Der goldene Reif - Hildegard Burri-Bayer - E-Book

Der goldene Reif E-Book

Hildegard Burri-Bayer

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Beschreibung

Als die Kunsthistorikerin Miriam bei einem Besuch in ihrem Geburtshaus in Schottland Briefe ihrer verstorbenen Mutter entdeckt, ist sie fassungslos: Ihr wirklicher Vater soll im ersten Jahrhundert nach Christus gelebt haben und ihre Mutter nach seinem Tod im 20. Jahrhundert gelandet sein! Endlich versteht Miriam die seltsamen Träume, die sie seit Jahren quälen, und begibt sich in die Grampian Mountains. Als sie einen ge-heimnisvollen Halsreif umlegt, findet sich Miriam plötzlich im Jahre 84 nach Christus wieder - und verliebt sich unsterblich in einen römischen Feldherrn ...

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Seitenzahl: 477

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Hildegard Burri-Bayer

Der goldene Reif

Historischer Roman

Die Autorin

Hildegard Burri-Bayer wurde 1958 in Düsseldorf geboren. Nach dem Realschlussabschluss ließ sie sich zur Dozentin für Museumspädagogik weiterbilden und wurde später Leiterin eines privaten Stadtmuseums für Ausgrabungen. Hildegard Burri-Bayer ist verheiratet und hat fünf Kinder. 

Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2017 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2004 Hildegard Burri-Bayer

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf.

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-95530-902-2

facebook.com/EdelElements

Für meinen Mann Alfred und meine Kinder

Liebe muss nicht bitten, auch nicht fordern. Liebe muss die Kraft haben, in sich selbst zur Gewissheit zu kommen,

Inhalt

Nachwort

Miriam McCarthy erwachte von dem Geschrei der Vögel vor dem Fenster ihrer kleinen Wohnung am Rande der Londoner Innenstadt. Am ganzen Körper zitternd öffnete sie die Augen und versuchte, die grässlichen Bilder aus dem Traum zu vertreiben, der sie immer noch fest umklammert hielt. Benommen setzte sie sich auf und presste ihre Hand vor die Stirn, um die überwältigende Bilderflut in ihrem Kopf zu stoppen.

Der Traum machte ihr Angst; er verfolgte sie, seitdem sie denken konnte. Bis heute hatte sie allerdings keine Erklärung dafür, woher die furchtbaren Bilder kamen.

Sie sah sterbende Krieger mit langen Bärten und riesigen Schwertern in der Hand. Wohin man sich wandte, war die Erde blutrot gefärbt und mit wahllos abgetrennten Gliedmaßen übersät, die das grausame Kriegsgeschehen widerspiegelten. Das Schlimmste aber war der süßliche Geruch, der wie ein klebriger Schleier schwer über dem Schlachtfeld hing. Todesangst und Grauen, vermischt mit Schweiß und Exkrementen und dem langsam trocknenden Blut von Männern, Tieren, Frauen und Kindern. Sie konnte die furchtbaren Schreie nicht vergessen, die nach diesem Traum tagelang in ihren Ohren schrillten, wie ein Echo, das nicht aufhörte sich zu wiederholen.

Sie saß vor ihrer Mutter auf dem wild galoppierenden Pferd und krallte sich verzweifelt in die struppige Mähne des Tieres. Die panische Angst ihrer Mutter, die sie immer mit liebevoller Geborgenheit umhüllt hatte, griff wie eine Klaue nach ihr und ließ sie vor Schreck erstarren. Dann erreichten sie den Nebel. Gelbe Schwefelwolken, undurchdringlich und zäh, die alles verschlangen, was in ihre Nähe kam.

Plötzlich war es still, so still, dass Mutter und Tochter das Blut in ihren Adern rauschen hörten und ihre hämmernden Herzen das gedämpfte Trommeln der Hufe übertönten. Miriam spürte noch den Körper ihrer Mutter, roch den vertrauten Duft ihrer Haut, der sich mit dem herabrinnenden Schweiß vermischte, dann war der Traum vorbei.

Noch immer benommen starrte sie auf die leere Stelle neben ihr im Bett. Brian war fort, er hatte sie verlassen. Wie gerne hätte sie sich jetzt in seinen Arm geschmiegt und seine zärtlichen, starken Hände auf ihrem Körper gespürt, um sich den Schrecken dieses Traumes langsam fortstreicheln zu lassen.

Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie daran dachte, dass er es kaum hatte abwarten können, um seine Sachen zu packen und zu verschwinden. Hatte ihm die Beziehung mit ihr so wenig bedeutet?

Es fiel ihr nicht leicht, alleine zu leben. Die vier Jahre ihrer Beziehung hatten ausgereicht, um sich so aneinander zu gewöhnen, dass der Verlust tiefe Wunden hinterließ, obwohl sie nicht einmal sicher war, ob sie Brian wirklich geliebt hatte oder nur aus Gewohnheit mit ihm zusammengeblieben war.

Schon wenige Monate, nachdem er in ihr Leben gestürmt war, hatte sie feststellen müssen, dass Brian nicht der Mann war, für den sie ihn gehalten hatte. Er war oberflächlich und eitel, worüber auch sein fröhlicher Charme auf Dauer nicht hinwegtäuschen konnte. Doch bevor sie darüber länger nachdenken konnte, hatte er seine Wohnung längst aufgegeben und war zu ihr gezogen.

Sie hatte den Dingen ihren Lauf gelassen, in der Hoffnung, er würde sich irgendwann ändern. Das bevorstehende Examen und die anschließende Promotion hatten sie so sehr beschäftigt, dass kaum Zeit für Gemeinsamkeiten geblieben war. Vielleicht hatten sie sich deswegen auseinander gelebt? Wenn ihre Beziehung innig genug gewesen wäre, hätte Diana es niemals geschafft, sich zwischen sie zu drängen.

Miriam zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Es machte keinen Sinn, Vergangenem hinterherzutrauern oder über einen Mann nachzudenken, der ihre Liebe nicht zu schätzen wusste, obwohl sie ihn immer noch vermisste.

Ein Blick auf ihren silbernen Radiowecker zeigte ihr, dass es erst kurz nach acht war. Sie sprang aus dem Bett, setzte etwas Wasser für den Tee auf und lief mit nackten Füßen ins Badezimmer.

Kritisch betrachtete sie ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen in dem wunderschönen Kristallspiegel, den Brian ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Miriam zog eine Grimasse. Sie hatte schon besser ausgesehen. Ihre Haut war blass und tiefe Ringe lagen unter ihren leicht schräg stehenden blauen Augen. Nur ihr dichtes, rotblondes Haar glänzte wie immer und fiel ihr in großen Wellen über die Schultern. Sie war die Einzige in ihrer Familie mit roten Haaren; es musste das Erbe ihres Vaters sein, den sie nie kennen gelernt hatte.

In zwei Wochen würde sie dreißig werden. Das Leben war nicht unendlich und sie hatte bald das erste Drittel davon hinter sich gelassen. Was würde das nächste bringen?

Sie goss sich eine große Tasse Tee ein, kuschelte sich in ihren Lieblingssessel und griff nach der Fernbedienung, um die Nachrichten zu sehen. Ein langer, verregneter Sonntag lag vor ihr und es gab keinen Grund zur Eile.

Nach fünf Minuten war sie auf dem neuesten Stand der aktuellen Kriege in der Welt, der üblichen Streitereien der Politiker und einer Überschwemmungskatastrophe in einem Land, das so weit von ihrem Leben entfernt war wie der Mond. Sie wollte gerade den Fernseher ausmachen, als der nächste Film angekündigt wurde. Es war ein Film über einen schottischen Freiheitskämpfer im zwölften Jahrhundert, untermalt von traumhaft schönen Landschaftsbildern aus den Highlands. Fasziniert starrte sie zwei Stunden lang auf die Mattscheibe und vergaß alles um sich herum.

Sie liebte das schottische Hochland mit seinen blaugrün schimmernden Hügeln. Kindheitserinnerungen stiegen in ihr hoch und sie konnte sich nicht satt sehen an den Bildern, die ihr entgegenflimmerten.

Der dunkelhaarige, gut aussehende Leinwandheld jagte auf einem schwarzen Hengst über die Highlands, die melancholische Einsamkeit ausstrahlten. Unbändiger Stolz ging von ihm aus, gepaart mit dem wildem Drang nach Freiheit, die er brauchte wie die Luft zum Atmen.

Er war ein Mann, der für seine Überzeugungen sterben würde und nur einmal in seinem Leben liebte. Warum gab es solche Traummänner nur im Fernsehen oder in Romanen? Das war einfach nicht gerecht.

Der Film ging Miriam nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder tauchten die Bilder von den grünen Hügeln in ihren Gedanken auf und sie stellte sich vor, wie herrlich es wäre, durch die Highlands zu reiten. Die Idee in ihrem Kopf nahm mehr und mehr Gestalt an. Warum sollte sie nur davon träumen? Es gab Träume, die sich erfüllen ließen, und sie hatte noch drei Monate Zeit, bevor sie ihre erste Stelle als Dozentin für Kunstgeschichte an der Londoner Universität antreten würde.

Seit langem hatte sie geplant, nach Inverurie zu fahren, um nach ihrem Elternhaus zu sehen, das seit dem Tod ihrer Großmutter vor acht Monaten unbewohnt war. Sie musste sich endlich entscheiden, ob sie das Haus behalten wollte oder nicht. Brian zuliebe hatte sie die Reise immer wieder verschoben. Er war durch und durch Engländer und mochte das schottische Hochland nicht.

Miriam beschloss, ihre Idee in die Tat umsetzen, und machte sich sofort an die Arbeit. Über das Internet buchte sie einen Flug nach Schottland. Anschließend rief sie ihre Freundin Mary an und bat sie, während ihrer Abwesenheit die Blumen zu gießen. Die nächsten Tage verbrachte sie damit, ihre Wohnung aufzuräumen, die Post zu erledigen und ihren Koffer zu packen.

Eine Woche später war es so weit und sie flog mit der British Airways von London nach Aberdeen. Sie konnte es jetzt kaum mehr erwarten, den Ort ihrer Kindheit wiederzusehen. Es regnete in Strömen, als sie aus dem Flugzeug stieg. Das saftige Grün, das sie jedes Mal vor Augen hatte, wenn sie an Schottland dachte, hatte sich in zähes Grau verwandelt. Die Straßen waren genauso farblos wie die Häuser, deren Dächer nahtlos in den grauen Himmel übergingen.

Die verschiedensten Gefühle stürmten auf sie ein, als sie mit dem Taxi die fünfunddreißig Kilometer nach Inverurie fuhr. Sauber, freundlich und nach wie vor von der grellen Hektik der Großstädte unberührt, hatte sich der kleine Ort kaum verändert. Ihr Herz zog sich zusammen, als das Taxi vor ihrem Elternhaus stoppte. Es war kleiner, als sie es in Erinnerung hatte.

Sie bezahlte den Taxifahrer und stieg mit klopfendem Herzen die beiden Stufen zum Eingang hinauf. In Gedanken sah sie ihre Mutter lächelnd im Rahmen der dunkelrot gestrichenen Haustüre stehen, von dem nun die Farbe abblätterte. Ihre Mutter lächelte immer, nur wenn sie sich unbeobachtet fühlte, legte sich tiefe, melancholische Trauer wie ein Schatten über ihr schönes Gesicht, das von den gleichen schräg stehenden Augen beherrscht wurde, wie Miriam sie besaß. Dann zog sie sich in ihre Gedankenwelt zurück, zu der sie niemandem Zutritt gewährte, nicht einmal ihrer Tochter, die sie über alles liebte. Sie war viel zu früh gestorben. Miriam war erst acht Jahre alt gewesen, als ihre Mutter von einem betrunkenen Autofahrer angefahren wurde und in ein Koma fiel, aus dem sie nie wieder erwachte. Sie wuchs bei ihrer Großmutter auf, die ebenfalls nicht über ihren Vater redete, nach dem sie sich als kleines Mädchen so sehr gesehnt hatte. Ihre Mutter hatte ihr nur erzählt, dass er kurz nach ihrer Geburt gestorben und ein wundervoller Mann gewesen sei. Nicht einmal ein Foto hatte Miriam von ihm gesehen.

Im Dorf war viel über ihren Vater spekuliert worden, nachdem ihre Mutter einige Jahre verreist und dann mit ihrer kleinen Tochter an der Hand zurückgekehrt war. Doch nach einer Weile hatten sich die Menschen im Dorf an die Situation gewöhnt und begonnen, über andere Dinge zu reden. Mit zitternder Hand holte Miriam den altmodischen Schlüssel aus ihrer eleganten schwarzen Handtasche und schloss die schwere Holztüre auf.

Feuchte, abgestandene Luft schlug ihr entgegen, die sie an Gerüche aus ihrer Kindheit erinnerte. Ihr Blick wanderte durch die kleine Diele mit der altmodischen Blümchentapete und den blank gewienerten, dunklen Dielen, die jetzt von einer dicken Staubschicht überzogen waren, und blieb an den silbergerahmten Schwarzweißfotos über dem Sideboard hängen. Sie stellte ihren Koffer ab und betrachtete die Fotos der drei Menschen, die ihr am meisten bedeutet hatten und die sie schrecklich vermisste. Ihre Großmutter, deren aristokratische, stolze Gesichtszüge auch im Alter schön geblieben waren, und ihr geliebter Großvater, dessen Güte schon auf dem Foto zu erkennen war. Sie nahm das Foto ihrer Mutter von der Wand und strich zärtlich mit dem Finger darüber. Ihre Mutter war wunderschön gewesen. Lange blonde Haare umrahmten das schmale Gesicht mit der leicht gebogenen Nase und dem vollen, warmen Mund.

Sie hängte das Foto zurück an die Wand und betrat das kleine, gemütliche Wohnzimmer mit dem grün gekachelten Ofen, der den Raum beherrschte. Ich hätte früher kommen sollen, warf Miriam sich vor, als sie die von der Feuchtigkeit stammenden Wellen in der Tapete entdeckte.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Die Gedanken an die Vergangenheit waren erdrückend. Rasch lief sie zu den beiden kleinen Fenstern und öffnete sie weit. Sie genoss die frische, kühle Luft, die in das niedrige Zimmer strömte und die sie tief in ihre Lungen sog.

Das Wichtigste war, erst einmal durchzuheizen, um die Feuchtigkeit aus dem Haus zu bekommen. Sie lief um das Gebäude herum, zu dem kleinen Schuppen im Garten und nahm so viel von den ordentlich gestapelten Holzscheiten, wie sie tragen konnte.

Wenige Minuten später brannte ein gemütliches Feuer im Ofen. Miriam band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und nahm Staubtuch, Wischmob und Besen zur Hand, um das Haus von den dicken Staubschichten zu befreien.

Nachdem sie alle Zimmer bis auf das ihrer Mutter gesäubert hatte, setzte sie Wasser für einen Tee auf, nahm ihren Koffer und brachte ihn in ihr Schlafzimmer. Wehmütig betrachtete sie die Poster, Puppen und Stofftiere, die ihr eine Zeit lang so viel bedeutet hatten. Sie räumte ihre Kleider in den Schrank und lief zurück in die kleine Wohnküche, um ihren Tee zu trinken, als ihr Magen sich mit einem unangenehmen Rumoren bemerkbar machte. Seit dem Frühstück hatte Miriam nichts mehr gegessen und jetzt war es bereits vier Uhr nachmittags. Der Pub von Mrs. MacMulligan fiel ihr ein und mit ihm die köstlichen Eintöpfe, die genau das Richtige waren, wenn man einen so großen Hunger verspürte wie sie jetzt. Sie legte ihren Mantel um, nahm ihre Handtasche und verließ das Haus. Der Pub lag nur wenige Meter von ihrem Elternhaus entfernt auf der anderen Straßenseite und wurde von Mrs. MacMulligan nach dem Tod ihres Mannes alleine bewirtschaftet. Mister MacMulligan war an den Folgen seines übermäßigen Whiskykonsums gestorben, wie man hinter vorgehaltener Hand munkelte. Man konnte ihn gut verstehen. Was blieb einem anderes übrig als zu trinken, wenn man eine derartig herrschsüchtige Frau zu Hause hatte?

Mit klopfendem Herzen betrat Miriam den Pub. Obwohl es erst früher Nachmittag war, saßen mehrere Männer zigarrerauchend an der Theke und tranken Guinness und Whisky. Neugierige Blicke folgten ihr, als sie sich an einen kleinen Tisch in die Nähe des Fensters setzte. Mrs. MacMulligan erkannte sie sofort, so wie sie es befürchtet hatte. Sie war noch dicker, als Miriam sie in Erinnerung hatte. Ihr schweres, graues Haar trug sie zu einem Dutt hochgesteckt. Als sie Miriam entdeckt hatte, wischte sie sich die Hände an ihrer sauber gestärkten Schürze ab und lief mit wogendem Busen und unverhohlener Neugier in den kleinen Augen auf sie zu.

»Das ist aber eine Überraschung, Kindchen, wie geht es dir denn?« Den flinken Augen von Mrs. MacMulligan entging nicht die geringste Kleinigkeit. Sie musterte Miriam von oben bis unten, während sie weiterredete, ohne eine Antwort auf ihre Frage abzuwarten.

»Wir haben dich früher erwartet, deine Großmutter ist schon fast ein Jahr unter der Erde und du warst das letzte Mal bei ihrer Beerdigung hier, aber ihr jungen Dinger habt ja keine Zeit mehr für unsereins. Wenn ich mich nicht um die Gräber deiner Lieben gekümmert hätte, wie würden sie wohl heute aussehen? Verwahrlost wären sie und eine Schande für unseren Ort.« Ein vorwurfsvoller Blick folgte ihren Worten. Miriam bereute es fast, dass sie hierher gekommen war, obwohl man Mrs. MacMulligan ohnehin nicht entgehen konnte. Spätestens am morgigen Tag hätte die Rauchfahne, die aus Miriams Haus stieg, ihre Anwesenheit verraten.

»Wann bist du denn eingetroffen, du siehst müde aus und Hunger wirst du auch haben. Ich habe noch etwas von dem Braten, den ich gestern zubereitet habe.«

Miriam ließ das Geplapper der dicken Wirtin eine Weile über sich ergehen und beantwortete ihre Fragen so knapp wie möglich. Endlich besann sich Mrs. MacMulligan wieder ihrer Pflichten, nachdem die Männer an der Theke bereits auffordernd mit ihren leeren Gläsern klapperten.

Erleichtert lehnte Miriam sich in dem alten Stuhl zurück und starrte auf den blank gescheuerten Holztisch, dessen Mitte von einer karierten Decke geschmückt wurde, auf der sich lediglich ein schwerer Aschenbecher mit Whiskywerbung und einige Bierdeckel befanden.

Nach wenigen Minuten kam Mrs. MacMulligan mit einem dampfenden Teller zurück, gefüllt mit Kartoffeln, Lammfleisch und Sauce. Sie stellte den Teller vor Miriam auf den Tisch und wünschte ihr einen guten Appetit. Das Essen roch köstlich und ihr Magen quittierte den aufsteigenden Duft mit einem auffordernden Knurren. Eines musste man der Frau lassen, sie konnte mindestens so gut kochen wie andere Leute ausfragen und das wollte etwas heißen.

»Nun iss schön, damit du was auf die Rippen bekommst.« Missbilligend wanderten ihre Augen über den engen Pullover, der Miriams schlanke Taille betonte. Eigentlich ist Mrs. MacMulligan ja ganz nett, dachte Miriam, während sie sich heißhungrig über das Essen hermachte. Wenn sie nur nicht so fürchterlich geschwätzig und neugierig wäre.

Nach dem Essen fühlte sie sich besser. Sie stand auf, bezahlte und bedankte sich bei Mrs. MacMulligan für die Pflege der Gräber und ließ sich das Versprechen abnehmen, bald wieder vorbeizuschauen.

Auf dem Rückweg kaufte sie noch einige Lebensmittel ein und beobachtete die Menschen auf der Straße, die emsig ihren Geschäften nachgingen. Nur im letzten Moment konnte sie einem großen, dunkelblonden Mann ausweichen, der mit derTimesunter dem Arm aus dem Zeitungsladen stürmte. Er schien es eilig zu haben. Miriam murmelte eine Entschuldigung, ohne sich den Mann näher anzusehen, und ging weiter.

Malcolm blieb verblüfft stehen und starrte der jungen Frau nach. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Das konnte doch nicht wahr sein. Miriam! Es war Miriam, seine Freundin aus der Schulzeit, die er beinahe umgerannt hätte. Während er ihr nachlief, rief er ihren Namen. Miriam drehte sich überrascht um. Lächelnd ließ sie es zu, dass er sie überschwänglich in seine Arme riss und auf beide Wangen küsste. Dann schob er sie ein Stück zurück, um sie genauer zu betrachten. Sie war noch schöner als in seiner Erinnerung. Ihre Wangen hatten sich vor Überraschung und Freude gerötet und ihre Augen strahlten wie zwei funkelnde Sterne.

»Seit wann bist du hier? Du hättest mich anrufen können, dann hätte ich dich vom Flughafen abgeholt. Wie lange hast du geplant zu bleiben?« Die Fragen sprudelten nur so aus ihm heraus.

»Ich bin heute Mittag angekommen, hätte dich selbstverständlich heute Abend angerufen und wie lange ich bleibe, steht noch nicht fest.« Lächelnd sah sie ihren alten Schulfreund an.

»Auf jeden Fall lange genug, um alle deine Fragen zu beantworten«, setzte sie scherzhaft hinzu. Malcolm warf einen Blick auf seine goldene Armbanduhr.

»Ich habe in einer halben Stunde noch einen Termin, hast du heute Abend schon etwas vor? Wir könnten essen gehen.«

»Es wäre mir lieber, du würdest mich in meinem Haus besuchen. Ich mache uns ein paar Sandwiches und wir können uns unterhalten. Ich möchte möglichst bald die persönlichen Dinge meiner Mutter durchsehen, weil ich mich immer noch nicht entschieden habe, ob ich das Haus behalten möchte oder es doch besser verkaufe.«

»Einverstanden, ich werde um acht Uhr bei dir sein«, versprach Malcolm und küsste sie zum Abschied noch einmal auf die Wange. Dann drehte er sich um und lief mit langen Schritten auf einen mattglänzenden, silbernen Rover zu. Miriam sah ihm lächelnd zu, wie er sich in seinen Wagen schwang und davonbrauste. Sie freute sich auf den Abend mit ihm. Es waren mindestens fünf Jahre vergangen, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten, oder waren es schon sechs?

Jedenfalls hatte er sich kaum verändert. Er war immer noch genauso liebevoll und fröhlich, wie sie ihn in Erinnerung gehabt hatte.

Gut gelaunt lief sie nach Hause, verstaute ihre Einkäufe im Kühlschrank, legte noch etwas Holz nach und begab sich an ihre Arbeit. Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Türe zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Obwohl sie sehr jung gestorben war, hatte Miriam seit ihrem Tod den Raum nicht mehr betreten. Doch heute wollte sie es endlich wagen. Ein leichter Rosenduft stieg ihr in die Nase. Entsprang er ihrer Einbildung? Genauso hatte ihre Mutter immer gerochen. Miriam unterdrückte die aufsteigenden Tränen und nahm sich zusammen. Irgendwann musste sie den Nachlass ihrer Mutter ja einmal durchsehen. Sie setzte sich an den zierlichen, antiken Sekretär und öffnete mit zitternden Händen die erste Schublade. Ordentlich zusammengebunden lagen einige Briefe darin, die sie neugierig öffnete. Die Briefe stammten von verflossenen Verehrern ihrer Mutter, aus einer Zeit lange vor ihrer Geburt. Sie legte die Briefe zurück und zog die nächste Schublade heraus. Abgesehen von einem mahagonifarbenen, glänzenden Holzkästchen, das mit einem winzigen, goldenen Vorhängeschloss versehen war, befand sich nichts darin. Neugierig nahm Miriam das Kästchen in die Hand. Der Schlüssel fehlte. Sie zog eine Schublade nach der anderen heraus, konnte ihn aber nirgendwo finden. Es widerstrebte ihr, das Schloss zu zerstören, und so nahm sie das Kästchen mit in das Wohnzimmer, nachdem sie den restlichen Teil des Sekretärs durchgesehen hatte. Malcolm würde vielleicht eine Idee haben, wie man das Schloss aufbekam. Er hatte immer schon für alles eine Lösung gefunden, wenn es Probleme gegeben hatte. Während der Schulzeit war er einer der am meisten umschwärmten Jungen gewesen und auch sie war eine Zeit lang in ihn verliebt gewesen. Malcolm hatte ihre Gefühle damals erwidert, was Miriam zunächst als sehr schmeichelhaft empfand. Doch etwas hatte immer gefehlt. Sie wusste nicht genau, was es war, besaß er doch alles, was man sich von einem Mann wünschen konnte. Er war zuverlässig, gut aussehend und charmant, hatte immer gute Laune und strahlte die Geborgenheit aus, die sie bei Brian so vermisst hatte. Wie kam es, dass sie mit einem Mann wie Brian zusammengezogen war und nicht mit Malcolm, der sie anscheinend immer noch sehr attraktiv fand? Sie wusste keine Antwort auf diese Frage. Nach einem Blick auf die antike Wanduhr, die noch von ihren Ur-Großeltern stammte, begann sie damit, einige Sandwiches zu belegen und die Flasche Rotwein zu öffnen, die sie am Nachmittag gekauft hatte. Malcolm würde in einer halben Stunde bei ihr sein und sie wollte sich noch umziehen, bevor er eintraf.

Sie war gerade fertig, als es klingelte. Malcolm stand lächelnd in der Tür. Er war frisch rasiert und duftete nach einem teuren Rasierwasser. In der Hand hielt er einen großen Blumenstrauß, den er ihr mit einer eleganten Verbeugung überreichte.

»Ich weiß doch, wie sehr du Blumen liebst«, sagte er mit warmer Stimme und küsste sie auf die Wange.

Miriam bedankte sich höflich und bat ihn ins Wohnzimmer. Malcolm setzte sich in einen der beiden dunkelbraunen Ledersessel und sah sich neugierig um. Die warme Atmosphäre in dem kleinen Raum gefiel ihm sehr. Auf dem niedrigen Tischchen standen liebevoll zubereitete Sandwiches und zwei Rotweingläser, die in dem Licht des Kerzenleuchters funkelten, den Miriam in die Mitte gestellt hatte. Miriam ließ sich in dem anderen Sessel nieder und sie redeten eine Weile darüber, wie es ihnen nach ihrer Schulzeit ergangen war.

Malcolm hatte Betriebswirtschaft studiert und arbeitete nun als Juniorpartner in einer großen Firma. Er besaß eine große Wohnung, die er alleine bewohnte. Bisher hatte er keine Frau gefunden, mit der er sich ein gemeinsames Leben vorstellen konnte.

Plötzlich fiel Miriam das Mahagonikästchen wieder ein. Sie sprang auf und holte es. Auffordernd hielt sie es Malcolm entgegen.

»Es ist abgeschlossen und ich kann den Schlüssel nicht finden. Kannst du es öffnen, ohne das Schloss zu beschädigen?«

Malcolm betrachtete das Schloss einen Moment und begann zu grinsen.

»Hast du eine Haarnadel oder Ähnliches? Das Schloss erinnert mich an die Schlösser von euren Tagebüchern, die ihr früher des Öfteren mit in die Schule genommen habt. Weißt du noch, wie wir Jungs uns einen Spaß daraus gemacht haben, sie zu öffnen, wenn eines unbeobachtet herumlag? Ich glaube, ich kriege das noch einmal hin.«

Miriam musste lachen, als sie daran dachte, wie empört sie und ihre Freundinnen damals über so viel Frechheit und Indiskretion gewesen waren. Rasch lief sie ins Badezimmer und kam mit einer Haarnadel ihrer Großmutter zurück. Sie reichte sie ihrem alten Freund und sah bewundernd zu, wie er geschickt damit hantierte. In weniger als einer Minute sprang das Schloss auf. Mit einem triumphierenden Lächeln reichte er Miriam das Kästchen.

»Dafür habe ich mir aber mindestens einen Kuss verdient«, flachste er und zog die Hand, in der er das Kästchen hielt, näher zu sich. Miriam gab ihm mit einem gespielten Seufzer einen Kuss auf die Wange.

Dann nahm sie ihm das Kästchen aus der Hand und öffnete es erwartungsvoll. Es war der Schmuck ihrer Mutter, der sich in seinem Inneren befand. Sie nahm ein Schmuckstück nach dem anderen heraus und betrachtete es. Gedankenverloren streifte sie sich einen Ring mit einem wunderschön geschliffenen, roten Stein über den Finger. Ihre Mutter hatte Rubinschmuck geliebt. Miriam war enttäuscht, dass sich, abgesehen von dem Schmuck, nichts in dem Kästchen befand.

»Freust du dich nicht darüber, dass noch alles da ist?« Malcolm war die Traurigkeit in ihren Augen nicht entgangen.

Miriam sah ihn nachdenklich an. »Ich habe die ganze Zeit über gehofft, dass ich in dem Nachlass meiner Mutter irgendetwas über meinen Vater finden würde. Ich weiß bis heute nichts von ihm. Wer er war, wie er gelebt hat und wann er gestorben ist. Meine Mutter hätte mir sicher alles über ihn erzählt, wenn sie nicht so früh gestorben wäre.« Sie legte den Schmuck zurück in das Kästchen und stellte es auf den Tisch. »Ich weiß nicht einmal, wie er ausgesehen hat. Und meine Großmutter hat ebenfalls hartnäckig über ihn geschwiegen«, sagte sie traurig.

Malcolm beugte sich zu ihr herüber, um ihr tröstend über den Arm zu streichen. Dabei streifte er mit seinem Ellenbogen versehentlich das Kästchen, das polternd auf die Dielen stürzte. Die Schmuckstücke fielen heraus und verteilten sich über dem Boden.

Malcolm sprang sofort auf, um alles aufzusammeln. Als er das Kästchen in die Hand nahm, bemerkte er, dass der mit blauem Samt bezogene Boden nur lose eingelegt war. Neugierig hob er ihn hoch und entdeckte einen Briefumschlag darunter, auf dem Miriams Name stand.

»Sieh mal, was ich gefunden habe.« Er hielt Miriam den Brief hin, die ihn mit großen Augen ansah. Was hatte ihre Mutter ihr mitteilen wollen? Ob sie jetzt mehr erfahren würde? Vorsichtig öffnete sie den Umschlag und zog drei eng beschriebene Briefbögen heraus. Sie erkannte die feine, klare Handschrift ihrer Mutter sofort. Aufgeregt begann sie zu lesen.

Malcolm beobachtete sie gespannt. Bewundernd betrachtete er Miriams klares Profil und das seidige Haar, das ihr rotgolden schimmernd über die schmalen Schultern floss, wie ein Wasserfall, den die untergehende Sonne für einen winzigen Augenblick in flüssiges Kupfer zu verwandeln schien.

Plötzlich wurde ihm klar, dass er nie aufgehört hatte sie zu lieben. Wie hatte er es nur all die Jahre ohne sie aushalten können? Keine der Frauen, die es in seinem Leben gegeben hatte, war ihm wirklich wichtig gewesen, weil er unbewusst jede von ihnen mit Miriam verglichen hatte.

Er liebte alles an ihr; die ernsthafte Nachdenklichkeit ebenso wie ihren etwas spröden Humor. Die schönen Beine mit den schmalen Fesseln und ihren schlanken Hals. Es gab ihm einen Stich, wenn er daran dachte, dass ein anderer Mann sie in seinen Armen gehalten und trotzdem unglücklich gemacht hatte. Doch das war endgültig vorbei, wie Miriam ihm erklärt hatte. Ob es jemals eine Chance für ihn gab, sie für sich zu gewinnen?

Er war so in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, wie alle Farbe aus Miriams Gesicht gewichen war.

»Wie kann das möglich sein?« Die Fassungslosigkeit in Miriams Stimme brachte ihn wieder in die Wirklichkeit zurück.

»Wie kann was möglich sein?«, fragte er beunruhigt. »Sag schon, was steht in dem Brief?«

Miriam gab ihm keine Antwort. Immer wieder las sie den Brief. Der Schock war zu groß und die Buchstaben begannen vor ihren Augen zu tanzen. Es kam Malcolm wie eine Ewigkeit vor, bis Miriam ihm endlich wortlos den Brief reichte.

Meine geliebte Miriam,

wenn du diesen Brief liest, muss etwas geschehen sein, das mich daran gehindert hat, dir selbst von deinem Vater zu erzählen. Ich habe damit so lange warten wollen, bis aus dir eine junge Frau geworden ist und du die Tragweite meiner Geschichte besser verkraften kannst.

Doch bevor ich beginne, sollst du wissen, dass ich dich mehr liebe als mein Leben. Du bist immer ein zärtliches, liebes Kind gewesen und hast mich allein durch deine Anwesenheit sehr glücklich gemacht. Es fällt mir schwer, die richtigen Worte zu finden, denn das, was ich dir jetzt schreibe, wird nicht leicht für dich zu verstehen sein.

Aus diesem Grund habe ich auch deinen Großeltern nichts von dem erzählt, was ich in den vier Jahren, die ich damals fort war, erlebt habe. Sie hätten mir nicht geglaubt, auch wenn sie sich bemüht hätten, wäre es ihnen nicht gelungen. Ich wollte sie nicht beunruhigen, obwohl es mir wehgetan hat, dass sie die ganzen Jahre über gedacht haben, ich wäre mit einem Mann durchgebrannt und hätte sie in Angst und Sorge zurückgelassen. Doch du hast ein Recht darauf zu erfahren, was geschehen ist und wer dein Vater war.

Es begann damit, dass ich an einer Abschlussfahrt von der Schule teilnahm. Die Schulleitung hatte einen fünftägigen Campingausflug in die Grampian Mountains für meinen Jahrgang geplant und wir waren alle begeistert, noch ein paar Tage gemeinsam zu verbringen, nachdem wir endlich die Schulzeit hinter uns gelassen hatten. Wir wanderten den ganzen Tag durch die herrliche Natur und genossen es, uns abends am Lagerfeuer Geschichten zu erzählen.

Eines Morgens, als ich Wasser von einer nahe gelegenen Quelle holen wollte, entdeckte ich einen schweren goldenen Halsreif am Uferrand. Er war wunderschön gearbeitet und so konnte ich nicht widerstehen und legte ihn mir für einen Moment um den Hals. Doch dann erschien der Nebel, der plötzlich überall war und mich fast erstickt hätte. Ich wurde besinnungslos. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in einer fremden Gegend wieder. Die Quelle war noch da, aber sie befand sich plötzlich inmitten eines tiefen Waldes auf einer kleinen Lichtung. Verzweifelt habe ich nach meinen Klassenkameraden und Lehrern gesucht, doch ich konnte sie nicht finden. Es war niemand mehr da.

Ich war erst zwanzig Jahre alt und musste zu meinem Entsetzen feststellen, dass ich mich in einer völlig anderen Zeit befand! Wie ich später herausfand, war es das Jahr vierundfünfzig nach Christus. Du hast richtig gelesen, mein kleines Mädchen! Es ist schwer zu glauben, aber ich hatte tatsächlich eine Reise durch die Zeit gemacht. Allein und verängstigt bin ich durch den dichten Wald und die Berge gelaufen, habe mich von wild wachsenden Beeren ernährt und nachts unter den Bäumen geschlafen, bis ich irgendwann zu einem kleinen Dorf kam. Die Menschen haben mir erlaubt, bei ihnen unterzukommen, doch sie waren sehr misstrauisch. Ich musste von morgens bis abends hart arbeiten und es hat Monate gedauert, bis die Frauen mich akzeptiert haben. Erst als ich den kleinen Sohn des Stammesfürsten vor dem Ersticken retten konnte, wurden die Menschen freundlicher und schenkten mir etwas Vertrauen. Natürlich habe ich verzweifelt versucht, die Quelle wiederzufinden, um zurück nach Hause zu kommen, doch es ist mir nicht gelungen. Ich hatte Angst, die Dorfgemeinschaft zu verlassen, und gleichzeitig habe ich mich nur schwer an diese Art zu leben gewöhnen können. Doch dann habe ich deinen Vater kennen gelernt. Aedui war der älteste Sohn des Fürsten Artebates und hat mich geheiratet, obwohl ich keine Mitgift besaß. Ich hatte im Übrigen keine Wahl, weil ich dem Stammesfürsten gehorchen musste, der diese Hochzeit arrangiert hatte. Doch Aedui hat mich gut behandelt und irgendwann habe ich angefangen mich in ihn zu verlieben. Es war nicht leicht für mich, in dieser fremden, grausamen Zeit zu leben, mit Menschen, die an Naturgötter glaubten und von Aberglauben geprägt waren, doch dein Vater hat mir durch seine Liebe die Kraft gegeben, die ich brauchte.

Als du ein Jahr später geboren wurdest, waren wir überglücklich. Du warst mein kleiner Sonnenschein! Mein altes Leben ist immer weiter von mir fortgerückt, bis es mir nur noch wie ein Traum erschien, den ich vor langer Zeit einmal geträumt hatte.

Doch eines Tages wurde unser Dorf von den Römern überfallen und niedergebrannt. Dein Vater und viele andere Menschen aus unserem Dorf wurden brutal getötet; Männer, Frauen und Kinder einfach abgeschlachtet. Ich konnte im letzten Moment mit dir fliehen und habe es durch eine glückliche Fügung geschafft, die Quelle zu finden und in unsere Zeit zurückzukehren. Bis heute, wo ich diesen Brief an dich schreibe, erscheint es mir als der glücklichste Zufall, dass ich den goldenen Reifen ein zweites Mal anlegen und der Gefahr entrinnen konnte. Der Weg aus den Grampian Mountains nach Hause war ein Kinderspiel gegen alles, was ich davor erlebt hatte.

Deine Großeltern waren überglücklich darüber, dass ich wieder da war, und sie haben mich nie gedrängt, über meine Erlebnisse zu sprechen. Es ist einfacher, Dinge, die man nicht wahrhaben möchte, totzuschweigen, als sich mit ihnen auseinander zu setzen. Doch die Wahrheit lässt sich nicht auf Dauer verdrängen.

Was würde ich dafür geben, wenn ich jetzt bei dir sein und dich trösten könnte. Der Brief muss ein Schock für dich sein und ich habe lange überlegt, ob ich ihn schreiben soll. Doch für den Fall, dass mir etwas zustoßen sollte, ist es wichtig, dass du auf diese Weise alles über deine Herkunft erfährst.

Dein Vater war ein tapferer und gütiger Mann. Seine wunderschönen roten Haare hast du übrigens von ihm geerbt. Aedui gehörte zum Stamm der Caledonier, unseren Vorfahren, die den Grundstein für die Unabhängigkeit unseres geliebten Schottlands gelegt und mit ihrem Blut erkämpft haben. Er war liebevoll und gerecht, aber er konnte auch kämpfen und töten, wenn es um die Sicherheit unseres Dorfes ging. Er war sehr stolz auf dich und hat dich geliebt, obwohl du nicht der Sohn warst, den er sich gewünscht hatte.

Ich habe ihn nie vergessen und denke oft an die Zeit mit ihm zurück. Unser Glück währte nicht lange, doch ich bin für jeden Tag, den ich mit ihm verbringen durfte, dankbar. Nicht jeder Mensch erlebt eine Beziehung, die so innig und bedingungslos war wie die unsere, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du ebenfalls dieses Glück erfahren wirst.

In Liebe deine Mutter

Nachdem Malcolm den Brief gelesen hatte, sah er Miriam schweigend an. Hilflosigkeit lag in seinem Blick. Er versuchte, das eben Gelesene zu verstehen, doch es war zu fantastisch. Wie hatte Miriams Mutter mit dieser Geschichte leben können?

Zärtlich nahm Malcolm Miriams Hand und streichelte sie sanft. Sie fühlte sich kalt an. Lange Zeit saßen sie nebeneinander und starrten in das Feuer, dessen gemütliches Knistern eine anheimelnde Atmosphäre verbreitete.

Miriam kam zuerst wieder zu sich. »Ich möchte alles über die Zeit erfahren, in der mein Vater mit meiner Mutter gelebt hat«, sagte sie und sprang auf.

Sie lief zu dem Bücherschrank ihres Großvaters, öffnete ihn und sah die darin geordneten Bücher durch.

Kurze Zeit später kam sie beladen mit einem Stapel zurück und legte ihn auf den Tisch. Dann griff sie nach ihrem Weinglas und trank es in einem Zug leer.

Wohlige Wärme durchströmte sie und ihre Wangen begannen sich zu röten.

»Du hast Recht, wir sollten uns erst einmal von diesem Schock erholen.« Malcolm nahm sein Glas und trank es ebenfalls in einem Zug leer.

Er nahm das oberste Buch und begann darin zu lesen. Es gab einige Bücher über die Geschichte Schottlands, doch nur wenig aus dieser Zeit, in der erst Julius Cäsar, dann Domitian und anschließend Kaiser Hadrian versucht hatten, Schottland zu erobern, um an das begehrte Zinn und andere wertvolle Metalle zu gelangen. Über die Caledonier und die anderen Stämme fanden sie nur sehr wenig Informationen. Miriam beschloss, gleich am nächsten Tag die kleine Bücherei im Ort aufzusuchen.

»Ich werde einige Zeit benötigen, um den Inhalt dieses Briefes zu verarbeiten. Doch meine Mutter hatte Recht. Auch wenn es schwierig für mich ist, das alles zu begreifen, weiß ich jetzt, wer mein Vater war und warum es keine Fotos von ihm gibt.« Sie sah Malcolm an.

»Kannst du mir sagen, wann die erste Kamera erfunden worden ist?«

»Irgendwann im neunzehnten Jahrhundert, glaube ich.«

»Es muss schrecklich für meine Mutter gewesen sein, in dieser fremden Zeit leben zu müssen, ohne Freunde und Familie, sie war doch noch so jung. Könntest du dir das vorstellen? Keine Autos, Fernseher, Waschmaschinen oder Kühlschränke? Keine Supermärkte, Krankenhäuser, nicht einmal ein Telefon.«

»Es gibt heute noch genügend Länder auf der Welt, in denen die Menschen auf die moderne Zivilisation und Technik verzichten müssen«, gab Malcolm nachdenklich zur Antwort. »Doch nicht nur auf die Zivilisation, sondern auch auf Demokratie und Freiheit. Ich glaube, jede Zeit hat auch ihre guten Seiten. Vergiss nicht, dass deine Mutter dort glücklich gewesen war, weil sie einen Mann wie deinen Vater kennen gelernt hatte, der ihr Familie und Freunde ersetzte. Technik und Geld allein haben noch keinem Menschen Zufriedenheit gebracht.«

Miriam hatte die Rotweingläser noch einmal gefüllt und nahm einen großen Schluck. Der Wein entspannte sie ein wenig.

»Ich werde nach der Quelle suchen«, sagte sie plötzlich. Der Gedanke war ihr gerade erst gekommen, aber er gefiel ihr. Sie setzte sich auf.

»Ich muss es einfach tun! Ich möchte die Stelle sehen, an der sie verschwunden ist, mehr nicht. Schließlich hatte ich mir schon in London vorgenommen, durch die Highlands zu reiten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Es gibt doch sicher eine Möglichkeit herauszufinden, von wo aus die Schulklasse damals aufgebrochen ist, oder? Allzu weit kann es nicht sein, weil sie gewandert sind. Mit den Pferden wären wir schneller und flexibler. Wirst du mich begleiten?« Dem bittenden Blick aus ihren schönen blauen Augen konnte Malcolm keine Sekunde lang widerstehen.

»Mir wird nichts anderes übrig bleiben. Ich könnte den Gedanken, dich allein in den Bergen zu wissen, nicht ertragen. Wann hast du denn vor aufzubrechen? Wie ich dich kenne, würdest du doch am liebsten sofort losreiten, aber ich habe diese Woche noch einige wichtige Termine, die sich nicht ohne weiteres verschieben lassen.« Bewundernd sah er Miriam an. Es war beeindruckend, wie sie mit dieser völlig neuen Situation umging. Aber war sie nicht schon immer spontan gewesen und hatte sich durch nichts unterkriegen lassen? Malcolm hatten diese Eigenschaften stets sehr gut an ihr gefallen.

»Was hältst du vom nächsten Wochenende? Wir könnten Freitagmittag losreiten und wären Sonntagabend wieder zurück. Hast du eigentlich deine Angst vor Spinnen überwunden? Wir werden in einem Zelt übernachten müssen.« Er grinste, als er daran dachte, dass das Einzige, was seine schöne Miriam aus der Fassung bringen konnte, harmlose, kleine Spinnen waren.

»Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.« Miriam erwiderte sein Grinsen. »Ich bin fest entschlossen.«

»Ich werde Willie anrufen und ihn fragen, ob er zwei Pferde für uns hat. Du erinnerst dich doch sicher noch an unseren kleinen rothaarigen Freund? Soweit ich informiert bin, führt er jetzt die Farm seiner Eltern. Während ich das Zelt und die Vorräte besorge, könntest du die Schule deiner Mutter besuchen und dort Erkundigungen einziehen.« Auf einmal freute er sich auf den Ausflug in die Berge. Er würde Miriam für sich allein haben und Tag und Nacht mit ihr zusammen sein. Davon abgesehen lag sein letzter Urlaub schon einige Zeit zurück. Es würde ihm sicher nicht schaden, einmal einige Tage auszuspannen.

Malcolm erhob sich. »Es ist schon spät und ich habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir. Kann ich dich jetzt allein lassen, oder möchtest du, dass ich bei dir bleibe?«

»Nein danke, ich muss nachdenken. Ich brauche noch etwas Zeit, um den heutigen Tag zu verarbeiten.« Miriam hatte sich ebenfalls erhoben, um Malcolm hinauszubegleiten. »Ich bin so froh, dass du hier warst.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich von ihm.

»Ich rufe dich morgen Abend an«, versprach Malcolm, bevor er ging. Miriam schloss die Türe hinter ihm und ließ sich gedankenverloren in ihren Sessel fallen. Die Morgendämmerung zog bereits herauf, als sie sich schließlich in ihr Schlafzimmer zurückzog und in einen unruhigen Schlaf sank.

Sie erwachte gegen Mittag, mit einem erwartungsvollen Kribbeln in der Magengegend. Nachdem sie geduscht hatte, fühlte sie sich erfrischt und voller Tatendrang. Gut gelaunt holte sie ihr altes Fahrrad aus dem Schuppen. Die Reifen waren platt von dem langen Stehen, doch das tat ihrer Stimmung keinen Abbruch. Sie pumpte sie auf und fuhr zu der Schule, die erst ihre Mutter und später sie besucht hatten. Der Weg führte an granitverkleideten, einstöckigen Häusern mit den typischen Ziegeldächern und Treppengiebeln vorbei, die jetzt im Sonnenlicht silbern glänzten. Wenige Minuten später fuhr sie auf das alte Schulgebäude zu. Als sie die schwere Eingangstüre öffnete, schlug ihr der bittere Geruch von altem Holz entgegen und die verschiedensten Erinnerungen an ihre Schulzeit stiegen in ihr hoch.

Sie hatte Glück. Ihre alte Lehrerin, die kleine, aber energische Mrs. MacLish, lief ihr auf dem Flur entgegen. Sie hatte sich kaum verändert, nur ihre Haare waren von dem strengen Silbergrau in ein sanfteres Weiß übergegangen. Freundlich wurde Miriam von ihr begrüßt. Mrs. MacLish lud Miriam ein, mit in ihr Büro zu kommen. Sie war mittlerweile zur Direktorin der Schule befördert worden.

Nachdem Miriam eine Weile von ihrem Studium und dem Leben in London erzählt hatte, sah Mrs. MacLish sie prüfend an.

»Es ist schön, dass du den Weg zu uns gefunden hast, doch ich habe das Gefühl, dass es einen Grund für deinen Besuch gibt. Oder bist du wirklich nur gekommen, um deine alte Lehrerin wiederzusehen?« Ein feines Lächeln begleitete ihre Worte. Miriams Erregung war ihr nicht entgangen.

»Ihnen konnte man noch nie etwas vormachen.« Miriam lächelte jetzt ebenfalls. Es war wirklich schön, Mrs. MacLish zu sehen. Sie war eine warmherzige Frau, die immer Verständnis für ihre Schüler gehabt hatte. Doch sie konnte auch streng sein, wenn es erforderlich gewesen war.

»Sie haben Recht. Ich habe tatsächlich einen Grund für meinen Besuch. Ich würde gerne wissen, wo genau der Ausflug des Abschlussjahrgangs meiner Mutter damals stattgefunden hat.« Erwartungsvoll sah sie Mrs. MacLish an.

Die Direktorin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und erwiderte den Blick. Ihr Lächeln war bei Miriams Worten verschwunden und ihr Gesicht ernst geworden. Miriam wurde ganz unbehaglich, während sie auf eine Antwort wartete.

»Darf ich fragen, warum du dich nach so langer Zeit dafür interessierst? In der Schule ist über diesen Ausflug nie wieder gesprochen worden. Es hat nach dem Verschwinden deiner Mutter auch keine weiteren Ausflüge mehr in die Grampian Mountains gegeben. Die ganze Schule stand damals unter Schock. Wir haben nie erfahren, was deiner Mutter in den vier Jahren, die sie verschwunden war, geschehen ist. Weder deine Mutter noch deine Großeltern haben später darüber auch nur ein Wort verloren, obwohl wir damals die ganze Zeit über mit ihnen gezittert, gebetet und gehofft haben. Auch die Journalisten haben nichts in Erfahrung bringen können, sosehr sie sich auch bemühten. Wochenlang haben sie damals das Haus deiner Großeltern belagert.« Mrs. MacLish stand auf und holte einen schwarzen Aktenordner aus dem Schrank. Sie schlug ihn auf und zeigte der überraschten Miriam einige vergilbte Zeitungsartikel.

»Schülerin während Abschlussfahrt spurlos verschwunden« lautete die Schlagzeile. »Während eines Ausfluges in die Grampian Mountains wurde eine Schülerin entführt«, las sie in dem zweiten Artikel. Darunter ein Foto von ihrer Mutter. Dann folgte ein Bericht über das Verschwinden von Menschen; laut Statistik waren es landesweit jedes Jahr mehr als fünfzigtausend, von denen die meisten allerdings nach einigen Tagen wieder auftauchten. Je länger ein Mensch verschwunden blieb, desto weniger Chancen rechnete man sich aus, dass er noch am Leben war. Es gab noch weitere Artikel, die mit der Zeit kleiner wurden, bis andere Themen das Verschwinden ihrer Mutter verdrängten. Mrs. MacLish beobachtete Miriam aufmerksam. Ihre Neugier war geweckt.

»Wenn du etwas über das Verschwinden deiner Mutter weißt, würde ich mich freuen, wenn du es mir erzählst. Du kennst mich lange genug und weißt, dass du mir vertrauen kannst.«

»Meine Mutter hat mir einen Brief hinterlassen, doch er war nur für mich bestimmt und ich bin mir nicht sicher, ob sie damit einverstanden wäre, wenn ich darüber rede.« Miriam zögerte einen Moment. Hier in diesem nüchternen Büro, wo grelles Neonlicht das Tageslicht ersetzte, kam ihr der Inhalt des Briefes selbst unwirklich vor. Obwohl sie niemals die Glaubwürdigkeit ihrer Mutter in Frage stellen würde, schlichen sich leise Zweifel in ihre Gedanken. Vielleicht konnte Mrs. MacLish ihr einen Rat geben, sie war verschwiegen und würde das in sie gesetzte Vertrauen nicht missbrauchen. »Ich habe ihn erst gestern Abend gefunden, als ich den Nachlass meiner Mutter durchgesehen habe, und bin immer noch verwirrt von dem, was ich darin gelesen habe.« Sie öffnete ihre Handtasche, nahm den Brief heraus und reichte ihn Mrs. MacLish, die ihn gespannt entgegennahm. »Ich möchte, dass Sie ihn lesen.«

Gründlich, wie es ihre Art war, las die Schulleiterin den Brief zweimal hintereinander, um auch wirklich nichts zu übersehen.

Als sie fertig war, gab sie Miriam den Brief zurück und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht.

»Das, was ich gerade gelesen habe, ist schwer zu glauben. Zeitreisen gehören für mich in das Reich der Fabeln. Ich weiß nicht, was ich dir dazu sagen soll. Vielleicht hatte deine Mutter so schreckliche Erlebnisse, dass sie die Realität verdrängt und sich diese Geschichte eingebildet hat, um darüber hinwegzukommen? Es gibt solche Fälle, bei denen manche Menschen, die Furchtbares durchlitten haben, nach einer gewissen Zeit so fest an ihre erfundene Geschichte glauben, als hätten sie diese tatsächlich erlebt.« Nachdenklich sah sie Miriam an, die überlegte, ob sie Mrs. MacLish von ihrem Traum erzählen sollte. Er war der Beweis, dass ihre Mutter die Wahrheit gesagt hatte. Woher sonst konnten die furchtbaren Bilder stammen, wenn sie diese nicht selbst erlebt hatte? Schockartig wurde ihr bewusst, dass auch sie selbst in der Vergangenheit gelebt hatte! So weit hatte sie gestern Abend noch nicht denken können, dafür hatte ihr der Kopf zu sehr geschwirrt. Sie musste einfach über diese Dinge reden, und Mrs. MacLish mit ihrer warmherzigen, mütterlichen Art war ein Mensch, dem man sich öffnen konnte.

»Es gibt da noch etwas, das ich Ihnen sagen möchte.« Sie erzählte der erstaunten Schulleiterin von dem grässlichen Traum, der sie seit ihrer Kindheit verfolgte und quälte. Mrs. MacLish war fassungslos, als Miriam mit ihrem Bericht fertig war. Eine Weile saßen die beiden unterschiedlichen Frauen schweigend da.

»Das ist wirklich unglaublich.« Mrs. MacLish schüttelte mehrmals den Kopf.

»Es mag sein, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die wir nicht begreifen können, und wenn ich dich nicht so gut kennen würde, dann würde ich mir auch weiter keine Gedanken darüber machen. Doch in diesem Fall glaube ich, dass an dieser fantastischen Geschichte sogar wider jegliche Vernunft etwas dran sein könnte.« Sie stand auf und legte tröstend einen Arm um Miriams Schulter.

»Du hast es nicht leicht gehabt in deinem Leben«, sagte sie mitleidig. »Jetzt weiß ich auch, warum du wissen möchtest, wohin deine Mutter damals gewandert ist. Du würdest dich gerne dorthin begeben, um eine Antwort auf deine Fragen zu erhalten und deine Wurzeln zu finden. Das kann ich gut verstehen und ich werde dir gerne dabei behilflich sein. Bitte versprich mir, dass du bei allen Unternehmungen sehr vorsichtig sein wirst. Und besuche mich wieder, wenn es dir gelingen sollte, irgendetwas in Erfahrung zu bringen.« Sie reichte Miriam einen der Zeitungsartikel.

»Hier kannst du genau nachlesen, wohin die Schulklasse damals gewandert ist, und auch, an welchem Ort deine Mutter wahrscheinlich verschwunden ist.« Die beiden Frauen sahen sich an. Das Geheimnis, das sie von nun an teilten, würde sie für immer verbinden. Miriam beugte sich zu der einen ganzen Kopf kleineren Schulleiterin hinunter und küsste sie liebevoll auf die Wange.

»Ich werde mich bei Ihnen melden, sobald ich von meinem Ausflug zurück bin«, versprach sie.

In der Türe drehte sie sich noch einmal um und winkte Mrs. MacLish zu, die gedankenverloren wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte.

Erwartungsvolle Spannung breitete sich in ihr aus, als sie an den bevorstehenden Ausflug in die Grampian Mountains dachte. Rasch fuhr sie die wenigen Kilometer zu ihrem Haus zurück.

Unterwegs hielt sie noch an der kleinen Bücherei an, die allerdings geschlossen war. Miriam hatte nicht daran gedacht, dass sie nur zweimal in der Woche für Besucher geöffnet war. Kurz entschlossen steuerte sie das nächstgelegene Buchgeschäft an und kaufte einige Bücher von dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus, der über die Überfälle der Römer auf Britannien berichtet hatte.

Sie war gerade zu Hause angekommen, als Malcolm anrief.

»Wie geht es dir heute? War dein Besuch in der Schule erfolgreich?«, fragte er.

Miriam erzählte ihm von ihrem Gespräch mit der Schulleiterin.

»Ich habe mit Willie wegen der Pferde gesprochen, er würde uns gerne begleiten, wenn du damit einverstanden bist.« Er verschwieg ihr, dass er über diesen Vorschlag nicht sehr begeistert war. Lieber wäre er mit Miriam alleine aufgebrochen, hatte es aber nicht gewagt, ihr Willies Vorschlag vorzuenthalten. »Natürlich habe ich ihm nichts über das Geheimnis deiner Mutter erzählt.«

»Warum nicht? Wenn Willie dabei ist, wird es sicherlich lustig.« Sie reagierte genau so, wie er es erwartet hatte, spontan und unbekümmert. Das lachende Gesicht Willies mit den vielen Sommersprossen tauchte vor ihren Augen auf. Sorglos und spöttelnd hatte er damals vor nichts und niemandem Respekt gehabt und sie oft mit seinen Späßen zum Lachen gebracht. Egal, was er auch tat, es hatte nie jemanden gegeben, der ihm ernsthaft böse gewesen war.

Die drei Tage bis zum Freitag verbrachte Miriam überwiegend mit Lesen. Immer tiefer tauchte sie in die ihr fremde Vergangenheit ein. Sie wollte alles über die Zeit wissen, in der ihr Vater, aber auch ihre Mutter gelebt hatten. Noch nie war Geschichte spannender und waren die Menschen dieser Zeit lebendiger für sie gewesen.

Endlich kam der Freitag. Miriam erwachte mit einer kribbelnden Erwartung im Bauch. Rasch stand sie auf, um zu duschen und ihren Rucksack zu packen. Das Wichtigste war warme, regenfeste Kleidung. Im Hochland konnte es im April noch empfindlich kalt werden und sie mussten mit scharfen Winden und Wolkenbrüchen rechnen. Als Miriam sich entschieden hatte, was sie alles mitnehmen wollte, war es schon fast Mittag. Nachdem sie noch eine Kleinigkeit gegessen hatte, fuhr Malcolm auch schon vor, um sie abzuholen. In der Jeans und der dunkelblauen Outdoorjacke sah er noch besser aus als im Anzug. Lächelnd begrüßte er sie.

»Ich freue mich richtig auf unseren Ausflug. Laut Wetterbericht wird es voraussichtlich nicht regnen, obwohl man das nie so genau sagen kann. Das Wetter im Hochland kann von einem Moment auf den anderen umschlagen.«

Sie tranken noch gemeinsam eine Tasse Tee, dann drängte Malcolm zum Aufbruch.

»Es wird eine Weile dauern, bis wir alles gepackt haben und auf den Pferden sitzen. Wenn du fertig bist, würde ich vorschlagen, dass wir jetzt fahren.«

Malcolm trug Miriams Rucksack zu seinem Wagen und sah ihr zu, wie sie sorgfältig die Haustüre verschloss. Dann nahm sie neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz.

Die Pferdefarm lag außerhalb von Inverurie. Sie fuhren sanft ansteigende Alleen entlang, die an beiden Seiten von dünnen Kiefern gesäumt wurden.

Zehn Minuten später erreichten sie die Highland-Farm von Willies Eltern, auf der sie beide als Kinder reiten gelernt hatten. Malcolm parkte den Wagen im Hof und winkte Willie zu, der schon damit beschäftigt war, die Pferde zu satteln. Die drei Tiere standen festgebunden neben dem verwitterten Gatter, das dringend einen Anstrich benötigte. Überhaupt wirkte die Farm etwas verwahrlost. Das wild wuchernde Unkraut anstelle der früher so liebevoll gepflanzten Blumen in der langen Einfahrt verstärkte diesen Eindruck noch.

Miriam stieg aus und begrüßte gemeinsam mit Malcolm ihren alten Schulfreund. Er hatte sich kaum verändert. Grinsend ließ er zu, dass Miriam ihn auf beide Wangen küsste.

»Schön, dich zu sehen, liebste Miriam. Ich habe gehört, du hast Kunst studiert? Hoffentlich hast du das Reiten nicht verlernt. Nach acht Stunden auf dem Pferd wirst du dir deinen hübschen Hintern wund geritten haben«, sagte er und betrachtete sie grinsend von oben bis unten. Miriam ging auf sein Geplänkel ein.

»Ich habe mir ein Kissen eingesteckt, falls es zu schlimm wird«, lachte sie und streichelte dem Pferd, das ihr am nächsten stand, zärtlich über die weichen Nüstern. Es war ein gut gebauter, kräftiger Rappe, mit einem sichelförmigen Mal auf der Stirn. Aus großen, sanftmütigen Augen sah das Tier auf sie herab.

»Kann ich den hier reiten?«, fragte sie. »Er ist wunderschön.«

Willie grinste. »Er heißt Moonlight, doch der Name täuscht. Er ist ein Teufel und hat richtig Pfeffer im Hintern. Sein Blick ist jedoch so sanft wie sein Name. Wäre er ein Mensch, würde er den perfekten Schauspieler abgeben. Ich denke, Malcolm sollte ihn reiten, man braucht sehr viel Kraft für ihn. Für dich habe ich Milkshake vorgesehen.« Er wies auf eine karamellfarbene Stute, die nicht ganz so groß war und geduldig wartend dastand.

Lachend und plaudernd verstauten sie ihre Vorräte und das Zelt mit seinem Zubehör in den Satteltaschen und hinter den Sätteln. Willie gab seinem Knecht noch einige Anweisungen, dann bestiegen sie die Pferde und ritten hintereinander durch das schief in den Angeln hängende Gatter, über dem ein ausgeblichenes Schild mit dem Namen des Gestüts sich knarrend im Wind hin und her bewegte.

Miriam hatte den Zeitungsartikel, den Mrs. MacLish ihr gegeben hatte, in ihre Jackentasche gesteckt. Eine Weile ritten sie die schmale Straße entlang und bogen dann in einen kleinen Feldweg, der sich durch frühlingshafte Wiesen auf die blaugrün schimmernden Hügel zuschlängelte. Dicke, weiße Wolken trieben vom Wind gepeitscht am Himmel und ließen nur für kurze Momente die Strahlen der Sonne durch. Miriam genoss den frischen Wind, der mit ihren Haaren spielte und auch den letzten trüben Gedanken aus ihrem Kopf blies. Sie fühlte sich so frei wie schon lange nicht mehr. Die Pferde schienen sich genau wie sie über den Ritt zu freuen. Mit geblähten Nüstern warfen sie übermütig ihre Köpfe hoch und schnaubten erwartungsvoll.

Willie erzählte Malcolm, wie es ihm in den letzten Jahren ergangen war. Seine Frau hatte ihn vor einiger Zeit verlassen und er hatte große Probleme, die Farm alleine zu führen. Seine ganze Hoffnung lag in der Pferdezucht, doch dann war sein bester Hengst an einer Kolik gestorben und ihm fehlte das Geld für ein neues Pferd mit ähnlich guter Abstammung.

Miriam hörte dem Gespräch der Männer kaum zu. Sie hing ihren Gedanken nach, die sich um ihre geliebte Mutter drehten und um ihren Vater, den sie so gerne kennen gelernt hätte.

Moonlight tänzelte ungeduldig hin und her und Malcolm hatte Mühe, ihn zu halten.

»Was haltet ihr von einem kleinen Galopp?«, fragte er. »Moonlight scheint ein wenig Bewegung nötig zu haben.«

Willie drehte sich fröhlich grinsend zu Miriam um. Man konnte ihm ansehen, wie sehr er den Ausflug mit seinen Freunden genoss. Es war für ihn die Gelegenheit, seine Probleme eine Zeit lang hinter sich zu lassen.

»Bist du bereit zu galoppieren?«

Miriam nickte glücklich. Moonlight schoss los wie eine Rakete, als Malcolm die Zügel lockerte. Milkshake und Fire, Willies rotbraune Stute, die gut zu seinen Haaren passte, folgten ihm. Sie flogen über den Boden hinweg auf die grünen Hügel zu.

Der Ausflug war genauso, wie sie es sich erträumt hatte. Schwer atmend parierten sie nach einer Weile die schwitzenden Pferde wieder zum Schritt durch. Miriams Wangen hatten sich von der Anstrengung gerötet und ihre weit geöffneten Augen sogen die Landschaft in sich auf, als wolle sie diesen Augenblick für immer bewahren. Sie war nie schöner gewesen. Immer wieder warf Malcolm ihr sehnsuchtsvolle Blicke zu. Was würde er dafür geben, sie in seinen zu Armen halten und ihren schönen Körper mit seinen Händen zu erforschen und mit Küssen zu bedecken. Doch er schob seine Gedanken rasch wieder beiseite. Miriam hatte gerade erst eine große Enttäuschung hinter sich und so, wie er sie kannte, würde sie noch eine ganze Weile brauchen, um damit fertig zu werden. Er durfte nichts überstürzen, indem er sie jetzt bedrängte. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu üben.

Die drei Freunde waren überwältigt von der rauen Schönheit der Landschaft, deren Farbe von sattem Grün in Gelb und dann wieder in tiefes Braun wechselte. Sie ritten an kleinen Seen und Bächen vorbei, in denen sich die Wolken spiegelten. Immer wieder entdeckten sie alte Mauersteine und verfallene Gemäuer, welche die geschichtsträchtige Vergangenheit Schottlands bezeugten. Nach einer Weile tauchte ein größerer See vor ihnen auf, der wie ein eingefasster Edelstein zwischen Bergen schimmerte, deren Spitzen durch dichte Nebel verhüllt wurden. Schattenlichter tanzten auf der silbernen Oberfläche des Sees, als sie langsam den nächsten Hügel hinunterritten. Sie näherten sich dem Ufer, an dessen Böschung die Rhododendren erste Knospen zeigten. Gut gelaunt sprangen sie von ihren Pferden und nahmen ihnen die Sättel ab.

Während die Pferde sich sofort über das kurze, würzige Gras hermachten, ließen sich die drei Freunde auf dem warmen Ufersand nieder. Malcolm nahm eine Thermoskanne mit Tee und ein paar Sandwiches aus seinem Rucksack, die sie hungrig verzehrten. Er sah Miriam an, die mit glänzenden Augen neben ihm saß.

»Es wird schnell dunkel hier oben und ich denke, es ist besser, wenn wir bald weiterreiten und uns nach einem Schlafplatz umsehen, solange es noch hell ist. Es ist schon eine Weile her, seitdem ich das letzte Mal ein Zelt aufgestellt habe. Ich werde sicher einige Zeit dafür benötigen.« Malcolm plante wie immer alles ganz genau.

»Wenn ich mich nicht täusche, befindet sich nicht weit von hier entfernt eine alte Burg, von der noch einige Mauern erhalten sind. Wir hätten Schutz vor dem Wind und auch vor Regen, falls das Wetter umschlagen sollte.« Willie warf einen misstrauischen Blick auf die schweren Wolken über ihnen, die nicht mehr so strahlend weiß waren wie zu Beginn ihres Ausfluges.

Miriam war mit allem einverstanden. Sie befand sich in einem wahren Euphorietaumel. Das Kribbeln in ihrer Magengegend hatte sich verstärkt und sie fühlte, dass etwas auf sie zukam, das sie ihrem Ziel näher bringen würde. Ob sie weitergeritten wäre, wenn sie geahnt hätte, welche Abenteuer ihnen noch bevorstanden?

Immer wieder schweiften ihre Gedanken zu ihrer Mutter, der sie sich nahe fühlte wie lange nicht mehr.