehn, und nun war ihre Stelle im Krankenhaus besetzt.
Gedankenvoll betrachtete sie die Kinder. Wie konnte sie sie jetzt im Stich lassen? Wie konnte sie auch nur daran denken, sie in den nächsten fünf Jahren zu verlassen? Und selbst dann wäre Pat erst sechzehn.
Es war alles Mikes Fehler. Scheußlich, so zu denken, aber wahr. Andere Männer verloren auch ihre Frauen. Und andere Männer fanden sich damit ab. Mike konnte sich bei seinem Gehalt und seinen Beihilfen eine Haushälterin leisten. Und es war nicht nur das. Ein Mann von Mikes Intelligenz sollte sich klarmachen, was er ihr und den Kindern antat. Sie war auf seine Einladung hin gekommen, auf seine leidenschaftliche Bitte hin, und hatte geglaubt, er würde sie bei ihrer Aufgabe unterstützen; sie war sicher gewesen, daß er sich bemühen würde, die Abende zu Hause zu verbringen, an den Wochenenden etwas mit den Kindern zu unternehmen, sie bis zu einem gewissen Grade für den Verlust der Mutter zu entschädigen. Nichts davon hatte er getan. Wann hatte er zuletzt einen Abend zu Hause verbracht? Vor drei Wochen? Vor vier? Und er arbeitete nicht immer. Eines Abends, als sie den Anblick von Johns verbittertem, rebellischem Gesicht nicht länger ertragen konnte, hatte sie Wexford angerufen, und der Chief Inspector hatte ihr gesagt, Mike sei um fünf Uhr gegangen. Später erzählte ihr eine Nachbarin, wohin Mike ging. Sie hatte ihn auf einem Waldweg in Cheriton Forest in seinem Wagen gesehen, wie er einfach nur dasaß und auf die geraden, gleichförmigen, endlosen Baumreihen starrte.
»Sollen wir ein bißchen fernsehen?« sagte sie, bemüht, sich die Erschöpfung nicht anhören zu lassen. »Ich glaube, es gibt heute einen ganz guten Film.«
»Zuviel Hausaufgaben«, sagte John. »Und ich kann Mathe nicht machen, ehe mein Vater nicht da ist. Hast du gesagt, er kommt um zehn?«
»Er hat gesagt, gegen zehn.«
»Dann gehe ich mal in mein Zimmer.«
Grace und Pat setzten sich aufs Sofa und sahen sich den Film an. Er handelte vom häuslichen Leben eines Polizisten und hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit.
Burden fuhr nach Stowerton, durch das Neubauviertel und in die alte High Street. Fontaine Road lag parallel zur Wincanton Road, und da hatten er und Jean vor Jahren, als sie jung verheiratet waren, eine Wohnung gehabt. Wo auch immer er hinkam in Kingsmarkham und seiner Umgebung, stieß er auf Orte, wo er und Jean gewesen oder wo sie zu irgendeiner besonderen Gelegenheit hingefahren waren. Er konnte diese Plätze nicht vermeiden, aber der Anblick tat jedesmal auf’s Neue weh, und der Schmerz wollte nicht vergehen. Seit ihrem Tod hatte er um die Wincanton Road einen Bogen gemacht, denn dort waren sie ganz besonders glücklich gewesen; ein junges Liebespaar, das lernt, was Liebe ist. Heute war ein schlimmer Tag, schlimm, weil er aus irgendeinem Grund ganz besonders verletzlich und kribbelig war, und er hatte das Gefühl, der Anblick des Hauses, in dem sie gewohnt hatten, könnte das Faß zum Überlaufen bringen. Seine Selbstbeherrschung könnte völlig zusammenbrechen, und er würde am Tor stehen und weinen.
Er hielt den Blick starr geradeaus gerichtet und schaute nicht einmal auf das Straßenschild, als er vorbeifuhr. Dann bog er links in die Fontaine Road ein und hielt vor dem Haus Nummer 61 an.
Es war ein sehr häßliches Haus, vielleicht achtzig Jahre alt und umgeben von einem wilden, ungepflegten Garten voller alter Obstbäume, deren Blätter in Haufen im Gras lagen. Das Haus war aus khakifarbenem Backstein und hatte ein kaum ansteigendes, fast flaches Schieferdach. Die Schiebefenster waren sehr klein, die Eingangstür dafür enorm, beinah überproportional, ein großes, schweres Ungetüm von einer Tür mit roten und blauen Scheiben. Sie stand einen Spaltbreit offen.
Burden ging nicht sofort ins Haus. Wexfords Wagen stand zwischen anderen Polizeiautos am Zaun, der das Ende der Straße von dem angrenzenden Feld trennte, auf dem die Gemeinde Stowerton einen Spielplatz angelegt hatte. Dahinter weitere Felder, Wald, sanft gewellte Landschaft.
Wexford saß in seinem Wagen und studierte ein Meßtischblatt. Als Burden herantrat, sah er auf und sagte: »Nett, daß Sie so schnell da sind. Ich bin auch eben erst gekommen. Wollen Sie mit der Mutter reden, oder soll ich?«
»Ich werde es machen«, sagte Burden.
Ein schwerer Türklopfer in Form eines Löwenkopfes mit einem Ring durchs Maul war an der Haustür von Nr. 61 angebracht. Burden klopfte leicht, dann stieß er die Tür auf.
Im Flur stand mit zusammengepreßten Händen eine junge Frau. Das Erste, was Burden an ihr auffiel, war ihr Haar, es hatte die gleiche Farbe wie die herbstlichen Blätter der Apfelbäume, die der Wind von draußen auf die Fliesen des Durchgangs geweht hatte. Es war feurig-kupfernes Haar, weder glatt noch lockig, aber voll und glänzend wie feiner Draht oder auf dem Rocken gesponnener Faden; es stand um ihr kleines, weißes Gesicht und fiel ihr bis über die Schulterblätter.
»Mrs. Lawrence?«
Sie nickte.
»Ich bin Inspector Burden, C. I. D. Bevor wir uns unterhalten, hätte ich gern ein Foto Ihres Sohnes und irgendein Kleidungsstück, das er kürzlich getragen hat.«
Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an, als sei er ein Hellseher, der den Aufenthaltsort des vermißten Jungen durch Betasten seiner Kleider herausfinden konnte.
»Für die Hunde«, sagte er leise.
Sie ging nach oben, und er hörte sie fieberhaft Schubladen aufziehen und wieder zuschieben. Ja, genau, dachte er, dies war ziemlich sicher ein unordentliches Haus, wo nichts an seinem Platz lag, nichts zur Hand war, wenn man es brauchte. Sie kam im Laufschritt zurück, im Arm einen grünen Schulblazer und die Vergrößerung eines Schnappschusses. Burden sah sich das Foto an, während er die Straße entlangeilte. Es zeigte ein großes, kräftiges Kind, weder besonders sauber noch besonders ordentlich, doch unzweifelhaft schön mit dem vollen hellen Haarschopf und den großen dunklen Augen.
Die Männer, die gekommen waren, um nach ihm zu suchen, standen grüppchenweise herum, einige auf dem Schaukelplatz, einige um die Polizeiwagen. Es waren sechzig oder siebzig Leute, Nachbarn, Freunde und Verwandte von Nachbarn und andere, die von weiter her auf Fahrrädern gekommen waren. Die Geschwindigkeit, mit der sich solche Nachrichten verbreiten, verblüffte Burden immer wieder. Es war kaum sechs Uhr. Die Polizei war selbst erst vor einer guten halben Stunde benachrichtigt worden.
Er ging auf Sergeant Martin zu, der offenbar mit einem der Männer einen Disput hatte, und übergab ihm das Foto.
»Was war denn da los?« wollte Wexford wissen.
»Der Kerl hat gemeint, ich solle mich um meinen eigenen Kram kümmern, bloß weil ich ihm geraten habe, festere Schuhe anzuziehen. Das ist eben der Nachteil, wenn man die Öffentlichkeit beteiligt. Die denken immer, sie wissen alles am besten.«
»Wir kommen ohne sie nicht aus, Sergeant«, bellte Wexford. »Bei so was brauchen wir jeden verfügbaren Mann, ob Polizist oder Zivilist.«
Die beiden fähigsten und erfahrensten Mitglieder der Suchmannschaft gehörten genaugenommen in keine der beiden Kategorien. Sie saßen etwas abseits von den Männern und beäugten sie mit milder Herablassung. Das Fell der Labradorhündin glänzte in der sinkenden Sonne wie Satin, doch der dichte Pelz des Schäferhundes wirkte stumpf und rauh und wölfisch. Mit einer kurzen Warnung an die Adresse des Mannes, den Sergeant Martin eben wegen der Schuhe zurechtgewiesen hatte, den Hunden nicht zu nahe zu kommen – er schien drauf und dran, den Schäferhund zu streicheln –, reichte Wexford dem Führer des Labradors den Blazer.
Während die Hunde das Kleidungsstück mit geübten Nasen beschnüffelten, teilte Martin die Männer in Suchtrupps zu je etwa einem Dutzend ein und ordnete jedem einen Führer zu. Es gab zu wenige Taschenlampen für alle, und Wexford verfluchte die Jahreszeit mit der trügerischen Tageshitze und den kühlen Nächten, die so plötzlich hereinbrachen. Dunkle Wolkenfinger schoben sich bereits über den roten Abendhimmel, und scharfer Frost lag drohend in der Luft. Noch bevor die Suchtrupps den Wald erreichten, der wie ein schwarzer, haariger Bär über den Feldrändern hockte, würde die Dunkelheit hereingebrochen sein.
Burden beobachtete die kleine Heerschar, wie sie den Spielplatz betrat und ihre lange Suche begann, die sie bis Forby und noch weiter führen würde. Über dem Wald erschien ein kalter, ovaler Mond, der erst vor einigen Tagen voll gewesen war. Wenn er doch nur hell scheinen würde, unbehindert durch die blauschwarze, ziehende Wolke, das wäre eine größere Hilfe als all ihre Taschenlampen.
Die Frauen aus der Fontaine Road, die an ihren Gartentörchen gestanden hatten, um dem Abmarsch der Männer zuzusehen, gingen jetzt zögernden Schrittes zu ihren Häusern zurück. Jede von ihnen mußte befragt werden. Hatten sie etwas beobachtet? Jemanden gesehen? War heute irgendetwas Ungewöhnliches, etwas außer der Reihe geschehen? Auf Wexfords Anweisung begannen Loring und Gates eine Von-Haus-zu-Haus-Ermittlung. Burden ging zu Mrs. Lawrence zurück und folgte ihr ins Vorderzimmer voll häßlicher viktorianischer Möbel, passend zum Haus. Überall lagen Spielsachen, Bücher und Zeitschriften verstreut, und auch Kleidungsstücke, Schals und Tücher waren über den Möbeln verteilt. Ein langes Patchworkkleid auf einem Bügel hing von einer Bilderleiste.
Als sie die Stehlampe anknipste, wirkte der Raum noch schmuddeliger und unordentlicher und sie noch exotischer.
Sie trug Jeans, eine Satinbluse und um den Hals eine Reihe matter Ketten. Er brauchte sie ja nicht zu bewundern, aber er hätte gern Mitleid mit ihr gehabt. Diese Frau in ihrer wilden Haartracht und dem fremdartigen Aufzug erweckte in ihm jedoch sofort den Eindruck, daß sie ungeeignet sei, ein Kind zu beaufsichtigen, und sogar den Gedanken, daß ihre Erscheinung und alles, was er damit in Verbindung brachte, womöglich zum Verschwinden des Kindes beigetragen hatte. Doch er durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen.
»Also, wie heißt der Junge, und wie alt ist er? *‹
»John. Er ist fünf.«
»Hatte er keine Schule heute?«
»Die Grundschulen haben frei«, sagte sie. »Soll ich Ihnen erzählen, wie der Nachmittag heute abgelaufen ist, ja?«
»Bitte.«
»Also, wir haben zu Mittag gegessen, John und ich, und danach, so um zwei, kam ein Freund von nebenan, um ihn zum Spielen abzuholen. Er heißt Gary Dean und ist auch fünf.« Sie war sehr gefaßt, aber jetzt schluckte sie und räusperte sich. »Sie wollten draußen auf der Straße mit ihren Dreirädern spielen. Es ist ziemlich ungefährlich. Sie wissen, daß sie auf dem Gehweg bleiben müssen.
Wenn John draußen spielt, dann gehe ich ungefähr alle halbe Stunde ans Fenster, um zu sehen, ob er okay ist, und das habe ich heute auch getan. Von meinem Flurfenster aus kann man die ganze Straße und den Spielplatz überblicken, wo die Schaukeln sind. Eine Weile haben sie mit den anderen Jungen, alle hier aus der Nachbarschaft, auf dem Gehweg gespielt, aber als ich um halb vier wieder rausschaute, waren sie ins Feld zu den Schaukeln gegangen.«
»Und auf die Entfernung konnten Sie Ihren Sohn erkennen?«
»Er hat einen dunkelblauen Pullover an und dazu das helle Haar.«
»Erzählen Sie weiter, Mrs. Lawrence.«
Sie holte tief Luft und umklammerte mit den Fingern ihrer einen Hand die andere.
»Die Dreiräder hatten sie in einem wilden Haufen auf dem Gehweg liegenlassen. Als ich das nächste Mal rausschaute, waren sie alle bei den Schaukeln, und ich konnte John durch seinen Pullover und das helle Haar ausmachen. Oder – oder zumindest dachte ich es. Es waren sechs Jungen, wissen Sie. Jedenfalls, als ich wieder nachsah, waren sie alle weg, und ich bin runter, um John die Tür aufzumachen. Ich dachte, er kommt zum Tee.«
»Aber er kam nicht.«
»Nein. Sein Dreirad lag ganz allein auf dem Weg.« Sie biß sich auf die Lippe, ihr Gesicht war jetzt sehr weiß. »Auf der Straße waren überhaupt keine Kinder. Ich dachte, John müsse wohl irgendwohin mitgegangen sein – das macht er manchmal, obwohl er es nicht soll, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Ich wartete also – höchstens fünf Minuten, nicht länger –, dann ging ich zu den Deans, um zu sehen, ob er dort war. Das war ein ganz schöner Schock«, sagte sie halb im Flüsterton. »Da bekam ich zum ersten Mal Angst. Gary saß beim Tee, und bei ihm ein blonder Junge mit einem blauen Pullover, aber es war nicht John. Es war sein Vetter, der heute Nachmittag bei ihm zu Besuch war. Da wurde mir klar, daß der Junge, den ich seit halb vier für John gehalten hatte, dieser Vetter gewesen war, verstehen Sie?«
»Was haben Sie dann getan?«
»Ich habe Gary nach John gefragt, und er sagte, er wisse es nicht. Er sei vor ein paar Stunden gegangen, meinte er – so hat er es ausgedrückt, vor Stunden – und sie hätten alle gedacht, er sei bei mir. Ja, dann ging ich zu einem anderen Jungen in Nummer 59, er heißt Julian Crantock, und Mrs. Crantock und ich haben es dann aus Julian herausbekommen. Er sagte, Gary und sein Vetter hätten angefangen, John zu hänseln, nur so dummes Kindergerede, aber Sie wissen ja, wie sie sind, wie sie sich gegenseitig piesacken. Sie ärgerten John wegen seines Pullovers, sagten, es sei ein Mädchenpullover, wegen der Art, wie die Knöpfe am Kragen zugehen, und John – na ja, Julian sagte, er hätte eine Weile ganz allein auf dem Karussell gesessen, und dann sei er einfach Richtung Straße weggegangen.«
»Diese Straße hier? Fontaine Road?«
»Nein. Die zwischen dem Spielplatz und den Feldern. Sie führt von Stowerton nach Forby.«
»Ich kenne sie«, sagte Burden. »Mill Lane. Man kann sie von den Feldern aus durch einen Einschnitt erreichen, man muß eine baumbestandene Böschung runter.«
Sie nickte. »Aber warum sollte er dahin gehen? Warum? Ich habe ihm wieder und wieder gesagt, daß er nicht weiter gehen darf als bis zum Spielplatz.«
»Kleine Jungen tun nicht immer, was man ihnen sagt, Mrs. Lawrence. Haben Sie uns danach angerufen?«
»Nicht gleich«, erwiderte sie. Dabei sah sie auf, und ihre Blicke trafen sich. Ihre Augen waren graugrün, und es lag ein ungläubiges Entsetzen in ihnen, aber ihre Stimme blieb ruhig und leise. »Ich bin erst zu allen Jungen nach Hause gegangen. Mrs. Crantock kam mit, und als alle das gleiche gesagt hatten über den Streit und daß John allein weggegangen sei, hat Mrs. Crantock ihr Auto aus der Garage geholt, und wir sind die Mill Lane entlanggefahren bis ganz nach Forby und zurück. Wir haben einen Mann mit Kühen getroffen und ihn nach John gefragt, und einen Briefträger und einen Mann, der Gemüse lieferte, aber keiner hatte ihn gesehen. Da habe ich Sie angerufen.«
»Dann ist John also seit ungefähr halb vier verschwunden?«
Sie nickte. »Fast drei Stunden. Es wird langsam dunkel. Er hat Angst vor der Dunkelheit.«
Sie bewahrte ihre Haltung, doch Burden merkte, daß ein falsches Wort oder eine falsche Geste seinerseits, vielleicht sogar ein plötzliches Geräusch, sie aus dem Gleichgewicht bringen und einen Entsetzensschrei auslösen konnte. Er wußte nicht recht, was er von ihr halten sollte. Sie sah eigenartig aus, wie eine Frau aus der Welt, die er nur aus Zeitungen kannte. Er hatte Bilder von ihr gesehen, oder doch von Frauen, die ihr sehr ähnelten, wie sie aus Londoner Gerichtsverhandlungen kamen, nachdem sie des verbotenen Besitzes von Cannabis überführt waren. Solche wie sie wurden nach einer Überdosis von Barbituraten und Alkohol tot in möblierten Zimmern gefunden. Solche wie sie? Das Gesicht stimmte, abgehärmt und blaß, und die wilde Haartracht und die abstoßende Kleidung. Es war ihre Beherrschung, die ihn verwirrte, und die süße, sanfte Stimme, die nicht in das Bild exzentrischen Umgangs und ungesunder Lebensweise passen wollten, das er für sie entworfen hatte.
»Mrs. Lawrence«, begann er, «bei unserer Arbeit haben wir es mit Dutzenden von Fällen verschwundener Kinder zu tun, und mehr als neunzig Prozent von ihnen werden heil und gesund wiedergefunden.« Das Mädchen, das man überhaupt nicht gefunden hatte, würde er nicht erwähnen. Wahrscheinlich tat es jemand anders, irgendein klatschsüchtiger Nachbar, aber dann wäre der Junge vielleicht schon wieder bei seiner Mutter. »Wissen Sie, was mit den meisten von ihnen passiert? Sie reißen aus Trotz oder Abenteuerlust aus, verlaufen sich und werden müde, dann legen sie sich in eine warme Höhle und – schlafen.«
Ihre Augen bestürzten ihn. Sie waren so riesig und starr und schienen kaum einmal zu blinzeln. Jetzt sah er darin einen schwachen Hoffnungsschimmer aufkommen. »Sie sind sehr freundlich zu mir«, sagte sie ernsthaft. »Ich traue Ihnen.«
Verlegen erwiderte Burden: »Das ist gut. Sie vertrauen uns und überlassen uns die Sorgen, ja? So, wann kommt Ihr Mann nach Hause?«
»Ich bin geschieden. Ich lebe allein.«
Es überraschte ihn nicht. Natürlich war sie geschieden. Sie konnte nicht älter als achtundzwanzig sein, und mit achtunddreißig war sie wahrscheinlich zwei weitere Male verheiratet und geschieden. Der Himmel mochte wissen, durch welche Verquickung von Umständen sie aus London, wohin sie gehörte, ins tiefste Sussex verschlagen worden war, um hier am Rande der Verwahrlosung zu leben und der Polizei unerbetenen Ärger durch ihre Nachlässigkeit zu machen.
Ihre leise Stimme, inzwischen ziemlich zittrig, drang in seine harschen und vielleicht ungerechten Gedanken. »John ist alles, was ich habe. Ich habe nichts auf der Welt außer John.«
Und wessen Schuld war das? »Wir werden ihn finden«, sagte Burden entschieden. »Ich werde sehen, daß ich eine Frau finde, die ein bißchen bei Ihnen bleibt. Vielleicht diese Mrs. Crantock?«
»Würden Sie das tun? Sie ist sehr nett. Die meisten Leute hier sind sehr nett, obwohl sie nicht ...« Sie hielt inne und überlegte. »Sie sind so anders als meine früheren Bekannten.«
Darauf hätte ich wetten mögen, dachte Burden. Er warf einen kurzen Blick auf das Patchworkkleid. Zu welchem respektablen Anlaß würde eine Frau so ein Ding tragen wollen?
Sie kam nicht mit ihm zur Tür. Sie blieb, blicklos ins Leere starrend und abwesend mit einer ihrer langen Halsketten spielend, sitzen. Aber als er draußen war und zurückschaute, sah er ihr weißes Gesicht am Fenster, einem verschmierten, schmutzigen Fenster, das ihre schmalen Hände nie geputzt hatten. Einen Moment trafen sich ihre Blicke, und die Konvention zwang ihm ein unbehagliches Lächeln ab. Sie lächelte nicht zurück, starrte nur, ihr Gesicht wie ein bleicher, abnehmender Mond zwischen den Wolken von schwerem Haar.
Mrs. Crantock war eine adrette und fröhliche Frau, die ihr ergrauendes Haar in steife Löckchen frisiert und eine Zuchtperlenkette auf dem rosa Twinset trug. Auf Burdens Bitte hin ging sie sofort los, um Mrs. Lawrence Gesellschaft zu leisten. Ihr Mann war bereits mit den Suchmannschaften unterwegs, und nur Julian und seine vierzehnjährige Schwester blieben im Haus zurück.
»Julian, als du gesehen hast, wie John zur Mill Lane rübergegangen ist, hast du da noch irgendwas anderes beobachtet? Hat jemand mit ihm geredet?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Er ist einfach gegangen.«
»Und dann, was hat er dann gemacht? Ist er unter den Bäumen stehengeblieben oder die Straße runtergelaufen?«
»Weiß nich.« Julian fummelte herum und schaute nach unten. »Ich war auf der Schaukel.«
»Hast du mal rübergeschaut zur Straße? Hast du geguckt, wo er war?«
»Er war weg«, sagte Julian. »Gary hat gesagt, daß er weg is, und das war okay, weil wir keine Babies dabeihaben wollten.«
»Aha.«
»Er weiß es wirklich nicht«, sagte seine Schwester. «Wir haben ihn schon um und umgekrempelt, aber er weiß es wirklich nicht.«
Burden gab auf und ging weiter zu den Deans in Nummer 63. »Ich lasse nicht zu, daß Gary geängstigt wird«, sagte Mrs. Dean, eine junge Frau mit hartem Gesicht und aggressivem Auftreten. »Kinder streiten sich dauernd. Gary kann man keinen Vorwurf machen, nur weil John Lawrence so empfindlich ist, daß er bei einem bißchen Aufziehen gleich wegrennt. Das Kind ist verhaltensgestört. Das ist die Wurzel des Übels. Er kommt aus einer zerbrochenen Ehe, was kann man da auch schon erwarten?«
Das waren Burdens eigene Gedanken. »Ich will Gary keine Vorwürfe machen«, sagte er. »Ich möchte ihm nur ein paar Fragen stellen.«
»Ich lasse nicht zu, daß man ihn einschüchtert.«
Das kleinste bißchen Opposition genügte derzeit, um ihn auf die Palme zu bringen.
»Es steht Ihnen frei, meine Dame«, entgegnete er scharf, »sich bei meinen Vorgesetzten über mich zu beschweren, wenn ich etwas Derartiges tun sollte.«
Der Junge war schon im Bett, schlief aber noch nicht. Er kam im Bademantel herunter, der Blick trotzig und die Lippe vorgeschoben.
»Also, Gary. Erst mal, ich bin nicht böse auf dich. Keiner ist böse. Wir wollen nur John finden. Verstehst du das, ja?«
Der Junge antwortete nicht.
»Er ist müde«, sagte seine Mutter. »Er hat Ihnen gesagt, daß er niemand gesehen hat, und das sollte genügen.«
Burden ignorierte sie. Er beugte sich zu dem Jungen. »Sieh mich mal an, Gary.« Die Augen, in die er schaute, waren tränenerfüllt. »Wein nicht, Gary. Du könntest uns helfen. Fändest du es nicht toll, wenn alle Leute wüßten, daß du der Junge warst, der der Polizei geholfen hat, John zu finden? Alles, was ich gern von dir wissen möchte, ist, ob du irgendjemanden auf der Straße gesehen hast, als John weggegangen ist, einen Erwachsenen.«
»Heute hab ich niemand gesehn«, sagte Gary. Dann schrie er los und warf sich an seine Mutter. »Ich hab sie nich gesehn. Ich hab sie nich gesehn, nein!«
»Ich hoffe, Sie sind zufrieden«, sagte Mrs. Dean. »Ich warne Sie, ich werde es weitergeben.«
»Ich hab den Mensch nich gesehen«, schluchzte Gary.
»Na, Mike?« sagte Wexford.
»Sieht aus, als hätte sich ein Mann beim Spielplatz rumgetrieben. Ich dachte, ich könnte mir mal die Leute in den Endhäusern vornehmen, von wo aus man über den Platz sehen kann.«
»Gut. Und ich versuch es bei den beiden letzten Häusern in der Wincanton.«
Erinnerte sich Wexford etwa daran, daß er und Jean einmal dort gewohnt hatten? Burden fragte sich, ob er dem Chief Inspector übersteigerte Sensibilität unterstellte.
Wahrscheinlich. Ein Polizist hat kein Privatleben, wenn er an einem Fall arbeitet. Er ging zum Ende der Fontaine Road. Die Felder lagen inzwischen im Dunkel, doch in der Ferne konnte er gelegentlich den Strahl einer Taschenlampe ausmachen.
Die beiden letzten Häuser lagen einander gegenüber. Eines war ein Bungalow, Baujahr 1935, das andere ein großes, schmales viktorianisches Gebäude. Beide hatten Fenster zum Feld hin. Burden klopfte an dem Bungalow, und eine junge Frau kam an die Tür.
»Ich arbeite und bin den ganzen Tag außer Haus«, sagte sie. »Ich bin eben erst heimgekommen, und mein Mann ist noch nicht da. Was ist denn passiert? Ist etwas Schreckliches geschehen?«
