Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Tage waren als kurze Einheiten angelegt, um die Möglichkeit zu haben, immer wieder neu beginnen zu können. Enttäuschungen und Erwartungen des Vortages waren für diesen Neuanfang am frühen Morgen allerdings schlechte Berater. Es würde ein Tag beginnen, mit vielen Möglichkeiten, aber auch ungewollten Dingen, vor allem den tatsächlichen Entscheidungen, die immer mehr einem Ich entsprächen und wahrscheinlich immer so gewählt würden, weil man alleine nicht anders entscheiden konnte. Man verhielt sich aus seinem Ethos heraus, aus seiner Gewohnheit, dem inneren Kräfteverhältnis, dem ausgeglichenen oder verschobenen Charakter seines Blutes. Was würde heute alles zusammenhalten? Eine Kraft, die vektoriell in eine Hauptrichtung wirkte, eine Gravitation, die alles um ihn herum anzog? Oder war es bloß die Einheit einer Tageszeit und die Aufgaben in der Gemeinschaft, in der man sich überwiegend aufhielt? Was ließ sich alles an einem Tag vollenden? Dinge benötigten eine gewisse Umlaufzeit, um zu wirken.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 178
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Nacht
Umlaufzeit
Wesentliches
Offline
Gegenwärtig
Drehmoment
Loco typico
Denken innerhalb der Pflichten
Persönliches Wissen
Philosophie zum Leben
Rezeptoren des Denkens
Momente der Ewigkeit
Balance der Weisheit
Grundfragen
Wahrnehmung der Realität
Komm zur Vernunft
Analyse
Mathematischer Weg
Vormittag
Eklektischer Weg
Kausalkette
A priori
Dialektik der Spannung
Maß aller Dinge
Skepsis
Rationalität oder Stoffwechsel
Sinn der Verknüpfung
Vorstellungen
Metaphysisches
Verhalten
Logik der Physiologie
Existenz durch Wandel
Axiom oder wenig maximal kombinieren
Differenzierung ins Unbekannte
Aporie oder falsche Richtung
Heuristik oder Rückwärtsgang
Hervorgehobene Wirklichkeit
Bewusst sein
Vorspannung des Willens
Gütig zu seinem Geist
Dualismus oder Spannungsausgleich
Nachmittag
Immanentes Schicksal
Lebendiges Ethos
Im Staat anders
Ortlose Utopie
Ersatzlose Spiritualität
Subsidiarität oder humane Proportionen
Ästhetik der begrenzten Wahrnehmung
Peridisziplinäre Integration
Sprache ante portas
Blutrot
Zu Sich
Matrix
Phänomen in Pixel
Bereitschaft zur Analogie
Hausgemachter Konsens
Affinität
Schrittmacher
Eingriff oder der Griff in die Integrität
Retention
URI
Orientierung
Nil nocere
Locked-In
Abend
Zyklus oder Voranschreiten
Günstiges Amalgam
Akzeptanz des Zufalls
Genotyp
Gefensterte Disziplin
Manifestation von Wirkung und Nebenwirkungen
Prädisposition
Umweltfaktor
Dysbiose
Effloreszenz
Goldstandard
Diskurs
Penumbröses Wissen
Innere Verzweiflung veräußern
Glaube oder Annahme
Erinnerungsmomente
Tage waren als kurze Einheiten angelegt, um die Möglichkeit zu haben, immer wieder neu beginnen zu können. Enttäuschungen und Erwartungen des Vortags waren für diesen Neuanfang am frühen Morgen allerdings schlechte Berater.
Sauermacher arbeitete in einem Spital, dessen Namen zu nennen unwichtig war, da in diesem Haus ebenso wie in allen anderen Krankenhäusern die Mitarbeiter auf der gesamten Skala, von Menschlichkeit bis Wirtschaftlichkeit, von der Behandlung des Menschen als Patient oder Fall, wirkten. Er selbst hatte bereits jeden Rang dieser Skala betreten, aber er fühlte sich am wohlsten auf der Seite des Allzu-Menschlichen. Jetzt wechselte die Zeit von 23:59 Uhr auf null Uhr. Ein guter Start in einen neuen Tag.
Sauermacher ließ die vielen bedeutungsarmen Begegnungen des gestrigen Tags, bei denen er gerne anders aufgetreten wäre, zurück. Sie hatten vielleicht auf dem falschen Feld stattgefunden, er wäre dabei lieber deutlicher im Kontakt gewesen, wirkungsvoller erschienen. Aber im zwischenmenschlichen Raum regulierte sich manches von ganz alleine: Menschen verließen den Ort und neue kamen hinzu. Er wollte den Tag nicht mit unterdrückten Emotionen durchleben.
Es würde ein Tag beginnen, mit vielen Möglichkeiten, aber auch ungewollten Dingen, vor allem den tatsächlichen Entscheidungen, die immer mehr einem Ich entsprächen und wahrscheinlich immer so gewählt würden, weil man alleine nicht anders entscheiden konnte. Man verhielt sich aus seinem Ethos heraus, aus seiner Gewohnheit, dem inneren Kräfteverhältnis, dem ausgeglichenen oder verschobenen Charakter seines Bluts.
Was würde heute alles zusammenhalten? Eine Kraft, die vektoriell in eine Hauptrichtung wirkte, eine Gravitation, die alles um ihn herum anzog? Oder war es bloß die Einheit einer Tageszeit und die Aufgaben in der Gemeinschaft, in der man sich überwiegend aufhielt?
Er wollte aus Fragmenten etwas Neues verbinden. Ließ sich aus seiner Profession, seiner Disziplin oder seinem Steckenpferd eine Energie generieren, die aus bisher gezogenen Kreisen resultierte, geschlossenen Handlungen, die im Gehirn ihre Spuren hinterlassen hatten, eine eigene Perspektive sich den darbietenden Begriffen des Tags zu nähern? Dafür war ein teilweises Herauslösen aus der Gemeinschaft nötig, eine Lockerung bisheriger Verbindungen, die ihre Anziehungskraft zur Fixierung ausübten. Auch eine ständige Veränderung der Betrachtungsweise ihrer Mitglieder war hilfreich, seine Haltung zu verändern, denn wenn man sich vor jemandem verbeugte, mussten die Strecker des Körpers zurücktreten.
Was ließ sich alles an einem Tag vollenden? Dinge benötigten eine gewisse Umlaufzeit, um zu wirken.
Ihn hatte eine kurze Müdigkeit überfallen, in der er für einen Moment dachte: Was wäre, wenn ihm ein Fehler unterlaufen wäre, der ihn dazu zwingen würde, seine berufliche Tätigkeit zu beenden? Was blieb, wenn Rolle, Profession, Beziehungen und alle zugewiesenen Attribute und die meisten der Kategorien, in die er eingeordnet wurde, wegfielen? Das war es doch, was seine Mitmenschen als sein Wesen an ihm erkannten. Ihr Denken über ihn entsprach seinem Dasein in ihrer Gemeinschaft: einem Lebensmodus, der ihn zu einem Körper ihrer Umgebung machte. Meist dachten sie ganz einfach in Funktionen: Stufen einer Entwicklung in der Klinik. Diese Positionen waren mit wesentlichen Unterschieden in der Kommunikation ausgestattet: sprach der Fürst, schwieg das Volk.
Sowohl Denken als auch praktisches Leben wurden durch die momentanen Aufenthaltsorte beeinflusst. Freies Denken und Leben war daher für Sauermacher nur durch einen ständigen Ortswechsel möglich, sich immer wieder an den Rand seiner Gemeinschaft begeben, um sein Wesen aus den Erwartungen herauszuschälen.
War das Wesentliche vielleicht eher eine Essenz, die in etwas hineingegossen worden war? Was wäre, wenn vielleicht nur weniger als fünf Prozent des Menschen ganz individuell ausgebildet bliebe und man diesen wesentlichen Teil gar nicht kennenlernen würde? Was wussten die Menschen tatsächlich von ihm und standen ihnen alle Informationen zu ihm zur Verfügung?
Sauermacher dachte das Individuelle als ein Konzentrat, das in einen Körper infundierte und ihm Form gab. Es war nicht alles nur zufällig in der jeweiligen Umgebung zugefallen. Das Blonde, Große, Feingliedrige und Intelligente war vielleicht nicht notwendig zugehörig, bloß eine Variante, die Kombination daraus war die Formel. Sauermacher war der Meinung, dass die getroffenen Entscheidungen, ein Festhalten oder Lösen, das Wesentliche befreien könnten.
Er wollte am Stoffwechsel der Gesellschaft aktiv teilnehmen. Das hieß aber nicht, dass er eine ständige Überschreibung durch andere zuließ. Er hielt auch an Dingen fest und verschloss sich wiederholt gegen die Angebote ständig neu verpackter Gegenstände, ein Moment des persönlichen Innehaltens. Die Dinge, die er sich zuschrieb, überarbeitete er aber immer wieder. So auch sein Modell der Entwicklung des Wesentlichen: Herauslösung aus der momentanen Situation, um einen Überblick zu gewinnen und sich von den Erwartungen zu trennen. Aus einer gewissen Entfernung bedurfte es der kurzfristigen Neuorientierung auf praktikable Anwendungen, also einer gewissen Vernunft, die allzu oft in entsprechender Bindung ausgeschaltet war. Nachdem man erneut in sich hineingeschaut hatte, begab man sich in seine vertraute Methodik, seine Kräfte nutzend und beobachtete genau, welche Wechselwirkungen in seiner Umgebung auftraten. Die neuen Verschaltungen erleichterten die Erkenntnis seiner individuellen Position.
Jetzt im Operationssaal um 00:15 Uhr beteiligte er sich an dem Kreis der Lästerzungen über Abwesende und spielte mit, wurde wacher. Du bist ja böse, wurde ihm mitgeteilt. Nach länger andauerndem Versuch zu ihnen durchzudringen, hatte er jetzt eine ungeheure Wirkung erzielt. Aber es war wohl nur eine Verschiebung seiner Kräfte in entsprechender Umgebung. Je nach Umfeld ergab sich eine bessere Penetration bei schlechterer Wirkung seiner Substanz, er kam jetzt besser an die Gemeinschaft heran, aber das Ergebnis gefiel ihm nicht. Ein Trieb, der innere Impuls zu einem bestimmten Verhalt von einzelnen Kräften in bestimmter Gesellschaft, brachte ihn wieder zu ihm zurück. Das Unbewusste, also nicht vollständig bearbeitetes Denkmaterial, hatte ihn in Versuchung geführt. Das war zum großen Teil allgemeines Gedankengut und hatte nichts von seinem Konzentrat enthalten. Er beschäftigte sich nun wieder mit den Anwesenden und in Sekundenschnelle befand er sich an Ort und Stelle: außen vor.
Nur in der ständigen Befreiung aus Momenten erkannten die Menschen ihre eigene Position, dazu waren ständige Positionskorrekturen nötig: immer ihrem Wesen nach.
Der Computer im Operationssaal funktionierte nicht: Laboranfragen, Röntgenbefunde und Anamnese bedurften des Ersatzpapiers. Niemand konnte es sich heutzutage leisten, ohne die Möglichkeit von Parallelwegen zu leben.
Sauermacher war Teil dieses klinischen Algorithmus. Es gab viele Stimmen in seiner Disziplin, dass die Maschinen besser beatmeten, trotzdem nahm er seine Patienten gerne auch einmal an die Hand, das hieß er beatmete manuell. Er wollte diese Funktion erhalten, falls die automatischen Respiratoren einmal versagten. Auf der anderen Seite gab es genügend Eingriffe und Prozeduren, die mit geeigneter Technik deutlich verbessert wurden. Um 01:30 Uhr legte er einen Katheter in ein großes Blutgefäß seines Patienten und er übte diese Tätigkeit mithilfe des Ultraschalls aus. Unter Sicht führte er die Nadel, die er früher nur durch Ertasten der umliegenden Strukturen vorgeschoben hatte, in die Vene. Die technische Begleitung des Menschen schätzte Sauermacher sehr, da sie die Sicherheit dieses gefährlichen Eingriffs erhöhte. Technik und Mensch als Partner, die gegenseitig voneinander lernen konnten, das hieß auch, dass die Technik immer menschlicher wurde.
In der Gesellschaft kamen zunehmend Automaten zum Einsatz: Wusste man denn noch, ob man im Gegenüber einem Menschen begegnete? Es gab für jeden Fall auch vorbestimmte Ersatzbögen, die zu nutzen waren, aber Sauermacher sprach die Mitmenschen lieber direkt an. Er griff zum Telefon, das war dieser alte Verbindungsaufbau zwischen zwei entfernten Positionen und fragte die Person am anderen Ende, ob er die Bestimmung des gewünschten Laborwerts nachmelden konnte. Nun erkannte er die meisten Mitarbeiter an ihrer Stimme und viele hätten wahrscheinlich auf die für diesen Fall vorgesehenen Formulare verwiesen, aber bei ihm machten sie eine Ausnahme, Resultat seiner Freundlichkeit ihnen gegenüber. Die moderne Entwicklung sollte Zeit sparen und erfüllte dieses Ziel auch, aber Sauermacher fing ein Gespräch immer mit einer persönlichen Note an, eine Erhöhung der Erkennbarkeit menschlicher Eigenart gegenüber der technischen Linie. Das kostete ein paar Extraminuten, sparte am Ende aber die Mühe, über die Leistung zu diskutieren. Er hielt die Gesprächskultur in Funktion.
Die einzige Möglichkeit, sich dem unpersönlichen Gang nicht völlig auszuliefern, war, in seine Algorithmen Auswege und Abzweigungen einzubauen. Das bedeutete regelmäßig offline vom globalen Netz zu sein.
Er hatte sich gerade, das war ein kurzer Moment jenseits der Vergangenheit und dem Diesseits der Zukunft, für einen Augenblick hingelegt, da läutete das Telefon um 02:35 Uhr. Ein Patient hatte sich die Schulter ausgerenkt und erlitt stärkste Schmerzen. Für eine Zehntelsekunde war Sauermacher genervt, wieder aufstehen zu müssen, aber was ihm jetzt missfiel, war vielleicht nur die Unzufriedenheit mit einer Entscheidung aus der Vergangenheit und der Angst, dies noch häufiger wiederholen zu müssen. Auf dem Weg zu seinem neuen Patienten konnte er sich aus diesem Gedanken herauslösen und seine Entscheidungen bis zu dem Zeitpunkt zurückverfolgen, als er sich entschlossen hatte, Klinikarzt zu bleiben. Er befand sich schließlich im Dienst am Menschen und seine Arbeit befriedigte ihn. Der Moment, jemandem in größter existenzieller Not beizustehen, gar zu kurieren, war eine der schönsten Zeiten, die er kannte. Zudem gefiel ihm die Exaktheit der Anwendungen vom Monitoring des Patienten bis zur kontrollierten Narkose. Alle Handgriffe waren aufeinander abgestimmt und hatten ihre Berechtigung, ihre Unterlassung gar schlimmste Folgen. Viele dachten es wäre egal, wann man die Ingredienzen für eine Mahlzeit in einen Topf hineingab, der Fachmann kannte allerdings die Abfolge für ein perfektes Gelingen. Auch an seiner Disziplin sah Sauermacher die Notwendigkeit der richtigen Reihung der einzelnen Stoffe. Lebensbedrohlich war es gar, das Muskelrelaxans vor dem Narkosemittel zu applizieren. Jetzt gegenwärtig zu sein, bedeutete für Sauermacher Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft algorithmisch zu behandeln, sich nicht ablenken zu lassen und begründet misstrauisch seinem Umfeld zu begegnen, wenn es von der Handlungsweise abweichen wollte. Erst, wenn das erste Medikament seine Zeit zu wirken hatte, gab er das zu verabreichende hinzu und bereitete die Applikation des künftigen vor. Einen Prozess in Bewegung zu halten und dabei anderes abzuschließen, wurde ein Instrumentarium seiner Philosophie. Was in den Köpfen bereits gedacht worden war, war in der Welt oder kam noch in diese, ein munteres Nebeneinander von Vorstellungen, bereits manifestiert oder noch in der Fantasie. In der Gegenwart war Sauermacher der kurzen Erscheinung näher, die in Zukunft bestätigt werden musste, und auf die in der Vergangenheit zurückgegriffen werden konnte.
Nachdem er seinen durch die Schulterdislokation schmerzgeplagten Patienten vorbereitet hatte, galt es alle Hebel gleichzeitig in Gang zu setzen, chirurgisches und anästhesiologisches Team mussten in ihrer Verrichtung genauestens aufeinander abgestimmt sein. Die Arbeit war als Kraft eines Körpers um eine Drehachse gedacht. Bei allen verschiedenen Techniken, die angewandt wurden, war eine optimale Entspannung des Betroffenen essenziell.
Bei jeder Kraftanwendung sollte man wissen, wer die Synergisten und wer die Antagonisten bei der Arbeit sein könnten. Sonst lohnte sich die Kraftanstrengung kaum. Die Kraft auf einem bestimmten Weg sollte dem Lastmoment für einen Ruheprozess entsprechen oder wie es bei der Reposition, der Wiederherstellung der korrekten Position, zu fordern war, überlegen sein.
Sauermacher fragte sich, ob er bei den letztgeführten Gedanken aus physikalischen Gesetzmäßigkeiten philosophische Antworten ableitete? Wenn man irgendwo angriff, sollte man seinen Kraftaufwand richtig einzuschätzen wissen. Sauermacher erkundigte sich vor der Narkoseeinleitung über die Erfolgswahrscheinlichkeit, hatte aber großes Vertrauen in seine Mitstreiter in dieser Nacht. Als alle Beteiligten ihren Platz um den Patienten eingenommen hatten, injizierte er die richtigen Medikamente. Die Muskelerschlaffung musste zum richtigen Zeitpunkt maximal sein, um ein Gelingen für dieses Team zu fördern. Um 03:05 Uhr war die Schulter reponiert, befand sich wieder am richtigen Ort.
Am richtigen Ort zu sein, war eine schöne Empfindung, die vielleicht nur wenige in ihrem Leben wahrnehmen konnten. Für einen Misserfolg gab es gute Gründe, wie Verzweiflung, Ratlosigkeit oder Angst, den falschen Platz zu verlassen. Entweder war er nicht richtig gesucht worden oder er war bereits gefunden und verloren gegangen.
Gegen 03:47 Uhr war er gefragt, eine Magenausheberung durchzuführen: Eine junge Frau hatte aus Liebeskummer viel zu viele Tabletten eingenommen. Sie hatte auf Fragen nicht ganz reagiert, aber ihre vorhandenen Schutzreflexe waren für ihn Antwort genug. Es war eine grundsätzliche Frage des Lebenswillens, denn mit der Geburt wurde auch das Ende vorherbestimmt. Nahmen die Geburtsgewinner eher eine aktive oder passive Haltung ein?
Das Mädchen liebte einen Menschen, der sie vielleicht verlassen wollte und sie war für einen kurzen Moment bereit, deswegen zu sterben, die Welt war nicht mehr der für sie typische Ort. Oder war ihre Tat nur ein Kurzschluss bereits geführter Gedanken mit einer Gelegenheit?
Man konnte aus dem Denkmodell eines geplanten Todes existenzielle Fragen ableiten, zum Beispiel nach dem richtigen Zeitpunkt zu gehen.
Einen guten Abgang konnte man täglich üben: etwas zu Ende zu denken. Sauermacher hasste es zum Beispiel, wenn er bei einer Begegnung nicht das vermittelt hatte, was er mitteilen wollte. Er liebte dagegen den Moment, in dem ihm das seiner positionsgerechten Haltung Entsprechende einfiel und sich wie von selbst aus seinem Sprechapparat löste. Es ging um seinen Denkakt, um ihn kenntlich zu machen, musste er regelmäßig mit seinen Vorurteilen brechen, die Informationen neu verknüpfen und seine Algorithmen in anderen Anwendungen probieren.
Sauermacher wusste, dass die Aktion der jungen Frau ihr Problem nicht auf Dauer lösen könnte. Man konnte nicht alles festhalten, manches war nur für den Moment gemacht, aber manche Begegnung im Leben hatte die ursprüngliche Richtung zu sehr abgelenkt. Die junge Frau würde zumindest keine bleibenden körperlichen Schäden zurückbehalten. Sie hatte nicht zu Ende gedacht, wusste nicht um die vielen Probleme, die eine Suizidalität mit sich brachte. Die kreisenden Gedanken und Fantasien mussten durchbrochen werden. Hierfür brauchte es einen Neuanfang und Sauermacher dachte, dass für die Patientin neue Verbindungen zu suchen wären, eine Einbindung in eine für sie offene Umgebung, in der sie ihre wirklichen Gedanken leben könnte.
Es handelte sich eher um einen Suizidversuch, denn im Gespräch mit der diensthabenden Psychiaterin distanzierte sich die Verzweifelte von ihrer Tat, zumal einer der Gründe des fast gebrochenen Herzens vor der Tür wartete. Sauermacher war froh, seine eigenen Gedanken zu diesem Thema bereits zu Ende gedacht zu haben und er wünschte dem Mädchen über die psychiatrische Kollegin viel Glück bei ihrer künftigen Ortswahl.
Es gab konkurrierende Pflichten. Die Eile der Chirurgen übertrumpfte seine nach der abgeschlossenen Magenspülung eher psychische Betreuung der jungen Frau. Um 04:05 Uhr musste er einen Patienten für einen Eingriff betäuben, den dieser wahrscheinlich nicht überleben würde. Das hieß, Sauermachers Worte wären unter Umständen die letzten, die dieser Mensch wahrnehmen würde. Er wollte daher Worte wählen, die sowohl Trost als auch Gemeinschaft, und zudem Hoffnung aussprachen. Die Notfallindikation für diesen Eingriff wurde durch die bereits anwesenden Chirurgen bekräftigt. Es war 04:10 Uhr am frühen Morgen.
Sauermacher fragte sich, ob sein Patient vielleicht noch hätte beten wollen, wenn er mehr gewusst hätte, vielleicht noch irgendjemandem etwas hätte mitteilen wollen.
Sauermacher war lange genug im Beruf, um sich nicht zerreißen zu lassen. Er wusste um die Dringlichkeit der Intervention, erkannte aber auch die schlechte Prognose des Patienten. Es galt, seine eigene innere Haltung auszubauen, seine individuellen Werte hochzuhalten und eine eigene Verpflichtung zu dem Patienten einzugehen. Er wählte die Vierhandanästhesie, also das Beisein einer zusätzlichen Kraft, damit er sich mehr der psychischen Betreuung des Patienten widmen konnte, ohne Zeit zu verlieren. Man musste den Anforderungen neue Namen geben, sie von einem allgemeinen Anspruch lossagen, keinen anderen Zweck verfolgend.
Was wären die eigenen letzten Worte? Es ist gut, so wie es ist. Schön, dass Sie bei mir sind, hörte er seinen Patienten mit Tränen in den Augen sagen.
Sauermacher funktionierte in dieser Nacht, gab sich seinen Aufgaben hin. Aber er war froh, aus sich heraus etwas Neues begonnen zu haben, ein freieres Denken innerhalb der akzeptierten Pflichten. In diesem Moment existierten für ihn Mittel, die anderen noch unbekannt waren.
Er drückte seinem Patienten die Hand oder war das bereits ein Beten an dessen Stelle? Im Beten erkannte Sauermacher die Zuneigung an ein den Menschen vertrautes transzendentes Wesen, das viele aber anders riefen, er sah darin niemals eine Pflicht. Bei Sauermacher war es wohl eher die Empathie zu seinem Patienten, Beten entsprach für ihn mehr einem innigsten Wunsch, einer tiefen Verbundenheit. Er versuchte, dessen Worte zu verstehen. Befand sich dieser Mensch bereits am richtigen Ort? Dann wäre Sauermachers Aktion beinahe wichtiger gewesen als ein bestimmtes Ergebnis der Operation.
Es gab für Sauermacher in solchen Augenblicken keine allgemeingültigen Normen, nur einen momentanen persönlichen Handlungsrahmen.
U m 04:39 Uhr befand sich der Patient in tiefer Narkose. In den vielleicht letzten dreißig bewussten Minuten hatte Sauermacher über dessen Vorgeschichte gesprochen, den weiteren Verlauf beschrieben und eine vage Vorstellung von seiner Zukunft gegeben. Er würde auf der Intensivstation aufwachen. Minuten, Momente und Augenblicke waren von solcher Wichtigkeit, dass Sauermacher in jede dieser kleinsten Lebenszeiten eine feierliche Aufmerksamkeit legte. Es war keine Anamneseerhebung, er fragte vielmehr nach seinem Leben. Was er zuletzt konnte, was er in diesem Moment von sich wusste und was er sich erhoffte. Er habe fast nur noch gelegen, aber sonst ein aktives Leben hinter sich gebracht, von seinen Kindern zuletzt gepflegt, die übrigens mehr über seine Krankheiten wüssten. Die meisten medizinischen Fakten hatte der Arzt bereits aus der elektronischen Akte entnommen. Dieses nüchterne Wissen hätte für die Sicherheit der Narkoseführung gereicht. Aber Sauermacher hatte erreichen wollen, dass der Patient sein persönliches Wissen von sich, seinem Leben und besonderen Ereignissen ins Gedächtnis holte, bevor er in die Narkose sank.
Das fließende Informationsvolumen in einem Individuum, das Stoffe aufnehmen konnte und in verschiedenste Bereiche einführen konnte, war zu jeder Zeit nutzbar. Neues musste aber erst verstoffwechselt werden, also kräftig in eigenen Denkzyklen bearbeitet, bevor es verwendet werden konnte. Vieles fiel einem unter Umständen nicht sofort ein, manches wurde durch die Aktualität anderer Daten verdrängt und je nach Aufgabe aus der Tiefe seines Wissens gefördert. Unter diesem Stress von bevorstehender Operation, Narkose und vielleicht auch Vorahnungen sowie Vorurteilen beschränkte sich das Gedachte auf äußere Dinge. Bei den Gedanken an seine Familie und wohl anderen kurz aufleuchtenden Lebensmomenten hatten sich die Gesichtszüge des Patienten etwas entspannt. Sauermacher wollte eine Atmosphäre der Geborgenheit innerhalb dieses technischen Umfelds erreichen.
Eine Gewissheit gab es nicht, denn Wissen veränderte sich in Abhängigkeit von der gewählten Umgebung und deren Menschen. In manchen Wissenskreisen verhielt sich Sauermacher unwissend, er war zu unpolitisch, in anderen wurde er gemieden, zu unökonomisch. Je politischer und ökonomischer gedacht wurde, umso schwieriger hatten es seine Begriffe. Begriffsklärungen waren hier oft nur durch kundige Mediatoren möglich.
Aber mancher Begriff hatte sowieso bereits zwei verschiedene Bedeutungen: eine vor der Diagnose und eine danach. Wenn man mit einem bestimmten Urteil, das von Person zu Person variierte, konfrontiert wurde, richtete sich auch das Wissen danach aus. Wenn man sich ungerecht behandelt fühlte, kamen vermehrt die negativen Befunde zum Vorschein. Die wenigsten ließen dann eine zusammenfassende Beurteilung zu. Wenn man sich allerdings den Zeichen mit Bedacht widmete und sie in seine bisherigen Denkzyklen integrierte, kam man vielleicht zu einer Diagnose, die das Wissen ausbalancieren konnte. Spontanes Wissen verführte die Menschen zu häufig und gekonntes Wissen fokussierte, aber ein bewegliches Wissen ließ sie ruhiger werden.
Sauermachers Patient hatte vielleicht eine Ahnung von seiner schlechten Prognose gehabt, aber die letzten Momente seines Lebens ließen ihn möglicherweise wissen: Es ist gut so, wie es ist. Er hatte zum Schluss nur Angenehmes wahrnehmen sollen, um den Stoffwechsel seines Wissens nicht zu sehr anzuregen.
Konnte man eine Philosophie leben, vielleicht eine Anleitung zu sich selbst und seiner jeweiligen Umgebung finden, um einen Ausgangspunkt seiner Fragen und Antworten zu definieren? Wissen war nicht absolut, es blieb nicht in einem Körper, war einem ständigen Wechsel unterworfen und konnte einen Menschen sogar verunsichern. Es musste ständig bearbeitet werden und führte manchmal zu einem Können.
Es galt, Sauermacher argumentative Instrumente bereitzustellen, denkend nach verschiedenen Seiten zu leben, auch in der Nachempfindung von unangenehmen Reizen. So, wie über Schmerzen der Körper einfacher wahrgenommen werden konnte.
Um 04:45 Uhr ließ er eine Schmerzpumpe erhöhen. Schmerz hatte häufig seine Warnfunktion verloren und zerstörte dann die Integrität eines Menschen, seine Abgrenzung zur Umwelt zerfiel und er geriet aus der Balance.