Der junge Luther - Teil 1 - bis 1518 - Heinrich Boehmer - E-Book

Der junge Luther - Teil 1 - bis 1518 E-Book

Heinrich Boehmer

0,0

Beschreibung

Dieser Band enthält die Neuauflage eines Klassikers der Luther-Forschung. 1925 erschien dieses Buch im Flamberg-Verlag, Zürich, 1952 bei Koehler & Amelang in Leipzig. Heinrich Boehmers Texte bieten einen hervorragenden Einblick in Martin Luthers Leben, seine Entwicklung und sein Wirken. – Von seiner akademischen Lehrtätigkeit, die Boehmer von Leipzig, wo er sich 1898 habilitierte, über Bonn (1903) und Marburg (1912) wieder nach Leipzig (1915) zurückführte, wirkte begreiflicherweise die an der Heimatuniversität am tiefsten und nachhaltigsten. Wie viele seiner Hörer haben später Einzelheiten und Eindrücke aus seinen Vorlesungen erzählt, als hätten sie sie gestern aufgenommen. Ungewöhnlich groß war darunter der Kreis von Studenten nichttheologischer Fakultäten, die manchmal semesterlang Boehmers Kirchengeschichte hörten, gefesselt durch die erdrückende Fülle seines Wissens, den Mut zum eigenen, oft scharfen Urteil und das in andringendem Ernst und drastischem Witz sich bekundende Temperament. – Da kein Copyright mehr besteht und es dieses Buch nur noch antiquarisch gibt, lege ich es zum Luther-Jubiläumsjahr – wegen des Umfanges der Texte in zwei Teilen – neu auf. - Aus Rezensionen: Ich bin immer wieder begeistert von der "Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 382

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Heinrich Boehmer

Der junge Luther - Teil 1 - bis 1518

Band 95 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Der Autor Heinrich Boehmer

Heinrich Bornkamm

Heinrich Boehmer: Die Aufgabe

Martin Luthers erste Jugend

Auf den Trivialschulen zu Magdeburg und Eisenach

Studienzeit (1501 – 1505)

Die Bekehrung (2. – 17. Juli 1505)

Im Schwarzen Kloster zu Erfurt (1505 – 1508)

An der Grenze der Zivilisation (1508 – 1509)

Die letzten Erfurter Jahre (1909 – 1510)

Die Romfahrt (um 1511)

Der Eintritt in das Predigtamt und die Lectura in Biblia

Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis

Stille Jahre (1513 – 1517)

Personen in Luthers Umfeld in Wittenberg

Der Beginn des großen Kampfes – Die Thesen

Informationen zu Luthers gesamtem Leben

Weitere Informationen

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers

Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig bis zu 140 Betten. In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

Im Februar 1992 kam mir der Gedanke, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“: Seemannsschicksale.

Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften als Reaktionen zu meinem Buch.

Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage nach dem Buch ermutigten mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben. Inzwischen erhielt ich unzählige positive Kommentare und Rezensionen, etwa: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!

Zu den von mir bevorzugt gelesenen Büchern gehören Auseinandersetzungen mit der Zeitgeschichte und Biographien. Menschen und ihre Geschichte sind immer interessant.

Dieser neue Band 95 enthält die Neuauflage eines Klassikers der Luther-Forschung. Mein Jugendfreund schenkte mir das 1952 bei Koehler & Amelang in Leipzig erschienene Buch. Ich las es damals mit großem Interesse. Heinrich Boehmers Texte bieten einen hervorragenden Einblick in Martin Luthers Leben, seine Entwicklung und sein Wirken. Da kein Copyright mehr besteht und es dieses Buch nur noch antiquarisch gibt, lege ich es zum Luther-Jubiläumsjahr – wegen des Umfanges der Texte in zwei Teilen – neu auf – hier zunächst Teil 1 bis zum Jahre 1518.

Beim Durcharbeiten der Texte wurde mir wieder die ewige Frage nach der Fähigkeit des Menschen, sich von sich aus zum Guten zu entwickeln bewusst: Aggressivität, Egoismus, Korruption, Kriege – scheinen in der Natur des Menschen angelegt zu sein. Nach Luthers Erkenntnis ist der Mensch „böse von Jugend auf“ – auch Gottes „Bodenpersonal“ in der Kirche – und nur durch Gottes Gnade aus diesem bösen Urwesen zu retten. Aus Dank gegen den gnädigen Gott ist er dann in der Lage, dieses Böse immer wieder neu zu überwinden. Darin liegt für mich die entscheidende Bedeutung des Christseins.

Hamburg, 2017 Jürgen Ruszkowski

Ruhestands-Arbeitsplatz des Herausgebers

Von hier aus betreibe ich meinen Hobby-Verlag, verpacke und verschicke Bücher und gestalte meine Internet-Websites.

www.maritimbuch.de

https://sites.google.com/site/maritimegelbebuchreihe/band-92-kaiserliche-marine

https://sites.google.com/site/ruszkowskijuergen/

https://sites.google.com/site/ruszkowskijuergen/himmelslotse

Der Autor Heinrich Boehmer

Heinrich Böhmer wurde am 6. Oktober 1869 in Zwickau als Sohn des Direktors des dortigen Zuchthauses Wilhelm Arthur (1839–1905) und der Katharina Marie Böhmer geboren. Zunächst an der Universität Leipzig, danach an der Universität Berlin studierte Böhmer in den Jahren 1889 bis 1893 sowohl Evangelische Theologie als auch Geschichte. 1895 wurde er Mitarbeiter an den Monumenta Germaniae Historica. An der Leipziger Universität war er dann seit 1898 als Privatdozent der Kirchengeschichte tätig, vier Jahre später zum außerordentlichen Professor befördert. 1903 als außerordentlicher sowie ab 1906 als ordentlicher Professor an der Universität Bonn tätig, lehrte er ab 1912 an der Universität Marburg und seit 1915 wieder an der Universität Leipzig. 1920 wurde er als ordentliches Mitglied in die Sächsische Akademie der Wissenschaften aufgenommen. 1925 erschien dieses Buch im Flamberg-Verlag, Zürich. Am 25. März 1927 verstarb Böhmer in Bad Nauheim im Alter von 57 Jahren. Er war ledig.

Heinrich Bornkamm

1901 – 1977

Er war ein deutscher evangelischer Theologe mit dem Schwerpunkt in der Lutherforschung und lehrte Kirchengeschichte als Professor an den Universitäten Gießen, Leipzig und Heidelberg.

Er schreibt zu der von ihm herausgegebenen Neuauflage von Heinrich Boehmers „Der junge Luther“:

Als Heinrich Boehmer 1925 seinen „Jungen Luther“ veröffentlichte, erschien dies von Gelehrsamkeit und Leben sprühende Buch wie eine Verheißung dessen, was man von Boehmer erwarten durfte, wenn er sich nach jahrzehntelanger fruchtbringender Einzelforschung auf den verschiedensten Gebieten der Kirchengeschichte großen Aufgaben der zusammenschauenden Darstellung zuwandte. Aber aus der Verheißung ist ein Vermächtnis geworden. Am 25. Mai 1927 schloss Boehmer die Augen, ohne dass er weitergreifende große Pläne, vor allem den Abschluss von Albert Haucks „Kirchengeschichte Deutschlands im Mittelalter“ durch eine umfassende Darstellung des spätesten Mittelalters und der Reformationszeit bis 1555, hätte durchführen können. Der „Junge Luther“ blieb aber noch im besonderen Sinne sein Erbe. Nirgends schlug sein Herz so sehr wie in dieser Seelengeschichte und in dieser tiefen Erneuerung des deutschen Wesens; nirgends konnte er, der 1869 in Zwickau geborene Sachse, soviel von seiner umfassenden Kenntnis der Heimatgeschichte an einem großen Gegenstande fruchtbar werden lassen; nirgends konnte er soviel an eindringlichen Vorarbeiten (über Luthers Romfahrt, früheste Vorlesungstätigkeit, die Verbrennung der Bannbulle u. a.) zusammenfassen wie in diesem Buche. Ja, auch seine fernerliegenden Arbeiten über das mittelalterliche Verhältnis von Kirche und Staat, das er am Beispiel des frühmittelalterlichen England in wertvollen und dauerhaften Untersuchungen dargestellt hatte, über Franz von Assisi, über Ignatius von Loyola und die Anfänge der Jesuiten zeichnen sich öfters begründend oder kontrastierend in diesem, seinem letzten Werke ab. Wie sehr es sein persönlichstes Buch war, vermag wohl nur der zu ermessen, der ihn selbst hat vortragen hören. Von seiner akademischen Lehrtätigkeit, die ihn von Leipzig, wo er sich 1898 habilitierte, über Bonn (1903) und Marburg (1912) wieder nach Leipzig (1915) zurückführte, wirkte begreiflicherweise die an der Heimatuniversität am tiefsten und nachhaltigsten. Wie viele seiner Hörer haben mir Einzelheiten und Eindrücke aus seinen Vorlesungen erzählt, als hätten sie sie gestern aufgenommen. Ungewöhnlich groß war darunter der Kreis von Studenten nichttheologischer Fakultäten, die manchmal semesterlang Boehmers Kirchengeschichte hörten, gefesselt durch die erdrückende Fülle seines Wissens, den Mut zum eigenen, oft scharfen Urteil und das in andringendem Ernst und drastischem Witz sich bekundende Temperament.

Mehr als alle anderen seiner Bücher vereinigt der „Junge Luther“ diese Züge. Er hat sich darum sofort einen festen Platz in der Lutherforschung, ja unter den neueren deutschen Biographien überhaupt erobert. Boehmer hat an ihm eine Fülle eindringender Kenntnisse über die Spätscholastik, die spätmittelalterliche Kirche, die geistige und volkliche Umwelt Luthers – die ausgedehnten Forschungen Otto Scheels selbständig aufnehmend – angehäuft, ein ernstes, innerlich wahres Bild von dem gläubigen Ringen des Mönches und Theologieprofessors entworfen und den sternensicheren Weg des von Gott Herausgerufenen durch eine zerfallende Welt, blinden Hass und ängstliche Freundschaft hindurch gezeichnet. Dieses den Fachgelehrten und eine breite Leserschaft gleichermaßen in Atem haltende Bild wieder zum Leben zu erwecken, war für mich, als der neue Verleger, der das Buch inzwischen in seine Obhut genommen hatte, an mich herantrat, eine schöne Pflicht und eine aufrichtige Freude. Sie erneuerte nur zugleich den Schmerz, dass Heinrich Boehmer seinem Werk nicht mehr selbst die bleibende Pflege angedeihen lassen kann. Dass bei einem so lebensfrischen und in sich geschlossenen Buche die neue Zurüstung sich nur auf die Beseitigung tatsächlicher Versehen oder von der Forschung inzwischen überholter Darlegungen erstrecken konnte, verstand sich von selbst. Auf eine Reihe von Versehen und Druckfehlern haben auch H. Mulert und O. Clemen den Verlag bzw. mich aufmerksam gemacht, wofür ich ihnen auch hier danke. In einigen Fällen, wo Boehmer unter verschiedenen Möglichkeiten in der Deutung der Quellen die mir unwahrscheinlichere gewählt hat, habe ich entweder seine Auffassung belassen oder nur auf die Abweichung hingewiesen.

Es genügt, ein paar Änderungen an Stellen zu nennen, die die Forschung seitdem beschäftigt haben: Die oft beschworene Rauflust in der Möhraer Luther-Sippe hat Boehmer selbst noch bei seinen Nachforschungen im Meininger Archiv ins Reich der Fabel verwiesen (Allg. Ev. Luth. Kirchenzeitung, 1926, S. 1062 f.). Der darauf bezügliche Abschnitt musste bei einer Neuauflage also fallen. – Der alte Streit, ob Luthers Mutter eine geborene Lindemann oder eine Ziegler gewesen sei, ist inzwischen durch H. E. Matthes (Archiv für Sippenforschung, 1935) zugunsten der ältesten Überlieferung (Lindemann) entschieden worden…

Heinrich Boehmer: Die Aufgabe

Wenn man im 16. Jahrhundert den Charakter und die Schicksale eines Menschen wissenschaftlich erklären wollte, dann suchte man vor allem die Konstellation der Sterne in seiner Geburtsstunde festzustellen. Dies Verfahren hat man früher auch auf Luther angewendet. Melanchthon hat mehrfach die Nativität des Reformators ausgerechnet, und sein Beispiel ist von den Astronomen dieser und der folgenden Zeiten viel nachgeahmt worden, obwohl Luthers Spott über „die schäbige Kunst Astrologia“ ihnen wohlbekannt war. Heute gibt es kaum jemanden mehr, der mit solchen „Phantaseien“ das Problem Luther lösen zu können glaubt. Heute befragt man, wenn man die physische und psychische Konstitution eines Menschen erklären will, nicht mehr die Sterne, sondern man erforscht die Umwelt, in der er sich gebildet hat, und untersucht, ob und inwieweit seine physischen und psychischen Eigenheiten zur Erbmasse gehören oder als ein Produkt der Vererbung sich erweisen lassen. Die biologische Vererbungsforschung, die sich nur mit der körperlichen Struktur der Lebewesen beschäftigt, hat es schon zu einigen sicheren Ergebnissen gebracht, die psychologische steht dagegen noch in den allerersten Anfängen. Darüber aber sind Biologen und Psychologen sich einig, dass das Vererbungsproblem nur an Individuen studiert werden kann, deren Ahnen genau bekannt sind und für deren Entwicklung eine lückenlose Reihe exakter Beobachtungen von der frühesten Kindheit bis zum reiferen Alter vorliegt. Denn wie der Schädelindex und die Farbe der Augen und Haare, so ändert sich im Laufe der Jahre, wie jedermann weiß, auch der Charakter des Menschen. Der Jüngling ist anders als das Kind und der Mann anders als der Jüngling. Man kann daher die stabilen Eigenschaften des Charakters und der Begabung von den mehr labilen nie unterscheiden, wenn man nur den Jüngling oder nur den Mann kennt. Luthers Entwicklung können wir leider erst von seinem dreißigsten Lebensjahre an der Hand gleichzeitiger urkundlicher Nachrichten genau verfolgen. Für die vorhergehende Zeit steht uns nur eine Reihe zufällig überlieferter Äußerungen des Reformators über einzelne Ereignisse und Tatsachen zur Verfügung, die ihm später aus irgendwelchem Grunde besonders wichtig erschienen sind; ob sie aber für seine Entwicklung tatsächlich so wichtig waren, das können wir oft nicht mehr mit Sicherheit entscheiden. Was seine Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits anlangt, so sind wir nur über seinen Vater einigermaßen unterrichtet. Aber wie wenig wissen wir im Grunde auch von diesem! Von der Mutter, der er nach Spalatin „wie aus den Augen geschnitten“ gewesen sein soll, haben wir nur eine ganz schattenhafte Vorstellung. Von dem Großvater und der Großmutter väterlicherseits ist uns bloß der Name überliefert, von der mütterlichen Großmutter, deren Erbwirkung wir nach der Meinung einiger Forscher besonders hoch veranschlagen müssten, nicht einmal der Name. Nur, dass sie aus Schmalkalden stammte, also städtischer Herkunft war, können wir mit einiger Sicherheit behaupten. Daraus erhellt: auch wenn die Gesetze der psychischen Vererbung, auf die man nun schon so lange fahndet, einmal ermittelt werden sollten, wird der Psychologe nie imstande sein, die Persönlichkeit des Reformators mittels dieser Gesetze genetisch zu erklären. Aber die biologische Vererbungsforschung befindet sich diesem Problem gegenüber kaum in einer besseren Lage. Wenn man hört, dass die Eltern Luthers beide „kleine, kurze Personen, ein bräunlicht Volk“ waren, dann erscheint es einem allerdings nicht mehr wunderbar, dass auch er es nur zu mittlerer Größe gebracht und braune Augen und Haare gehabt hat. Aber mit dieser simplen Feststellung, mit der der Biologe nicht viel anfangen kann, sind wir wieder schon am Ende unserer Weisheit angelangt. Nicht einmal die anscheinend so leichte Frage, ob der Reformator mehr nach dem Vater oder nach der Mutter geartet war, können wir, wenn wir die im Lutherzimmer der Wartburg hängenden Porträts des alten Ehepaars von Lukas Cranach dem Älteren aus dem Jahre 1527 mit den wenigen echten Lutherbildern desselben Cranach vergleichen, trotz Spalatins eben angeführtem Ausspruch sicher beantworten.

Es ist somit eitel Humbug, wenn immer wieder versucht wird, gewisse wirkliche oder angebliche Eigenschaften Luthers von gewissen wirklichen oder angeblichen Eigenschaften seiner Ahnen abzuleiten, also wenn man z. B. behauptet: sein Vater habe gelegentlich etwas über den Durst getrunken, also sei er erblich mit einer Neigung zur Trunksucht belastet gewesen, oder: sein Onkel Klein-Hans Luder sei in den Jahren 1499 bis 1513 in Mansfeld nicht weniger als elfmal wegen Körperverletzung und Beleidigung gerichtlich verurteilt worden. Folglich stecke wohl nicht nur in der alten Legende, dass Luthers Vater, Groß-Hans Luder, wegen eines Totschlags aus Möhra geflohen sei, ein Körnlein Wahrheit, sondern es sei auch bei dem Reformator selber eine solche ererbte Anlage zu Gewalttätigkeiten oder doch zu jähen Affektausbrüchen vorauszusetzen. Dass Klein-Hans Luder ein Raufbold und „Messerheld“ war, ist allerdings nicht zu bestreiten. Aber aus dem Verhalten dieses einen einzigen, wie es scheint, etwas missratenen Mitgliedes der Möhraer Ludersippe ist schlechterdings kein Schluss auf die psychische Konstitution des Bruders oder gar des Neffen zu ziehen, zumal wir gar nicht wissen, ob dieses Verhalten durch einen psychischen Defekt oder nur durch die Verhältnisse bedingt war, in denen Klein-Hans Luder lebte. Ebenso steht es mit der kurzerhand dem Reformator zugeschriebenen Neigung zur Trunksucht. Dass Trunksucht sich vererbt und sehr schwere Folgen für die körperliche und seelische Verfassung der Nachkommen haben kann, wusste man schon im 16. Jahrhundert. Als ein warnendes Beispiel dieser Art nennt Luther später seinen Neffen Hans Polner, den, wie er sagt, im Rausch erzeugten Sohn seines trunksüchtigen Schwagers Hans Polner in Mansfeld. Aber diesem erblich belasteten Neffen stellt er ausdrücklich in eben jener viel zitierten Tischrede seinen Vater als Gegenbeispiel, d. h. als einen leiblich und seelisch gesunden Mann gegenüber, für den der Wein kein „Gift“ gewesen sei, auch wenn er ab und zu einmal einen Becher zuviel getrunken habe. Dass er sich hierin nicht geirrt hat, wird bestätigt durch die ganze Lebensgeschichte des alten Hans. Wäre er ein sogenannter „voller Bruder“ gewesen, so wäre es ihm sicher nie gelungen, sich vom einfachen Arbeiter zum wohlhabenden Kleinunternehmer emporzuarbeiten, und auch nie geglückt, unter den Mansfelder Kapitalisten jemanden zu finden, der ihm die für jene Zeit sehr erheblichen Kapitalien zur Gründung und Erweiterung seines Geschäfts vorgestreckt hätte.

Es bleibt also dabei, mit den Mitteln und Methoden der Vererbungstheorie ist das Problem „Luther“ weder ganz noch teilweise zu lösen. Aber die neuzeitliche Persönlichkeitsforschung arbeitet doch nicht nur mit dem Schlagworte „Vererbung“, sie rechnet auch noch immer mit den bildenden Einflüssen der „Umwelt“, ja sie legt auch heute noch hier und da auf die Feststellung dieser Einflüsse größeres Gewicht als auf die „Ahnenprobe“. Es wird wohl heute niemanden mehr geben, der die Bedeutung dieses Faktors für den psychischen Lebensprozess bestreitet. Es fragt sich nur, ob es möglich ist, die unübersehbare Fülle von Einflüssen, die das Wort Umwelt umfasst, jemals vollständig und exakt zu ermitteln. Die Antwort muss einfach lauten: nein. Was bei einem lebenden Individuum nicht möglich ist, ist natürlich bei einem Individuum der Vergangenheit von vornherein ausgeschlossen. Was in diesem Falle von der Umwelt noch sicher zu erkennen ist, ist immer nur ein Haufe einzelner zusammenhangloser Fragmente, zwischen denen erst die konstruktive Phantasie des Historikers eine Art Verbindung herstellt. Die Bilder, die auf diese Weise entstehen, haben zwar oft einen großen ästhetischen Reiz, aber man darf über dem Vergnügen, das man bei ihrer Betrachtung empfindet, doch nie vergessen, dass sie alle mehr oder weniger konstruiert sind und nie sicher erkennen lassen, ob und inwieweit das Individuum, dem sie als Folie dienen, durch die willkürlich mit der Etikette „Umwelt“ versehenen zufällig überlieferten Tatsachen und Tatbestände, die darin verarbeitet sind, tatsächlich beeinflusst worden ist. Denn wie die Pflanze, so nimmt auch der Mensch von seiner Umgebung nur das an, was seiner Natur zusagt. Welche Umweltreize auf ihn gewirkt haben, das steht also nie von vornherein fest, sondern muss immer erst von Fall zu Fall untersucht werden. Es ist somit unmöglich, Luthers Umwelt in Mansfeld, Magdeburg, Eisenach, Erfurt und selbst in Wittenberg zu rekonstruieren, unmöglich, so vollständig und exakt, wie es die Umweltstheorie erfordert, die „ubiquären“ und „solitären“ Umweltreize festzustellen, die hemmend oder fördernd auf seine Entwicklung eingewirkt haben. Dann aber tut man gut, von vornherein auf diesen aussichtslosen Versuch zu verzichten und sich lediglich auf die Ermittlung der Tatsachen und Tatbestände zu beschränken, die nachweislich für seine innere und äußere Entwicklung von Bedeutung gewesen sind.

Keine der beiden Theorien, welche die moderne Persönlichkeitsforschung beherrschen, ist also praktisch durchführbar, keine daher auch auf Luther anwendbar. Allein folgt daraus, dass die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, überhaupt nicht lösbar ist? Wenn das, was wir Persönlichkeit nennen, nur ein Produkt von Vererbung und Umwelt wäre, dann müssten wir in der Tat jetzt schon die Waffen strecken. Aber Persönlichkeit ist doch nicht bloß ein Sammelname für die zufällig in einem Individuum vorhandenen physischen und psychischen Eigenschaften, auch nicht bloß die Summe oder das Produkt dieser Eigenschaften, also eine Größe, die man auf dem Wege der Analyse schließlich in nichts auflösen könnte, sondern Persönlichkeit ist das nicht weiter analysierbare, immer in Bewegung und Fluss befindliche geheimnisvolle und doch immer deutlich wahrnehmbare Etwas, das in, mit und unter den genannten Eigenschaften sich auswirkt. Dies „Etwas“ zu erfassen und seine Wirkungen zu schildern, das ist die eigentliche Aufgabe des Biographen. Alles, was er sonst zu leisten hat, also z. B. die Ermittlung und Kritik der Quellen, die Feststellung der einzelnen Daten und Tatsachen, in denen äußerlich die Geschichte der betreffenden Person besteht, und die Ermittlung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen diesen Tatsachen, ist nur eine Vorarbeit hierzu. Er wird aber jene Aufgabe nur dann lösen können, wenn er über dem Analysieren und „Ableiten“ nicht ganz die Fähigkeit verloren hat, eine Persönlichkeit in ihrer lebendigen Ganzheit auf sich wirken zu lassen, und wenn dieselbe in den Quellen, die ihm zur Verfügung stehen, auch in ihrer Ganzheit deutlich sich spiegelt. Dass die Quellen für die Geschichte Luthers so reich fließen – die Weimarer Ausgabe zählt schon 89 Quartfoliobände und die von Ludwig Enders begründete Ausgabe seines Briefwechsels fast 4.000 Nummern –, würde also an sich noch nicht beweisen, dass eine Lutherbiographie in dem hier geforderten Sinn möglich ist; denn es gibt Gelehrte, die fast ebensoviel geschrieben, aber es verstanden haben, dabei ihr Selbst so völlig auszulöschen, dass man davon in ihren Werken so gut wie nichts merkt. Das hat Luther nie gekonnt. Er hat vielmehr immer frank und frei, ohne Rücksicht und Vorsicht ausgesprochen, was er gerade fühlte und dachte. Auch seine gelehrtesten Bücher sind „Bruchstücke einer großen fortlaufenden Konfession“, d. h. mit stärkstem innerem Anteil geschaffene und ganz von der Stimmung des Augenblickes durchdrungene Kundgebungen seines mächtigen Selbst. Man braucht daher, wenn man ihn kennenlernen will, nicht erst irgendwelche Vorsichtsmaßregeln zu treffen, sich nicht erst mit vieler Mühe in ihn einzufühlen, nicht jedes seiner Worte erst sorgfältig abzuwägen und argwöhnisch hin und her zu Wenden, um einen vielleicht beabsichtigten Neben- oder Untersinn herauszubekommen. Es genügt, ihn zu hören. Daher soll er auch auf den folgenden Blättern möglichst immer selber das Wort führen.

Martin Luthers erste Jugend

In den kurfürstlichen Amtsdörfern am Westrande des Thüringer Waldes war im 15. Jahrhundert eine wirtschaftlich und rechtlich besonders gut gestellte Klasse der ländlichen Bevölkerung ungewöhnlich stark vertreten: die sogenannten Erbzinsleute. Diese Erbzinser waren, wie schon ihr Name andeutet, noch alle den kleinen geistlichen und weltlichen Herren des Werratales zinspflichtig, aber da der Zins, den sie zu entrichten hatten, nicht an ihrer Person, sondern an den Grundstücken haftete, die ihren Vorfahren einst von jenen Herren als Erblehn überlassen worden waren, und sie nicht hinderte, ihre Güter nach Gutdünken zu veräußern oder zu Vererben, so bildeten sie schon seit dem Hochmittelalter einen Stand freier Grundbesitzer und hatten tatsächlich nur mehr einen einzigen Herrn: den Kurfürsten. Der Kurfürst griff jedoch vor Erlass der Amtsordnung von 1513 nur selten in die dörfliche Selbstverwaltung ein. Sie konnten somit in ihrem Dorfe auch meist ganz ungestört alle Rechte einer „herrschenden Gemeinde“ üben: den Schultheiß und die anderen Dorfbeamten ernennen, Ortsgesetze erlassen, Geldbußen verhängen, die Gemeindekasse verwalten und, was die Hauptsache war, unter Ausschluss der völlig rechtlosen unfreien Hintersiedler, die höchstens ein Haus und einen Garten besaßen, oft aber nur sogenannte Einlieger waren, die Nutzung der Gemeindewälder, -felder, -weiden, -gewässer usw. unter sich verteilen. Danach begreift man, dass es ihnen in der Regel keine Mühe machte, die von dem Kurfürsten ihnen auferlegte Steuer von einem Gulden für jedes Gespann Zugvieh aufzubringen, und dass sie gar nicht selten in der Lage waren, sich ein paar Pferde und etliche Knechte zu halten. Sie wären aber doch wohl alle im Laufe der Zeit in den Stand der Hintersiedler hinabgesunken, wenn sie nicht grundsätzlich nur untereinander geheiratet und ihre Güter stets ungeteilt auf den jüngsten Sohn vererbt hätten. Die älteren Söhne mussten infolgedessen, wenn sie nicht in ein anderes Gut einheiraten konnten oder Zeit ihres Lebens dem Jüngsten als Knecht dienen und auf die Gründung einer eigenen Familie verzichten Wollten, immer außerhalb des Dorfes ein Unterkommen suchen. So erreichte man es, dass die Zahl der spannfähigen Höfe und der zur herrschenden Gemeinde gehörigen Familien Jahrhunderte hindurch sich ungefähr gleichblieb. Aber für die Familien selbst hatte dies Verfahren doch recht schwere Nachteile. Sie starben zwar nur selten ganz aus, aber sie verloren in der Regel schon nach mehreren Generationen ihr Stammgut und entschwanden für immer aus dem Dorfe.

Allein einer jener alten Erbzinserfamilien ist es trotzdem gelungen, sich bis ins 20. Jahrhundert in ihrem Stammdorf und auch in ihrer Klasse, der Klasse der mittleren Gutsbesitzer, zu behaupten: der Familie der Luder oder Lüder zu Möhra, eine Stunde nördlich von Salzungen. Sie besaß in Möhra 1536 ganze fünf Höfe. Aber auch in den Nachbardörfern war sie in jener Zeit so verbreitet, dass Martin Luther, als er im Mai 1521 von Eisenach nach dem Rennstieg fuhr, den Eindruck hatte: sein Geschlecht nehme „fast die ganze Gegend ein“. Wir dürfen daraus wohl schließen, dass die Luders damals schon seit Jahrhunderten in diesem alten Grenzgebiet zwischen Thüringen und Franken ansässig waren. Sicher bezeugt ist allerdings vor 1500 auch in Möhra nur derjenige Zweig der Familie, dessen Haupt um 1480 der Großvater des Reformators, Heine Luder (gest. um 1510), war. Dieser Heine Luder und seine Frau, die erst 1521 hoch betagt in Möhra starb, hatten nachweislich vier Söhne: Groß-Hans, Klein-Hans, Veit und Heinz. Heinz hatte als Jüngster die Anwartschaft auf den väterlichen Hof. Veit heiratete in einen anderen Hof ein. Groß-Hans aber entschloss sich spätestens im Herbst 1483, mit seinem jungen Weibe Margarethe, geb. Lindemann, aus Eisenach und seinem erstgeborenen Söhnchen Vaterland und Freundschaft für immer zu verlassen und in den Kupferbergwerken der Grafschaft Mansfeld, auf die er wohl durch die Bergleute in den damals eben neu erschlossenen Kupfergruben bei Möhra hingewiesen worden war, sein Glück als Bergmann zu versuchen.

Luthers Eltern Hans Luder und Margarethe, geb. Lindemann

gemalt von Lucas Cranach, dem Älteren

https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther#/media/File:Hans_and_Magrethe_Luther.jpg

Er wandte sich zunächst nach dem Hauptorte der Grafschaft, Eisleben. Dort wurde ihm am 10. November 1483 gegen Mitternacht in dem kleinen Hause der Langen Gasse, an dessen Stelle sich heute die Lutherschule erhebt, ein zweiter Sohn geboren, den er nach der Sitte der Zeit am folgenden Morgen im Turmgeschosse der benachbarten Peterskirche von dem Pfarrer Bartholomäus Rennebecher nach dem Heiligen des Tages auf den Namen Martin taufen ließ.

Luthers Taufstein in Eisenach

Foto Andreas Thum

https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther

Es scheint aber, dass er in Eisleben nicht recht vorwärts kam. Daher siedelte er schon im Frühsommer des Jahres 1484 mit seiner kleinen Familie nach Mansfeld über. Dort war er zunächst wohl als einfacher Berghäuer tätig. Aber schon vor 1491 fand er Gelegenheit, als Gewerke in eine der vielen kleinen Genossenschaften einzutreten, die sich zur Ausbeutung der Kupfer führenden Schächte gebildet hatten, und gleichzeitig in Gemeinschaft mit einem anderen Mansfelder ein kleines Hüttenwerk zu pachten. Das hierzu nötige Kapital hatte ihm wahrscheinlich einer der in Mansfeld ansässigen Kupferhändler vorgestreckt. Derartiges kam damals in Mansfeld vor. Aber sehr oft ereignete es sich auch, dass die neuen Kleinunternehmer wieder in die Klasse der Lohnarbeiter zurücksanken, weil sie nicht imstande waren, ihre Geldgeber zu befriedigen. Wollte Hans Luder diesem Schicksal entgehen, dann musste er sich ordentlich tummeln, und gerade in den Jahren, in denen seine Familie am stärksten zunahm – Anfang 1505 waren noch vier Söhne und ebensoviel Töchter vorhanden, aber wenigstens ein Kind war schon vorher gestorben –, jeden Pfennig dreimal umdrehen.

Als ein Beispiel dafür, wie ärmlich es in dieser Zeit in seinem Elternhause zugegangen sei, führt Luther an, dass seine Mutter gleich anderen ärmeren Frauen sich das nötige Brennholz im Walde selber habe zusammenlesen und nach Hause schleppen müssen. Erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte Hans Luder seine Schulden so Weit abbezahlt, dass er jährlich etliche Gulden für nicht unbedingt nötige Ausgaben erübrigen konnte. Es charakterisiert ihn aber, dass er jetzt noch ständig bemüht war, seinen Betrieb zu vergrößern. 1508/09 war er wenigstens an acht Schächten und drei Hütten beteiligt, von denen die eine ein für jene Zeit recht bedeutendes Werk gewesen sein muss. Aber reich ist er auch in seinen alten Tagen, wenn die 1.250 Gulden, in die sich seine Erben am 10. Juli 1534 teilten, wirklich sein ganzes Vermögen darstellten, nicht mehr geworden.

Luthers Elternhaus in Mansfeld

https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther#/media/File:Hans_and_Magrethe_Luther.jpg

Hat er nun als Erzieher in seinen jungen Jahren eine ebenso glückliche Hand gehabt wie als Geschäftsmann? Hören wir Luther, der gewiss nicht geneigt war, allzu streng zu urteilen, so können wir diese Frage nicht bejahen. Beide Eheleute hatten kein Verständnis dafür, dass jedes Kind besonders behandelt werden muss. Sie schoren ihre Sprösslinge vielmehr alle über einen Kamm. Beide waren weiter überzeugt, dass ein Kind ohne Prügel ebenso wenig gedeihen könne wie ohne Essen und Trinken, und ermangelten daher nicht, auch schon bei ganz leichten Vergehen sofort nach der Rute zu greifen. So wurde Luther einmal wegen Wegnahme einer Nuss von der Mutter blutig geschlagen und ein anderes Mal wegen einer ähnlichen Untat von dem Vater „so sehr gestäupet, dass er ihn flohe und ihm gram ward“. Aber dass der Vater sich danach soviel Mühe gab, den vergrämten kleinen Burschen „wieder an sich zu gewöhnen“, zeigt doch, dass er sein Fleisch und Blut nicht aus Rohheit, sondern nur aus missverstandenem Pflichtgefühl so hart behandelte und, ebenso wie die Mutter, es im Grunde „herzlich gut“ mit seinen Kleinen „meinte“.

(Alexander von Villa Dei studierte in Paris und lehrte später in Dol-de-Bretagne. Er ist vor allen Dingen als Verfasser eines lateinischen Lehrgedichts, des Doctrinale, bekannt, das er um das Jahr 1200 fertig gestellt hatte. Das in leoninischen Hexametern abgefasste Werk vermittelt (aufbauend auf Donat und Priscian) Grundkenntnisse in lateinischer Grammatik.)

So weit ist Luther in Mansfeld aber sicher nicht gekommen. Er hat vielmehr daselbst aller Wahrscheinlichkeit nach nur die beiden ersten Klassen absolviert. Denn bei der mechanischen Lehrweise der Zeit brauchten auch begabte Schüler meist mehrere Jahre, um lesen und schreiben zu lernen. Und noch länger währte es in der Regel, bis sie den Donat ausstudiert hatten. Warum aber plagte man die arme Jugend, wie Luther später behauptet, manchmal zwanzig und mehr Jahre mit dem Donat und dem Alexander de Villedieu? Antwort: Weil die Kenntnis der lateinischen Sprache noch überall die Voraussetzung für den Eintritt in den geistlichen Stand und alle anderen höheren Berufe war. Und warum legte man nächst dem Latein das größte Gewicht auf das Singen? Weil die Schüler herkömmlicherweise bei allen gottesdienstlichen Handlungen als Sänger mitwirken mussten. Man lehrte sie also grundsätzlich nur, was sie früher oder später nutzbringend verwerten konnten. Danach ist man zunächst einigermaßen verwundert, dass man sie zwar immer die sinnlosen Merkverse zur Bestimmung des kirchlichen Kalenders, den sogenannten Cisiojanus, auswendig lernen ließ, aber im Rechnen entweder gar nicht oder nur nebenbei in den Singestunden etwas unterrichtete. Vielleicht hielt man das, da man einmal bei der Auswahl des Lehrstoffes sich nur von Nützlichkeitserwägungen leiten ließ, deswegen nicht für nötig, weil die Schüler in der Mehrzahl sich später immer noch dem geistlichen Stande zuwandten und daher ohne gründliche mathematische Kenntnisse durchs Leben kommen konnten. Luther hat also aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem Leben niemals richtige Rechenstunden gehabt. Es ist möglich, dass damit die eigentümliche Schwäche des Zahlensinnes zusammenhängt, die wir später bei ihm beobachten. Jedenfalls ist in den Schulen, die er besucht hat, nichts zur Beseitigung dieser Schwäche geschehen.

Aber wenn man den Wert eines Unterrichtssystems bestimmen will, dann muss man nicht bloß feststellen, was die Lehrer unterrichten, sondern auch, wie sie das Unterrichten betreiben. Was diesen letzten Punkt anbelangt, so ist von all den Schulen, die Luther besucht hat, nicht viel Rühmliches zu melden. Das Unterrichten bestand in ihnen allen noch im Wesentlichen in einem mechanischen Einpauken und Einbläuen. Aber um der Gerechtigkeit willen muss doch hinzugefügt werden, dass der Lehrer jener Zeit die schwere Aufgabe, im selben Raum gleichzeitig Kindern der verschiedensten Altersstufen eine fremde Sprache und daneben noch den ganz Kleinen das Lesen und Schreiben beizubringen, kaum anders lösen konnte, als wenn er paukte. Das Pauken hatte aber weiter notwendig zur Folge, dass er ohne Prügel nicht auskommen konnte. Denn wenn man paukt, kann man die Jugend auf die Dauer nur mit Gewalt zur Aufmerksamkeit zwingen. Es ist daher nicht zu verwundern, dass auch in der Mansfelder Schule damals sehr viel und bisweilen auch recht unverständig geprügelt wurde. So wurde Luther als Abc-Schütze, wohl von einem neu eingetretenen Lehrer, der die Kinder noch nicht recht kannte, an einem einzigen Morgen nicht weniger als fünfzehn mal mit der Rute gestrichen, weil er nicht deklinieren und konjugieren konnte, was damals doch noch gar nicht von ihm verlangt werden konnte, denn das Deklinieren fing erst in der zweiten Klasse an. Erwägt man dies alles, dann begreift man, dass er später so überaus ungünstig über das Schulwesen „im Papsttum“ geurteilt hat. Was die spätmittelalterliche Trivialschule dem jugendlichen Geiste an geistiger Nahrung bot, war in der Tat sehr dürftig. Auch die Klage, dass ihre Lehrweise für „treffliche Ingenia“ höchst ungeeignet gewesen sei und ihre Zucht einen „henkermäßigen" Anstrich gehabt habe, war wohlbegründet. Aber daraus folgt selbstverständlich nicht, dass auch er, wie so manche Scholaren, die zwanzig und mehr Jahre „über dem Donat und Alexander“ zugebracht hatten, in dieser Schule „nichts gelernt“ habe. Er hat zweierlei sogar damals schon sehr gründlich gelernt: Latein und Singen. Mit dem Latein, das man ihm beigebracht hatte, war er freilich später sehr wenig zufrieden, weil es nicht das klassische Latein war, sondern das von den Humanisten so scharf kritisierte „böse“ Kirchen-, Gelehrten- und Geschäftslatein des SpätmitteIalters. Aber sein eigenes Beispiel zeigt doch, welcher Kraft, Fülle und Präzision auch dies etwas eherne Latein fähig war, wenn ein großer Schriftsteller es handhabte. Was das „Singen“ anlangt, so ist dadurch ohne Zweifel seine musikalische Anlage geweckt und in trefflicher Weise ausgebildet worden. Die recht bedeutenden Kenntnisse und Fertigkeiten, die er später auf diesem Gebiete verrät, hat er sich zum allergrößten Teile schon in der Trivialschule erworben. Als Student und Mönch kann er nur wenig noch hinzugelernt haben. Endlich hat man ihn in der Schule zu seinem Leidwesen zwar „keine Historien“, aber doch schon einige wenige „Poeten“ gelehrt. Es waren aller Wahrscheinlichkeit nach allerdings nur die drei gemeinüblichen Schulautoren: Pseudo-Cato, Äsop und Terenz. Allein diese drei hat er dafür so gründlich „gelernt“, dass er sie noch in seinen alten Tagen zum guten Teil auswendig wusste und aus dem Stegreif zitieren konnte. Er hat sie aber nicht bloß „gelernt“, sondern auch, obwohl sie meist nur dazu benützt wurden, um das Deklinieren und Konjugieren und die Regeln der lateinischen Syntax einzuüben, aufrichtig liebgewonnen. Die Sittensprüche des Pseudo-Cato, die er schon als Abc-Schütz, und die Fabeln des Äsop, die er in der zweiten Klasse studiert hatte, schätzte er noch als alter Mann so hoch, dass er sie als die besten Bücher nächst der Bibel bezeichnete. Ja die letzten hat er sogar einmal (1530) für das deutsche Volk zu bearbeiten begonnen. Über Terenz aber, den er besonders liebte, urteilt er später einmal, dass ein Blatt von seinen Komödien mehr wert sei als sämtliche Dialoge und Kolloquien des Erasmus von Rotterdam. Ebenso anerkennend äußert er sich später auch über die beiden gefürchteten Plagegeister der damaligen Schuljugend: den Donat und den Alexander. Er hat also offenbar auch an diesen recht trockenen Schriftstellern schon als Schüler Geschmack gefunden, wohl, weil sie ihn energisch zum Nachdenken anregten, denn für solche Anregungen war er von Natur besonders empfänglich. Nach alledem verdankt er der vielgescholtenen Trivialschule doch etwas mehr, als seine abfälligen Urteile erwarten lassen. Das wenige, was sie lehren wollte, hat sie auch ihm sehr gründlich beigebracht und, obwohl sie nur an das Gedächtnis sich wandte und nur das Gedächtnis bewusst trainierte, doch auch seine anderen geistigen Fähigkeiten, wie z. B. seine sprachliche, dialektische und musikalische Begabung, geweckt und entwickeln helfen. Er hat daher gewiss an dem Unterricht schon in Mansfeld, insbesondere in den Singstunden, manchmal Freude gehabt. Denn das Erwachen der geistigen Kräfte und das Auftauchen neuer geistiger Interessen löst in der Seele stets ein Glücksgefühl aus, das alles Leid, wenigstens zeitweilig, vergessen lässt.

Aber etwas wirkt doch in diesen Jahren noch stärker auf die Seele und prägt sich ihr noch tiefer ein: das ist die Erinnerung an erlittenes Unrecht. Es ist daher nicht auffällig, dass auch der Reformator augenscheinlich am besten die an sich gar nicht ungewöhnlichen Kindheitserlebnisse behalten hat, durch die ihm der Glaube an die Gerechtigkeit der Eltern und Lehrer zuerst erschüttert worden ist; denn diese Erfahrung macht auf feiner organisierte Kinder immer einen unauslöschlichen Eindruck, ja sie wird oft die Ursache schwerer seelischer Konflikte, weil sie in schreiendem Gegensatze zu der Autorität steht, welche Eltern und Lehrer für sich beanspruchen. Aber eben weil es sich dabei um eine ganz normale Erscheinung handelt, darf man sich durch jene Beobachtung doch nicht verleiten lassen, Luthers Jugend als eine Art Martyrium darzustellen. Verstanden die Eltern auch nicht die später von ihm so oft gepriesene große Kunst, Ernst und Freundlichkeit so zu mischen, dass der Ernst nie in Härte und die Freundlichkeit nie in Schwäche auszuarten vermag, so konnte er doch aus ihrem Verhalten schon damals herausmerken, dass sie es „herzlich gut mit ihm meinten“, und fiel es ihnen in jenen Jahren auch oft recht schwer, für die ständig wachsende Kinderschar immer ausreichend Brot und Milch zu beschaffen, so hat er doch, soviel wir wissen, nie ernstlich Hunger leiden müssen, denn das hätte er sicher später nicht zu erwähnen vergessen. Auch gingen die beiden Eheleute trotz aller Sorgen doch nicht immer wie die teure Zeit daheim umher. Vater Hans war sogar – wie der Reformator einmal ausdrücklich feststellt – von Natur ein fröhlicher und daher allzeit zu Scherz und Kurzweil aufgelegter Gesell, und auch Mutter Margarethe, die wohl von Haus aus etwas schwereres Blut hatte, konnte gelegentlich so aufgeräumt werden, dass sie ihr melancholisches Leiblied anstimmte: „Mir und dir ist keiner hold, das ist unser beider Schuld“. Endlich aber: Martin hatte es daheim nie bloß mit den Eltern zu tun. Er hatte sogar sehr viele Geschwister und daher immer jemanden, mit dem er sich nach Kinderart vergnügen konnte, ohne von der gestrengen Mutter bei jeder Gelegenheit zur Ordnung gerufen zu werden; denn je besser sich die kleine Gesellschaft auf eigene Faust unterhielt, um so ungestörter konnte die Vielgeplagte ihren häuslichen Geschäften nachgehen. Auch die raue Behandlung in der Schule wirkte auf die Dauer kaum so verdüsternd auf sein Gemüt, wie die zarter empfindende Nachwelt annehmen zu sollen geglaubt hat. Wo Prügel ein alltägliches Ereignis sind, da machen sie auf gesunde Jungen nur dann noch tieferen Eindruck, wenn sie einmal außergewöhnlich roh oder unverdientermaßen „gestäupt“ werden. Auch fand er, wie er später erzählt, schon als Abc-Schütz unter den älteren Schülern Freunde, die sich seiner liebevoll annahmen, ja ihn wohl gar zur Schule trugen, und unter den Klassengenossen Kameraden, mit denen er in der schulfreien Zeit allerlei unternehmen konnte; denn wie könnten heranwachsende Knaben auch nur fünf Minuten zusammen sein, ohne etwas auszuhecken, was, wenn nicht den Eltern und Lehrern, so doch ihnen selbst Spaß und Freude macht? So trat er z. B. einmal in Gemeinschaft mit einem Mitschüler in der schönen Zeit der Schlachtfeste in Mansfeld als Wurstsänger auf. Dass er in seinen alten Tagen zufällig nur dieses einen harmlosen Jugendstreiches gedenkt, beweist selbstverständlich nicht, dass er sonst immer wie ein verprügelter Hund ängstlich zu Hause sich verkrochen oder nur dann sich herausgewagt habe, wenn ihm ein solch leckeres Ziel winkte, sondern nur, dass er keinen Anlass hatte, derartige für ihn selbst kaum mehr interessante Jugenderinnerungen vor aller Welt auszukramen.

Sind nun aber nicht damals schon gelegentlich Eindrücke an ihn herangetreten, die verwirrend und vielleicht sogar vergiftend auf sein junges Gemüt wirken mussten? Ende des 15. Jahrhunderts tauchte in Mansfeld ein jüngerer Bruder seines Vaters, Klein-Hans Luder, auf, der sich so übel aufführte, dass er sich, wie schon erwähnt, in den Jahren 1499 bis 1513 nicht weniger als elfmal wegen Körperverletzung und Beleidigung vor Gericht verantworten musste. Aber allem Anschein nach ist Martin mit diesem Onkel nicht mehr in nähere Berührung gekommen. Er gedenkt seiner später jedenfalls niemals. Er war also vermutlich schon nicht mehr daheim, als der üble Mensch sich in Mansfeld niederließ. Er erzählt weiter selber, dass sein Vater ab und zu einen kleinen Rausch gehabt habe und dann besonders heiter und lustig gewesen sei. Es ist nicht unmöglich, aber doch nicht gerade sehr wahrscheinlich, dass sich das schon in der Zeit ereignete, als er noch zu Hause weilte, denn damals hatte der Vater noch so schwer um seine Existenz zu ringen, dass er sich derartige Exzesse kaum gestatten konnte. Jedenfalls hatte der wackere Hüttenmeister aber auch in solchen schwachen Stunden sich so in der Gewalt, dass er nicht zum Kindergespött werden konnte. Das beweist zur Genüge schon die Tatsache, dass Luther noch als reifer Mann vor keinem Menschen solchen Respekt hatte und niemandem so gern gehorchte wie seinem alten Vater. Er stand aber mit diesen Gefühlen durchaus nicht allein. Auch bei seinen Mitbürgern erfreute sich Hans Luder solchen Ansehens, dass er von ihnen schon vor 1491, also zu einer Zeit, wo er noch ein junger Anfänger war, zu einem der sogenannten Vierherren erwählt wurde, welche die Interessen der Gemeinde gegenüber dem Rate wahrnehmen sollten. Wäre er, wie man etwas voreilig aus jener Angabe Luthers geschlossen hat, ein ausgesprochener Trunkenbold gewesen, dann wäre es selbstverständlich niemandem eingefallen, ihm ein solches Amt anzuvertrauen oder ihm gar, wie schon bemerkt, Geld zur Gründung und Erweiterung seines Geschäftes vorzuschießen. Denn für Trunkenbolde hatten die Geschäftsleute schon damals nichts übrig. Wir haben sonach keinen Grund, die Behauptung Luthers, dass seine Eltern „fromme“, d. h. durch und durch rechtschaffene Leute gewesen seien, in Zweifel zu ziehen.

Waren sie aber auch „fromm“ in dem heute üblichen Sinne des Wortes? Unser Hauptgewährsmann, nämlich Luther selbst, schweigt sich hierüber völlig aus. Warum? Wir müssen doch wohl annehmen, weil er darüber nichts Besonderes zu berichten hatte. Die Eltern beobachteten zwar wohl, wie alle guten Bürgersleute, gewissenhaft die Gebote und Gebräuche der überlieferten Religion, aber sie zeichneten sich in dieser Beziehung kaum durch ungewöhnlichen Eifer vor ihren Mitbürgern aus. Wenn Hans Luder 1497 mit etlichen anderen Mansfeldern sich bemühte, der Pfarrkirche St. Georg einen bischöflichen Ablass zu verschaffen, so beweist das nur, dass er damals schon zu den Honoratioren der kleinen Stadt gerechnet wurde, aber nicht, dass er mehr als andere Leute um sein Seelenheil besorgt war. Ebenso wenig darf man aber auch daraus, dass er einmal in schwerer Krankheit es ablehnte, mit Übergehung seiner Kinder der Kirche etwas zu stiften, und später so sehr über den Eintritt seines Sohnes ins Kloster empört war, schließen, dass er, wenn nicht der Kirche als solcher, so doch gewissen kirchlichen Einrichtungen und Lehren kritisch gegenübergestanden habe. Die Mutter soll in ihren alten Tagen eine fleißige Beterin gewesen sein. Aber es ist wohl möglich, dass auch bei ihr erst „im Alter der Psalter“ zu Ehren gekommen ist. Luther selbst deutet jedenfalls nie an, dass sie ihn beten gelehrt oder sonst irgendwie religiös zu beeinflussen versucht habe. Auch von dem Vater berichtet er nichts Derartiges. Wohl aber erzählt er öfter, was für eigentümliche Dinge er damals von beiden Eltern über das Treiben des Teufels, der Hexen und anderer unholder Mächte erfahren habe. Als einer seiner kleinen Brüder starb, klagte die Mutter laut: die böse Hexe, die Nachbarin, hat das arme Kind getötet, und als dann ein Geistlicher auf der Kanzel über die Hexen im allgemeinen schalt und kurz danach erkrankte und starb, behauptete sie wiederum sofort: das hat die Nachbarin getan, und erzählte lang und breit, wie das schlechte Weib dies angefangen habe. Ein andermal kam der Vater ganz tiefsinnig von einem Sterbenden nach Hause, der ihm seinen von den bösen Geistern im Bergwerk gräulich zerfleischten Rücken gezeigt hatte. Er wäre beinahe selber gestorben. So hatte ihn der furchtbare Anblick mitgenommen. Auch sonst war von den heimtückischen Streichen, die der Teufel den Bergleuten spiele, von den Taten und Untaten der Heinzelein (Heinzelmännchen), Wichte, Nixen, Gespenster im Luderhause oft die Rede. Bei jedem schweren Gewitter und Hagelschlag hieß es gleich: der Teufel ist los, und bei jedem ungewöhnlichen Krankheits- und Todesfall: welche Hexe steckt da wieder dahinter? Aber selbstverständlich erörterten die Eltern, wenn sie solche Geschichten erzählten, immer auch, wie man sich gegen dieses Unwesen schützen könne, und nannten dann außer recht derben volkstümlichen Abwehrgesten vor allem die zahllosen Gnadenmittel, welche die Kirche zu diesem Zwecke geschaffen hatte und den Gläubigen empfahl. So wandelte sich das Entsetzen, das den gespannt zuhörenden Knaben bei derartigen Gesprächen erfasste, am Ende doch immer wieder in ein behagliches Gefühl des Geborgenseins und in ein frohes Erstaunen über die allen feindlichen Gewalten überlegene wunderbare Macht der heiligen Mutter Kirche. Beim bloßen Reden ließen es aber die Eltern sicher nicht bewenden. Sie machten aller Wahrscheinlichkeit nach selber von diesen Gnadenmitteln fleißig Gebrauch. Nicht wenige von den christlich umgeformten uralten apotropäischen Riten (Apotropäisch (griechisch ἀποτρόπαιος ‚abwehrend‘) nennt man Handlungen, die Dämonen austreiben oder Unheil abwenden sollen. Es handelt sich um Maßnahmen im Rahmen eines Abwehrzaubers, mit denen schädigender Zauber ferngehalten oder unwirksam gemacht werden soll.), die der Reformator später als „ungöttliche Irrtümer“ bezeichnet, wie z. B. das kreuzweise Ausbreiten der geweihten Palmzweige über dem Feuer zum Schutz gegen Gewitter und Hagelschlag, den Genuss geweihter Kräuter zum Schutz gegen Zauberei, die Besprengung von Haus, Hof, Betten usw. mit Weihwasser, hat er daher wohl schon in seinem Elternhause kennengelernt. Auch ward er aller Wahrscheinlichkeit nach von ihnen schon frühe ermuntert, die starken Nothelfer unter den Heiligen, wie z. B. die bei den Bergleuten besonders beliebte heilige Anna, anzurufen, sich bei jeder Gelegenheit zu bekreuzigen und mit Weihwasser zu besprengen. Je tiefer er in jene finstere Welt des Aberglaubens hineingeriet, um so inniger, bewusster, persönlicher wurde also gleichzeitig sein Verhältnis zu dem Glauben der Kirche und um so lebhafter sein Interesse für alles, was er in der Kirche sah und. hörte.

Wenn etwas für die ersten dreizehn Lebensjahre des Reformators charakteristisch ist, so ist es mithin der vollständige Mangel an auffälligen Ereignissen und Erlebnissen. Aber eben dieser Mangel beweist doch, dass es ihm beschieden gewesen ist, in völlig normalen Verhältnissen sich völlig normal zu entwickeln. Als einen besonderen Glücksumstand hat er selbst später immer wieder nur hervorgehoben, dass er so rechtschaffene Leute zu Eltern gehabt habe. Wir dürfen als einen solchen vielleicht aber auch noch die Tatsache bezeichnen, dass er aus einer sogenannten aufstrebenden, d. h. im harten Kampf ums Dasein sich mit zäher Energie allmählich emporarbeitenden Familie hervorgegangen ist. Kinder solcher Familien sind es von Jugend an gewohnt, das Leben ernst zu nehmen, sich nicht zu schonen und alle Mittel, die sich ihnen zu ihrer Ausbildung und zu ihrem Weiterkommen darbieten, tatkräftig auszunutzen. Von ihnen kann man daher immer etwas Besonderes erwarten.

Auf den Trivialschulen zu Magdeburg und Eisenach