Das deutsche Krokodil - Ijoma Mangold - E-Book + Hörbuch

Das deutsche Krokodil Hörbuch

Ijoma Mangold

4,9

Beschreibung

Ijoma Alexander Mangold lautet sein vollständiger Name; er hat dunkle Haut, dunkle Locken. In den siebziger Jahren wächst er in Heidelberg auf. Seine Mutter stammt aus Schlesien, sein Vater ist aus Nigeria nach Deutschland gekommen, um sich zum Facharzt für Kinderchirurgie ausbilden zu lassen. Weil es so verabredet war, geht er nach kurzer Zeit nach Afrika zurück und gründet dort eine neue Familie. Erst zweiundzwanzig Jahre später meldet er sich wieder und bringt Unruhe in die Verhältnisse. Ijoma Mangold, heute einer unserer besten Literaturkritiker, erinnert sich an seine Kindheits- und Jugendjahre. Wie wuchs man als «Mischlingskind» und «Mulatte» in der Bundesrepublik auf? Wie geht man um mit einem abwesenden Vater? Wie verhalten sich Rasse und Klasse zueinander? Und: Womit fällt man in Deutschland mehr aus dem Rahmen, mit einer dunklen Haut oder mit einer Leidenschaft für Thomas Mann und Richard Wagner? Erzählend beantwortet Mangold diese Lebensfragen, hält er seine Geschichte und deren dramatische Wendungen fest, die Erlebnisse mit seiner deutschen und mit seiner afrikanischen Familie. Und nicht zuletzt seine überraschenden Erfahrungen mit sich selbst.

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Zeit:12 Std. 12 min

Sprecher:Ijoma Mangold

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Ijoma Mangold

Das deutsche Krokodil

Meine Geschichte

Über dieses Buch

Ijoma Alexander Mangold lautet sein vollständiger Name; er hat dunkle Haut, dunkle Locken. In den siebziger Jahren wächst er in Heidelberg auf. Seine Mutter stammt aus Schlesien, sein Vater ist aus Nigeria nach Deutschland gekommen, um sich zum Facharzt für Kinderchirurgie ausbilden zu lassen. Weil es so verabredet war, geht er nach kurzer Zeit nach Afrika zurück und gründet dort eine neue Familie. Erst zweiundzwanzig Jahre später meldet er sich wieder und bringt Unruhe in die Verhältnisse.

Ijoma Mangold, heute einer unserer besten Literaturkritiker, erinnert sich an seine Kindheits- und Jugendjahre. Wie wuchs man als «Mischlingskind» und «Mulatte» in der Bundesrepublik auf? Wie geht man um mit einem abwesenden Vater? Wie verhalten sich Rasse und Klasse zueinander? Und: Womit fällt man in Deutschland mehr aus dem Rahmen, mit einer dunklen Haut oder mit einer Leidenschaft für Thomas Mann und Richard Wagner?

Erzählend beantwortet Mangold diese Lebensfragen, hält er seine Geschichte und deren dramatische Wendungen fest, die Erlebnisse mit seiner deutschen und mit seiner afrikanischen Familie. Und nicht zuletzt seine überraschenden Erfahrungen mit sich selbst.

Vita

Ijoma Mangold, geboren 1971 in Heidelberg, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in München und Bologna. Nach Stationen bei der «Berliner Zeitung» und der «Süddeutschen Zeitung» wechselte er 2009 zur Wochenzeitung «Die Zeit», deren Literaturchef er seit 2013 ist. Zusammen mit Amelie Fried moderierte er die ZDF-Sendung «Die Vorleser». Außerdem gehört er zum Kritiker-Quartett der Sendung «lesenswert» des SWR-Fernsehens. Mangold lebt in Berlin.

Meiner Mutter

«Wahn, Wahn, überall Wahn.»

Hans Sachs in den «Meistersingern von Nürnberg»

Teil I

Der Junge

Wenn der Junge das Telefon abnimmt, meldet er sich mit seinem vollen Namen. Manche Anrufer, die seine Mutter sprechen wollen, sind belustigt und ahmen ihn nach, als hätte der Junge in kindlicher Selbstverliebtheit etwas gesungen, das ein zärtliches Echo verdient. Wenn er seinen ganzen Namen ausspricht, kommt er auf neun Silben. Sie haben nicht nur Klang, sondern auch Rhythmus. Wie eine Wellenbewegung. Aber das ist nicht der Grund, warum er den Mund so voll nimmt; es ist der Versuch, sein Schicksal abzuschwächen. Sein zweiter Vorname, das ist seine Hoffnung, soll die Exotik seines ersten Vornamens mildern: Ijoma Alexander Mangold.

Wenn man es so betrachtet, steht es eigentlich zwei zu eins für Deutschland. Aber nur, wenn es ihm gelingt, den anderen die Existenz seines zweiten Vornamens in Erinnerung zu rufen.

Er dringt mit seinen Versuchen nicht wirklich durch. Obwohl sein zweiter Vorname auf offiziellen Dokumenten, zum Beispiel auf Sporturkunden, auftaucht, wird ihm nicht dieselbe Bedeutung zugemessen wie seinem Rufnamen. Kein Zweifel, die Erwachsenen sind der Überzeugung, dass Ijoma der Name ist, der den Jungen am besten bezeichnet – obwohl alle erst einmal über diesen Namen stolpern. Das Stolpern löst bei ihm Schamgefühle aus. Das scheint die anderen nicht zu stören. Es scheint ihnen sogar ein besonderes Vergnügen zu bereiten, die unalltägliche Schönheit seines Vornamens zu preisen; wenn der Junge dem folgen wollte, müsste er sich glücklich schätzen, nicht Matthias, Andreas oder Oliver zu heißen.

Er sieht das anders, sagt es aber nicht. Der Druck, das spürt er, sich zu seinem Vornamen zu bekennen, ist groß. Seine Mutter hat ihm zwar schon mehrmals erklärt, er könne sich im Kindergarten oder in der Schule auch Alexander nennen lassen; aber einen regelrechten Namenswechsel kann er sich nicht vorstellen. Man kann doch den Leuten nicht sagen, sie mögen einen von jetzt an anders nennen. «Was hast du denn? Warum willst du denn deinen schönen Vornamen loswerden?», würde es dann heißen. So weit will er nicht gehen.

Seine Mutter hat ihm erzählt, Alexander heiße er nach seinem Ururgroßvater, der ein Schneider mit einigen Gesellen in Berlin gewesen sei. Immer wieder einmal ist von dem Ururgroßvater die Rede. Der Junge hört diese Geschichten gern. Er schätzt seinen Berliner Vorfahren, der gewissermaßen eine schützende Hand über seinen zweiten Vornamen hält. Sollte sein zweiter Vorname immer weiter und weiter zurückgedrängt werden, könnte er sich zur Verteidigung auf seinen Ururgroßvater berufen.

*

Sein erster Vorname ist eine Hinterlassenschaft seines Vaters. Gemessen an dem Umstand seiner völligen Abwesenheit ist das, findet der Junge, eine ziemlich nachhaltige Einmischung. Über seinen Vater weiß er, dass er in Heidelberg Medizin studiert hat, aber bald nach der Geburt des Jungen nach Nigeria zurückgegangen ist. Fotos: Da steht der Vater neben der Großmutter und hält seinen Sohn in den Armen. In Anzug und Krawatte. Im Hintergrund Weinberge, der Odenwald. Der Junge interessiert sich nicht sonderlich für die Aufnahmen, aber wenn die Mutter sie mal wieder hervorkramt – er kann das schlecht verhindern –, ist er jedes Mal verblüfft über die reine Freude, die sich dort im Gesicht der Großmutter zeigt. Nimmt sie, fragt er sich, gar keinen Anstoß an der Anwesenheit des fremden Mannes? Warum ist sie nicht irritiert von seiner Fremdheit? Kommt es ihr nicht unstatthaft vor, dass sich der unbekannte Mann so raumfüllend aufs Familienfoto drängt? Anders als bei der Mutter, die stets für Überraschungen gut ist, kann er sich bei seiner Oma eigentlich auf normale Reaktionen verlassen. Wäre es nach dem Jungen gegangen, das Foto und ähnliche wären aus dem Album aussortiert worden. Selbst gegen eine Retouche hätte er nicht protestiert. Wen es im Leben nicht gab, der musste sich auch auf Fotos nicht zu Wort melden.

Der Junge grollt dem Vater nicht, aber ebenso wenig vermisst er ihn. Er hat keine Erinnerungen an ihn, deshalb kann er keinen Grund erkennen, dass er in Fotoalben auftaucht.

Die Mutter sieht das anders. Immer wieder schwärmt sie vom Vater. Der Junge durchschaut ihre Absicht: Sie möchte ein einnehmendes Vaterbild in seiner Seele verankern. Er soll nicht schlecht über ihn denken, nur weil er nicht da ist. Soll sich nicht sitzengelassen fühlen. Ab und zu erzählt sie ihm die Geschichte, wie der Vater mit der Unterstützung des Dorfes, aus dem er stammte, nach Deutschland zum Medizinstudium gekommen sei; für ihn habe es sich von selbst verstanden, dass er die hier erworbenen Fähigkeiten, zuletzt als Facharzt für Kinderchirurgie, eines Tages seinem Heimatland zurückgeben werde. Umgekehrt sei es für sie, seine Mutter, nicht vorstellbar gewesen, mit ihm und dem Sohn nach Afrika zu gehen. Bei aller Liebe zu Afrika, dafür sei sie doch zu sehr Deutsche. Man habe sich im Guten getrennt, für Vorwürfe gebe es keinen Grund.

Die Gespräche über den abwesenden Vater sind dem Jungen nicht angenehm. Mag die Mutter den Vater noch so sehr rühmen, als hätte alles seine Ordnung – am Ende ist er, anders als die Väter seiner Freunde, nicht da. Und warum soll er sich Geschichten anhören über einen Menschen, den es nicht gibt?

Zu seiner Erleichterung kommt es nicht allzu oft zu solchen Gesprächen.

Der Vater, und das ist die gute Nachricht, hat in Nigeria eine neue Familie gegründet. Um nicht die Eifersucht seiner Ehefrau heraufzubeschwören und damit den dortigen Haussegen zu gefährden, habe man, fährt die Mutter fort, beschlossen, erst einmal nicht in Kontakt zu bleiben. Die Eifersucht der neuen Ehefrau gefällt dem Jungen, so muss er nicht damit rechnen, dass der Vater plötzlich vor der Tür steht. In Anzug und Krawatte. Der Junge hat kein Interesse an Überraschungen. Der abwesende Vater ist eine Lücke, ein Makel, aber solange man ihn nicht erwähnt, fällt die Lücke gar nicht so sehr auf. Wenn die Mutter wieder einmal feststellt, der Junge habe dieselben schönen Klavierspielerhände wie sein Vater, verdreht er die Augen. Nicht die Abwesenheit des Vaters ist das Problem, sondern die Spur, die er hinterlassen hat, die Zeichen, die auf ihn verweisen. Am meisten anwesend aber ist der Vater in seinem Vornamen; wenn der Junge ihn nennt, kommt es fast jedes Mal zu Fragen, deren Beantwortung die Leute überhaupt erst darauf stößt, dass an den Verhältnissen des Kindes etwas komisch ist. «Ach so, du hast den Vornamen von deinem Vater und den Familiennamen von deiner Mutter?» Aus irgendeinem Grund fänden es die Leute andersherum einleuchtender.

Solche Situationen kann man überstehen, sie gehen schnell vorbei. Wenn die Mutter nur nicht so einen Kult um seinen Vornamen treiben würde! Welch ungewöhnlich schönen Klang er habe; dass er «Glücksfall» bedeute; dass er in Nigeria keineswegs exotisch sei; dass es den Wohllaut immer unterstütze, wenn ein Name über drei verschiedene Vokale verfüge. Dass dieser Name, in dem der Junge seine große Schwäche erkennt, nach Ansicht der Mutter nun, im Gegenteil, Anlass zu Stolz sein soll, das stellt die Dinge auf den Kopf. Aber der Junge sagt nichts.

Ohnehin ist er überzeugt, dass sein Vorname gar nicht so viel mit dem Vater zu tun hat, mehr mit der Mutter und ihrem Hang, immer alles anders zu machen als die anderen. Sich einen Nigerianer zum Vater ihres Kindes zu wählen – auf die Idee kann nur seine Mutter kommen. Ein Familienleben durchzuziehen ohne Vater – welche Frau macht das sonst? Und dann dem Kind auch noch einen Namen zu geben, der alles andere als eine Tarnung ist – das ist der Gipfel der Furchtlosigkeit.

*

Zum Glück gibt es Dossenheim, einen Vorort von Heidelberg. Die Kraft der Wohlgeordnetheit ist dort so groß, dass sie den Jungen und seine ungewöhnlichen Verhältnisse mühelos umhüllt. Wenn die Mutter arbeitet, ist der Junge bei den Pflegeeltern. Tatie und Pfeifer-Papa. Sie sind Ur-Dossenheimer und haben selber vier Kinder, die aber schon erwachsen sind. Bei ihnen ist alles anders, manches zwar auch ein wenig unheimlich, aber doch von beruhigender Ordnung. Pfeifer-Papas linker Arm endet oberhalb des Ellenbogens. Im Krieg hat ihn ein Schuss getroffen, der Unterarm musste amputiert werden. Von welchem Krieg die Rede ist, ist dem Jungen unklar, doch dass man dabei seinen Arm verlieren kann, leuchtet ihm ein. Er kennt das. Er hat nämlich einen Onkel, mit dem man sich eigentlich nicht unterhalten kann. Der schaut einen immer so misstrauisch an, als wollte er einem gleich etwas verbieten oder hätte einen bei etwas Verbotenem erwischt; die Tante aber sagt, das liege nur daran, dass er so schlecht höre, im Krieg habe er einen Durchschuss durchs Ohr bekommen. Da ist Pfeifer-Papa mit seinem Armstumpf sympathischer. Der schaut nie grimmig. Allenfalls manchmal traurig, wenn er vom Leid der Welt spricht. Aber wie eindrucksvoll ist es zu sehen, mit welcher Geschicklichkeit er den Armstumpf zum Einsatz bringt, wenn er eine Konservendose öffnet, indem er sie zwischen Oberarm und Brust fixiert, um dann mit der gesunden Hand den Dosenöffner anzusetzen. Nur am Sonntag, zum Kirchgang, legt Pfeifer-Papa außer der Krawatte auch seine Prothese an. Das erinnert den Jungen an seine Oma, die ihre dritten Zähne auch nur einlegt, wenn sie Besuch erwartet. Klingelt es dann an der Tür, verschwindet sie im Bad und kommt mit einem so völlig veränderten Gesichtsausdruck zurück, dass der Junge nicht mit letzter Gewissheit beschwören möchte, ob es sich noch um ein und dieselbe Oma handelt: Ihre Wangen sind nicht mehr eingefallen, sie haben Volumen; ihre Lippen, sonst nach innen gekehrt, wölben sich nun nach außen; wenn sie lacht und die blendend weiße Zahnreihe zeigt, hat das etwas Festliches. Dem Jungen fehlt dann allerdings die verschmitzte Vertraulichkeit, die er von ihr kennt.

In Pfeifer-Papas Wohnung gibt es drei Dinge, die ihm nicht ganz geheuer sind. Er betrachtet sie aus respektvoller Entfernung und stellt keine dummen Fragen. Das eine ist das Mannschaftsfoto von Eintracht Frankfurt; es ist in einen Glasrahmen gefasst, und alle Spieler haben mit einem schwarzen Filzstift etwa auf der Höhe ihrer Beine unterschrieben. Über dem Foto hängt die Fahne des Vereins. Da Fußball bei ihm zu Hause keine Rolle spielt, ist ihm das fremd; hätte an Pfeifer-Papas Wand ein Skalp gehangen, es wäre ihm kaum wunderlicher vorgekommen. Pfeifer-Papa, der schnell gerührt ist und Tränen in die Augen bekommt, wenn er über die Schlechtigkeit der Welt und die Güte einzelner Ausnahmemenschen redet, lässt keinen Zweifel daran, dass im Dunstkreis dieses Fotos kein Raum für Flachsereien ist.

Das gilt, nicht allein wegen der unmittelbaren räumlichen Nachbarschaft, auch für ein anderes, ebenfalls gerahmtes Bild eines hochmerkwürdigen Mannes, der den Jungen trotz seines freundlichen Lächelns verunsichert. Vielleicht wegen des weißen Gewands, das er trägt? Er hat verschmitzte Augen, auf seinem silbernen Haarkranz liegt ein weißer Deckel. Er wirkt keineswegs streng. Was es mit ihm auf sich hat, ist dem Jungen unklar, obwohl Pfeifer-Papa von Zeit zu Zeit sein übermenschlich gutes Herz rühmt. Manchmal treten ihm dann wieder Tränen in die Augen.

Der Mann auf dem Foto bleibt dem Jungen ein Rätsel, er weiß aber, er steht kurz davor, es zu lösen. Er muss nur noch 1 und 1 zusammenzählen. Denn auch über dem Bett im Schlafzimmer hängt ein Bild, ein ziemlich großes, das einen alten Mann zeigt, allerdings keinen so freundlich lächelnden; sein wuchernder Bart jagt dem Jungen Angst ein, wenn er allein im Schlafzimmer spioniert. Auch besteht der alte Herr nur aus Kopf und Oberkörper, die untere Körperhälfte geht in einer Wolkenlandschaft auf. Das Bild löst eine solche Beklommenheit in ihm aus, dass er sich stets nur flüchtige Blicke darauf erlaubt, Blicke, die noch nicht einmal ausreichen, um abschließend zu klären, ob es sich um ein Foto oder ein Gemälde handelt.

Und obwohl er weder von dem Wolken-Mann im Schlafzimmer noch von dem Lächelnden im weißen Gewand sagen kann, wen er eigentlich darstellt, ist ihm klar, dass es zwischen beiden einen Zusammenhang geben muss. Nur welchen? Irgendwann kommt er dahinter: Der in den Wolken ist Gott-Vater, der im weißen Gewand der Papst, was, wie Pfeifer-Papa ihm erklärt, auch wieder Vater heißt, und Letzterer vertritt Ersteren hier auf Erden.

*

Der Junge ist vier, als Tatie stirbt. Zum ersten Mal ist er auf einer Beerdigung. Er weiß, etwas Schreckliches ist passiert, aber er kann dieses Schreckliche nicht in sich finden, nur in den Gesichtern der anderen. Pfeifer-Papa ist jetzt allein. Die Leute sagen: Er ist ein Witwer. Unter dem Wolkenbild von Gott steht aber weiterhin das alte Doppelbett. Ob Pfeifer-Papa nur seine alte Betthälfte benutzt, oder wechselt er ab? Jedenfalls ordnet er seinen Bilderdienst neu. Ins Zentrum rückt nun eine Fotografie von Tatie. Wenn der Junge ihn besucht, führt ihn Pfeifer-Papa zu der Anrichte, auf der das gerahmte Foto, von einem ausklappbaren Fuß an der Rückseite gestützt, steht. Dann sagt er, dass er jeden Tag zum Grab gehe und mit ihr rede. Den Jungen macht diese Vorstellung etwas beklommen, aber er nickt schuldbewusst – in Erwartung des Fünfmarkstücks, das ihm gleich zugesteckt werden wird.

Pfeifer-Papas Abendspaziergänge führen an dem Haus vorbei, in dem der Junge mit seiner Mutter wohnt. Dabei raucht er eine große Zigarre. Wenn er den Jungen trifft, sagt er: «Mehr brauch isch ned: des Grab vun da Mamma un mei Ziggah.» Der Junge betrachtet währenddessen konzentriert die qualmende Zigarre; er bekommt die leeren Zigarrenschachteln, um darin Legosteine oder Airfix aufzubewahren. Er kann die Zigarrenschachteln gut gebrauchen, aber besonders faszinieren sie ihn, weil auf ihnen das Wort Fehlfarben steht. Der Junge liebt Wörter, die er nicht versteht. Wenn er bei seiner Oma ist, die anders als seine Mutter einen Fernseher hat, und die Ziehung der Lottozahlen verfolgt, heißt es immer ohne Gewähr. Je dunkler ein Wort, desto offizieller klingt es. Als liefen alle Fäden der unsichtbaren Macht, die die Welt regiert, darin zusammen. Ohne Gewähr ist kein Ausdruck, den er je über die Lippen brächte. Der konnte nur im Fernsehen bei der feierlichen Verkündung der Lottozahlen gesagt werden. Ähnlich verhält es sich mit dem wichtigsten Buch, das der Junge besitzt: dem Märklin-Katalog. Hier ist schon alles zu sehen, was ihm einst gehören wird. Die entscheidende Auskunft allerdings, was man für die Baureihe 103 (die beige-rote IC-Lokomotive) oder das deutsche Krokodil, Baureihe 196 (nicht ganz so lang wie das Schweizer Krokodil, aber immerhin), zu zahlen hat, ist wiederum – wie sollte es bei so wichtigen Informationen auch anders sein? – in einem Zauberspruch verpackt: Unverbindliche Preisempfehlung. Ein Wort wie eine glatte Felswand, an der man keinen Halt findet. Und auf dem Bundesbahn-Plakat, das in seinem Kinderzimmer hängt, steht über ebenjener Lokomotive, Baureihe 103: «Jede Stunde, jede Klasse». Das ist mindestens so unverständlich, wie wenn in Weihnachtsliedern ein Ros aus einer Jungfrau zart entspringt.

*

Der Junge freut sich, wenn er Pfeifer-Papa beim Abendspaziergang über den Weg läuft, nur zwischen den Jahren ist das anders. Pfeifer-Papa spricht für den Geschmack des Jungen ohnehin zu häufig von den armen Kindern in Afrika, die nichts zu essen haben. Dem Jungen ist das unangenehm, weil er sich nicht sicher ist, ob nicht auch er irgendwie, zumindest wenn man es ganz genau nimmt, zu den Kindern in Afrika gehört. Pfeifer-Papa scheint daran nicht zu denken, aber ein flaues Gefühl hat der Junge trotzdem. Zwischen den Jahren allerdings wird die sonst folgenlose Klage noch einmal zugespitzt. Pfeifer-Papa bringt dann sein Unverständnis darüber zum Ausdruck, wie man hier in Deutschland an Silvester Millionen in Form von Raketen in die Luft schießen könne, während in Afrika die Kinder hungern! Der Junge findet solche Argumente schwer zu widerlegen. Er ist gleichwohl entschlossen, auf Böller und Raketen nicht zu verzichten. Und diesmal ist er positiv von seiner Mutter überrascht. Obwohl sie es ja auch irgendwie mit Afrika hat, zerstreut sie seine Gewissensbisse und sagt, darüber möge er sich mal bitte nicht den Kopf zerbrechen, das könne man nicht gegeneinander aufrechnen. Der Junge nimmt das gerne an, obwohl er findet, dass die Einstellung der Mutter auf wackligen Beinen steht. Er war oft genug mit Pfeifer-Papa in der Kirche, um zu wissen, wozu die Kollekte da ist.

*

Alles um ihn herum erscheint dem Jungen selbstverständlich, alles am rechten Platz. Nur bei der Mutter hat er Zweifel. Es ist offensichtlich, dass sie die Ordnung der Dinge nicht achtet. Die Mutter erscheint irgendwie irregulär. Immer schaut er mit Befremden auf sie. Manchmal zum Beispiel spricht sie seltsam, als wolle sie die Worte extra anders aussprechen als alle anderen: Sie dehnt dann die Silben so sehr, dass man meinen könnte, sie habe einen fremdländischen Akzent. Wenn er mit seiner Oma zusammen ist, muss er nie fürchten, dass sie unangenehm auffallen. Dagegen die Mutter: In ihrer Gegenwart weiß man nie, was als Nächstes passiert. Nie würde sie den Satz sagen, den die Oma so häufig sagt: «Was sollen denn die Leute denken!» Er persönlich hat mit dem Satz kein Problem. Mit der Mutter fühlt er sich manchmal wie nackt, während alle anderen ihren Konfirmationsanzug tragen. Noch so etwas: Getauft hat ihn die Mutter auch nicht. Obwohl sie selber gern in der Bibel liest und sogar ganze Sätze unterstreicht, Stichworte an den Rand schreibt. Das mit der Taufe solle der Junge, sagt sie, später mal selber entscheiden.

Ziemlich sonderbar ist ihr lautes Singen bei den Haushaltsarbeiten. Es ist reichlich peinlich, aber der Junge weiß, dass man Menschen das Singen nicht verbieten kann, ohne als verklemmt dazustehen. Richtig schlimm: wenn sie zum Singen auch noch tänzelnde Bewegungen macht. Überhaupt ihr Überschwang! Sind ihre Kleider auffällig? Schwer zu sagen. Irgendwie schon, aber sie gefallen ihm. Marimekko heißt die Firma, aus Finnland. Am liebsten trage sie Marimekko-Kleider, sagt die Mutter. Die seien so luftig und leicht. Alles, was aus Skandinavien kommt, wird immer gelobt. Ihr Haar färbt sich die Mutter mit Henna. Das schimmert dann so wie Kastanien im Herbst.

Hauptquell der Peinlichkeit ist eindeutig die Offenheit, mit der sie Menschen anspricht und ihnen Fragen stellt, die mit Gefühlen, Erinnerungen, Wünschen und Träumen zu tun haben. Den verblüffenden Umstand, dass die Leute darauf bisweilen mit Herzensergüssen reagieren, als wäre ein Damm gebrochen und das Innenleben dürfe sich endlich verströmen, kann der Junge allerdings nicht bestreiten.

Einmal steht er mit einem Spielkameraden vor der Wohnungstür. Während sie darauf warten, dass die Mutter öffnet, schneidet der Grimassen: führt die Hände mit gespreizten Fingern an die Schläfen, streckt die Zunge gegen die Tür heraus, hinter der gleich die Mutter erscheinen wird. Der Junge weiß, dass das eine ungeheure Respektlosigkeit gegen seine Mutter ist, aber es fehlt ihm die Kraft einzuschreiten; es drückt ihn die Ahnung nieder, dass man sich seiner Mutter gegenüber solche Frechheiten herausnehmen kann. Das hat sie davon, denkt er, dass sie immer alles anders macht, am Ende wird man nicht mehr respektiert! Als die Mutter die Tür öffnet, tut der Spielkamerad allerdings, als wäre nichts gewesen; er verhält sich artig und brav. Vielleicht ist es doch nicht so schlecht bestellt um die Autorität der Mutter.

*

An der Wohnung, in der die Mutter und der Junge leben, ist nichts auszusetzen, wäre da nicht der Teppich. Seine Mutter spricht nicht darüber, und lange hat er es selber gar nicht gemerkt, aber irgendwann ließ es sich nicht mehr ignorieren: Der Teppich ist alt, er ist hin. Sie haben ihn von den Vormietern übernommen. Er ist hellgrau. Die Mutter sagt immer, dass sie den Teppich mag, weil er so freundlich sei und den lichtdurchfluteten Charakter der Wohnung unterstreiche. Dass er kaputt ist, dass er sich längst fast überall von der Bodenleiste gelöst hat und der Estrich darunter zum Vorschein kommt, das sagt sie nicht. Niemand, den der Junge kennt, wohnt in einer Wohnung mit einem derart zerschundenen Teppich. Über die Jahre breitet der Estrich sich aus wie die Wüste, die wächst. Der Abstand zwischen dem Rand des Teppichs und der Bodenleiste wird immer größer. Ein Teppich auf dem Rückzug. Wenn die Großmutter zu Besuch kommt, schüttelt sie den Kopf. In ihrer Wohnung im Schwarzwald gibt es einen Teppich ohne Makel, der sich bis auf Küche und Bad durch ihre ganze Wohnung zieht und ordentlich mit der Bodenleiste abschließt. Im Wohnzimmer liegt über diesem Teppich sogar noch ein zweiter, ein blau-dunkelroter. Wenn man mit der Hand gegen den Strich der Fasern fährt, richten diese sich auf und erscheinen dunkler als die Umgebung der glatt gestaubsaugten Fasern. Auf diese Weise kann man schattenhafte Muster in den Teppich zeichnen, die erst wieder verschwinden, wenn die Großmutter mit dem Vorwerk-Staubsauger, der eigens von Vorwerk-Vertretern an der Haustür verkauft wird, darüber hinwegfährt.

Seltsamerweise ist die Großmutter die einzige Person, die die Nase rümpft über den Zustand des Teppichs. Alle anderen scheinen darüber hinwegzusehen. Im Gegenteil, der improvisierte Einrichtungsstil der Mutter, bei dem die Büchertürme wie Stalagmiten in die Höhe wachsen, weil die Bücherregale längst voll sind, wird immer gerühmt, in einer Weise, als habe das nicht die Not geboten, sondern sei Ausdruck der Lebenskunst der Mutter, ihrer Unabhängigkeit, ihres Antimaterialismus, der die Seelen aller Besucher emporzuziehen scheint. Immer haben sie so etwas Jubilierendes, wenn sie sich am Tisch niederlassen, den die Mutter liebevoll gedeckt hat. Und obwohl der Junge sich für den Teppich schämt, mag auch er zur eigenen Überraschung die lichtdurchflutete Wohnung mit dem großen Balkon sehr. Manchmal denkt er allerdings: Hätte man statt des teuren Klaviers nicht lieber einen neuen Teppich anschaffen sollen?

*

Ein Jahr lang geht der Junge in einen Kindergarten, den die Erwachsenen antiautoritär nennen. Im Sommer springen die Kinder nackt auf dem Gelände herum, und weil es nur wenige Minuten zum Neckar sind, wird ständig im Fluss gebadet. Der Fluss ist schön, die dauernde Nacktheit unangenehm. Die Kinder dürfen machen, was sie wollen, keiner schreitet ein. Mittags sitzen alle an langen Tischen zum Essen. Manche Gerichte mögen die Kinder, andere weniger. Sehr unbeliebt ist der Donnerstag, da werden den Kindern bei der Essensausgabe mit einer Kelle Ravioli in die Schüsseln geschöpft, und weil keiner Ravioli aus der Dose mag, kippen die älteren Kinder den jüngeren ihre Reste in die Teller. Man kann sich dagegen nicht wehren, kann nur den eigenen Teller stehenlassen, selbst wenn man noch hungrig ist.

In einem Raum des Kindergartens steht ein Holzhaus mit vielen Kammern, dunklen und halbdunklen, die runde Bugfenster haben. Über eine Leiter kommt man ins obere Stockwerk. Die Doktorspiele finden meistens auf dem oberen Stockwerk statt. Die Kleineren liegen nackt auf der Matratze und werden von den Größeren an allen Stellen ihres Körpers untersucht. Die Doktorspiele dauern so lange, bis die, die die Doktorrolle spielen, keine Lust mehr haben. Dann erst hat man als Patient die Sache überstanden.

Hat er der Mutter je davon erzählt? Seines Wissens nie, obwohl er jeden Morgen Bauchschmerzen hat, wenn er in den Kindergarten muss, den alle anderen so lieben. Nach einem Jahr nimmt die Mutter den Jungen aus dem Kindergarten, und der Junge ist erstaunt, woher die Mutter wissen kann, dass es genau das ist, was er sich schon lange wünscht. Er atmet auf, die Erfahrung, dass man das Schlimme nicht einfach ertragen muss, sondern dass ihm ein Ende gesetzt werden kann, ist überwältigend.

Es gibt zwei weitere Kindergärten in Dossenheim: den evangelischen und den katholischen. Als die Mutter, die selber Protestantin ist, ihren Sohn im evangelischen Kindergarten anmelden will, sagt der Pfarrer, dass er den Jungen gern aufnehme, er müsse aber getauft werden. Die Mutter ist empört. Noch nie hat der Junge sie mit so viel Wut und Verachtung über einen Menschen schimpfen gehört wie über diesen Geistlichen. Dann geht sie zum katholischen Pfarrer. Der nur: Er freue sich sehr! Im katholischen Kindergarten ist es so, wie der Junge findet, dass es in einem Kindergarten sein muss. Man muss nicht nackt herumspringen, keiner spielt Doktor und Patient, die Kindergärtnerinnen haben immer ein Auge auf die Kleinen und greifen ein, bevor die Dinge außer Rand und Band geraten, und die Kinder gehen mittags nach Hause und müssen nicht widerliche Ravioli aus der Dose essen.

*

Für das Bilderbuch «Wo die wilden Kerle wohnen» muss er all seinen Mut zusammennehmen. Wie kann man nur so verwegen sein wie der Junge in der Geschichte! Der wird von seiner Mutter, weil er mal wieder nur Unfug gemacht hat, ohne Abendessen ins Bett geschickt. Trotzig schaut er auf die verschlossene Tür: Zimmerarrest! Aber so leicht bricht man seinen Willen nicht. Das Zimmer verwandelt sich in einen Wald, dann in die ganze Welt. Der Junge besteigt ein Segelboot, das so heißt wie er selbst: Max. Max, Kapitän auf eigene Faust. Er zeigt es der Mutter: Meine Geduld ist erschöpft, ich segle über die Meere! Von mir wirst du nie wieder ein Sterbenswörtchen hören!! Du wirst mir nachweinen, aber dann ist es zu spät!!!

Schließlich landet er auf einer Insel. Es ist die Insel, wo die wilden Kerle wohnen. Schon kommen sie aus dem Urwald hervor. Die wilden Kerle sehen wirklich gruselig aus, die Körper behaart, die Augen funkelnd wie Blitze, statt Fingern haben sie Krallen; selbst ihre Fußzehen winden sich zu Klauen. Max, seiner Sache keineswegs sicher, betrachtet sie mit einem gewissen Abstand: Die Stimmung scheint zu kippen. Doch dann erinnert er sich seiner angeborenen Herrschernatur und schaut den wilden Kerlen in die Augen, ganz fest, ohne mit der Wimper zu zucken. So bezwingt er sie – und die wilden Kerle unterwerfen sich ihm. Sie krönen ihn zum König.

Jetzt darf Max bestimmen, und er bestimmt: «Wir machen Krach!» Alle brüllen, was das Zeug hält, alle springen in die Luft, sie heulen den Mond an und angeln sich wie Affen an den Ästen der Bäume entlang.

Doch irgendwann erschöpft sich jeder Spaß, und mit der Müdigkeit kommen Traurigkeit und Einsamkeit. Dieser Urwald ist doch gar nicht sein wahres Zuhause, diese Palmen sind ihm nicht vertraut. Es ist eine fremde Welt. Und die wilden Kerle sind schon furchterregend; auch wenn er ihr König ist, er wird nie wirklich zu ihnen gehören. Anders als sie hat er ja eine Mutter.

Zeit für die Heimreise. Max besteigt das Segelboot. Die wilden Kerle brechen zum Abschied wieder in ihr ohrenbetäubendes Geschrei aus – das ist nicht böse gemeint, es ist einfach ihre Art, Max zu zeigen, dass sie ihn schon jetzt vermissen. Während der Fahrt schläft Max, bei ruhigem Meer, günstigem Wind. Als er aufwacht, ist er wieder in seinem Zimmer. Mondlicht fällt durchs Fenster. Auf dem Tisch steht das Abendessen, es ist sogar noch warm. Die Sterne stehen vollzählig überm Land, die Mutter lässt einen nie im Stich. Dass er aus einem fernen Land kommt und der König der wilden Kerle ist, muss er ja niemandem erzählen.

*

Die Ferien verbringt er bei seiner Oma im Schwarzwald. Einfach ein Dorf, auf einem Hochplateau gelegen, zehn Kilometer von Calw entfernt. Das Dorf ist so klein, dass er fast alle Bewohner kennt. Die Mutter muss arbeiten, also setzt sie ihn in Heidelberg in einen Zug, in einen sogenannten Kurswagen, der in Pforzheim umgekoppelt wird, das heißt sein Waggon wird an einen Zug angehängt, der nach Calw fährt, während der ursprüngliche Zug einen anderen Zielbahnhof ansteuert. Sowohl seine Mutter wie seine Oma rühmen das Prinzip Kurswagen, das erspare einem anstrengendes Umsteigen. Der Junge findet Umsteigen eigentlich gut, aber noch besser, dass der Wagen, in dem man sitzt, umgekoppelt wird. Das merkt man immer erst, wenn es ruckelt. Rangierer, sein Traumberuf. Der macht, was sonst keiner darf: ins Gleisbett runtersteigen und zwischen zwei Waggons kriechen, um sie zu entkoppeln. Wenn der Junge nicht Müllmann werden will (natürlich nicht der Fahrer vorn in der Kabine, sondern einer der beiden Männer, die hinten bei freier Fahrt auf den Plafonds stehen und immer schon abspringen, während das Müllauto noch fährt), möchte er Rangierer bei der Bundesbahn werden. Auch weil es toll ist, für ein Unternehmen zu arbeiten, dessen Name mit Bundes- beginnt. Früher hieß die Bundesbahn Reichsbahn, das weiß er, denn sein Großvater, der im Krieg gefallen ist, hat in Breslau für die Reichsbahn gearbeitet. Seine Oma darf deswegen heute noch kostenlos Zug fahren, weil sie die Witwe eines Reichsbahnbeamten ist. Kostenlos Zug fahren zu dürfen ist ein so enormer Vorzug, dass der Junge manchmal gar nicht weiß, wohin mit seiner Wonne, dass ausgerechnet seine Oma es so gut hat. Kein Wunder, dass sie sich mit Kurswagen auskennt.

Aber nicht nur mit Kurswagen. Sie weiß auch, wo man im Zug am besten sitzt. Nie vorn, denn im Falle eines Zusammenstoßes habe man da schlechte Karten. Von seiner eigenen Holzeisenbahn (eine Brio natürlich, die von Eichhorn ist in den Augen seiner Mutter moralisch fragwürdig, denn ihre Holzschienen sind nicht aus einem Stück gefertigt, stattdessen wird das Kopplungsglied reingeleimt – und obwohl er selber Uhu toll findet, auch wegen des Geruchs, muss er lernen, dass Geklebtes zu den Dingen gehört, auf die seine Mutter herabschaut) weiß er, dass die mittleren Waggons in engen Kurven, wenn er zu schnell an der Lokomotive zieht, immer in Gefahr sind, aus den Gleisen auszubrechen. Also sitzt er am liebsten in den hinteren Wagen. Das trifft sich gut, denn der Kurswagen wird als Schlusslicht hinten angekoppelt.

In Calw auf dem Bahnsteig stehen der Onkel mit dem Ohrdurchschuss und die Oma. Der Bahnhof sieht genauso aus wie im Katalog der Modelleisenbahnfirma Faller. Es gibt nur zwei ernstzunehmende Bahnhöfe bei Faller, Bonn und Calw; dass ausgerechnet der Calwer Bahnhof von Faller ausgewählt wurde, ist schon ein Ritterschlag für die Stadt, findet er. Die Oma umarmt ihn und sagt, sie sei stolz, dass er so selbständig Zug fahre. Nun ja, denkt er, es war ein Kurswagen, da muss man nicht umsteigen, sondern nur auf seinem Platz sitzen bleiben und das Käsebrot mit dem Apfel essen, das die Mutter einem mitgegeben hat.

Beim Onkel ist er sich nicht sicher, ob sein Besuch ihn freut. Er spricht wenig, und wenn, versteht der Junge ihn nicht, weil er so schwäbelt. Seine Oma, die aus Schlesien stammt, schüttelt immer den Kopf, dass sie jetzt unter lauter Leuten leben muss, die schwäbisch reden. Das sei ihr auch nicht an der Wiege gesungen worden. Ihr anderer Enkel, sein Cousin Joachim, bei dem er manchmal fürchtet, die Oma könne ihn mehr mögen als ihn, schon weil er im selben Dorf lebt und sie täglich sieht, spricht auch extrem schwäbisch. Er würde es nicht laut sagen, aber wenn die Oma wieder so tut, als würde sie Joachim nicht verstehen, damit er sich ein bisschen mehr anstrengt, hochdeutsch zu sprechen, denkt er sich: Na also! (Später, als beide schon auf die Grundschule gehen, tut sich sein Cousin schwer mit dem Lernen. Beim Jungen läuft es deutlich besser in der Schule, aber zu seiner Überraschung führt dieser unzweifelhafte Leistungsvorsprung zu keiner Neuverteilung der großmütterlichen Sympathien.)

Eigentlich gefällt ihm alles bei der Oma. Die Küchenbank, die ums Eck geht und deren Sitzflächen man hochklappen kann. Die Brettspiele im Stauraum darunter, Malefiz, Halma. Morgens beim Frühstück die fröhliche Musik aus dem Radio. Und alles steht immer an seinem Platz. Kaputte Teppiche: unvorstellbar; wenn irgendetwas kaputt ist oder wackelt, wird es sofort repariert oder ersetzt. Aber vor allem hat die Oma einen Fernseher, und der Junge darf so viel fernsehen, wie er will. Vermutlich findet die Oma, dass er einiges nachzuholen habe, da es bei ihm zu Hause keinen Fernseher gibt. Er findet es gut, dass die Oma einen Fernseher hat, aber manchmal wundert er sich ein bisschen, dass sie sich dafür gar nicht schämt.

Einmal, noch vor dem Abendbrot, sieht er eine Folge des «Unsichtbaren». Ein Mann macht sich unsichtbar. Es ist unvorstellbar unheimlich. Man kann den Unsichtbaren wirklich nicht sehen! Betritt er einen Raum, öffnet sich die Tür wie von Geisterhand; trinkt er einen Kaffee, schwebt plötzlich die Tasse durch die Luft. Der Junge kann es kaum ertragen. Immer wieder schaut er auf den Boden statt auf den Fernseher. Dass sich Menschen unsichtbar machen können, ist schrecklich, denn das heißt, sie können überall lauern, ohne dass man es ahnt. Der Unsichtbare verfolgt ihn noch lange. Am schlimmsten auf dem Klo. Er stellt sich vor, dass der Unsichtbare aus der Kloschüssel auftauchen und nach seinem Hintern greifen könnte. Obwohl das ziemlich unlogisch ist, denn der Unsichtbare ist unsichtbar, nicht zu einem Kobold geschrumpft. Einige Wochen lang hat er Angst, sich aufs Klo zu setzen, und beschleunigt die Prozedur, soweit es nur geht.

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Die Wohnung der Großmutter liegt im ersten Stock. Man erreicht die Wohnungstür über eine Außentreppe im offenen Hof, der wiederum in einen großen Garten übergeht. Garten und Hof gehören dem Vermieter. Eine Respektsperson, aber eigentlich lieb. Er nimmt den Jungen gern mal auf den Arm, indem er etwas sagt, was er gar nicht so meint. Der Junge braucht dann immer ein paar Sekunden, bis er am Grinsen im Gesicht des Vermieters begreift, dass der einen Witz gemacht hat. Dann wuschelt ihm der Vermieter lachend über die Haare.

Es ist der Sommer, in dem er Rad fahren lernt. Der Sohn des Vermieters ist ein bisschen älter als er. Er setzt den Jungen auf ein kleines Fahrrad und sagt: «Des isch hopfaleicht: Du musch bloß trebble, emmer dapfer trebble, no kibbsch ed om!» Dass das, was einen überhaupt erst in Gefahr bringt, einen zugleich vor der Gefahr bewahren soll, klingt erst mal nicht so überzeugend, wie der Nachbarjunge behauptet; aber weil der aus voller Lunge brüllt: «Trebble, trebble, trebble!», bleibt ihm nichts anderes übrig, als genau das zu tun. Die Anfeuerungsrufe peitschen ihn voran, und plötzlich ist tatsächlich der Punkt erreicht, wo alles von allein geht: Das Fahrrad scheint zu schweben, er dreht eine Runde nach der anderen im Hof, der Nachbarjunge kreischt vor Begeisterung, Begeisterung über sein Talent, anderen Fahrrad fahren beizubringen, und der Junge kann es kaum fassen, dass etwas so Tolles so einfach ist. Viel einfacher als Schnürsenkel binden zum Beispiel. Damit hat er sich deutlich schwerer getan, obwohl es viel ungefährlicher ist.

Im selben Sommer hört er am Frühstückstisch eines Morgens Stimmenlärm von draußen. Die Oma sagt, es sei Schlachttag, die Leute würden die Kaninchen, die sie aufgezogen haben, schlachten. Nach dem Frühstück schleicht er mit weichen Knien in den Hof, in dem große Bottiche stehen. Alles ist feucht von Wasser und Blut. Vier, fünf Männer sind am Werk. Einer ist offensichtlich der Anführer, er gibt die Anweisungen, die anderen schauen zu ihm hin. Der Junge kennt ihn nicht. Wie Socken an einer Wäscheleine hängen bereits einige ausgenommene Kaninchen an einer langen Schnur. Dem Jungen verschlägt es die Sprache. Er atmet ganz flach. So etwas hat er noch nie gesehen. Es wäre ihm lieber, er hätte das auch nie gesehen. Selbst Helmut, der Vermieter, der ihm sonst immer über die Haare streicht, sieht mit seiner rot verschmierten Schürze ganz anders aus als sonst, er scheint sich, unerreichbar und unansprechbar, in einer anderen Welt zu bewegen. Gerade will der Junge leise den Rückzug antreten, da entdeckt ihn der Anführer. Er sieht die erschrockenen Augen des Jungen und ruft zu ihm herüber: «Sollen wir dich auch aufknüpfen?» Dem Jungen wird eiskalt. In derselben Sekunde rennt er los. Rennt um sein Leben. Während er rennt, überlegt er, ob das vielleicht ein Witz war – hat der Schlächter den Satz ernst gemeint, oder hat er ihn mit einem Lachen gesagt? Aber das Risiko, sich kurz umzudrehen und in das Gesicht des Schlächters zu schauen, ist angesichts der Gefahr zu groß; jetzt hat er schon die Außentreppe erreicht, er muss nur noch die Stufen nach oben schaffen, die Tür aufreißen und nach der Oma rufen, dann müsste er in Sicherheit sein. In die Wohnung wird der Schlächter ihn nicht verfolgen, das kann ja einfach nicht sein, man schlachtet keine Kinder im Wohnzimmer ihrer Großmütter. Als er die Tür aufreißt, schaut er erstmals hinter sich, die Treppe runter: Niemand ist ihm auf den Fersen.

Kaum ist die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, sieht er das nächste Problem auf sich zukommen. Die Oma hat ja gehört, wie panisch er die Wohnung erstürmt hat. Wie soll er ihr das erklären? Nun, da er in Sicherheit ist, dämmert ihm, dass die Drohung des Schlächters ein Scherz gewesen sein muss. Er ist darauf reingefallen. Wie peinlich. Angsthase, Pfeffernase. Aber noch bevor er der Oma den Vorfall erklären muss, steht schon der Vermieter in der Wohnung, nimmt den Jungen in den Arm, wuschelt ihm mit der Hand durchs Haar und sagt, das sei doch ein Witz gewesen!

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Daheim in Dossenheim, an der Bergstraße, wechseln sich Obstgärten mit Weinbergen ab. In den Sommermonaten zieht der Junge mit seinen Freunden durch die Felder. Manchmal wird irgendwo ein Schuss ausgelöst, der soll Vögel vertreiben. In den Gärten Erdbeeren, Kirschen, Himbeeren und Johannisbeeren, Letztere sind aber ziemlich sauer, die mag er nur, wenn die Mutter sie ihm mit Sahne anmacht. Gemüse ist uninteressant, Obst zu stehlen aufregend. Man muss das Gelände genau erkunden und es hinkriegen, über den Zaun zu steigen; dabei verfängt sich das T-Shirt gern mal in einem rostigen Nagel. Einer steht Schmiere, seine Freundin Christiane zum Beispiel, der andere klettert auf den Baum. Ist Gefahr in Verzug, muss man, während das T-Shirt vom Kirschsaft tropft, schnell zurück über den Zaun und nach Leibeskräften rennen. Wenn der Gartenbesitzer hinter einem herruft, schlägt das Herz richtig stark. Überstandene Gefahr: ein herrliches Gefühl.

Christiane wohnt im Nachbarhaus, ist zwei Jahre älter, hat blonde Locken. Sie ist so stark wie ein Junge und völlig unerschrocken. Sie geht immer einen Schritt weiter, als der Junge sich von allein getraut hätte. Drückt bei Klingelstreichen nicht bloß eine Klingel, sondern gleich alle acht. Treibt’s aber nie so weit, dass es unheimlich oder geisteskrank wäre. Geisteskrank ist das Verdammungswort schlechthin. Ständig nennen die Kinder jemanden, den sie nicht mögen, geisteskrank. Dann sagen sie: Der gehört doch nach Wiesloch! Jeder weiß, was damit gemeint ist: In Wiesloch steht das Irrenhaus. Zwischen cool und geisteskrank ist es nur ein kleiner Schritt. Im Eifer des Gefechts ist man schon mal in der Gefahr, zu weit zu gehen, aber im letzten Moment greift doch immer eine innere Sperre.

Christiane ist das erste Mädchen, bei dem er sich vorstellt, wie es wohl wäre, sie zu küssen. Einmal hat sie ihr T-Shirt hochgezogen und ihre Brüste gezeigt. Richtige Brüste waren das zwar nicht, aber es war doch cool. Er stellt sich vor, dass sie beide durch ein hohes Maisfeld pirschen und Christiane die T-Shirt-Aktion wiederholt. Das wäre der Moment, sie zu küssen. Der Gedanke ist sehr aufregend, und er überlegt, was sie eigentlich daran hindern könnte, immer wieder ins Maisfeld zu gehen. Wenn er sich einmal trauen würde, sie zu küssen, könnten sie sich immer wieder küssen. Doch diese Gedanken hat er nur abends, wenn er im Bett liegt, vor dem Einschlafen, und meistens schläft er sehr schnell ein. Tagsüber, wenn er mit Christiane spielt, ist einfach zu viel los, als dass Zeit für solche Phantasien wäre. Und wenn die Stimmung einmal kuschliger wird, etwa in der Abenddämmerung, wenn sie auf dem Mäuerchen sitzen und quatschen und sich jede Minute kostbar anfühlt, weil sie wissen, die Uhr läuft, und gleich werden entweder ihre Eltern oder seine Mutter nach ihnen rufen, will er das Zusammensein auf keinen Fall durch so einen Kussüberfall gefährden.

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Eines Tages eine neue Erkenntnis: Bei dem, was sie täten, wenn sie Obst stehlen, sagt Christiane, handle es sich um Mundraub, und Mundraub sei nicht strafbar. Das Wort fasziniert ihn. Wie Christiane es gebraucht, klingt es absolut präzise. Wie ein Kreis, den man mit einem Zirkel gezeichnet hat, da stimmt einfach alles. Und doch glaubt er es nicht ganz. Es kann nicht sein, dass Stehlen erlaubt ist! Es kann nicht erlaubt sein, über Zäune zu klettern! Die Tatsache, dass sie auch weiterhin bei ihren Raubzügen darauf achten, nicht erwischt zu werden, beweist, dass sie der Lizenz zum Mundraub nicht trauen.

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Wenn er nicht durch die Weinberge zieht, spielt er oft auf dem freien Grundstück gegenüber ihrem Haus. Wenn man ihn fragte, würde er sagen, dass dies sein Grundstück sei. Das hat ihm bisher auch noch nie wer streitig gemacht. Andere Kinder können da gern mit ihm spielen, aber es ist schon seins. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Eines Tages rückt ein Bagger an. Er gräbt alles um, hebt das Erdreich aus. Der Junge ist schockiert. Wie ein geschlagener General muss er zuschauen, wie sein Reich plattgemacht wird.

Nach einigen Tagen ohnmächtiger Niedergeschlagenheit beginnen die Bauarbeiten den Jungen zu faszinieren. Besonders der Betonmischer, der fast ohne Unterlass rattert. Nun zahlt sich eine Eigenschaft aus, über die er verfügt: Beharrlichkeit, Ausdauer, zähe Konzentration; tagelang steht er am Rand der Baustelle und beobachtet die Arbeiter, bis seine Unbeirrbarkeit den Chef der Truppe beeindruckt. Der geht auf ihn zu und macht ihm das Angebot, er könne, wenn er wolle, gegen 30 Pfennig die Stunde leichte Arbeiten auf der Baustelle übernehmen. Der Ritterschlag – richtiges Geld für ehrliche Arbeit.

Kaum ist er am nächsten Tag aus der Schule zurück, schippt er Sand, schiebt die Schubkarre, wenn sie nicht zu schwer ist, und führt vor allem ausführliche Gespräche mit dem Chef. Die anderen Arbeiter behandeln ihn mit dem größten Respekt, denn der Junge steht ersichtlich unter dem persönlichen Schutz des Chefs. Einmal will der wissen, welchem Beruf denn die Mutter nachgehe. Ein heikles Thema. Der Junge kennt den Beruf und kann ihn auch flüssig runtersagen: Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Aber das Wortungeheuer ist eine Zitterpartie; die Schwierigkeit besteht darin, den Bindestrich nicht auszusprechen, aber doch mitschwingen zu lassen, sodass es wie ein Wort klingt, die Bestandteile aber als einzelne hörbar bleiben. Und das ist nur die artikulatorische Seite des Problems. Noch heikler ist, dass das Gesicht des Gegenübers, wenn er die Antwort gehört hat, meist etwas wie schwimmende Verständnislosigkeit zeigt. Nur durch äußerste Akkuratesse der Aussprache kann auch hier dem Zweifel der Boden entzogen werden. Tatsächlich hat der Junge bisweilen die Sorge, dass die Mutter in Wahrheit gar keinen richtigen Beruf hat, sondern wieder mal bloß so eine verschrobene Eigensinnigkeit, die sie sich am Ende selber ausgedacht hat. Andererseits: mitgefangen, mitgehangen; dass er die Zweifel seines Gegenübers im Innersten teilt, darf er bei seiner Ehre als Sohn nicht zu erkennen geben. Er muss das Wortungeheuer mit so viel Nachdruck und Selbstverständlichkeit über die Lippen bringen, dass es klingt, als wäre Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin ein ganz normaler, allgemein anerkannter Beruf. Mag sein Gesprächspartner die Berufsbezeichnung auch nur unter Stottern wiederholen können: egal, solange der Junge nur in der Lage ist, das Wort schnell, wenngleich nicht gehetzt, mit einer gewissen ratternden Beiläufigkeit auszusprechen. Leider ist der Versuch, die Bezeichnung so rasch und kaltblütig herunterzureißen (wie bei einem Pflaster am Knie, das man nach Möglichkeit auch schneller abreißt, als der Schmerz sich ausbreiten kann), dass man das Thema quasi schon hinter sich hat, bevor das Gegenüber drei Fragezeichen in die Luft setzt – leider ist dieser Versuch fast immer zum Scheitern verurteilt. Der andere sieht nämlich in der eigenen Ahnungslosigkeit gerade keine Verlegenheit, die es zu überspielen gilt, sondern im Gegenteil einen willkommenen Anlass, eine Wissenslücke zu schließen, sich als aufgeschlossen zu erweisen und am Ende gar aufrichtiges Interesse, ja Faszination für den Beruf seiner Mutter zu bekunden. Immer wieder macht der Junge die Erfahrung, dass andere das, was er als peinliche Anomalie am liebsten schweigend übergehen würde, gerade toll finden. Nicht selten muss er sich den Satz anhören, er habe schon eine interessante Mutter. Ihm bleibt dann nichts übrig, als zu nicken.

Also antwortet der Junge dem Maurerpolier tapfer, seine Mutter sei – Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Der Maurerpolier, der ein wenig schielt, doch aus sanften Augen, grübelt kurz und will sich dann versichern, dass sie auch beide über dasselbe reden, er sagt: «Da gehen die hin, die so sind» – und an dieser Stelle führt er die flache Hand vor seiner Stirn hin und her.

Und schon ist der Junge in einem Loyalitätskonflikt. Es ist ja nicht so, als hätte die Mutter um die Erklärungsbedürftigkeit ihres Berufes nicht gewusst. Früh hat sie ihm beigebracht, dass es keine Schande sei, wenn ein Kind in die Therapie geht, dass ihr Beruf mithin absolut nichts mit jenem Verdammungsort zu tun habe, auf den in den Schulpausen regelmäßig Bezug genommen wird, wenn man von einem sagt, der gehöre doch nach Wiesloch. Wenn er mit der Mutter und ihren Freunden allein ist, glaubt er ihr. Auf der Baustelle sieht die Sache anders aus. Der Hahn hat noch kein Mal gekräht, da hat er seine Mutter schon verleugnet: Er nickt. Er bestätigt die Definition des Poliers. Einerseits natürlich, um die Sache ohne weitere, alles nur verkomplizierende Erläuterungen hinter sich zu bringen; andererseits aber auch, weil er in diesem Moment tatsächlich denkt: «Ich hab es immer schon geahnt, der Maurerpolier spricht die Wahrheit.» Die Worte der Mutter halten dem Realitätstest nicht stand, sie sind nichtig wie Nebeldunst, den die aufgehende Sonne auflöst. Mit Ingrimm schippt er Sand in die Schubkarre.

Als der Rohbau steht, verschwindet der Bautrupp von einem Tag auf den anderen, und neue Arbeiter rücken an. Handwerker, die von ihm und seiner Vorzugsrolle nichts wissen. Ein zweites Mal wird er aus seinem Paradies vertrieben. Das Haus, dessen Grundmauern er mit seiner eigenen Hände Arbeit in die Höhe gestemmt hat, geht wieder in fremde Gewalt über. Der Junge frisst seinen Kummer still in sich hinein.

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Das Schlimmste: Langeweile. Sie erhebt ihr Haupt gern an Sonntagnachmittagen, wenn auf den Straßen nichts los ist und die Kinder der Nachbarschaft auf Familienausflug sind. Kein Freund holt ihn ab, kein Buch kann ihn verlocken, einen Fernseher gibt es nicht, die Mutter ist mit sich selbst beschäftigt, jedes Spielzeug liegt wie tot auf dem Boden des Kinderzimmers. Der Junge hat ein zähes Kribbeln in Beinen und Armen, als lösten sich seine Muskeln langsam knisternd auf wie der Schaum auf einem Vollbad. Vor Verzweiflung könnte er laut schreien: «Ich langweil mich so, Mama!» Aber die würde nur sagen: «Man muss sich schon mit sich beschäftigen können.» Oder: «Geh doch raus an die frische Luft!»

Aber nichts ist in solchen Momenten langweiliger als frische Luft. Drinnen zu sein ist tödlich, und draußen zu sein genauso. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Hier und Da, alles ist gleich trostlos. Es gibt auch kein Wollen mehr, weder will man drinnen sein, noch will man draußen sein. Das Einzige, was man noch will, ist, dass die Zeit vergeht, damit endlich etwas passiert. Irgendwann muss doch wieder etwas passieren. Irgendwann muss doch auch dieser unendlich lange Sonntagnachmittag, diese unendlich lange Kindheit ein Ende haben!

Wie kann die Welt nur so langweilig sein.

Die Langeweile ist aber nicht nur eine körperliche Qual, sie lässt einen auch die eigene Einsamkeit spüren. Die traurige, nicht zu leugnende Wahrheit ist ja, dass es niemanden gibt, der mit einem spielt.

Und dann, sonderbar: Sowie sie vorbei ist, hinterlässt die Langeweile keine Spuren. Sie ist vergessen, im selben Moment. Man kann sie nicht kommen sehen, man kann sie nicht fürchten. Es gibt keine Angst vor ihr, es gibt nur die Langeweile selbst. Sie ist da, und solange sie herrscht, schwindet jede Hoffnung, je mit ihr fertigzuwerden, wenn sie aber weg ist, ist sie es ganz und gar. Plötzlich sieht man wieder ein Ziel, plötzlich kommt wieder Spannung auf, plötzlich will man wieder etwas, plötzlich ist irgendetwas wieder total lustig.

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Auch sonst muss der Junge feststellen, dass nie etwas passiert. Zum Beispiel: Im Keller des Hauses befindet sich ein roter Feuerlöscher, ein tolles Gerät. Sogar verplombt, damit ihn niemand widerrechtlich benutzt. Zum Einsatz gebracht werden darf der Feuerlöscher nämlich nur im Brandfall – aber es brennt ja nie! Es ist zum Verzweifeln. Auch die Notbremse im Zug, die seinen Blick bannt, wird nie gezogen; die Not ist nichts als ein leeres Versprechen! So gern würde er einmal erleben, wie jemand – oder gar er selbst – die Notbremse zieht. Überall immer die Warnschilder, nie der Ernstfall. Katastrophen scheinen einer seligen Vergangenheit anzugehören.

Weil seine Mutter die «Bettenburgen» am Mittelmeer fürchtet und einen frischen, rauen Wind liebt, machen sie in den Sommerferien große Radtouren durch Norddeutschland und Dänemark, von Jugendherberge zu Jugendherberge. Manchmal weht der Wind so stark, dass er glaubt, gleich vom Rad gefegt zu werden, dann könnte er jauchzen vor Vergnügen.

Auch er liebt Norddeutschland, das Meer, die Fähren. Acht Jahre ist er, als er das erste Mal mit dem Zug über den Hindenburgdamm nach Sylt fährt. Er kann es kaum erwarten: ein schmaler Damm mitten durch die schäumenden Nordseewellen. Leider wieder eine Enttäuschung: Keineswegs schäumt die Nordsee so unmittelbar zu seinen Füßen, wie er sich das erhofft hat, denn der Damm ist breiter als eine Autobahn, und stellenweise – unter dem Aspekt echter Gefahr und echten Wagemuts ist das einfach nur noch lächerlich – weiden Rinder rechts und links der Bahnstrecke. Außerdem herrscht Ebbe: kein Wasser in Sicht.

Von Sylt geht es weiter zur Hallig Langeneß. Als Hallig bezeichnet man eine Insel, die kaum höher liegt als der Meeresspiegel. Bei Sturmfluten ist auf einer Hallig richtig was los; der Junge hat in einem Buch über die von ihm bewunderten Seenotkreuzer Fotos gesehen, wie die Nordsee bei einer Springflut (manchmal sagen die Leute Springflut, manchmal Sturmflut, hinter dieses Rätsel ist er noch nicht gekommen) die Halligen überflutet. Dann sind nur noch die Bauernhäuser zu erkennen, die auf ihren Warften, künstlich aufgeschütteten Erdhügeln, stehen – wie Schwimmer, die gerade noch den Kopf über Wasser halten können.

Drei Tage sind sie auf Langeneß, sie haben ein Zimmer in einem Bauernhof. Seit ihrer Ankunft ist von nichts anderem als einer möglichen Sturmflut die Rede. Der Himmel wird grau und grauer, die Wolken ziehen schneller dahin, der Wind dreht auf. Am Tag der Abreise herrscht Aufregung. An manchen Stellen der Hallig, sagt der Bauer, sei das Wasser schon über das Ufer getreten. Er wolle versuchen, sie zur Fähre zu bringen, aber er könne nicht versprechen, dass man noch durchkäme. Dann sitzen sie im Auto. Da vorn, sagt der Bauer, komme die entscheidende Stelle; wenn das Wasser da höher stehe als die Achse des Wagens, könne er nicht weiterfahren, dann würde er danach nicht mehr zurückkommen, der Wasserspiegel steige ja. Der Junge hört diese Worte, glaubt ihnen aber nicht.

Dann sind sie bei der Stelle, und er traut seinen Ohren nicht, als der Bauer sagt: «Nee, geht nicht mehr, das Wasser steht zu hoch.» Er darf sich nichts anmerken lassen, aber innerlich jubelt er.

Der Bauer wendet den Wagen und fährt zurück. Jetzt herrscht Hektik. Das Vieh wird auf die Warft getrieben, alles, Mensch und Tier, rückt eng zusammen. Und dann ist da tatsächlich das Meer, und es kommt näher und näher, es sieht phantastisch aus. Schäumend. Sie sitzen in dem urigen Bauernhaus, alle spielen Brettspiele, und wenn man durch die Fenster schaut, tobt am Saum der Warft, keine 50 Meter entfernt, die Nordsee. Seine Mutter hatte immer gesagt: «Nordsee ist Mordsee.» Na, das war endlich einmal wahr!

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Die Mutter hat Rituale. Bei solchen, die in anderen Familien nicht vorkommen, hat der Junge den Verdacht, dass seine Mutter sie erfindet, damit es so aussieht, als wäre man eine richtige Familie mit eigenen Gesetzen und Traditionen, nicht bloß Mutter und Sohn, abgesetzt auf dem Planeten Erde. Diese Rumpffamilie ist eine wacklige Angelegenheit, das spürt er. Er wittert die Schwäche wie ein Hund die Angst. Die Schwäche fordert seinen Trotz heraus. Seine Vetomacht ist unverhältnismäßig stark. Gegen ihn gibt es keine Mehrheit. Wenn er nicht mitmacht, ist die Mutter eine einsame Frau auf verlorenem Posten.

Also muss sie ihn zu allem zwingen. Wenn er am Ende dann doch mitmacht, ist es meistens gar nicht so schlimm. Dabei hat er ein schlechtes Gewissen, denn er weiß um seine Destruktivmacht, er fragt sich, ob man zu diesem Punkt nicht auch ohne seine Trotzaufwallungen hätte kommen können. Dann würde die Mutter nicht so erschöpft wirken. Er möchte sie ja nicht traurig sehen, aber er möchte es ihr auch nicht leichtmachen. Kampflos wird nichts zugestanden.

Schlimm sind die Wanderungen durch den Odenwald. Zumindest am Anfang. Wenn er erst mal im Rhythmus drin ist und seine beleidigte Phase hinter sich gelassen hat, schreitet er vergnügt aus. Eigentlich mag er den Wald; vom Wanderweg kann er nach rechts und links ausscheren und mit großen Stöcken zurückkehren, mit denen man hervorragend aufs Unterholz und die Brombeersträucher einschlagen kann. Auch gut, auf morsches Holz treten und hören, wie es knirschend auseinanderbricht. Wenn man lange genug gelaufen ist, kommt man zu einer Lichtung; die Sonne scheint; seine Mutter und er suchen sich dann einen umgestürzten Baumstamm und packen die Käsebrote aus. Auf so einem Baumstamm auf einer Lichtung schmeckt ihm sogar der Apfel, den es zum Käsebrot gibt. Der erste Apfel kommt mit dem Käsebrot, der zweite mit der Schokolade. So gut schmecken Käsebrote sonst nur auf Zugfahrten.

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Vermutlich erfindet seine Mutter die Rituale, um aus einer Vorliebe etwas traditionell Gesichertes zu machen: So sollen Gegenargumente zum Schweigen gebracht werden. Und für alles denkt sie sich Namen aus. Wenn er mit ihr am 1. Januar durch den Odenwald laufen muss, nennt sie das beispielsweise Neujahrsspaziergang. Was klingt, als wäre das etwas, das alle machen, weshalb er sich eben fügen müsse. Er hat aber die größten Zweifel, ob irgendwer sonst Neujahrsspaziergänge macht. Für seinen Trotz mobilisiert er sämtliche Energien, die in seinem Kinderkörper stecken. Für seine Gesellschaft muss die Mutter bezahlen, indem sie seine schlechte Laune erträgt; die Möglichkeiten der Mutter, seinen Trotz zu ignorieren, sind ja recht begrenzt: Sie ist auf seine Zuarbeit angewiesen, wenn zwischen beiden nicht Schweigen herrschen soll.

Wenn sie nach endlosen Kämpfen dann schließlich aufgebrochen sind, gibt es aber immer einen Punkt, an dem sein Trotz in Beschwingtheit umschlägt. Das ist merkwürdig, hilft aber nicht fürs nächste Mal.

Bei einem der Neujahrsspaziergänge fängt es zu schneien an. Heftig. Der Junge zieht seinen Schlitten hinter sich her. Der Wald verwandelt sich in eine Schneelandschaft. Schnee ist das Schönste, leider sehr selten. Jetzt sind sie mitten im Wald, und ihre Schritte versinken im Schnee. Wie er das liebt, wenn er seine Füße aus den tiefen Fußstapfen, die er selber getreten hat, wieder herausziehen muss! Geräuscherzeuger zu sein ist befriedigend, und Schneeknirschen gehört zu den erhabensten Geräuschen. Von Schnee bedeckt, gleicht die Welt einem Märchen.

Dann der Höhenzug. Die Dämmerung ist angebrochen. Fast ist es ein bisschen unheimlich, so allein mit der Mutter im Wald; aber das Unheimliche ist zugleich das Behagliche. Vor ihnen ein langer Abhang ins nächste Dorf, die Mutter und der Junge setzen sich auf den Schlitten und gleiten über die Neuschneedecke. Manchmal ist sie so tief, dass sie stecken bleiben; dann schiebt seine Mutter den Schlitten an, und sobald er wieder Fahrt aufnimmt, springt sie noch schnell auf. Die ganze Zeit sind sie allein, und der Schnee gehört ihnen, bis die warmen gelben Lichter des Dorfes auftauchen. Ein bisschen ist er jetzt auch erleichtert, denn ganz sicher war er sich nicht, ob die Mutter und er ihr Abenteuer in dunkler Schneelandschaft heil überstehen würden.

Als sie das Dorf erreichen, kehren sie in einem Gasthof ein. Bei dem Wort einkehren sind sich Mutter und Sohn einig: Sie lieben es. Das Wort und die Sache. In dem Wort ist die ganze Geborgenheit schon drin. Wenn man am Ende irgendwo einkehrt, ist alles gut.

Der Junge bestellt ein Jägerschnitzel. Der Wirt lächelt ihn an und klopft ihm auf die Schulter. Auch er scheint es gut zu finden, dass Mutter und Sohn bei ihm einkehren.

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Fast so schlimm wie die reine Langeweile eines Sonntags ohne Freunde sind klassische Konzerte. Nur wenn es ganz laut wird, weil Pauken und Trompeten zum Einsatz kommen, horcht der Junge kurz auf (schiere physikalische Gewalt ist immer beeindruckend), ansonsten besteht ein Konzert nicht so sehr aus Musik als aus einer unendlichen Wüste, deren Sandkörner in einem hauchdünnen Strahl durch das Stundenglas rieseln. (Wenn der Tod nicht schneller zuschlägt, braucht man sich vor ihm einstweilen nicht zu fürchten.) Zu Beginn eines Konzertes ist es schlechterdings nicht vorstellbar, dass man sein Ende je lebend erreichen wird. Das einzige Hilfsmittel, die Sandwüste in überschaubare Einzelstrecken zu unterteilen, besteht darin, die Sätze der Symphonie mitzuzählen. Aus irgendeinem völlig gleichgültigen Grund bestehen Symphonien immer aus vier Sätzen. Kommt die Komposition von Bach, sind es manchmal auch nur drei. Also zählt der Junge die Sätze, wie ein Gefangener für jeden überstandenen Tag einen Strich an die