Der gute Mann Leidegger - Bernhard Strobel - E-Book

Der gute Mann Leidegger E-Book

Bernhard Strobel

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Beschreibung

»Weil es sich so ergeben hatte, unterhielt Leidegger seit mehreren Monaten eine Affäre.« So lapidar beginnt Bernhard Strobels zweiter Roman über einen kriselnden Mann. Die Gewissensbisse nagen an ihm, weil er seitenspringend Frau Martina mit seiner Jugendliebe Kamilla hintergeht. Als »Affärenbetreiber« steht er sich selbst im Weg, und als selbstständiger Fotograf tritt er auf der Stelle. Männliche Stereotype sind Leidegger eigentlich zutiefst zuwider und doch stülpen sich ihm Klischees immer wieder über, die er am liebsten sofort von sich reißen will. Bernhard Strobel führt den »guten Mann Leidegger« durch die Manege. Er zieht die toxische Männlichkeit so wunderbar komisch durch den Kakao und buchstabiert gewitzt durch, wie sich einer immer weiter in die Patsche reitet.

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Bernhard Strobel

 

 

 

Der gute Mann Leidegger

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literaturverlag Droschl

Es traf sich so; da liegt der Hund begraben.

Henrik Ibsen

1

 

 

 

Weil es sich so ergeben hatte, unterhielt Leidegger seit mehreren Monaten eine Affäre. Mit derselben Frau hatte er vor vielen Jahren einmal eine Beziehung gehabt, und in der langen Zeit, die dazwischen lag, hatte er eine andere geheiratet, ein Haus gebaut und eine Tochter bekommen, die jetzt elf Jahre alt war.

Ohne Zwischenfälle war die Affäre bislang vonstattengegangen, weil beide Spielpartner des geheimen Spiels alle Regeln befolgt hatten. Jetzt war etwas vorgefallen, das als ein vorsätzlicher Regelverstoß eingestuft werden musste, und sofort erblickte Leidegger darin ein Zeichen seines bevorstehenden Unglücks.

Seit drei Jahren arbeitete er als selbstständiger Fotograf in einem kleinen Studio, einem alten Werkstattgebäude, das zwei Ortschaften von seinem Wohnort entfernt lag. Er arbeitete dort in der Regel von acht Uhr morgens bis vier am Nachmittag. Nicht selten arbeitete er auswärts, im Sommer häufig auch an den Wochenenden, aber fast immer begann und beendete er seinen Arbeitstag in der Werkstatt. Auf einem Schild neben der Tür war zu lesen: »Kundenverkehr Mo–Fr von 08–12 Uhr. Termine außerhalb der Geschäftszeiten bitte telefonisch oder per E-Mail«, dazu die entsprechenden Kontaktangaben. Darunter war eine Klingel angebracht, neben der in großen Buchstaben »Bitte läuten« stand. Das Geräusch der Klingel gehörte seit langer Zeit zu seinem Arbeitsalltag, und nichts daran erschreckte ihn. Aber es erschreckte ihn, wer an diesem Tag um Viertel vor drei Uhr vor der Tür stand: Kamilla.

Es bestand die feste Vereinbarung, dass sie ihn niemals hier aufsuchen durfte. Jetzt stand sie da, und vor Schreck hätte er beinahe aufgeschrien. Sein Glück war, dass ihm das Schreien misslang, weil das Erschrecken ihm die Zunge betäubt hatte. Er fasste nach ihrem Handgelenk. Er zog sie herein, und in den wenigen Sekunden, die es brauchte, bis sie an ihm vorbei ins Werkstattinnere gestolpert war, fiel Leidegger nichts Besseres ein, als den Hals auszufahren und sinnlos den Kopf durch den kleiner werdenden Türspalt hinauszustrecken. Verstohlen blickte er sich um und bereute es sofort: Wieso um alles in der Welt blickte er sich jetzt um, und noch dazu verstohlen? Als genügte es nicht, am helllichten Tag eine Frau in ein Gebäude zu zerren, musste er dem Ganzen noch eine Verstohlenheit nachreichen. Nach links und rechts blicken, prüfen, ob die Luft rein ist, dann flugs den Kopf einziehen, wie die Schildkröte im Kinderfernsehen, und ihn durch den Türspalt verschwinden lassen – auf keiner Bühne der Welt hätte eine solche Szene bildhafter zum Ausdruck gebracht werden können. Spielen Sie verdächtiges Verhalten, aber spielen Sie es peinlich! Er fasste es nicht: Wer ihn jetzt beobachtete, musste ihn für einen Gewalttäter halten. Die Werkstatt lag an der Hauptstraße, und auch wenn es sich nicht um eine vielbefahrene Straße, erst recht nicht um eine belebte Geschäftsstraße handelte, gingen doch immer wieder Menschen hier vorbei oder standen neugierig in ihren Gärten. Vor allem ältere Leute hielten sich oft im Freien auf und grüßten ihn, wenn er die Werkstatt betrat oder verließ. Oder die Postbotin mit dem Baseballcap, die ihren gelben Kleintransporter immer ganz in der Nähe abstellte und kleinere Pakete zu Fuß in ihrem Bereich austrug; die alleinerziehende Mutter, die gern vor der Garage ihre zwei Kindergartenkinder anschrie; der einsame Alte, der so oft am Fenster stand und schaulustig den Blick überall in der Gegend umherwandern ließ; der jüngere dunkelhäutige Mann mit den Rastazöpfen, der jeden zweiten Tag mit seinen beiden Hunden auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit einem großen Rucksack zum Einkaufen ging. Nie hätte Leidegger das alles erfassen können in dem kurzen Moment, als er durch den Türspalt hinausgespäht hatte, was sein unsinniges Verhalten umso unsinniger machte. Er spürte den Ärger in sich hinaufkriechen. Gleich würde er vor lauter Ärger jemandem die Nase langziehen! Ein derart gedanken-loses Verhalten konnte nur dem Schrecken zuzuschreiben sein, und damit ihr, der Verursacherin seines Erschreckens. Sie hatten Regeln vereinbart. Trotzdem war sie gekommen, und schon blieb ihm keine andere Wahl mehr, als jenes gefährliche Versteckspiel zu veranstalten, von dem er gehofft hatte, es niemals veranstalten zu müssen.

Der Schulbus, dachte Leidegger plötzlich. Er blickte auf die Uhr, und sofort konnte er nur mehr an den Schulbus denken, mit dem seine Tochter an fünf Tagen in der Woche an der Werkstatt vorbeifuhr. Als sie noch jünger gewesen war, hatte er manchmal draußen auf der Straße auf das Vorbeifahren des Busses gewartet, um der Tochter zu winken. Wenn er nicht auswärts zu tun gehabt hatte und sich gerade niemand für einen angemeldeten Termin bei ihm in der Werkstatt aufhielt, hatte er bei jedem Wetter in geduldiger Erwartung die Ohren nach dem markanten Brummen aufgestellt und vor der Werkstatt ausgeharrt, bis das Winken erfolgen konnte. Jetzt, da sie älter geworden war, wollte sie nicht mehr winken, und seit Langem trat Leidegger nicht mehr für den Schulbus hinaus auf den Gehweg. Aber der Bus mit seiner Tochter darin tuckerte ja nichtsdestoweniger täglich dort draußen vorbei, und ein Bus hatte Fenster, sehr große Fenster. So gut wie alles aus der vorbeiziehenden Welt konnten neugierige Kinderaugen durch diese übergroßen Fenster in sich aufsaugen! Auch einen Mann, der ein Frauenhandgelenk umfasste und rüpelhaft die daran hängende Frau in ein Haus zerrte. Den ganz besonders! Auf der Stelle versuchte er, in Gedanken bis zu der Szene zurückzuspulen, als er nach dem Klingeln die Tür geöffnet hatte und Kamilla auf der Bildfläche erschienen war. Hatte etwas großes Gelbes sich durch sein Gesichtsfeld bewegt? War da ein Brummen gewesen? Das altbekannte Geräusch, das er auch jetzt bei offenem Fenster oft hörte und in gerührter Erinnerung an vergangene Zeiten genießerisch in sich aufnahm? Es brummte. Jetzt brummte es in seinem ganzen Schädel! Dass der Schulbus ausgerechnet im allerungünstigsten Augenblick vorbeigefahren sein sollte, war wenig wahrscheinlich. Aber es war die Möglichkeit, nicht die Wahrscheinlichkeit, die ihm das Hirn zerfraß.

Hinzu kam, dass Leidegger von Anfang an befürchtet hatte, sich früher oder später zwangsläufig mit Unannehmlichkeiten dieser Art herumschlagen zu müssen. Fing es nicht immer so an? Wurden Affären bekanntermaßen nicht immer deshalb aufgedeckt, weil jemand an einem Ort auftauchte, an dem ein Auftauchen verboten war? Weil einer der Spielpartner die Regeln brach, weil Abmachungen nicht eingehalten, grundlegende Verbote missachtet wurden? Hatte er nicht immer befürchtet, dass etwas wie das eintreten würde und dass mit diesem ersten Eintreten zwingend das tragische Ende eingeläutet würde? Doch, das hatte er. Und jetzt, oh Wunder, war es tatsächlich eingetreten. Noch mehr als Ereignisse, die ungeahnt eintraten, verabscheute Leidegger alles vorhergesehen Eintretende. Ereignisse, die er bereits vorausbefürchtet und geistig vorauserlebt hatte und die dann so einfallslos waren, sich tatsächlich zu ereignen, waren ihm zutiefst unerträglich. Die sich selbst erfüllende Prophezeiung war ihm unter allen Alltagsstörungen die am meisten verhasste, und doch war er ihr unübertroffener Meister. Jetzt stand in seinem privaten Werkstattstudio die Gestalt gewordene Prophezeiung, und die Bestürzung ließ ihm den Speichel im Maul aufwallen.

»Meine Tochter fährt jeden Tag mit dem Schulbus dort draußen vorbei!«, rief er und zeigte auf das Fenster zur Hauptstraße. Er war sehr nahe an Kamilla herangetreten und konnte Spuren seines eigenen Speichels auf ihrem Gesicht entdecken; sie glitzerten wie Pailletten oder ein grotesker Körperschmuck in dem einfallenden Sonnenlicht. Bevor sie Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, schoss es ihm ein: Anstatt das Kind beim Namen zu nennen, hatte er »meine Tochter« geschrien. Es wurmte ihn, dass ihm dies passiert war, denn er empfand es wie eine Verleugnung. Und nichts anderes war es, eine Verleugnung. Jeder dahergelaufene Hobbypsychologe hätte aus dieser sprachlichen Fehlleistung sofort die verdrängten Schuldgefühle herausanalysieren und ihm damit vor der unbewussten Nase herumfuchteln können: Haben Sie bemerkt, Herr Leidegger, was soeben passiert ist? Warum, glauben Sie, ist Ihnen das passiert? Fällt es Ihnen schwer, in Gegenwart dieser anderen Frau den Namen Ihres Kindes auszusprechen? Warum, glauben Sie, fällt Ihnen das schwer?

Aber es fiel ihm doch gar nicht schwer!

»Selina! Sie heißt Selina!«, rief er.

»Aber das weiß ich doch«, sagte Kamilla.

»Ja. Du musst wieder gehen.«

»Glaubst du wirklich, sie hat uns gesehen?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht.«

»Ist der Bus vorbeigefahren?«

»Ich weiß nicht.«

»Kennt sie mich denn überhaupt?«, fragte sie. »Hat sie mich jemals gesehen?«

»Ich weiß es nicht!«, rief er, und in seinem Kopf war nur ein einziger Gedanke: sie genauso schnell wieder hinauszuschaffen, wie er sie hereingeschafft hatte. Nun, ganz genauso schnell nicht, da er keineswegs wünschte, der Auffälligkeit des Hineinzerrens noch diejenige des Hinauswerfens folgen zu lassen. Seine Vorstellung war, je kürzer Kamilla hier sei, desto weniger schlimm wäre es in allen Belangen. Je kürzer der Regelbruch, desto harmloser die Folgen – dieser Leitsatz, soeben ersonnen, schien plötzlich logisch wie ein Naturgesetz. Der naheliegende Plan war, Kamilla hinauszubegleiten wie eine gewöhnliche Kundin. Er dachte: Sie hatte einen Termin, und du wirst dich verflucht nochmal zusammenreißen und mit ihr verfahren wie mit jeder anderen Person, die dich für ein Passfoto oder eine Besprechung für eine Hochzeit aufgesucht hat. Es verwunderte ihn, wie gut seine eigenen gedachten Worte auf ihn wirkten. Da sie so gut funktionierten, legte er noch ein paar nach: Es ist ganz einfach, du darfst nur nichts Übertriebenes, Auffälliges, Emotionales in dein Verhalten einschleichen lassen. Auch bei ihrem Erscheinen wäre diese Herangehensweise als einzig vernünftige angebracht gewesen, das war Leidegger klar. Weil sich die Zeit nicht zurückdrehen ließ, er sich jedoch verständlicherweise gern zu der Sorte Menschen zählen wollte, die aus Fehlern klug werden, schritt er in Gedanken schon eilig voran in der Vorbereitung seines Projekts von Kamillas Hinausbegleitung. Tür öffnen, Tür aufhalten, hinaustreten, lächeln, nichtssagende Worte wechseln, zur Verabschiedung ein Händedruck, hineingehen und Tür schließen, der Person nicht nachblicken. Keinesfalls durfte er den Fehler begehen, ihr nachzublicken. Sowie er das dachte, überfiel ihn schon wieder der Ärger. Das alles klang sehr verdächtig nach einem Unternehmen, bei dem erst recht etwas schiefging. Übertriebene Vorsicht machte gern Striche durch Rechnungen, das war allgemein bekannt. Wer hat nicht schon einmal bewusst auf die eigene Atmung geachtet und auf der Stelle einen Keuchanfall bekommen? Oder war bei dem Vorhaben, einen verletzten Ellbogen vor schmerzhaften Berührungen zu bewahren, prompt dreimal hintereinander gegen den Türstock geknallt? Leidegger war es. Wenn das Planen und Aufpassen nicht half, blieb nur mehr das Hoffen, das Glück – genau das, was er in seiner Ehebruchsbetätigung um jeden Preis ausschalten wollte. Aber was war denn nun der erfolgversprechendere Weg, aufpassen oder nicht aufpassen? Wie sol-lte er vorgehen, damit bei dem gespielten Gewohnheitsmäßigen nicht das Gespielte, sondern das Gewohnheitsmäßige die Oberhand behielt? Dass er plötzlich zum Darsteller seiner eigenen unbewussten Routinen werden musste und sein Arbeitsplatz zu einer Bühne, stieß Leidegger überaus sauer auf.

»Ich sehe, du wirfst mich hinaus«, sagte Kamilla.

»Das hast du sehr richtig erkannt. Wir hatten eine Abmachung.«

»Die du praktisch im Alleingang getroffen hast.«

»Und du warst damit einverstanden.«

»War ich das?«

»Was wäre, wenn Martina plötzlich auftauchen würde?«

»Du hast gesagt, deine Frau kommt nicht bei dir in der Arbeit vorbei, weil sie selbst in der Arbeit ist. Denkst du, sonst wäre ich gekommen?«

»Oder Selina könnte an der nächsten Haltestelle aussteigen und mich besuchen.«

»Macht sie das denn?«

»Früher manchmal, jetzt nicht mehr.«

Sie nickte und fing schon an, mit neugierigen Blicken in der Werkstatt um sich zu werfen.

»Aber sie könnte es tun!«, sagte er.

»Ich verstehe. Sie tut es nicht, könnte es aber tun. Sie hat mich noch nie gesehen und weiß nicht, wer ich bin. Da muss man große Angst haben, das ergibt Sinn.«

»Ja, tut es. Es macht mir keinen Spaß, dich hinauszuwerfen, aber ich halte es nicht aus, dich hierzuhaben. Ich wollte es nie so weit kommen lassen, dass etwas in Zusammenhang mit uns mich dermaßen nervös macht. Im Übrigen werde ich dich nicht hinauswerfen, sondern dich höflich hinausbegleiten. Du bist eine Kundin, du hattest einen Termin.«

»Eine Kundin also, na schön. Darf eine Kundin denn das hier?«, sagte sie halb im Ernst, halb im Scherz, und schickte sich an, eine Intimität an ihm zu begehen. Er trat einen Schritt zurück. Er kam sich vor wie in einer Schmierenkomödie. Obgleich seiner Verbindung mit Kamilla, wie wohl fast allen Affären, vornehmlich die Sexualbetätigung zugrunde lag, war aus begreiflicher Ursache daran nicht zu denken. Dachte sie denn daran? Sofort glaubte Leidegger zu wissen, was sich in Kamillas Fantasie vor ihrem Besuch zugetragen hatte: ein abenteuerlicher Liebesakt in den Räumlichkeiten einer alten Werkstatt. Auf der Werkbank, zwischen moderner Fotoausrüstung und antiquiertem Handwerkszeug, in dem romantischen Geruch, den sie sich (und das allerdings wahrheitsgemäß) muffig und ölig und holzig vorstellte. In der Dunkelkammer. Wer träumte nicht von Sex in der Dunkelkammer? Gab es nicht eine bekannte Filmszene, die in so einem Raum stattfand? Zwar hatte es tatsächlich einmal eine Dunkelkammer hier gegeben, doch sie wurde praktisch kaum mehr als solche genutzt. Das konnte Kamilla nicht wissen, aber es spielte auch keine Rolle – die Vorstellung allein hatte ihr genügt. War es wirklich das, was sie wollte, den Kitzel des Verbotenen in der nostalgischen Kulisse eines alten Werkstattgebäudes? Er sah vor sich, was er glaubte, was sie vor sich sah, doch die Erregung blieb aus. Hatte sie allen Ernstes geglaubt, sie brauche bloß ohne Vorwarnung hier aufzutauchen, ihn in seine eigene Werkstatt hineinzulocken, und sofort würde er wie ein mechanisches Aufziehspielzeug vor geifernder Geilheit aus allen Nähten platzen. Und darüber alle Verbote, Vorsätze und Abmachungen über den Haufen werfen!

»Ich meine es ernst«, sagte er und schob sie zur Tür.

Da sie merkte, wie wenig er zum Spaßen aufgelegt war, spielte Kamilla artig das Spiel mit. Und wie gut sie es spielte! Erschreckend gut, viel besser als er selbst. Wie sie ihm beim Hinaustreten diskret lächelnd die Hand hinstreckte und »auf Wiedersehen« sagte, sogar in einer anderen Stimmlage, tiefer, als er es von ihr kannte. In demselben geschäftsmäßigen Tonfall sagte sie jetzt gut vernehmbar: »Es bleibt bei dem Termin morgen um 13:00?«, worauf er nur ein dümmliches Nicken zustande brachte. Während der Fotograf Leidegger größte Mühe aufbringen musste, den Fotografen Leidegger zu spielen, schlüpfte sie vor seinen Augen in eine neue Rolle wie andere in ein frisches Paar Socken. Was für eine begabte Schauspielerin sie ist, dachte er fast stolz und wünschte sich für einen Moment, jemand wäre hier draußen unterwegs und würde sie hören. Seht, was für eine großartige Schauspielerin ich hier habe, würde er denken und die Wonne genießen, die daraus entstand, dass niemand außer ihnen selbst das Schauspiel als solches erkannte. Aber da war niemand, und mit einer Mischung aus Wehmut und Beglückung erfüllte ihn die Erkenntnis, dass der gespielte Abschied zugleich ein echter war; sie wusste es nur noch nicht. Es war Zeit, den Schlussstrich zu ziehen. Selbstverständlich hatte er sich in Gedanken an seine Ehe schon oft geschworen, das Verhältnis zu beenden, jedes Mal eigentlich, nachdem er bei ihr gewesen war. Aber er hatte es nicht getan. Jetzt hatte er einen Anlass. Voller Entschlossenheit stand er in der Tür, blickte ihr nach und dachte: Endlich ein Anlass!

Der Entschlossenheit folgte Erleichterung, als er sie ins Auto steigen und kurz darauf in der Kurve verschwinden sah. Er trat in die Werkstatt und atmete auf. Er fühlte sich schlecht, weil er sie hinausgeworfen hatte; er wollte ein Gentleman sein, aber zu seinen Bedingungen. Beinahe kam es ihm selbst ein wenig übertrieben vor, wie er reagiert hatte, aber gegen seine Gefühle hatte er noch nie viel ausrichten können. Er war hochgradig erleichtert. Er genoss die Erleichterung und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, wann er das letzte Mal derart erleichtert gewesen war. Beim Erwachen aus einem Albtraum? Nach dem Hautarztbesuch, als ein dunkler, verdächtig aussehender Fleck unter der Achsel sich als eine gemeine Alterswarze herausgestellt hatte? Es war ein Gefühl, wie wenn etwas Schweres von ganz weit oben in ihm hinunterfiele, beim Auftreffen jedoch keinen Schaden verursachte. Er erinnerte sich an das Gefühl aus seiner Kindheit, als die erwartete Strafe ausblieb, nachdem er beim unerlaubten Fußballspielen im Hof eine Scheibe kaputtgeschossen hatte, oder an das eine Mal, als seine Mutter von der Lehrerin in die Schule zitiert und er irrtümlich für etwas beschuldigt worden war, das ein anderer getan hatte. Sofort wünschte er sich, viel öfter erleichtert sein zu können, am liebsten einmal pro Tag. Für solche Gefühle lebte der Mensch! An der Unsinnigkeit eines Wunsches nach aufrichtiger Erleichterung störte Leidegger sich nicht, denn es war ein schöner Wunsch.

Dann fiel es ihm ein: Er hatte Kamilla nachgeblickt! Auf diesen Aspekt seines Plans hatte er in seiner blödsinnigen Bewunderung ihrer Schauspielkünste rundweg vergessen. Es hatte also begonnen. Von jetzt an würde alles seinen unaufhaltsamen Gang gehen. Er wusste es. Alle wussten das doch! Der Stein, der ins Rollen gebracht wird, der Anfang vom Ende, Dominoeffekt, Kettenreaktion, Initialzündung – alles Bezeichnungen für ein und dasselbe. Wer einmal eine Regel bricht, dachte er, denn von irgendwoher glaubte er zu wissen, dass ein erster Regelbruch immer nur den Anfang einer ganzen Reihe von Regelbrüchen darstellte, und am Ende wartete das unschöne Finale, das große Zusammenkrachen.

Was war das heute für ein heilloses Durcheinander an Gefühlen! Ärger, Entschlossenheit, Wehmut, Bewunderung, Erleichterung, dann wieder der Ärger, und alles wollte gleichzeitig drankommen. Er kam sich vor wie der einzige Angestellte in einem Vermittlungsbüro für Emotionen, aber in diesem Büro war die Rebellion ausgebrochen. Keine hielt sich mehr an die Reihenfolge, alle waren aufgesprungen und wuselten wild umher, die Nummernanzeige war von der Wand gerissen, im Wartebereich lagen die Stühle umgekippt, alle schrien und schimpften durcheinander, aber hauptsächlich gegen ihn, der bestürzt hinter dem Schalter stand und hilflos bedrängt wurde. Er wollte gern etwas kaputtschlagen. Doch alles, worauf sein Blick fiel, war entweder Teil seiner Arbeitsausrüstung oder zu massiv, um von Menschenhand zertrümmert zu werden. Die Kaffeetasse, her mit der Kaffeetasse! Schon war er auf dem Weg zu dem kleinen Tisch, auf dem die Kaffeemaschine und Tassen standen, als auf seinem Telefon eine Textnachricht gemeldet wurde. Sie kam von Kamilla: »Du alter Regelfetischist! Hab nicht gewusst, dass dich das soooo nervös macht.« Herzchen und Küsschen folgten, und Leidegger musste lange überlegen, was er antworten sollte. Er starrte die Symbole an, die ihn als scheinbar unmissverständliche Zeichen der Zuneigung anstrahlten. Er starrte so lange, bis seine Augen von der stechenden Helligkeit des Displays zu tränen begannen. Etwas an diesen Symbolen störte ihn. Sie passten nicht zu dem letzten Eindruck, den er von dem Gesicht der Person, die sie verschickt hatte, noch so frisch im Kopf hatte. Es war das Gesicht einer Schauspielerin, ein gefälschtes Gesicht, und er wurde den Eindruck nicht los, auch aus den Symbolen spräche etwas Gefälschtes, Geschauspielertes. Weil er selbst so gut wie nie Symbole verschickte, konnte er schwer nachvollziehen, warum andere es taten, noch schwerer mit diesem Gesicht vor Augen. Dass ein Gesicht sich veränderte und es wahrscheinlich nicht mehr dasselbe Gesicht war, das diese Nachricht gesendet hatte, war für Leidegger leicht vorstellbar, aber sein unschönes Gefühl erfuhr dadurch keine Aufhellung. Er traute diesen Herzchen und Küssen nur mit Einschränkung. Als Antwort schrieb er, obwohl er am liebsten gar nicht geantwortet hätte: »Schon gut. Wir sehen uns morgen«, dann löschte er die Textnachrichten. Da sein privates Handy zugleich sein Diensthandy war, entfernte er immer alle von Kamilla empfangenen oder an sie gesendeten Nachrichten und Anrufe.

In dem Versuch, das Vorgefallene schnellstmöglich in das weite Reich der Verdrängnisse abzuschieben, zwang er sich zum Weiterarbeiten. Er musste Fotos bearbeiten und auf Datenträgern speichern, eine Auswahl treffen, wie es von dem Kunden gewünscht wurde, die Bilder in fünfzig Porträtmappen einordnen und für den Versand fertig machen. Nichts davon gelang ihm mit der nötigen Aufmerksamkeit. Stur versuchte er, den Blick auf den Bildschirm gerichtet zu halten, doch immer drehten seine Augen von selbst in eine andere Richtung ab, wie ein Hund, der links und rechts alles beschnüffelt, seinen Urin verspritzt oder sein Häufchen macht, und immer musste er ihn unter erheblicher Anstrengung an der Leine zurückziehen. Erfreut bemerkte er den Eingang einer E-Mail, die er sich sofort durchlas, die sich aber lediglich als eine Terminbestätigung herausstellte und keine Antwort erforderte. Er kramte das Handy aus der Tasche und überprüfte die Terminliste für morgen. Er steckte es wieder weg, klickte sich gedankenlos durch die Ordner auf dem Laptop, und plötzlich tauchte eine Erinnerung auf: der kurze Anblick von Kamillas Blusenausschnitt, der sich geöffnet hatte, als er sie in die Werkstatt hineingezogen hatte. Sogleich spürte er, wie in der Enge seiner Unterhose eine Erregung stattfand. Nun war es also doch noch zu einer Erregung gekommen an dem Ort, an dem er sich eine Erregung unter allen Umständen verbieten wollte. Eine solche Erregung konnte er nicht gebrauchen! Er mochte Regeln, weil sie Sicherheit gaben. Die Regel besagte: Die Affäre nicht an den Arbeitsplatz kommen lassen, am besten nicht einmal in Gedanken. So war es am sichersten. Jetzt, wo alles schon vorbei und Kamilla nicht einmal mehr hier war, auf diesen jahrtausendealten Sexualitätstrick hereinzufallen, machte ihn nur noch arbeitsunfähiger.

Krachend klappte er den Laptop zu und hüpfte vom Sessel auf. Er zog sich um. Er knipste die Sicherheitsschalter an den Verteilerdosen aus. Er sperrte den Spind, den Schreibtisch, die Eingangstür ab. Dann ging er, ohne auf die Uhrzeit zu achten. Erst im Auto bemerkte er, dass er um einiges früher als sonst aufgebrochen war. Und er fuhr schnell, zu schnell. Eigentlich fuhr Leidegger selten schnell mit dem Auto. Seit er Vater geworden war, hatte er sich hohe Geschwindigkeiten beim Autofahren praktisch ganz abgewöhnt. Noch immer klebte auf seiner Heckscheibe der Aufkleber: »Selina fährt mit«. Wie die meisten Eltern hatte er ihn angebracht, um die anderen Verkehrs-teilnehmer zur Vorsicht anzuhalten, obwohl er selbst sich von solchen Botschaften eher angegriffen fühlte. Einerseits hatte er keinen Bedarf, die Namen ihm völlig fremder Kinder zu erfahren, die ihm, sofern sie nur ausgefallen genug waren, für immer im Gedächtnis blieben – Madison fährt mit, Kimberly fährt mit, Odysseus fährt mit; auf der anderen Seite sollte im Straßenverkehr ganz allgemein das Gebot der Vorsicht vorherrschen, nicht bloß Kindern gegenüber. Er empfand es immer aufs Neue als eine Beleidigung, wenn ihm mit solchen emotionalen Botschaften unterstellt wurde, sich rücksichtslos gegen Fahrzeuglenker zu verhalten, nur weil sie kinderlos waren oder keine Lust hatten, ihre Scheiben mit Stickern zu bekleben. Sofort drosselte er das Tempo, als ihm aufging, wie hirnverbrannt rasend er über die Fahrbahn fegte. Und weil ihm bewusst wurde, wie lächerlich er sich benahm: ein emotional durchgebeutelter Mann, der sich als irrer Fahrzeuglenker betätigte – was für ein bitter peinliches Klischee! Wie viele Männer wohl schon aus den Straßengräben der Welt herausgefischt worden waren, weil sie sich in ihren selbstverschuldeten Liebesverstrickungen nur mehr durch schnelles Autofahren zu helfen gewusst hatten. Auf diese Peinlichkeit wollte er gern verzichten.

Vor dem Haus angekommen, beruhigte er sich mit dem Gedanken, durchaus nicht zum ersten Mal vor seiner gewohnten Zeit von der Arbeit zurückzukehren. Da es jedoch nicht sehr häufig vorkam – wenn er nicht zur üblichen Zeit heimkam, dann fast immer später –, rechnete er mit einer Bemerkung. Selina stand im Wohnzimmer, als er hereinkam, sagte: »Papa!«, und schon wartete er nur mehr auf den Zusatz: »Du bist heute früher da!« Aber es kam nichts. Meistens saß sie bei seiner Ankunft bereits am Esstisch, mit Zeichnen und Hausaufgaben beschäftigt. Heute hatte sie noch nicht einmal ihre Schultasche ausgeräumt, stand noch tatenlos im Wohnzimmer, und es überraschte Leidegger, keinerlei Anzeichen der Überraschung an ihr festzustellen. Auch Martina, die wenige Meter von ihm entfernt stand, erwähnte mit keinem Wort seine verfrühte Heimkehr. Sie umarmte ihn kurz, gab ihm einen Kuss und drehte sich wieder zur Kaffeemaschine. Ein nagendes Gefühl drückte ihn: Die Überraschung blieb aus, und sofort überraschte Leidegger das Ausbleiben der Überraschung. Weil er selbst im höchsten Grad durcheinander war, glaubte er, es müsse überall an ihm abzulesen sein. Es ist ihnen nichts aufgefallen, du darfst erleichtert sein, sagte er sich. Aber es ging nicht. Eine Erleichterung gelten zu lassen, war ihm nicht möglich, weil er ihr nicht über den Weg traute – er war heute schon einmal nach einer Erleichterung hinterlistig von anderen Emotionen überfallen worden. »Nichts mehr zu tun heute«, hätte er, zur Uhrzeit befragt, sagen müssen, was nicht der Wahrheit entsprach. Zum ersten Mal lügen müssen, davor ängstigte er sich am meisten. Er verheimlichte, hinterging, betrog, aber seit seiner ersten Wiederbegegnung mit Kamilla hatte er keine einzige Unwahrheit offen aussprechen müssen. Einzig die Gewissheit, zur Gänze ohne Lügen auszukommen, hatte Leidegger die Affäre überhaupt erst eingehen lassen. Zum einen hielt er sich für einen schrecklich schlechten Lügner. Zum andern zog eine erste Lüge bekanntlich stets eine weitere nach sich, dann noch eine und noch eine bis zu dem berüchtigten Lügengebäude, das, wie jedes Kind wusste, früher oder später krachend einstürzte. Es war wie mit den Regelbrüchen. So gesehen war es völlig gleichgültig, wie viele Lügen am Ende entstanden, denn da auf die erste zwingend immer weitere folgten, war im Grunde mit der ersten schon alles entschieden, alles verloren, das hatte schon der Vater ihm eingebläut. »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht« und »Du sollst nicht lügen« waren Floskeln, die sich Leidegger dermaßen tief ins Gehirn eingebrannt hatten, dass daraus eine seiner schlimmsten Ängste hervorgegangen war.

Das Glück oder der Zufall ersparte ihm das Lügen für dieses Mal. Nicht verschont dagegen wurde er von der Unkonzentriertheit. Sie setzten sich an den Tisch, wo Selina schon ihre Sachen auszubreiten begann, die Kaffeetassen standen bereit, die Kaffeemaschine gurgelte wohltuend im Hintergrund, und noch mit Gedankensplittern des heutigen Vorfalls im Kopf rührte Leidegger sinnbildlich die leere Luft in der Tasse. Mehrmals musste Martina eine Frage zwei- oder dreimal stellen, bevor er antwortete, und dass er noch immer die Straßenschuhe anhatte, fiel ihm erst auf, als er sich schon zu Selina hinübergebeugt hatte, um zu sehen, was es heute für ihn zum Ausmalen gäbe. Er stand noch einmal auf, um sich die Schuhe auszuziehen. Doch anstatt in den Garderobenraum, bog er in Richtung WC ab. Er musste sich konzentrieren. Zurück am Tisch, begann er direkt mit dem Ausmalen, aber von einer Konzentration war er weit entfernt. Du wirkst zu zerstreut, sagte er sich. Wurde diese Zerstreutheit auch von den anderen bemerkt oder fiel es Selina nicht auf, dass er beim Ausmalen nicht bei der Sache war, dass er plötzlich die falsche Buntstiftfarbe verwendete, nicht die von Selina schon vor seiner Hand abgelegte, und gedankenverloren in die Schachtel hineingriff, um einen x-beliebigen Stift herauszusuchen? Sie liebte das Zeichnen, aber das stupide Ausmalen liebte sie nicht, das durften immer öfter die Eltern erledigen. Die Eltern waren mit der Zeit ziemlich versiert im Ausmalen geworden. Sie malten aus, was ihnen aufgetragen wurde, und sie malten geduldig. Aber doch nicht mit selbst ausgesuchten Farben! Wenn der Vater früher nach Hause kam und zudem die Unverschämtheit beging, eigenmächtig die Farbstifte auszuwählen, musste das früher oder später auffallen. Fiel es Martina ebenfalls auf, die daneben saß und abwechselnd ausmalte, eine Rechenaufgabe in einem der Schulhefte überprüfte, Kaffee trank oder nachschenkte? Ich muss weniger abgelenkt wirken, ermahnte sich Leidegger und spürte in derselben Sekunde, wie das Unterfangen, weniger abgelenkt zu wirken, ihn nur umso mehr ablenkte. Zusätzlich zu den Gedanken, die ihn eigentlich ablenkten, lenkte ihn nun obendrein der Gedanke an das Nicht-abgelenkt-Wirken ab. Gewiss würde er bald den Farbstift verkehrt herum auf dem Papier ansetzen oder sich den Kaffee anstatt in die Gurgel in den Hemdausschnitt hineingießen. Wenn es irgendwo Selbstbeherrschung zu kaufen gäbe, würde er auf der Stelle zuschlagen, und kein Cent wäre vergeudet. Zum Teufel, es musste doch möglich sein, sich vom Abgelenktsein abzulenken! Ausmalen, sagte er sich, einfach ausmalen.

Allmählich spürte er, wie dieses Vorgesagte einigermaßen beruhigend auf ihn wirkte, wie eine Konzentrationsübung. Er malte aus, was die Tochter zeichnete. Wenn er fertig ausgemalt hatte, zeichnete sie weiter. Das war ein Spiel, das sie oft stundenlang gespielt hatten: Wer war schneller, er mit dem Ausmalen oder sie mit dem Zeichnen? Dazwischen wurde sie immer wieder von Martina nach einer englischen Vokabel gefragt oder aufgefordert, eine Rechnung der Mathematikaufgabe fertigzustellen. Weil ihr das Rechnen und überhaupt das Lernen leichtfielen, erlaubten sie es Selina, nebenbei zu zeichnen. Sie war eine überdurchschnittlich begabte Zeichnerin, und auf eine Art und Weise, die den Eltern nicht erklärlich war, schien das Zeichnen ihr zu besserer Konzen-tration zu verhelfen. Nur wenn sie zeichnen durfte, gestalteten sich das Lernen und Erledigen der Hausaufgaben ohne Reibungen und sogar unter Einwirkung einer mäßigen Freude, wenn sie, wie meistens, eine Rechnung richtig gelöst oder ein englisches Verb korrekt in den Lückentext eingesetzt hatte. Plötzlich erinnerte sich Leidegger, wie sie vor einem halben Jahr über einen gewissen Zeitraum pausenlos zu Gesprächen in die Schule bestellt worden waren, weil die Tochter auch in der Schule immer weiter gezeichnet und überallhin, auf jede erdenkliche Stelle, ihre Figuren gemalt hatte. Gefühlt einmal die Woche hatten er oder Martina einen Arbeitsvormittag opfern müssen, um die unveränderten Klagen und didaktischen Weisheiten der Lehrerin über sich hinrieseln zu lassen. Daran dachte er in dem Moment, und um weniger abgelenkt zu wirken, sagte er halb zur Tochter, halb zu Martina:

»Wisst ihr noch, wie wir andauernd in die Schule bestellt worden sind, weil du das Zeichnen nicht sein lassen konntest?«

»Wissen wir«, sagte Selina.

»Ich musste nur auf einmal wieder daran denken.«

»Du erzählst das echt oft«, sagte die Tochter und schnaufte gelangweilt. Schwerlippig lächelte er und nickte, weil er befürchtete, sich damit nun verraten zu haben. Im nächsten Moment aber wurde derselbe Gedanke sofort wieder von Leidegger revidiert. Wenn es stimmte, was Selina gesagt hatte, wenn er dieselbe Geschichte schon sehr oft erzählt hatte und alle nur mehr gelangweilt davon waren, musste doch gerade aus dieser Wiederholung nicht eine Auffälligkeit, sondern ganz im Gegenteil eine Unauffälligkeit entstehen, eine Normalität. Sogleich beglückwünschte er sich rückwirkend für diese Taktik, die er gar nicht willentlich angewandt hatte, und es entstand in Leidegger schließlich doch eine Erleichterung, und er wurde ruhiger.