Der innere Stammtisch - Ijoma Mangold - E-Book

Der innere Stammtisch E-Book

Ijoma Mangold

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Beschreibung

Ijoma Mangold führt ein politisches Tagebuch und notiert darin die Ereignisse unserer Gegenwart. Er beschreibt, was er auf der Weihnachtsfeier der «Zeit» und am Rande der Berlinale erlebt, dass sein Sportlehrer sich nie angeschnallt hat und warum Greta ihn triggert. Im Januar erklärt Helena, eine russlanddeutsche Bekannte, ihm ihren Feminismus, im Februar denkt er über das Wahlergebnis in Hamburg nach, im März stellt er fest, dass der «Decamerone» bei Dussmann ausverkauft ist. Wegen Corona. Verwundert blickt er auf die, denen einerseits «Tugendterror» oder «Multikulti-Romantik», andererseits «Agism» oder «Faschismus» leicht von den Lippen gehen. Deutlich wird bei seinen Begegnungen, dass die Basis, auf der wir jeden Tag Urteile fällen und Entscheidungen treffen, schmal und schwankend ist. Und doch ist sie alles, was wir haben. Die alte Eindeutigkeit ist aus der Politik verschwunden. Sie wurde ersetzt durch Reflexe und Schnappatmung, durch Wut und Widersprüchlichkeit. Doch gerade dieses Unreflektierte, die Affekte, der Stammtisch, der permanent nur für uns selbst in uns zu hören ist, ist das, so Mangold, was das Politische im Tiefsten ausmacht. Wie wir zu Meinungen kommen, wie wir es uns gemütlich einrichten mit ihnen und wie wir sie im besten Fall auch mal wieder loswerden – darum geht es in diesem Buch der Selbstbeobachtung. Es ist ein Text der Zeitdiagnostik entstanden, der eine Darstellung des politischen Gegenwartstheaters durch einen aufmerksamen Insider ist und gleichzeitig eine politische Anthropologie.

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Ijoma Mangold

Der innere Stammtisch

Ein politisches Tagebuch

Über dieses Buch

Ijoma Mangold führt ein politisches Tagebuch und notiert darin die Ereignisse unserer Gegenwart. Er beschreibt, was er auf der Weihnachtsfeier der «Zeit» und am Rande der Berlinale erlebt, dass sein Sportlehrer sich nie angeschnallt hat und warum Greta ihn triggert. Im Januar erklärt Helena, eine russlanddeutsche Bekannte, ihm ihren Feminismus, im Februar denkt er über das Wahlergebnis in Hamburg nach, im März stellt er fest, dass der «Decamerone» bei Dussmann ausverkauft ist. Wegen Corona. Verwundert blickt er auf die, denen einerseits «Tugendterror» oder «Multikulti-Romantik», andererseits «Agism» oder «Faschismus» leicht von den Lippen gehen. Deutlich wird bei seinen Begegnungen, dass die Basis, auf der wir jeden Tag Urteile fällen und Entscheidungen treffen, schmal und schwankend ist. Und doch ist sie alles, was wir haben.

 

Die alte Eindeutigkeit ist aus der Politik verschwunden. Sie wurde ersetzt durch Reflexe und Schnappatmung, durch Wut und Widersprüchlichkeit. Doch gerade dieses Unreflektierte, die Affekte, der Stammtisch, der permanent nur für uns selbst in uns zu hören ist, ist das, so Mangold, was das Politische im Tiefsten ausmacht. Wie wir zu Meinungen kommen, wie wir es uns gemütlich einrichten mit ihnen und wie wir sie im besten Fall auch mal wieder loswerden – darum geht es in diesem Buch der Selbstbeobachtung. Es ist ein Text der Zeitdiagnostik entstanden, der eine Darstellung des politischen Gegenwartstheaters durch einen aufmerksamen Insider ist und gleichzeitig eine politische Anthropologie.

Vita

Ijoma Mangold, geboren 1971 in Heidelberg, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in München und Bologna. Nach Stationen bei der «Berliner Zeitung» und der «Süddeutschen Zeitung» wechselte er 2009 zur Wochenzeitung «Die Zeit», deren Literaturchef er von 2013 bis 2018 war. Inzwischen ist er Kulturpolitischer Korrespondent der Zeitung. Zusammen mit Amelie Fried moderierte er die ZDF-Sendung «Die Vorleser». Außerdem gehört er zum Kritiker-Quartett der Sendung «lesenswert» des SWR-Fernsehens. 2017 erschien «Das deutsche Krokodil». Mangold lebt in Berlin.

«Und dies Mit-sich-selbst-Sprechen ist ja im Grunde das Denken.»

Hannah Arendt

2019

Dienstag, der 17. September

Noch drei Tage bis zur großen Fridays-for-Future-Demo. Die vierjährige Tochter meiner Nachbarin ist ganz aufgeregt: Ihre Kita legt zwar nicht die Arbeit nieder, möchte aber ein Zeichen setzen, deshalb sollen die Kinder an diesem Tag in grünen Kleidern zur Kita kommen. Da kaum einer was Grünes im Kleiderschrank habe, fügt die Mutter hinzu, würden alle vorher noch hektisch shoppen gehen.

Mittwoch, der 18. September

Mein Charaktermakel ist Trotz. Was habe ich nicht schon für Unbeherrschtheiten aus Trotz begangen. Eigentlich bin ich auf Harmonie aus und eher konfliktscheu, aber was politische oder weltanschauliche Meinungen betrifft, ertrage ich Harmonie so wenig wie der Teufel das Weihwasser. Wenn Leute in Gesellschaft ihre Ansichten vortragen, als wären sich im Raum alle einig, man ist ja unter seinesgleichen, kriege ich Beklemmungszustände – sogleich vertrete ich die Gegenposition. Was für unsinnige, gewollt originelle Thesen habe ich nicht schon aus Trotz in die Welt posaunt … Es wäre zu viel der Ehre, mich deshalb als einen Garanten von Pluralität zu sehen, in Wahrheit sind meine Motive niedrig: In meinem Herzen verspüre ich eine tiefe Befriedigung darüber, meinem Gegenüber seine Borniertheit vorgeführt, ihm gezeigt zu haben, dass man die Dinge auch anders sehen kann. Lebte er bis eben doch in dem Irrtum, dass man unter zivilisierten Menschen gar nicht anders könne, als seiner Meinung zu sein. O doch. Und sei es aus Trotz. Auch der Ketzer, leider, ist ein Besserwisser.

Früher ließ ich Abendgesellschaften fremdeln, indem ich für Steuersenkungen eintrat oder über die hohe Staatsquote schwadronierte. Man kann es sich kaum mehr vorstellen, aber über solche Fragen wurde tatsächlich einmal gestritten. Kopfpauschale oder Bürgerversicherung, Austeritätspolitik oder Schuldenerlass für Griechenland – solch trocken-sachliche Problemfelder mobilisierten vor noch gar nicht so langer Zeit politische Emotionen.

2015, im langen Herbst des Missvergnügens, konnte man dann jede Party crashen, indem man sich für den befestigten Grenzschutz aussprach, ja schon das Wort mit seinem DDR-Schießbefehl-Sound in den Mund zu nehmen war eine Provokation. In letzter Zeit jedoch unterlaufen mir gewisse Entgleisungen, wenn das Gespräch auf ökologische Fragen zusteuert: also ständig, weil die beliebtesten Tischgespräche mittlerweile um Essen und Reisen kreisen, und die stehen unvermeidlich im Zwielicht von Massentierhaltung und Easy-Jet-Wahnsinn. Ich bin dann jedes Mal in Gefahr, aus nichts als Trotz den Klimaskeptiker zu geben – was selbst die Leute, die es gut mit mir meinen, nicht lustig finden. Irgendwo hört der Spaß auf.

Ich kann sie verstehen. Ich möchte auch nicht zum Geisterfahrer werden, der sich gegen 99 Prozent der Wissenschaft stellt in einer Sachfrage, von der ich keinen blassen Schimmer habe. Ich möchte kein Klimaskeptiker sein, aber der selbstgerechte Gewissheitston, zu dem das Thema einlädt, triggert mich.

Und damit sind wir beim Thema dieses Buchs. Wenn wir aufmerksam in uns hineinhorchen, wissen wir eigentlich ziemlich gut, was uns triggert. Aber wir neigen dazu, es zu verdrängen, denn es will nicht zu unserem Selbstbild eines autonomen Vernunftwesens passen, ein Reflexbündel zu sein, das getriggert wird – und deshalb verleugnen wir es. Bei den Menschen, über deren politische Ansichten wir bloß den Kopf schütteln können, begreifen wir dafür umso genauer, was die so triggert. In jedem dritten Satz werfen wir ihnen Reflexhaftigkeit vor; wenn sie sich polternd verteidigen, erkennen wir auf Schnappatmung. Über die Affekte der anderen sind wir meistens viel besser im Bild als über die eigenen.

Ich möchte mich in diesem Buch selbst beobachten, um den Zusammenhang zwischen Reflexen, Emotionen, Affekten, weltanschaulichen Überzeugungen und politischen Urteilen genauer zu begreifen. Wie ticke ich als politischer Bürger? Es wäre ja lächerlich, sich vorzumachen, ein ausschließlich vernunftgeleitetes Wesen mit hohen moralischen Standards zu sein.

Im 18. Jahrhundert, in der Epoche der Empfindsamkeit, erfreute sich das Tagebuch in pietistischen Milieus großer Beliebtheit; man wollte sich vor Gott ehrlich machen und jede Seelenregung, jede Anfechtung und Schwäche, jeden Gedanken an ein Laster akkurat notieren, um sich über die eigene Sündennatur nicht zu täuschen (es könnte sonst am Tag des Jüngsten Gerichts zu bösen Überraschungen kommen); Bekenntnis, Reue, Läuterung, das war das Programm, das damals zu einer Explosion von Subjektivität führte. Goethe spricht im ‹Wilhelm Meister› vom «Tagebuch einer schönen Seele». Ich möchte in meinem Fall lieber vom Tagebuch einer unreinen Seele sprechen, denn was mich interessiert, ist der Schmutz, auf dem meine Standpunkte blühen wie Blumen auf dem Mist. Ich fürchte, vom pietistischen Tagebuch unterscheidet meines sich durch einen Mangel an Zerknirschtheit – aber man möge mir zugute halten, dass ich es wirklich wissen will.

Donnerstag, der 19. September

Ich kann nicht genug bekommen von Greta-Thunberg-Fotos. Spätestens seit sie mit diesem einfach nur geilen Gerät den Atlantik überquert hat, bin ich ihr erlegen. Jetzt muss ich alles lesen, was über sie geschrieben wird. Staunend stehe ich vor ihrer Bild-Produktion: Mit schlafwandlerischer Unbeteiligtheit bringt Greta am laufenden Band ikonische Bilder hervor, ihr Gesicht ist schön wie das einer frommen Jungfrau, als könnte von ihr eine Renaissance der Ikonen-Malerei ausgehen.

Sie hat die Obamas in Washington besucht. «Eine der größten Verteidigerinnen unseres Planeten» sei sie, sagt der Präsident außer Dienst. «Verteidiger des Planeten», das klingt wie ein Titel, mit dem sich einst Könige schmückten (und Elisabeth II. bis heute): Verteidiger des Glaubens. Auch das passt: Wie der Erzengel Michael ist Greta auf ihrer Segelyacht über den Atlantik gefegt, das Schwert, mit dem sie das Ungeheuer der Apokalypse niederringen würde, unsichtbar in der Hand … «Niemand ist zu klein, um Einfluss zu nehmen und die Welt zu verändern», sagte Greta beim Treffen mit den Obamas. Dass das Kleinste das Größte und das Größte das Kleinste sein möge (und die Ersten die Letzten, und die Letzten die Ersten), ist eine uralte Sehnsucht; das Kleine ist unschuldig, und wenn das Kleinste das Größte würde, gäbe es endlich unschuldige Größe.

Zum Repertoire des pietistischen Tagebuchs gehört die Selbstanklage: Ja, ich habe gesündigt. Ja, ich bekenne: Ich habe über Greta gespottet. Nun lese ich auf Facebook und Twitter, dass vor allem alte weiße Männer von Greta getriggert werden, ich vermute, sie meinen Typen wie mich mit meinem sarkastischen Greta-Fantum. Wer sich über sie lustig mache, sei misogyn und ableistisch – dabei bin ich nur halbalt (das macht es bloß schlimmer!), nicht weiß, und für misogyn halte ich mich auch nicht – was, zugegeben, nichts heißt, denn jemand, der zugäbe, misogyn zu sein, wäre bereits etwas anderes, irgendwie Komplexeres, Verspulteres, Kaputteres.

Triggert mich Greta? Ich würde sagen: Nein. Ich möchte sie ja nicht missen. Sie ist ein echtes Phänomen, ein Hingucker, und was sie mit den Menschen anstellt, welche Emotionen und Hoffnungen sie weckt, ist ein Schauspiel, ein wirklich außeralltäglicher Vorgang – ich bin ein ästhetischer Greta-Fan. Authentische Greta-Fans dürften meine Haltung als zynisch zurückweisen.

Das sehe ich nicht so. Ich finde nicht, dass man ein pathologischer HATER ist, wie ich jetzt im Netz lese, bloß weil man darauf hinweist, dass das Phänomen Greta tatsächlich nur noch in religiösen Kategorien zutreffend zu beschreiben ist. Mit Greta kehrt das Unbedingte in unsere Welt unerlöster Relativitäten zurück: Radikalität statt Abwägen, Maximalismus statt Kompromiss. In der Logik der Bußpredigt ist jeder Verzicht noch zu halbherzig, um Gottes Strafe zu entgehen. Greta predigt Umkehr, aber wir Sünder haben den Bauch zu unserem Gott gemacht, wir kriegen den Arsch nicht hoch, wir buchen stattdessen online den nächsten Ryan-Air-Flug. Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, ist vom Übel. Weil es um nicht weniger als den Weltuntergang geht, speit Greta die Lauen aus ihrem Mund.

Vielleicht sollte ich mich nicht herausreden: Ja, Greta triggert mich wie kein Kinderstar vor ihr. Ich: Verteidiger der Lauen, Anwalt des Graubereichs; Extremismen schrecken mich, im Durchwurschteln sehe ich das eigentlich Menschliche. Aber wenn das Weiterwurschteln zur Sintflut führt, sollte ich vielleicht langsam mal umdenken?

Mein Problem: So viel Konsens wie in Klimafragen hat es seit dem Sommermärchen 2006, als plötzlich alle meinten, die Deutschlandfahne sei nur Ausdruck eines unverkrampften Nationalgefühls, mit dem die wiedervereinte Nation die Welt umarme, nicht mehr gegeben. Jetzt wird man mir entgegenhalten, dass schon meine Formulierung irreführend sei; von einem Konsens könne bei der Anerkennung eines Faktums nicht sinnvoll die Rede sein, die Polkappen schmelzen, darüber könne man schlecht diskutieren. Ja, stimmt. Aber es bleibt ja nicht beim Faktum des Klimawandels, sondern dieser wird so umfassend als ein Faktum behandelt, das keiner weiteren Interpretation bedarf, dass daraus mit der Unausweichlichkeit reiner Kausalität lauter Konsequenzen gezogen werden, die nun ihrerseits die Aura der Unbestreitbarkeit und Alternativlosigkeit genießen. Die Herausforderung verlange nach Mitteln jenseits der demokratischen Meinungsbildungsprozesse, ist zu lesen. Wer nicht maximale Gegenmaßnahmen fordert, gilt als Problemverschlepper, ihm ist das Schicksal der Welt egal.

Natürlich, die ökologische Frage ist die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts; aber ich mag die Verhaltensweisen nicht, die aus dieser Einsicht hervorgehen. Mein Trotz hat auch mit Verachtung zu tun, Verachtung für die Inszenierung der eigenen Besorgtheit, für den Gratis-Mut, mit dem man auf Facebook die Plastikfolie ums Gemüse im Supermarkt postet. Für die Feier des eigenen, richtigen Bewusstseins. Und vor allem für das Ausmaß demonstrativen Symbolhandelns, das mit tatsächlicher CO2-Reduktion nichts zu tun hat. Ich will meinen CO2-Fußabdruck nicht kleinreden, aber immerhin sind die Mangolds, und zwar schon in dritter Generation, autolos.

Sagen wir es so: Jeder muss in diesem Leben schauen, wie er es schafft, auf irgendein Plateau zu kraxeln, von dem aus er auf andere herabschauen kann; die einen halten sich für was Besseres, weil sie von ihrem ökologischen Gewissen auf die fleischfressenden SUV-Fahrer herabschauen, ich halte mich für was Besseres, weil ich nicht wie solche bigotten Musterschüler meine öko-moralische Rechtschaffenheit zur Schau trage (auch mit seinem Taktgefühl kann man angeben). Wenn jetzt wer sagt: «Fair enough, aber deine Position ist bloß geschmäcklerisch, während die Bigotten wenigstens das Heil der Welt im Blick haben», gebe ich zu: Da ist was dran, und ja: das gibt mir zu denken, und vielleicht liegt darin tatsächlich das entscheidende Argument – und doch …

Kürzlich auf dem Geburtstagsfest von Margaux, die Schweizerin ist mit vielen Verbindungen nach Frankreich. Bernd hielt eine fabelhafte Rede auf seine Frau, in der er deren Fähigkeit hervorhob, Freundschaften zu stiften und zu pflegen. Was man auch daran erkennen könne, wie viele Menschen «trotz Flugscham» aus fernen Städten nach Berlin gekommen seien, wie er genüsslich formulierte.

Die Pointe war gut gesetzt, denn natürlich war jedem klar, dass die Flugscham, von der nun so viel die Rede ist wie früher von der German Angst, einfach mal gar nichts mit irgendeinem realen Verhalten zu tun hat – es gibt die Flugscham (die man schamlos ausstellt), und es gibt unser Meilenkonto: zwei voneinander unabhängige Sphären.

Ich hingegen kenne eher die Heuchelscham.

In meiner Nachbarschaft lebt ein kämpferischer Professor, der mit seinen Büchern wichtige Denkanstöße geleistet hat für ein ökologisches Umdenken; ihm geht es vor allem um die Praxisfähigkeit eines neuen, nachhaltigen Lebensstils, alles eigentlich sehr vernünftig. Einmal flog ich von Berlin nach Wien, beim Boarding standen wir plötzlich nebeneinander, ich war aufrichtig überrascht. Ich hatte wirklich geglaubt, nach allem, was ich von ihm gelesen hatte, er würde zu den Bahnfahrern gehören. Irgendetwas musste ihn ja von mir unterscheiden. Mit aufrichtiger Überraschung stotterte ich: «Wie, Sie nehmen das Flugzeug?» Er wirkte nicht, als hätte ich ihn bei einem Seitensprung erwischt, er war keineswegs peinlich berührt, sondern meinte nur: «Na ja, mit dem Zug nach Wien ist schon ein bisschen weit.» Wäre das ein Flieger nach Lissabon gewesen, ich wäre nicht nachdenklich geworden. Aber Wien? In dem Moment dachte ich, dass mein pubertäres Öko-Ketzertum in der Sache harmlos ist.

Mit einer Freundin unterhielt ich mich kürzlich über Wochenendhäuser auf dem Land. Es ziehe mich in die Uckermark, unbändig. Auch meine Freundin kannte diesen Drang in die Natur, aber Brandenburg sei am Ende eben Brandenburg, ein gemeinsamer Bekannter habe ein Haus auf den Kanaren, vielleicht sei das doch die bessere Lösung für unsere Natursehnsucht? Ehe ich mit dem Tau auf den Wiesen der Uckermark und ihren rolling hills gegenhalten wollte, zögerte ich kurz, weil ich mir sicher war, dass vorher noch ein Nachsatz zur Klimabilanz eines solchen Kanaren-Zweithauses kommen würde. Überraschenderweise aber kam nichts. Na, wenn das so ist, sagte ich mir, dann ist es diesmal for the very first time deine Pflicht und Schuldigkeit: «Ja, aber die Klimabilanz!», rief ich mit leicht verstellter Stimme aus, doch das war nur für mich selbst zu hören. Ich war ernstlich gespannt, wie es sich anfühlt, so einen Satz zu sagen – jetzt hatte also auch ich einmal diesen Knopf gedrückt. Während ich mir noch die Entgegnung meiner Freundin ausmalte, hatte die mir allerdings schon den Namen einer Nachhaltigkeitsorganisation genannt, an die man für jede Meile, die man fliege, spenden könne. Sicher macht sie das auch, aber als Lösung eines apokalyptischen Problems kam mir ihre Spendenlösung dann doch zu schnell über ihre Lippen.

Noch ein Beispiel: Eine Kollegin erzählte mir stolz, ihre Tochter mache jetzt ein soziales Jahr in Bolivien. Dann fügte sie mit Kummer im Gesicht hinzu: Leider habe die Tochter ihr untersagt, sie zu besuchen – wegen des CO2-Ausstoßes einer solchen Flugreise. Ich bin der Letzte, der jemandem Inkonsequenzen vorwürfe, Kompromisse haben meine volle Sympathie, siehe Durchwurschteln. Was mich indes irritierte, war die Kaltschnäuzigkeit, mit der die Tochter die emotionalen Kosten ihrer moralisch vorbildlichen Entscheidung ganz bei der Mutter abgelegt hatte.

Dass man mich nicht missversteht: Ich werfe niemandem vor, ein Haus auf den Kanaren zu haben oder nach Wien zu fliegen, ich fliege ja selber nach Wien. Aber ich schmiere auch nicht jedem bei jeder Gelegenheit meine Alarmiertheit aufs Brot. Als die Kirche noch eine gesellschaftliche Macht war, gab es immer die Bigotten, die gar nicht genug daran erinnern konnten, wie sündhaft die Welt geworden sei. Heute haben wir Gott abgeschafft, von der Bigotterie können wir uns allerdings noch nicht lösen.

Samstag, der 21. September

Besuch von Helena.

Helena: «Irgendwie gebrauche ich die Worte immer falsch. Also für mich fühlt es sich richtig an, aber ich merke dann, dass die anderen sie anders gebrauchen.»

Ich: «Welche Worte?»

Helena: «Zum Beispiel Feminismus. Ich würd schon auch sagen, dass ich Feministin bin, aber ich meine dabei irgendwie etwas sehr Weibliches.»

Ich muss lachen. Das stimmt. Wenn Helena, mit ihren russlanddeutschen Wurzeln, mit dunkler Stimme sagt, sie sei Feministin, klingt es so, als würde sie sagen: Ich bin eine Frau, ein Naturereignis.

Die Wörter ein bisschen versetzt zu gebrauchen, leicht verrückt, aber nicht als ideologische Geste, sondern wie eine natürliche Regung, die einem unterläuft, das ist Helenas Spezialität, deswegen bin ich so gerne mit ihr befreundet.

«Helena, das kann man so nicht sagen!», rufe ich oft in unseren Gesprächen aus.

«Warum?», sagt sie dann, «ich finde, es klingt stimmig!»

Helena lauscht den Resonanzräumen von Worten nach. Sie ist Sängerin. Eigentlich ausgebildete Opernsängerin, aber jetzt macht sie vor allem Schlager der zwanziger Jahre und Chansons. Sie gibt auch Gesangsunterricht. Manchmal schickt sie mir kurze Videos von den Gesangsstunden. Dann beobachte ich sie, wie sie ihre Schüler dazu bringt, einen vollen Ausdruck zuzulassen. Die größte Herausforderung: die Gehemmtheit des Körpers zu überwinden, die Scham, durch Loslassen peinlich aufzufallen.

In meiner Lieblingssequenz will sie ihre Schülerinnen dazu bringen, von der Kopfstimme in die Bruststimme zu wechseln. Sie sollen den Unterkiefer locker lassen, damit die Stimme mehr Tiefe gewinnt. Die Frauen trauen sich nicht so recht. Helena: «Formt euren Mund so, als würdet ihr an der Straße stehen und rufen: ‹Hey, Taxi!›» Das Hey, Taxi! kommt so tief, fordernd und verwegen aus ihrem Mund, dass alle lachen müssen. Als hätte sie sich für einen Moment in einen Godard-Film der sechziger Jahre versetzt.

Wenn man etwas will, erläutert Helena, dehne man den Ton. Damit verlängere sich die Resonanz. Man komme in einen Gesangsmodus. Wie kleine Kinder, die schreien, aber niemals heiser werden.

«Die meisten Frauen», sagt Helena, «haben keine Verbindung zu ihrer Brust.» Die Bruststimme werde als männlich empfunden. Umgekehrt sängen Männer automatisch in der Brustlage und müssten erst angeleitet werden, in die Kopfstimme zu wechseln. Zu vieles, was man ist und kann, bleibe unentdeckt im Leben.

Helena, die Ausleberin.

Eigentlich, stelle ich mir vor, könnten ihre Gesangsstunden auch Seminare für Führungskräfte sein. Wie man aus der Tiefe der Bruststimme Durchsetzungsstärke gewinnt. Und wie Stimmigkeit und Überzeugungskraft, Atemtechnik und Selbstbewusstsein zusammenhängen. Und dass sich Identität aus gegensätzlichen Elementen zusammensetzt. Das Männliche im Weiblichen und umgekehrt.

Sonntag, der 22. September

Ich habe einen Bekannten, von dem ich gerne prahlerisch sage (denn es zeichnet einen ja selber aus, die Intelligenz eines anderen anzuerkennen), er sei der intelligenteste Mensch, dem ich je begegnet bin. Wenn wir uns unterhalten, bin ich von dem, was er sagt, häufig regelrecht geblendet, ja aus dem Häuschen, welche Gedankenverbindung er schon wieder aufgemacht hat. Er ist Staatsrechtler, er beschäftigt sich also viel mit politischen Fragen. Politische Fragen sind solche, zu denen jeder eine Meinung haben darf. Und an dieser Stelle taucht für mich jedes Mal ein Problem auf, von dem ich glaube, dass es charakteristisch für das Wesen der Politik ist: Wenn Politik das ist, wozu jeder eine Meinung haben sollte, dann kann es nicht sein, dass der Intelligentere gewinnt. Es kann nicht sein, dass ich meinem Reflex nachgebe und mich der Sichtweise meines Bekannten füge, nur weil ich weiß, dass er wie ein Jongleur mehr gedankliche Bälle gleichzeitig in der Luft halten kann als ich.

Und wie verhalte ich mich konkret? Beim Lunch höre ich mir schwer beeindruckt seine Thesen an, auf dem Heimweg ist mir nun klar, dass meine alte Position nicht zu halten ist, mein Bekannter hat mich überzeugt, ich strecke die Waffen und sehe die Verhältnisse in diesem Punkt nun doch mehr so wie er. Es ist der sprichwörtliche Abschied von lieb gewordenen Wahrheiten. Aber tatsächlich wurde ich in diesem Moment nur gerade frisch eingenordet. Je mehr ich mich zeitlich und räumlich von meinem Bekannten entferne, desto schwächer wird sein Einfluss, meine eigenen Präferenzen, seiner Einflusszone entzogen, melden sich zurück – und nach ein paar Tagen bin ich wieder der Alte. Und manchmal kommt dann sogar der Punkt, an dem ich sage: «Ich komme gegen seine Argumente zwar nicht an, aber seine Position entspricht mir einfach nicht.» Und interessanterweise komme ich mir dabei keineswegs wie ein irrationaler Fanatiker vor, sondern denke mir: Politik hat mit Präferenzen zu tun, die nie vollständig argumentativ aufzuklären sind.

Als ich ein junger Redakteur war, sagte mir ein von mir verehrter älterer Kollege, er sei meistens der Meinung, die er zuletzt gehört habe. Beeindruckt, dass man das einfach zugeben konnte, wollte ich es ihm nachtun und stellte fest: Ja, man fühlt sich dann gleich viel freier.

Montag, der 23. September

Zum politischen Modus gehört die Wutrede, sie ist so unvermeidlich wie das Husten in klassischen Konzerten zwischen den Sätzen. Aber viel wäre gewonnen, wenn wir unsere Wutreden im Bewusstsein hielten, dass es sich dabei auch um Rollenprosa handelt. Als stünde ein zweites Ich, während man noch schimpft, neben einem und sagte: «Guck ihn dir an, wie der auf die Pauke haut!»

Dienstag, der 24. September

Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs hat Boris Johnson in die Schranken gewiesen und die Zwangspause, in die der Premierminister das Parlament geschickt hatte, für ungültig erklärt. Die Überschriften in den Medien lauten: «Schallende Ohrfeige für Johnson». Ja, das ist es wohl, aber man spürt doch auch, wie sehr wir danach dürsten, eindeutige Niederlagen identifizieren zu können. Meistens liegen die Dinge ja so verwickelt, dass man sie so, aber eben auch anders lesen kann. Das Wort «Wahlschlappe» ist deshalb so überstrapaziert, weil jede Seite der anderen eine solche nachsagen will, während diese dann irgendeine andere Referenzgröße heranzieht, wonach das Ergebnis alles andere als eine Wahlschlappe darstelle, vielmehr in Wahrheit, angesichts des Gegenwindes aus Berlin und im Vergleich zu den Europawahlen vor drei Jahren, eine eindrucksvolle Bestätigung des Wählervertrauens und ein klarer Regierungsauftrag sei …

So macht das natürlich keinen Spaß. Ungetrübter Triumphgenuss, der wie ein Schnaps den Rachen freiputzt, verlangt nach Anerkennung der Niederlage durch den Gegner. Stattdessen besteht Politik zu 80 Prozent darin, dass sich jede Seite die Wirklichkeit zu ihren Gunsten schönredet: emotional unbefriedigend.

Schön also, wenn es ein Oberstes Gericht gibt, das in letzter Instanz über die Wahrheit entscheidet. Jetzt also: «schallende Ohrfeige». Eine «schallende Ohrfeige» lässt keine Fragen offen und keine Ausreden zu. Der solcherart Gescholtene kann, die roten Striemen glühen noch auf seiner Wange, nicht behaupten, es habe gar nicht weh getan.

Aber aus Erfahrung wissen wir, dass auch schallende Ohrfeigen manchmal nach nur drei Wochen in neuem Licht erscheinen – irgendein kluger England-Kenner wird schon eine Deutung anbieten, wonach Johnsons Niederlage vor allem eine Niederlage des Gerichts gewesen sei … Politik ist, was sie ist, weil es keine Eindeutigkeit gibt. Dass man die Welt so, aber auch anders beschreiben kann, dadurch entsteht allererst der politische Streit. Gäbe es eine klarere Lagebeschreibung, dann würden sich sämtliche weiteren Schritte mit Notwendigkeit daraus ergeben, dann wäre Politik in Wahrheit gar keine dauernde Auseinandersetzung, sondern logisches Denken, das man zuletzt einem Algorithmus überlassen könnte – der Staat als selbstfahrendes Auto.

Nur manchmal suggeriert die Wirklichkeit Unzweideutigkeit. In Fukushima zum Beispiel – Angela Merkel hat es zumindest so gelesen. Der Erste Weltkrieg war es nicht («Dolchstoßlegende»), der Zweite («Stunde null») schon, darin aber eine ziemliche Singularität.

Wir dürsten nach schallenden Ohrfeigen, weil sie die Wirklichkeit vereindeutigen. Weil dann endlich klipp und klar da steht, wer recht und wer unrecht hat, und darum erfreuen wir Kontinentaleuropäer uns am Urteil des Obersten Gerichtshofs, weil es uns mit maximaler Deutlichkeit in unserer Position bestätigt, dass der Brexit ein Wahnsinn ist.

Ich merke in diesem Moment natürlich, warum ich mich in erkenntnistheoretische Spitzfindigkeiten flüchte, statt mich mitzuerfreuen. Wir betreten ein mir peinliches Gebiet, ich gestehe: Boris Johnson ist meine Schwachstelle. Ich habe ihn lange verteidigt, heute muss ich einräumen, dass ich im Irrtum war.

Für ein politisches Tagebuch ist der Irrtum ein wichtiges Thema. Wie gehen wir damit um? Auf jeden Fall auf zweierlei Art: nämlich anders anderen als uns selbst gegenüber. Nicht alles, was wir uns selbst eingestehen, geben wir auch anderen gegenüber zu – warum sollten wir auch, die anderen tun es ja auch nicht. Zweifel sind etwas Intimes.

Laut reden wir über Sachen, bei denen wir ins Recht gesetzt worden sind, über Sachen, bei denen wir falschlagen, schweigen wir lieber. Oder noch komplizierter, was wieder etwas mit fehlender Eindeutigkeit zu tun hat: Sehr oft passieren Dinge, von denen andere finden, dass sie uns ins Unrecht setzen, während wir selber gar keinen Zusammenhang zwischen dem Ereignis und bestimmten Ansichten, die wir irgendwann zum Besten gegeben haben, erkennen können. Ein gesellschaftspolitischer Breitensport: wen man für was verhaften darf.

Ich erinnere mich noch gut an die Tage, als es in Fukushima zu Komplikationen kam und Düsterkeit über der Welt hing. Ich hatte zwar im Leben noch nichts über Atomkraft geschrieben, spürte aber, wie mich meine Kollegen in der Redaktion anschauten, als gäbe es keinen Zweifel, dass diese Katastrophe auf meine Rechnung ging. Das wurde natürlich nicht ausgesprochen, ich wurde nur so angeschaut, als sei es höchste Zeit, mich zu erklären und aus freien Stücken ein umfassendes Geständnis abzulegen. Beziehungsweise als deutete man mein Schweigen als Ausdruck von Reue. Plötzlich saß die Generation Golf auf der Anklagebank. Ich fand das im ersten Moment absurd, auf dem Nach-Hause-Weg allerdings dachte ich mir: Eigentlich haben sie recht, die lieben Kollegen, natürlich ist dir die Atomkraft in Stunden der Schlaflosigkeit, wenn der Mensch sich schwach und ohnmächtig fühlt, unheimlich, aber bei Tageslicht warst du nie ein engagierter Atomkraft-Gegner; du bist aufgewachsen umgeben von Volvo-Kombis mit «Atomkraft? Nein, danke!»-Aufklebern, hast aber die Frisuren der Wagenbesitzer nie gemocht. Irgendwie haben die Kollegen doch recht: Fukushima ist eine schallende Ohrfeige für die Generation Golf, die sich immer über die Frisuren der Volvo-Fahrer lustig gemacht hat.

Doch kaum löste sich die radioaktive Wolke auf und die Sonne kam wieder hervor, verunklarten sich die Dinge … Was wir erlebten, wurde wieder komplexer, die Pariser Klimaziele nach Merkels Atomausstieg illusorischer, die Schuldzuweisungen schwieriger. So ist es immer: Die Guten und die Bösen sitzen im selben Boot und können sich nicht einigen, wer welche Rolle spielt.

Zurück zu Boris Johnson. Wer sich selbst beobachtet, kennt die Muster der eigenen Fehleranfälligkeit, also weiß ich, ich bin ja nicht blöd, dass ich zu den Typen gehöre, die auf Typen wie Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg reinfallen. Ein Wort wie Eton geht mir runter wie Butter. Ich habe eine Schwäche für Traditionen und Rituale. England, «this precious stone set in the silver sea», ist eine Wunderkammer an herrlich verstaubten, aber immer noch gepflegten Traditionen. Den exzentrischen Individualismus der Briten, den Johnson und Rees-Mogg wie in einer spätdekadenten Prachtblüte noch einmal entfalten, liebe ich, als würde sich an ihnen der globale Konformismus die Zähne ausbeißen. Und natürlich sagen die beiden Clowns keine Plastiksätze wie die meisten Politiker. Man kann auch nicht Johnsons Roman ‹72 Jungfrauen›, eine Politsatire aus dem Jahr 2004, lesen, ohne dem Verfasser zuzugestehen, ein wirklich eigenwilliger Kauz zu sein. Damals war Johnson Bürgermeister von London, bekannt dafür, immer mit dem Fahrrad unterwegs zu sein und den britischen shabby look, kleiner Marmeladenfleck auf der Krawatte, Hemd aus der Hose, Haare wuschig, bis zur Perfektion zu beherrschen. In ‹72 Jungfrauen› hängte Johnson dem Protagonisten und unverkennbaren Alter Ego, einem verpeilten Tory-Abgeordneten, genau die schlechten Eigenschaften an, die über ihn selbst in Umlauf waren – bis hin zu einer außerehelichen Affäre, über die er die Öffentlichkeit belog. Der Roman besteht aus unendlich vielen ungehörigen Bemerkungen über Muslime und Feministinnen, aber mindestens so sehr bekommt der Protagonist, Ebenbild des Verfassers, sein Fett ab für seine reaktionären Ansichten.

Jeder Mensch hat Glaubensgewissheiten, die er nur, wenn es eben gar nicht mehr anders geht, über Bord wirft, und bei mir gehört dazu die Überzeugung, dass ein Mensch, der zu Selbstironie fähig, also ein souveräner Beobachter seiner selbst ist wie Johnson, kein ganz schlechter Mensch sein kann.

Und deswegen bin ich auf ihn reingefallen. Jetzt ist meine Wut auf Johnson und Rees-Mogg manchmal inbrünstiger als die ihrer traditionellen politischen Gegner, denn nun, da sie sich als Geschöpfe einer idiosynkratischen Luxusklasse entpuppen, haben sie meine Liebe zu Eton, debating club, Oxford English und anachronistischer Unangepasstheit verraten und mich blamiert.

Aber weil man sein Ich nicht einfach aufgeben kann, gebe ich mich noch nicht ganz geschlagen. Jeden Morgen, wenn ich die Zeitung aufschlage, hoffe ich auf eine Lesart Boris Johnsons, die an ihm doch noch ein gutes schmutzig blondes Haar lässt. Kurzum, im Brexit-Kontext herrscht bei mir eine labil-hysterische Gefühlslage voll gegensätzlicher Affekte; ich bin überzeugter EU-Anhänger, ich halte den Brexit für einen Fehler; ich verhöhne das Vereinigte Königreich aber nicht, denn eine EU mit Großbritannien entspricht meinen politischen Vorstellungen viel mehr als eine ohne den Marktindividualismus der Briten. Und sicherheitspolitisch kann die EU ohnehin nichts ausrichten ohne das einzige europäische Land, das tatsächlich noch einen Krieg führen könnte. Charles de Gaulle, Frankreichs Flugzeugträger, der sich auf den Weltmeeren blicken lässt: nie und nimmer entzündet der meine strategische Phantasie.

Wenn ich mir die deutschen Kommentierungen des Brexit anschaue, stelle ich fest, dass ich den Brexit zwar für einen geschichtlichen Fehler halte (wie so vieles, was aus Plebisziten hervorgeht), aber mich als EU-Bürger nicht in dem Maße narzisstisch gekränkt fühle wie viele meiner Landsleute, die jetzt förmlich danach lechzen, dass die Briten die Suppe, die sie sich eingebrockt haben, auslöffeln bis zum bitteren Ende.

Ich bin hin- und hergerissen. Ich hatte durchaus Verständnis dafür, dass ein Land, zu dessen Nationalcharakter der Westminster-Parlamentarismus gehört, sich schwerer mit Weisungen aus Brüssel tut als, sagen wir mal: Berlin oder Lissabon. Ich bin generell fast immer auf der Seite der Institutionen. Wer die Institutionen angreift, den halte ich für gefährlich, weswegen ich empört war, als ausgerechnet der Mann, der den EU-Austritt einst mit dem Satz forderte, «to take back control», das Parlament in den Zwangsurlaub schickte, dessen Handlungsfähigkeit er doch gerade noch wiederherstellen wollte.

Mach dich ehrlich! Abschied von Boris Johnson!

Doch der Abschied von politischen Irrtümern ist eine zweischneidige Sache – der Irrende hängt ja an seinen Irrtümern, er hält sie für seinen Charakter. Das ist wie bei einem Mann, der immer wieder auf dasselbe Genre Frau reinfällt; er mag sich am liebsten in den Arsch beißen, wenn er mal wieder der Gelackte ist, er wird seine Schwäche gleichwohl nicht verdammen, denn es ist diese Schwäche, die ihn aus- und liebenswürdig macht.

In diesem Sinne: Auf welche Typen falle ich in der Politik rein? Diese Frage zuzulassen heißt nicht, der eigenen Schwäche abzuschwören, aber doch seinen Blick zu schärfen für die Anfechtungen, denen man ausgesetzt ist.

Mittwoch, der 25. September

Manchmal frage ich mich: Bin ich vielleicht gar kein politischer Kopf?

Was meint das eigentlich – politisch sein? Woran misst man das? An einer Parteimitgliedschaft? Am Engagement in einer Bürgerbewegung? An starken utopischen Sehnsüchten? Am Grad der Informiertheit und Kompetenz, mit der man Lösungen für die Probleme der Gesellschaft durchdenkt? An einer vernehmbaren Moral, mit der man die Leute in gute und böse einteilt? Oder am Umstand, dass man das Private für politisch hält und deshalb global denkt, aber lokal handelt? Dass man auf Flugreisen verzichtet? Oder aber daran, dass man sich schnell aufregt und zu so gut wie jedem Sachverhalt eine Meinung hat?

Bis auf den letzten Punkt trifft das alles auf mich eher nicht zu. Gleichzeitig bin ich aber auch kein Eskapist, der nichts wissen will von dem, was die Gesellschaft umtreibt, im Gegenteil. So wie andere auf die nächste Staffel ihrer Lieblingsserie bei Netflix warten, verfolge ich jeden Tag den Nachrichtenstrom, weil ich es kaum erwarten kann, welchen Klops sich Politiker X wieder erlaubt hat bzw. welch kometenhafter Wiederaufstieg Politikerin Y gelungen ist (man hat sie doch wirklich unterschätzt!). Ich stöhne innerlich auf, wenn ich in Wahlkampfzeiten an Plakaten der Parteien vorbeiradle, auf die ich nicht gut zu sprechen bin; ich jubel, wenn in einer Talkshow ein Politiker, den ich aus irgendeinem Grund für satisfaktionsfähig halte, seinen Kontrahenten durch ein geistreiches Wort auf die Plätze verweist; ich schüttele den Kopf, wenn von der Kanzlerin mal wieder nur Phrasen am semantischen Nullpunkt kommen, und bei nächster Gelegenheit schätze ich mich glücklich, von einer Frau regiert zu werden, von deren IQ wir alle nur träumen können. Kurz, im einen Moment verachte ich die politische Klasse für ihre Biederkeit und Angepasstheit, im nächsten denke ich, dass wir ihnen, den Politikern, auf Knien danken sollten, dass sie einen Job machen, der ihren Leberwerten nicht guttut und für den sie keine Dankbarkeit, aber verlässlich Spott und Verachtung ernten.

All das interessiert mich, ich brauche es wie die Luft zum Atmen. Man könnte es den inneren Stammtisch nennen. Wie der Fußballfan die Sportschau, so verfolge ich die Politik-Nachrichten. Und wie der Fußballfan, während er sich noch die Haare rauft über den Trainer seines Lieblingsclubs und dessen geisteskranke Mannschaftsaufstellung, im Innern weiß, dass er es selber nicht besser könnte, bin ich zwar auch oft rechtschaffen entgeistert über die mut- und phantasielosen Entscheidungen der Politiker, käme aber nicht auf die Idee, mich für den besseren SPD-Vorsitzenden zu halten.

Vermutlich würde ein politologisches Seminar bündig beweisen, dass genau dies, dieser innere Stammtisch, gerade nicht Ausdruck eines politischen Bewusstseins ist, sondern dessen blinde, unreflektierte Schwundstufe.

Einspruch: Ich glaube, das Gegenteil ist wahr. Genau das, die Schwundstufe, dieses Unreine, Unreflektierte, Instinkthafte, diese Affekte und Ressentiments, diese schlechten Angewohnheiten (wie es hieß, als man noch stärker zwischen Tugenden und Lastern unterschied), eben dieser Stammtisch ist genau das, was im Tiefsten das Politische derer ausmacht, die an den politischen Vorgängen teilnehmen, ohne unmittelbar in sie verwickelt zu sein: der normalen Bürger also. Und darum möchte ich mit diesen Meditationen über mich selbst der vegetativen Ebene des Politischen nachforschen. Um sie zu beobachten, muss man sich – ohnehin ein anmutiger Tanzschritt im Leben – für einen Moment neben sich stellen und sich von außen betrachten: Dann sieht man, wie viele Verhaltensauffälligkeiten man unabhängig von Inhalten, Positionen oder Meinungen mit jenen teilt, deren Ausübung des Wahlrechts man in finsteren Stunden für ein Unglück hält. So vieles im Bereich des Politischen folgt Reiz-Reaktions-Schemata und wird deshalb mehr vom Sympathicus als vom Verstand gesteuert, dass es sich lohnt, sich auch mit Blick auf die eigenen Überzeugungen davon Rechenschaft abzulegen.

Wenn ich hier also wie jeder Mensch, von sehr vornehmen Geistern abgesehen, zu Gott und der Welt eine Meinung habe, so geht es mir dabei eigentlich nicht um das, was ich meine, den Inhalt der Meinungen, sondern ich möchte im Selbstversuch herausfinden, warum und wie wir Meinungen haben, wie Meinungen uns mit dem Ganzen verknüpfen – aber auch, wie es uns gelingen kann, von ihnen loszukommen, damit wir nicht sklavisch an sie gebunden bleiben.

Ich möchte meine Reflexe notieren. Meine ersten Gedankenreaktionen auf eine Nachricht festhalten, meine positiven und negativen Gefühle beschreiben – ich möchte beobachten, was in mir vorgeht, wenn mein Bewusstsein in diesem unreinen Sinne in den politischen Modus schaltet. Ich möchte mich dabei beobachten, wie meine Hände zu schwitzen beginnen, weil im Fernseher gerade jemand die Welt erklärt, von dem ich finde, dass er keine Sekunde Sendezeit verdient hat: Es ist dieser Schweiß, der zum Politischen gehört wie Sex zur Liebe, auch wenn in den hohen Definitionen der Politik wie der Liebe von beidem allenfalls verschämt und am Rande die Rede ist.

Aristoteles hat den Menschen bekanntlich als zoon politikon bestimmt. Man denkt dann immer gleich an die griechische Polis, in die sich jeder Bürger (allerdings nicht die Frauen und nicht die Sklaven, wie neuerdings regelmäßig angemerkt wird) in Sorge um das Gemeinwesen einbringt – weil der Mensch den Logos habe, also Sprache und Vernunft, könne er sich, so Aristoteles, über das höchste Gut des Gemeinwesens austauschen und dieses anstreben. Zoon politikon, das klingt heute so, als gehörte das Prinzip der partizipativen Demokratie zum Wesen des Menschen.

Und auch ich glaube, dass der Mensch ein zoon politikon ist, aber ich denke da weniger an partizipative Demokratie und Zivilgesellschaft als an das griechische Scherbengericht, den Ostrakismos, bei dem jeder Bürger den Namen des Mannes auf eine Scherbe ritzen durfte, der, falls sich eine Mehrheit gegen ihn aussprach, für zehn Jahre in die Verbannung geschickt wurde; selbst Themistokles, den Sieger der Schlacht von Salamis, traf dieses Los. Ja, der Mensch ist ein zoon politikon, weil er every now and then die Nase eines Mächtigen einfach nicht mehr sehen kann, die Wut kocht schon länger in ihm, endlich kommt der Tag des Ostrakismos, und befriedigt kann er Dampf ablassen, indem er den Namen des Mannes, der ihn eben noch vor den Persern gerettet hat, auf eine Scherbe ritzt – oder einen kleinen Galgen bastelt, an den er eine Kanzler-Puppe hängt. Der Mensch ist ein zoon politikon