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Der gewaltige Krieg um die Welt Roschar nimmt immer größere Dimensionen an. Die einst verschollen geglaubten Strahlenden Ritter stellen sich mit ihren magischen Kräften den Bringern der Leere entgegen. Der ehemalige Attentäter Szeth begibt sich zurück in sein Heimatland Schinovar, aus dem er einst verbannt wurde, um dort den Einfluss der dunklen Götter zurückzudrängen. Doch die Zeit drängt, denn auch unter den Göttern selbst schwelt ein uralter Konflikt.
Der neue Originalband »Winds and Truth« erscheint im Deutschen in zwei Teilen, »Winde und Wahrheit« und »Der Kampf der Meister«.
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Seitenzahl: 1216
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ehr und Herold Talenelat
Von Brandon Sanderson sind imWilhelm Heyne Verlag erschienen:
DIEKOSMEER-ROMANE
Die Sturmlicht-Chroniken
Der Weg der Könige
Der Pfad der Winde
Die Worte des Lichts
Die Stürme des Zorns
Der Ruf der Klingen
Die Splitter der Macht
Der Rhythmus des Krieges
Der Turm der Lichter
Winde und Wahrheit
Der Kampf der Meister
Die Tänzerin am Abgrund
Der Splitter der Dämmerung
Einzelromane und Erzählungen
Sturmklänge
Die Seele des Königs
Das Herz der Sonne
DIESTEELHEART-REIHE
Steelheart
Firefight
Calamity
Mitosis
MAGIC™: THEGATHERING
Die Kinder des Namenlosen
Die Sturmlicht-Chroniken
ZEHNTER ROMAN
Aus dem Amerikanischen vonMichael Siefener
Die Originalausgabe ist unter dem Titel Winds and Truth – Book Five of The Stormlight Archives (Part II) bei Tor/Tom Doherty Associates, LLC, New York, erschienen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe 9/2025
Copyright © 2024 by Dragonsteel, LLC
Copyright © 2025 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion: Joern Rauser
Alle Illustrationen © Dragonsteel, LLC, wenn nicht anders angegeben
Illustrationen vor den Kapiteln 11 und 15: Audrey Hotte und Ben McSweeney
Illustration vor Kapitel 45: Kelley King
Illustration vor Zwischenspiel 7: Anna Earley
Illustration vor Kapitel 59: Greg Call und Hayley Lazo
Karte von Roschar, Schwertglyphen und Illustrationen vor Kapitel 5: Isaac Stewart
Kapitelanfangsbögen: Isaac Stewart und Hayley Lazo
Kapitelanfangsvignetten: Isaac Stewart, Ben McSweeney und Howard Lyon
Karte auf der Umschlaginnenseite: Howard Lyon und Isaac Stewart
Illustrationen auf dem Vorsatzpapier vorne: Donato Giancola
Illustrationen auf dem Vorsatzpapier hinten: Miranda Meeks
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-26878-7V001
www.heyne.de
Für Adam Horne,ein Meister der Bücher, der seine eigene Splitterklinge verdient hat
Willkommen zu »Winde und Wahrheit« und »Der Kampf der Meister«, den Romanen Nummer neun und zehn der Sturmlicht-Chroniken (die beiden Hälften der Übersetzung von Winds and Truth, Anm. d. Ü.). Dies ist der Mittelpunkt der Reihe und das Ende des ersten großen Handlungsbogens. Deshalb habe ich mit diesem Buch auch stärker gekämpft als mit den anderen und ihm einen Großteil meiner Gedanken, meiner Leidenschaft und meiner Bemühungen der letzten vier Jahre mitgegeben. Und dies ist das bisher längste Buch, das ich geschrieben habe – es hat die meiste Zeit verschlungen, die ich je mit einem einzelnen Buch zugebracht habe (vorausgesetzt, man zählt nicht die übrigen Projekte mit, die ich schon früh skizziert habe und zu denen ich später zurückgekehrt bin). Ich hoffe, Sie werden der Meinung sein, dass das Ergebnis die Mühe wert war.
Unten finden Sie die Namen all der Leute, die hinter den Kulissen in verschiedenen Bereichen an diesem Roman mitgearbeitet haben. Da so viele Personen geholfen haben, wirkt es immer mehr wie der Abspann eines Films. Ich schreibe zwar noch immer jedes Wort selbst und bin somit der alleinige Autor der Bücher, aber – wow! Dragonsteel als Firma ist zu etwas wirklich Spektakulärem herangewachsen. Während wir für die meisten Bücher einen relativ normalen Arbeitszeitplan befolgen, heißt es bei den Bänden der Sturmlicht-Chroniken regelmäßig: »Alle Mann an Deck!« Manche müssen Überstunden einlegen, damit die Termine eingehalten werden können, und andere verwenden einen großen Teil ihrer Arbeitszeit allein darauf, das Buch zu lektorieren, zu bewerben und auszuliefern. Falls Sie je die Gelegenheit haben sollten, jemandem von ihnen zu begegnen, dann schütteln Sie ihm oder ihr die Hand und bedanken sich.
Und nun lehnen Sie sich bitte zurück und genießen Sie die Show. Ein Großsturm braut sich zusammen.
Die Künstler, die an diesem Buch gearbeitet haben, sind: Michael Whelan, Donato Giancola, Miranda Meeks, Dan dos Santos, Audrey Hotte, Kelley King, Petar Penev, Howard Lyon, Isaac Stewart, Ben McSweeney, Anna Earley und Hayley Lazo.
Bei Tor Books waren beteiligt: Devi Pillai, Stephanie Stein, Tessa Villanueva, Sanaa Ali-Virani, Rafal Gibek, Peter Lutjen, Alexis Saarela, Lucille Rettino und Emily Mlynek.
Bei Gollancz waren es: Gillian Redfearn, Brendan Durkin, Emad Akhtar, Cait Davies und Javerya Iqbal.
Lektorat und Korrektur: Terry McGarry, Christina MacDonald, Hayley Jozwiak.
Erzähler und Erzählerin des Audiobooks waren Michael Kramer und Kate Reading; und bei Macmillan Audio: Steve Wagner.
In der JABberwocky Literary Agency haben mitgearbeitet: Joshua Bilmes, Susan Velasquez, Christina Zobel, Valentina Sainato und Brady McReynolds, und bei der Zeno Literary Agency John Berlyne.
Bei Dragonsteel waren es: COO Emily Sanderson und ihre Mitarbeiter Becky Wilson und Ethan Skarstedt. Das Finanzen-Team bestand aus Emma Tan-Stoker und Matt Hampton.
Kreativentwicklung: VP Isaac Stewart, Shawn Boyles, Ben McSweeney, Jennifer Neal, Rachael Lynn Buchanan, Anna Earley, Hayley Lazo und Priscilla Spencer.
Lektorat: VP der einladende Peter Ahlstrom, Kristy S. Gilbert, Karen Ahlstrom, Jennie Stevens, Betsey Ahlstrom und Emily Shaw-Higham.
Operativer Betrieb: VP Matt »Warum schreibst du meinen Namen so, Brandon?« Hatch, Jane Horne, Kathleen Dorsey Sanderson, Jerrod Walker, Braydonn Moore, Makena Saluone und Christian Fairbanks.
Merchandise, Events und schicke Pullis: VP Kara Stewart, Christi Jacobsen, Kellyn Neumann, Lex Willhite, Richard Rubert, Dallin Holden, Ally Reep, Mem Grange, Brett Moore, Katy Ives, Joy Allen, Daniel Phipps, Michael Bateman, Alex Lyon, Jacob Chrisman, Camilla Waite, Quinton Martin, Hollie Rubert, Gwen Hickman, Isabel Chrisman, Amanda Butterfield, Logan Reep und Pablo Mooney.
Publicity und Marketing: VP Adam Horne, auch bekannt als »Er, dem das Buch gewidmet ist (hurra!)«, Jeremy Palmer, Octavia Escamilla-Spiker, Taylor Hatch, Tayan Hatch und Donald George Mustard III.
Für den Erzählfluss: VP Dan Wells – unser einsames Mitglied der Erzählabteilung, abgesehen von seinem imaginären Freund Bob, dem Banjo-Spieler.
Meine Schreibgruppe »Here There Be Dragons«: Kaylynn ZoBell, Kathleen Dorsey Sanderson, Eric James Stone, Darci Stone, Alan Layton, Ben Olsen, Ethan Skarstedt, Karen Ahlstrom, Peter Ahlstrom und Emily Sanderson.
Expertin für dissoziative Identitätsstörungen: Britt Martin. Militärexperten: Carl Fisk, John Fahey. Experte für Amputationen und Prothesen: Matthew Fox.
Arkanisten: Eric Lake, Evgeni Kirilov, Joshua Harkey, David Behrens, Ian McNatt und Ben Marrow.
Beta-Leser: Aaron Ford, Alexis Horizon, Alice Arneson, Alyx Hoge, Amit Shteinheart, Aubree Pham, Austin Hussey, Bao Pham, Becca Reppert, Ben Marrow, Billy Todd, Bob Kluttz, Brandon Cole, Brian T. Hill, Britton Roney, Chana Oshira Block, Chris Kluwe, Chris McGrath, Christina Goodman, Christopher Cottingham, Craig Hanks, Darci Cole, David Behrens, Deane Covel Whitney, Donita Orders, Drew McCaffrey, Eliyahu Berelowitz Levin, Eric Lake, Erika Kuta Marler, Evgeni »Argent« Kirilov, Gary Singer, Giulia Costantini, Glen Vogelaar, Ian McNatt, Jayden King, Jennifer Pugh, Jessica Ashcraft, Jessie Lake, João Menezes Morais, Joe Deardeuff, Joelle Ruth Phillips, Jory Phillips, Joshua Harkey, Kadie »Ene« Nytch, Kalyani Poluri, Kathleen Barlow, Dr. Kathleen Holland, Kendra Wilson, Krystl Allred, Kyle Wilson, Laura Heinis, Lauren McCaffrey, Lauren Strach, Liliana Klein, Linnea Lindstrom, Lyndsey Luther, Marnie Peterson, Matt Weins, Megan Kanne, Mi’chelle Walker, Paige Phillips, Paige Vest, Poonam Desai, Rachel Rada, Rahkeem Ball, Rahul Pantula, Richard Fife, Rob West, Rosemary Williams, Ross Newberry, Ryan Scott, Sam Baskin, Sarah Herr, Sarah Kane, Scott Webb, Sean VanBlack, Shannon Nelson, Shivam Bhatt, Siena »Lotus« Buchanan, Suzane Musin, Taylor Cole, Ted Herman, Tim Challener, TJ McGrath, Trae Cooper und Zenef Mark Lindberg.
Gamma-Leser: Viele der Beta-Leser und zusätzlich Ari Kufer, Bob Kluttz, Botanica Xu, Brian Magnant, Collin Abeln, Dale Wiens, Ellie Frato-Sweeney, Ene Nytch, Mark Lindberg, Nisarg Shah, Philip Vorwaller, Ram Shoham, Spencer White, Valencia Kumley und William Juan.
Zwischenspiele
TAG SIEBEN
Zwischenspiele
TAG ACHT
Zwischenspiele
TAG NEUN
Zwischenspiele
TAG ZEHN
ILLUSTRATIONEN
Anmerkung: Viele Illustrationen einschließlich der Beschriftungen enthalten Hinweise auf Ereignisse, die zuvor im Text beschrieben wurden. Betrachtung auf eigenes Risiko.
Ehr und Herold Talenelat
Karte von Roschar
Seite aus Mythica: Ba-Ado-Mischram
Ein Teil von Azimir-Stadt
Donnerbrocken
Schasch: Vergrößerte
Schasch: Geschälte und Wüste
Navanis Notizbuch: Ehrenklingen
Die Neuen Zeitalter der Menschen
Heroldin Battah und die Bebauerin
Karte von Roschar
Seite aus Mythica: Ba-Ado-Mischram
Dyel empfing die ungewöhnlichsten Besucher.
In Iri war das allerdings nicht mehr erstaunlich, da nun die Eigner zurückgekehrt waren. Mit Körpern, deren Muster aussahen, als seien sie aufgemalt, zogen sie durch die Straßen. Rot, Weiß und Schwarz.
Diese Besucher gehörten jedoch nicht zu den Eignern. Diese Besucher waren anders.
Die drei saßen an einem Tisch in ihrem Schankraum. Hinter ihnen gab es kleine Einbuchtungen in der Wand, in die ihr Großvater – vor seiner Ermordung – die Schuhe gestellt hatte. Als sie eingetreten waren, hatten sie vorgegeben, aus »dem Osten« zu kommen. Aber Dyel kannte sich mit Akzenten aus, und diese Männer kamen gewiss nicht aus dem Osten. Außerdem wirkte ihre Kleidung seltsam – insbesondere die des größten Mannes, der einen langen weißen Mantel trug, aus dessen Tasche eine Brille hervorlugte.
Sie blieb in der Tür zur Küche stehen, nachdem sie ihnen Tee gebracht hatte, und hoffte, dass ihre Mutter es nicht bemerkte.
»Bist du wirklich sicher, dass es die richtige Zeit ist?«, fragte der große Mann in dem Mantel. Er hatte eine Haut wie jemand aus Azir. Seine Haare waren schwarz, und er schien so muskulös wie ein Soldat. Sie hätte tatsächlich glauben können, dass er aus dem fernen Osten stammte, wo solche schrecklichen Männer angeblich die wildesten Krieger waren. Aber er kippte sich Zucker in den Tee. Welcher wilde Krieger trank denn seinen Tee mit Zucker?
»Natürlich bin ich mir nicht sicher«, sagte der Rundliche, der andauernd die Stirn krauszog. »Du weißt doch, dass das Gerät unzuverlässig ist.« Auch er hatte dunkle Haut, war aber kahlköpfig. Und älter. Und außerdem kleiner. Auch er trug seltsame Kleidung. Die meisten Menschen in Iri liefen ohne Hemd herum; die Frauen trugen nichts als eine Brustbinde. Er hingegen steckte in einem Mantel und einer farbenfrohen Robe. Bei diesem Wetter?
Der große Mann grunzte und nippte an seinem gezuckerten Tee. Der dritte saß still daneben. Er war ein Schin von mittlerer Größe, dessen Kopf allmählich kahl wurde. Aber seine Haut war heller, und seine Kleidung schien gewöhnlicher – zumindest für einen Ausländer. Hemd und Hose. Er redete nicht viel. Aber er sah zu. Sie kannte solche Leute wie ihn.
Damit sie nicht glaubten, Dyel würde sie beobachten, machte sie sich daran, die Tische zu säubern, dann stellte sie sich an die Tür und lächelte jeden an, der draußen auf der Straße an ihr vorbeikam. Das gefiel ihr. Sie beobachtete gern die vielen verschiedenen Leute, die allesamt Teil des Einen waren.
Draußen ging ein Eigner vorbei – eine massige Gestalt mit Panzer und rot glühenden Augen. In Iri gab es einiges Gerede über diese Leute: Waren es Sänger, diese Eigner, Teil des Einen, oder waren sie noch etwas anderes? Dyel glaubte, dass sie der Eine waren. Es wäre nur dann nicht so, wenn dieser Eine – Gott – nicht alles umfassen würde. Jede Person war ein Stück von ihm, im ganzen Kosmeer, und jede lebte ein anderes Leben und fügte ihr Wissen dem Ganzen hinzu.
Ihre Mutter war nicht gläubig, Dyel hingegen schon. Und weil sie glaubte, war Großvater Ym andauernd bei ihr, und sie war bei ihm.
»Kellnerin?«, rief einer der Männer. »Kann ich noch einen Tee bekommen?«
Sie eilte zu dem Tisch mit den Fremden; ihre Haare flatterten. Sie schnitt sie nur, wenn Mutter sie dazu zwang. Sie war eine Iriali, und ihre goldenen Haare galten als ihr Erbe. Rasch füllte sie die Becher der Männer, während der Nachdenkliche – der Stille – eine Kugel auf den Tisch legte.
Sie hielt den Atem an. Ein ganzer Brom? Sie sah den Mann an, der ein rundes, freundliches Gesicht hatte. Er nickte.
Sie ergriff die Kugel. Ihr blaues Licht brachte Dyels Haut zum Leuchten. Mutter würde darauf bestehen, dass sie fragte. Also sagte sie zögernd: »Wünscht Ihr Wechselgeld?«
»Nein«, sagte er und lächelte. »Aber ich hätte nichts einzuwenden … gegen Antworten auf eine oder zwei Fragen.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Gern.«
Also fragte der Mann: »Hast du je eine seltsame Ansammlung von Lichtern gesehen, die sich über die Wand oder den Boden bewegen, obwohl du keine Quelle finden kannst, die sie widerspiegelt?«
Sofort spürte Dyel einen Stich des Entsetzens. Fast hätte sie die Teekanne fallen gelassen. Zwar hatte sie schon vermutet, dass diese Männer nicht waren, was sie vorgaben zu sein, aber – das? Das?
»Es tut mir leid aber ich habe vergessen dass meine Mutter mir gesagt hat ich soll nach den Keksen schauen bleibt so lange Ihr wollt danke für das Trinkgeld wir schließen jetzt auf Wiedersehen.« Sie huschte in den hinteren Raum, der früher die Werkstatt ihres Großvaters gewesen war und nun als Küche und Wohnzimmer diente. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Ihr Herz raste.
Er war zurückgekehrt. Der Mörder. Was nun?
Mutter finden.
Mutter war fort. Dyel fand nur eine Notiz. Bin in einer Viertelstunde zurück. Pass auf den Laden auf.
O nein. Neinneinneinneinnein.
Sie drückte sich an einigen klumpigen purpurfarbenen Angstsprengseln vorbei und fand ein Buttermesser. Dann verbarg sie sich in einer Ecke, hielt das Messer fest gepackt und versuchte nicht zu laut zu sein, während sie weinte und zitterte. Im nächsten Augenblick verdunkelten sie den Türdurchgang. Drei Männer – zwei kleinere und ein großer. Unwillkürlich jaulte Dyel auf und hielt das Messer vor sich hin.
Der Große sah den Nachdenklichen an. »Sieh nur, was du angerichtet hast, Demoux«, sagte er. »Ich hatte dir doch gesagt, du sollst nicht mehr darüber reden.«
»Ich brauche ein intelligentes Sprengsel für meine Studien!«, erwiderte er. »Und es wird mir andauernd abgelehnt.«
»Vielleicht weil du andauernd sagst, du willst sie ›untersuchen‹. Ist das nicht so?«, fragte der Mürrische. »Wir haben weniger Leute erschreckt, als dein Übersetzer nicht gearbeitet hat.«
Der große Mann kniete sich vor Dyel hin, die mit der Wand hinter sich zu verschmelzen versuchte. Ihr Rock knitterte, und das raue Holz drückte sich in die Haut ihres Rückens, ausgenommen dort, wo die Brustbinde verlief.
»Tut mir leid«, sagte der Mann, »wenn wir …«
Die hintere Tür wurde aufgestoßen, und da stand ihre Mutter – wütend, in blauer Hose und passender Brustbinde, während ihre goldene Haarmähne im Licht der untergehenden Sonne strahlte. Sie sah die drei Fremden an.
Eine Sekunde später erschien ihre Splitterklinge.
Sie war hell und silbern und das gut gehütete Geheimnis ihrer Familie, seit sich die Klinge vor ein paar Monaten zum ersten Mal manifestiert hatte. Aber Geheimnisse wurden unwichtig, wenn die eigene zwölfjährige Tochter drei Angreifern gegenüberstand.
»Hui«, sagte der Große und sprang davon. Er war der Mörder. »Hui.« Er zog etwas aus seinem Gürtel, das er wie eine Waffe schwenkte, auch wenn Dyel noch nie eine Waffe gesehen hatte, die nur aus einem Metallrohr mit einem Griff bestand.
Der Mürrische warf eine Kugel auf den Boden, die dabei zersprang. Sturmlicht umfloss ihn, und seltsame Symbole formten sich in der Luft.
Mutter sprang vor Dyel hin. Sie schwitzte stark und packte ihre Waffe mit beiden Händen. »Wir haben gewusst, dass ihr zurückkommt! Wir haben es gewusst, dass ihr zu mir zurückkommt, sobald ihr es gehört habt!«
Dyel kroch vor und schlang entsetzt die Arme um Mutters Beine.
Alle standen still in dem Zimmer, bis der nachdenkliche Schin etwas sagte. »Was zur Hölle geht hier vor?«
»Wir kennen euch doch«, sagte Mutter und wich rückwärts zur Hintertür aus. »Ich habe monatelang nach dem großen Makabaki-Mann gesucht, der meinen Vater getötet hat. Ich habe mit den Familien von anderen gesprochen, die du auch schon umgebracht hast. Wir wissen nämlich, was du bist. Ein Mörder.«
Dyel krümmte sich zusammen. Mutter versuchte, die Männer zur Tür zu locken. Seltsamerweise entspannte sich nun der große Mann und senkte seine Waffe.
Der Kahlköpfige ließ die Hände herabfallen, und das seltsam schimmernde Licht, das ihn umgeben hatte, verflüchtigte sich. »Ich hab dir doch gesagt, dass du aussiehst wie er.«
»Das ist nicht wahr«, sagte der Große.
»Doch, irgendwie schon«, antwortete der Nachdenkliche.
»Nur weil wir beide dunkelhäutig sind?«, fragte der Große.
»Ich bin ebenfalls dunkelhäutig«, sagte der Kahlköpfige. »Und niemand sagt von mir, ich sähe so aus wie er.«
»Du bist ja auch die meiste Zeit hindurch silbern, Galladon«, bemerkte der Große und steckte seine Waffe unter den Mantel. Zu Mutter sagte er: »Ich bin nicht der Mörder, den du fürchtest. Das ist der Herold Nale.«
Beide beobachteten ihn stumm und erschrocken – doch dann hielt Mutter seltsamerweise den Kopf schräg. Sie ließ ihre Klinge herabsinken, was Dyel zum Erzittern brachte. Mutter glaubte doch wohl nicht einem Mörder?
Eine Sekunde später erschien Uma und kroch als Ansammlung von Lichtern über die Wand. Sie wirkten wie die reflektierten Farben eines Prismas. »Ist schon in Ordnung, Dyel«, sagte sie. Ihre Stimme erklang so leise und machte dabei einen Laut wie ein schwingender Glasbecher. »Ich kenne den Herold Nale – der deinen Großvater getötet hat –, und das hier ist er nicht.«
Oh. Vorsichtig erhob sich Dyel hinter ihrer Mutter. Ihr Herz raste – vermutlich war das auch bei den anderen so. Einen Augenblick später sagte der Nachdenkliche: »Darf ich dich untersuchen?«
»Hm …«, sagte Uma. »Nein.«
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst es nicht mehr so ausdrücken, Demoux«, sagte derjenige, der Galladon genannt worden war.
»Ich will sie doch nicht anlügen«, erwiderte Demoux.
Der Große räusperte sich. »Vielleicht sollten wir jetzt lieber gehen.«
Mutter beobachtete die Männer angespannt. Sie hatte ihre Tochter aufschreien gehört und drei fremde Männer angetroffen, die sie im Hinterzimmer bedrohten.
»Mutter«, flüsterte Dyel. »Sie haben es gewusst. Sie haben mich nach Uma gefragt.«
»Wieso?«, fragte Mutter.
»Wir wollten dem Mädchen keine Angst machen«, sagte der Große und streckte besänftigend die Hand aus. »Wir hatten bloß Gerüchte gehört. Wir sind Gelehrte und möchten Sprengsel untersuchen.«
»Siehst du?«, sagte Demoux. »Baon benutzt das Wort auch.«
»Baon ist aber nicht gerade ein Vorbild, wenn es um Taktgefühl geht«, sagte Galladon. »Ihr seid doch alle Irrnarren.« Was für ein seltsames Wort. Er trat vor, und obwohl er beim Bestellen am Tisch der Griesgrämigste gewesen war, klang er nun ausgesprochen höflich. »Es tut mir leid, wenn wir euch Angst gemacht haben. Mit deiner Erlaubnis, Strahlende, gehen wir jetzt.«
Mutter schaute auf Dyel herab, seufzte und sah dann wieder zu den Männern hinüber. »Ich habe einen Brief für euch.«
Was?
Was?
»Mutter?«, fragte Dyel.
»Erinnerst du dich an die komische Frau, die uns im letzten Monat besucht hat?«, fragte sie. »Sie hat mir einen Brief gegeben. Er liegt oben in meinem Nachtschränkchen. Hol ihn bitte.«
Verwirrt gehorchte Dyel. Mutter blieb vor den drei Fremden stehen. Die Frau? Die mit den vielen Ringen, die einige Wochen lang in dem örtlichen Armenkrankenhaus ausgeholfen hatte? Eine Heilerin, ziemlich geschickt im Umgang mit Kräutern, deren Zimmer hatte aber immer nach dem Fisch gerochen, den sie im Reinsee gefangen und dann getrocknet hatte. Sie war jeden Morgen zum Tee hierhergekommen.
In dem Schränkchen neben dem Bett fand Dyel einen versiegelten Briefumschlag. Darauf waren die groben Profile von drei Männern gezeichnet. Es waren die drei Männer im Hinterzimmer, deren Proportionen jedoch grotesk verzerrt wiedergegeben waren. Was für eine seltsame Erfahrung des Einen. Woher hatte die Frau das gewusst? Dyels Leben war auf den Kopf gestellt worden, seit Uma eingetroffen war und ihre Mutter manchmal glühte. Einzigartige Erfahrungen waren das.
So sah sie es gern. Heutzutage glaubten ganz viele nicht mehr, aber sie tat es nach wie vor. Schon allein für Großvater.
Sie lief die Treppe hinunter und gab den Brief ihrer Mutter, die ihn sogleich an die Männer weiterreichte. »Man sagte mir«, meinte sie dabei, »dass ich wissen werde, wem ich ihn zu geben habe.«
Baon, der Große, nahm ihn an sich. Er betrachtete die anderen, dann öffnete er den Umschlag mit einem Taschenmesser.
»Er kommt von ihm«, sagte Baon.
»Natürlich ist das so«, erwiderte Demoux. »Kurz vor unserer Abreise, ausgerechnet.«
»Was steht drin?«, fragte Galladon.
Baon schloss den Umschlag wieder. »Es ist nur seine Signatur. In Form einer groben Darstellung männlicher Genitalien.«
»Der Schwindler-Aspekt«, sagte Mutter. »Er war im letzten Jahr auch mal hier.«
»Natürlich war er das«, sagte Demoux und seufzte. »Ich bin bereit, diesen rostigen Planeten zu verlassen. Wie ist es mit euch beiden?«
»Ja, bitte«, sagte Galladon. »Eines der ältesten Wesen im ganzen Kosmeer – und er besitzt die geistige Reife eines Dreizehnjährigen.«
»Wenn dieser Mann je zurückkehrt«, sagte Baon, »solltest du Abstand zu ihm halten. Er ist zwar nicht furchtbar gefährlich, aber jedes Mal, wenn er gesichtet wird, geschieht Unschuldigen ein Leid.«
Das war nur natürlich. Schließlich war er der Schwindler-Aspekt, aus dem Einen hervorgegangen, um Chaos zu schaffen. Es gab Hunderte Legenden über ihn, aber man durfte ihn nicht dadurch beleidigen, dass man ihm keinen Tee brachte.
Ein Geräusch drang aus Galladons Tasche.
»Zeit«, sagte er.
Die drei Männer gingen zur Tür. Baon zögerte auf der Schwelle. »In eurer Stadt könnte es für eine Weile etwas chaotisch werden.«
Und dann ging er hinter den beiden anderen nach draußen.
Dyel umarmte ihre Mutter, aber die Angstsprengsel blieben. Nicht nur wegen dem, was Dyel gesagt hatte. Das bedeutete nämlich, dass der Mörder noch nicht gekommen war und sie sich auch weiter vor ihm fürchten mussten.
Draußen riefen die Leute.
»Ich sehe mal nach«, sagte Uma mit ihrer klirrenden Stimme. »Bleibt stark, ich weiß nicht, was das ist.«
Mutter nickte und führte Dyel nach oben, während Uma durch die Tür entwich. Ihr Geschäft lag in einem großen Gebäude mit vier Stockwerken, und sie halfen, es sauber und in Ordnung zu halten – deswegen konnte Mutter sie über die Treppe bis auf das Dach bringen.
Dort sahen sie, was das Chaos ausgelöst hatte. Cusicesh der Beschützer war aus der Bucht aufgestiegen – das große Sprengsel mit den vielen Armen, das aus einer Wassersäule bestand. Aber das war alles? Dyel entspannte sich. Sie hatte Cusicesh schon oft gesehen. Doch warum streckten so viele Leute die Arme nach ihm aus und schrien los? Und warum liefen so viele weg?
»Das ist jetzt … die falsche Zeit«, bemerkte ihre Mutter.
Cusicesh brach mit allen Traditionen und winkte mit den Händen, deren Innenflächen in Richtung der Stadt ausgestreckt waren. Und dann riss die Luft vor ihm in der Bucht und wurde zu einer prächtigen strahlenden Fontäne. Zu einer Säule aus Licht.
»Das Tor zum Land der Schatten«, flüsterte Mutter. »Ehrs Tor … O Vater, Mutter, o Ahnen, die ihr zur Eins geworden seid … Dyel, hol das Reisegepäck. Es ist Zeit!«
Dyel erstarrte. Zeit … Das Reisegepäck … Alle guten Iriali hielten es bereit, aber das war nur eine Formalität, bis …
Es war Zeit? Ein seltenes Ehrfurchtsprengsel aus blauen Rauchkringeln brach neben ihr auf.
»Volk«, sagte Cusicesh. Er redete nie. Seine Stimme klang tief und vibrierte durch die Stadt. Sie war so laut, dass sie Dyels Seele zum Erbeben brachte, aber nicht so laut, dass sie ihr in den Ohren wehtat. »Ich werde euer Anführer auf der Fünften Reise sein.«
Zeit. Das bedeutete …
Zeit, den Langen Weg fortzusetzen.
Zeit, das Fünfte Land zu finden.
Das riss sie aus ihren Tagträumen, und sie lief zu dem Reisegepäck. Dyel war entsetzt, dass dieser große Tag während ihres Lebens gekommen war. Sie wünschte sich, sie könnte erklären, dass sie genug von neuen Erfahrungen hatte und lieber hier friedliche Tage verleben wollte, ohne dass die Eigner in das Land zurückkehrten und ihre Mutter zu glühen begann und die Lange Reise ausgerufen wurde.
Aber so sollte es nun nicht sein. Als sie wieder zu ihrer Mutter kam, war auch Uma zurückgekehrt. Mutter weinte.
»Wir werden es versuchen«, flüsterte Mutter dem Sprengsel zu, das den Boden des Daches erhellte. »Wir werden sehen … wie weit du gehen kannst. Komm, Dyel. Wir dürfen den Ruf nicht verpassen. Es rudern schon Boote zum Tor hinaus.«
Und so, nur mit ihrem Reisegepäck versehen, machten sie sich auf den Weg zu den Booten. Sie fuhren in das Licht des Tores, und kurz glaubte Dyel, dass es wie die Vereinigung mit dem Einen war, wenn sie einmal sterben würde. Sie kamen an einem Ort der Schatten heraus, an dem die Anführer schon damit begonnen hatten, Karawanen für die Reise durch die Finsternis zusammenzustellen. Sie hatte gehört, dass sich überall in Iri weitere Portale geöffnet hatten – eines in jeder größeren Stadt.
In der Nähe sah sie wieder die drei Fremden. Demoux beschwerte sich über das »seltsame Verhalten eines Lots dieser Art«. Mutter setzte Dyel auf einige Laken und ging auf die Suche nach einem Platz für sie beide in einer der Karawanen. Dyel drückte sich ihr Gepäck gegen die Brust und war verblüfft, wie schnell das jetzt alles geschehen war. Ihre Zeit in der Stadt und in dem Laden war vorbei.
Sie flüsterte ein Lebewohl.
Es war Zeit, Roschar zu verlassen. Für immer.
Odium arbeitete daran, Dalinar seine Lektionen beizubringen, bis ihn etwas davon abzog. Etwas Überraschendes und Alarmierendes.
Die Bebauerin wandte sich gegen ihn.
Odium war schockiert, denn er hatte sie dessen nicht für fähig erachtet. Ihre Handlungen führten dazu, dass er sich vom Geistigen Reich abwandte und seine Aufmerksamkeit auf Kharbranth lenkte, seine stille Hafenstadt, geschützt vor Sturm und Krieg.
Dort waren die Agenten der Bebauerin tätig. Leute mit schwach blauen Adern unter der Haut, die schwarze Kleidung trugen und ihre Gesichter bedeckten. Sie besaßen moderne Ausrüstung: Schilde aus Halbsplittern, Klingen aus feinstem Stahl und Rüstungen aus einem seltsamen, seelengegossenen Material. Es war hart genug, einem Pfeil Widerstand zu leisten, und doch so leicht, dass sie darin äußerst beweglich blieben.
Ihre Armeen schnitten durch Kharbranth, sie waren nachts in schlanken schwarzen Booten angekommen.
Er war … beeindruckt. Das schien ihm unglaublich. Ein präziser taktischer Schlag gegen seine Heimat und Familie? Er bildete einen unsichtbaren Avatar, stand im Himmel, der Wind spielte mit seiner Robe. Mit wachsender Besorgnis sah er, wie seine Stadtwache einen schrecklichen Tod erlitt. Jeder einzelne Mann erstickte an seinem eigenen Blut, als Kämpfer ohne Uniform durch die Stadt pflügten. Seine Verteidiger hatten keine Chance, und Taravangian konnte nichts tun. Den Verschmolzenen und den Ungemachten war die Stadt verboten, und darum war niemand da, der hätte helfen können.
Schon nach wenigen Minuten griffen die Streitkräfte der Bebauerin den Palast an, der oberhalb der Stadt in den felsigen Berghang geschlagen war. Odium zitterte und verspürte zum ersten Mal seit seiner Erhebung Panik. Wie alle Gefühle wallte diese stärker in ihm auf als in jedem Sterblichen, und er zitterte und keuchte.
Die Bebauerin erschien neben ihm. »Ich möchte ihnen nicht wehtun, es sei denn, du willst dich nicht zurückziehen.«
»Du …«, sagte Odium und fachte seine Wut noch stärker an. »Du Ungeheuer.«
»Ich tue nur das, was getan werden muss.«
Er lachte. Tränen des Schmerzes bildeten sich in seinen Augen – er hatte diesen Avatar so erschaffen, dass er die Reaktionen der Sterblichen nachahmte. Die Stürme innerhalb seiner Macht und die Veränderungen seines Rhythmus bedeuteten weitaus schrecklichere Zeichen – aber Tränen waren ihm vertraut.
So viele Gefühle. Er rang mit ihnen, seine Ausbildung als Sterblicher und sein göttlicher Geist kämpften gegeneinander. Verrat, Angst und … und Befriedigung.
»Du benutzt meine eigenen Methoden, Bebauerin«, flüsterte er. »Du kennst den wahren Weg der Könige.«
Ihr Avatar wollte ihm nicht in die Augen schauen. Ihre Armee brach in den Palast ein, und mehrere Mitglieder seines Stabs waren … ihre Handlanger. Sie übergaben seine Tochter und seine Enkelkinder, die in ihren eigenen Zimmern festgesetzt wurden. Mörder, jederzeit bereit zum Zuschlagen, bewachten sie.
»Du hast es wirklich getan«, sagte Taravangian. »Du hattest einen anderen Plan. Du hast mich nicht nur ausgewählt, weil du vermutet hattest, dass ich Odiums Macht in mir halten kann. Du hast mich ausgewählt, weil du geglaubt hast, du könntest mich kontrollieren!«
»Das glaube ich nicht, Taravangian«, sagte sie. »Ich weiß, dass es auf der Welt nur eines gibt, was dir wirklich am Herzen liegt. Und das – deine Kinder – befindet sich jetzt in meiner Gewalt. Zieh dich zurück. Geh zur Koalition der Menschen und sorge für einen sofortigen Waffenstillstand. Gib den Kholin ihr Reich zurück und sei zufrieden mit den Ländern, über die du bereits herrschst. Das ist mehr, als dir zusteht. Sorge für Frieden.«
»Und was könnte aus einem Frieden erwachsen?«, fragte er und bebte unter dem Gewicht so vieler Gefühle. »Gib es zu, Bebauerin. Du hast den Krieg für Jahrtausende weiterlaufen lassen und bist nicht eingeschritten, weil der Konflikt nicht nur Emotionen schürt, sondern zu Wachstum zwingt. Das ist doch die Absicht deiner Macht.«
Ihr Avatar sah ihn herausfordernd an, aber er spürte das Zittern in ihrer Macht. Ja. Diese Macht liebte den Krieg, nicht wahr? Die Bebauerin hasste zwar das Leid, aber sie war das Gefäß. Ihre Macht liebte alles, was die Menschen dazu ermunterte, sich zu verbessern und etwas zu erreichen. Und all das wurde oft durch Konflikte beschleunigt.
»Du zwingst mich, jetzt Frieden zu machen«, sagte er, »nicht weil du willst, dass die Feindseligkeiten enden, sondern weil du beweisen möchtest, dass es kein Fehler war, mich zu erheben.«
»Du kennst mein Herz nicht.«
»Und du«, flüsterte er, »weißt nicht, was du erschaffen hast, Koravellium Avast. Ich stelle gar nichts mehr infrage. Ich weiß, dass mein Weg der richtige ist, und daher ist an jeder Stelle der nächste Schritt deutlich zu sehen. Es geht für mich nicht mehr darum, Entscheidungen zu treffen, sondern darum, die Kraft für ihre Ausführung zu haben.«
Im Ozean bildete sich mehrere Meilen vor Kharbranth eine Welle.
»Taravangian«, sagte die Bebauerin, »was … was ist das?«
»Eine Lektion«, flüsterte er, und eine tiefe Traurigkeit stieg in ihm auf, als die Welle weiter anschwoll. Und größer und größer wurde.
Die Bebauerin keuchte, und Grauen strahlte von ihr ab. »Taravangian! Nein! Das kannst du nicht tun.«
»Ich werde weinen«, flüsterte er. »Wisse, dass ich weinen werde.«
Sein Avatar schloss die Augen, und Tränen rannen an seinen Wangen herunter. Er dachte an seine Familie – nicht nur an seine Tochter, die liebe Savrahalidem, sondern auch an seine Enkel. Gvori, Karavangia und die kleine Ruli, die er schon früher für seine Ränke benutzt hatte. Und natürlich waren da auch seine lieben Freunde des Diagramms. Die treue Maben, die mit ihrer eigenen Enkeltochter im Morgenlicht saß. Sie strickte und war sich der angreifenden Truppen keineswegs bewusst. Mrall, schon tot, hatte versucht, Taravangians Familie zu beschützen. Adrotagia … sie schlenderte gerade durch den Palastgarten, als die Attentäter hinter ihr heranschlichen.
»Ich werde euch alle nicht vergessen«, flüsterte er, als die Welle auf die Stadt zuströmte. Nun war sie hundert Fuß hoch. So etwas hätte er nirgendwo sonst tun können, da es eine allzu direkte Einmischung darstellte. Aber in Kharbranth … Ihm war als Sterblichem Kharbranth versprochen worden. Und dieses Versprechen besaß noch immer Gültigkeit.
»Taravangian!«, rief die Bebauerin. »Ich werde mich zurückziehen. HÖRAUFDAMIT!«
»Ah«, sagte er, »aber diese Lektion ist nicht nur für dich bestimmt. Sie gilt auch allen, die glauben, mich einschüchtern zu können. Ein Gott darf keine Löcher in seiner Rüstung haben, Bebauerin.«
Er stählte sich und sah ihre Panik und den Schmerz um ihre Gefolgsleute, die nun verschlungen wurden. Sie konnte nicht zusehen, sondern wandte sich ab, was ihm Frieden und die Möglichkeit gab, seine Macht zu sammeln.
Dann zerstörte Odium, der Gott der Leidenschaften, Kharbranth vollkommen – diese eine Stadt, um deren Schutz er sein ganzes Leben lang gekämpft hatte.
Es tut mir leid.
Es bedrückte Sigzil, einen Knappen verloren zu haben, aber sogleich warf er sich auf die nächste Phase seines Plans. Er wollte den Feind zu Narak Drei lenken – unmittelbar südlich des Eidtor-Plateaus – und ihn dadurch vom Tor fernhalten. Das würde schwierig werden, denn der Feind war gerissen.
»Als Nächstes werden sie Narak Zwei einnehmen wollen«, erklärte General Winn und zeigte auf die Karte. »Es ist von höchster strategischer Bedeutung, dass wir das Eidtor halten.« Die anderen nickten.
War es das wirklich? In einer traditionellen Schlacht wäre es so gewesen. Es würde den menschlichen Truppen den Rückzug abschneiden und sie zur Verzweiflung bringen. Es würde sie isolieren. Aber … Sigzil dachte nach, als er mit den anderen, die so viel erfahrener waren als er selbst, vor dem Tisch mit der Karte stand. Sollte er sagen, was er dachte? Gewiss war es gar nicht klug, ihnen zu widersprechen.
Aber warum war er denn hier, wenn nicht, um Befehle zu erteilen?
»Ist es das wirklich?«, fragte er sie. »Ihnen bleiben nur drei Tage zur Einnahme von Narak Eins. Werden sie Zeit auf Narak Zwei verschwenden?«
»Das ist unser Rückzugsgebiet«, sagte General Balivar. Er war jünger als die anderen, so wie Sigzil. »Es wäre klug, uns dort zu erwischen.«
»Oder uns zu veranlassen, bis zum letzten Mann zu kämpfen«, schlug Sigzil vor. »Aber das wollen sie nicht. Sie wollen uns brechen und zum Rückzug zwingen. Wenn sie das Eidtor einnehmen, können wir uns nicht mehr zurückziehen, und wegen der zeitlichen Beschränkung bestände dann durchaus die Möglichkeit, dass sie verlieren. Sie können es sich nicht leisten, dass wir uns verbarrikadieren.«
Die anderen starrten auf die Karte. »Bei den Stürmen!«, sagte Winn. »Ich glaube, er hat recht. Unsere Pläne sind so altbacken wie das Brot der letzten Woche. Wir müssen die Lage so betrachten, wie sie sich uns jetzt darstellt.«
»Wenn sie alles, was sie haben, auf Narak Eins werfen«, sagte Sigzil, »gelingt es ihnen vielleicht, uns zu überwältigen. Aber vermutlich wissen sie gar nicht, wie wenig Sturmlicht wir nur noch haben, und Narak Eins hat die höchsten Mauern und die stärksten Verteidigungsanlagen.
Sie werden sich gewiss Sorgen wegen des nahen Endes machen. Also müssen wir sie zu dem Glauben bringen, dass sie durch einen Angriff auf Narak Drei das bekommen, was sie erreichen wollen: unsere Moral brechen. Wir müssen die Gelegenheit für sie so verführerisch machen, dass sie nicht widerstehen können.«
»Eine Finte«, sagte Ka. Sie nickte und hielt ihren silbrigen Splitterstift in der Hand. »Wie wenn man eine bestimmte Schwäche in einem Schwertkampf simuliert und den Feind dazu bringt, sie auszunutzen.«
»Zieht unsere Truppen auf Narak Eins und Narak Zwei zusammen«, sagte Sigzil und rieb sich das Kinn. »Und dann … haben wir noch die Lichtweber?«
»Ja, Herr«, sagte Winn.
»Lasst Stargyle holen.«
Wenige Minuten später wurde der hübsche Lichtweber hereingeführt. Seine Frisur saß makellos wie immer. Vielleicht hielt er sie in Regen und Sturm durch Lichtweben zusammen. Sigzil verschaffte ihm einen Platz am Tisch bei den Generälen.
»Wir nutzen Narak Drei als Nachschubbasis«, erklärte er. »Und diese Tiefsten schleichen andauernd umher und beobachten uns. Ich verlange, dass du in dem größten Gebäude eine Illusion von vielen Edelsteinen erschaffst. Es soll so wirken, als befände sich dort unser Lager für sie. Dann müssen wir während der Kämpfe dafür sorgen, dass der Feind einen Blick in dieses Gebäude wirft, damit er annimmt, es wäre ein schwerer Schlag für uns, wenn er Narak Drei einnimmt. Vielleicht können wir sie dazu bringen, alle Kräfte auf dieses Ziel zu werfen.«
Es dauerte einige Minuten, den Plan zu entwerfen, aber Stargyle war zuversichtlich. Ihm schien die Vorstellung zu gefallen, einen wichtigen Beitrag auf dem Schlachtfeld leisten zu können, anstatt nur Gruppen von Bogenschützen oder medizinisches Personal durch Lichtweben zu verbergen und heimlich in Stellung zu bringen. Als er ging, tauschte Sigzil noch einen Blick mit seinem Kommandostab aus und ließ das, was ihm die größten Sorgen machte, ungesagt.
Sie stellten eine Falle auf, damit sie hinterher so tun konnten, als hätten sie ihren Vorrat an Sturmlicht verloren. Tatsächlich entsprach das auch beinahe der Wirklichkeit. Ihr Sturmlicht hatte gefährlich abgenommen. Und wenn die Bindeschmiede nicht bald zurückkehrten …
Er verließ das Treffen und trat in ein Lager hinaus, das zwischen zwei Schlachten seine Vorbereitungen traf. Schwerter wurden geschliffen, Soldaten schliefen, soweit es ihnen möglich war. Er ging durch den Hof, und vor ihm wurde salutiert, er beantwortete einige Fragen und machte allen Mut, mit denen er sprach – das war ihm inzwischen zur Gewohnheit geworden.
Als dies alles erledigt war, zwang er sich, eine Leiter hochzuklettern – er versagte sich das Fliegen – und betrat den hölzernen Wehrgang, der entlang der hoch aufragenden Befestigungsmauer verlief, die von den Steinwächtern geschaffen worden war.
»Wie lange werden wir deiner Meinung nach durchhalten können, bevor uns der Vorrat ausgeht?«, fragte er im Flüsterton.
»Schwer zu sagen«, flüsterte Vienta zurück. »In dieser Gleichung gibt es eine Menge Variablen. Aber jede Fuhre Licht aus Urithiru ist kleiner als die vorangegangene, und jeder Kampf dauert länger als der vorherige, da der Feind immer heftiger kämpft.«
»Drei Tage?«, fragte er auf der Mauerkrone. »Können wir wenigstens noch drei Tage durchhalten?«
»Ich … halte das für nicht sehr wahrscheinlich«, gab sie zu.
Hier oben traf er auf Leyten, der gegen die Mauer lehnte. Sigzil stellte sich neben seinen Freund und genoss einen seltenen Augenblick des Friedens, während er über die dunkler werdende Ebene schaute – die gelegentlich von roten Blitzen erhellt wurde. Das war … hübsch, wenn man den Grund dafür nicht kannte.
»Ist es seltsam?«, fragte Leyten. »Dass ich sie vermisse? Die Klüfte? Nicht nur das Herstellen der Rüstungen dort unten, wie ich vorhin schon gesagt habe. Ich mag das Gefühl, das von diesen Klüften ausgeht. Sie brodeln vor Leben, und nie ist es wirklich still in ihnen, aber trotzdem strahlen sie eine gewisse Ruhe aus. Wie heute zum Beispiel. Unter diesen sanften Blitzen wirkt die Ebene so, als schlafe sie.«
»Das spüre ich ebenfalls«, sagte Sigzil. »In Augenblicken wie diesen ist schwer vorstellbar, wie viel Blut und Tod dieser stille Ort gefordert hat.«
»Ich sollte kein Brückenmann sein«, sagte Leyten. »Die meisten von euch waren in die Armee gezwungen worden. Ich aber bin ihr freiwillig beigetreten, um Geld nach Hause zu meiner Familie schicken zu können. Ich hatte eine gute Arbeit als Lehrling eines Rüstmeisters. Ich war respektiert. Bis …«
Sigzil kannte die Geschichte. Die Rüstung eines unbedeutenden Hellauges hatte versagt, und Leyten hatte die Schuld dafür bekommen. Er war weggeschickt worden, um tödliche Brückenläufe mitzumachen … und damit sich ein adliger Soldat wieder besser fühlen konnte.
»Weißt du, er ist gestorben«, sagte Leyten mit einem schiefen Grinsen. »Zwei Brückenläufe später. Gabaron – der Mann, der mich zu den Brückenläufen verdammt hatte. Tot.« Er sah Sigzil an. »Schlechte Riemen an seiner Rüstung. Der ganze Brustpanzer ist abgefallen. Wenn du die Männer tötest, die sich um deine Ausrüstung kümmern, hast du bald keine gut gepflegte Ausrüstung mehr.«
»Hin und wieder«, sagte Sigzil und lächelte, »überrascht uns das Schicksal mit geradezu poetischen Wendungen, nicht wahr?«
»Ja …« Leyten verstummte. »Sig … gehöre ich hierher?«
Sigzil runzelte die Stirn und sah seinen Freund an, dessen lockige Haare vom Nieselregen nass waren. Leyten senkte den Blick. »Ich bin kein echter Strahlender, Sig. Ich bin jemand, der gern herumsitzt und zählt, wie viele Uniformen wir brauchen, bevor wir losstürmen können. Ich gehöre nicht in den Himmel. Ich leuchte nicht. Es war mir nie angenehm, wenn mir jemand Aufmerksamkeit schenkte. Und während dieser Kämpfe habe ich zwei Knappen verloren. Ich … frage mich …«
Bei den Stürmen, was sollte Sigzil dazu sagen? Er dachte nach, dann legte er seinem Freund die Hand auf die Schulter und lenkte seinen Blick auf sich. Er lächelte und sagte: »Ich weiß. Ich spüre es auch.«
Leyten erwiderte sein Lächeln. »Ja? Du wirkst in letzter Zeit so selbstsicher.«
»Das ist vorgespielt«, sagte Sigzil.
»Aber … Sig, was ist, wenn ich nicht gut genug bin? Diese Knappen … das war doch meine Schuld. Ihr Tod. Ich …«
»Gib Kaladin die Schuld.«
Leyten sah ihn an und runzelte die Stirn.
»Kaladin hat uns in unsere Positionen eingesetzt«, sagte Sigzil in dem Versuch, Leyten zu überzeugen. »Er könnte auch selbst hier sein. Aber das ist er nicht. Also ist es seine Schuld.«
»Er hat uns gut angeführt!«, entgegnete Leyten lebhaft. Entschlossenheit funkelte in seinen Augen. »Er hat alles getan, was er konnte. Und noch mehr. Er trägt keine Schuld.«
»Du vertraust also auf seine Entscheidungen?«
»Ich …« Leyten verstummte und lächelte verlegen. »Ich glaube schon.«
»Dann musst du auch darauf vertrauen, dass es richtig von ihm war, uns die Verantwortung zu übertragen, Leyten«, sagte Sigzil. »Wenn du dich selbst für den Tod deiner Knappen verantwortlich machst, dann ist Kal für den Tod von Kärtel, Teft und allen anderen verantwortlich. Entweder – oder.« Er beugte sich zu Leyten vor. »Und wir beide wissen doch, dass Kaladin ein sturmverdammter Held ist. Also …«
Leyten richtete sich auf. »Ja. Ja, du hast recht.« Er sah Sigzil an. »Danke. Sig … ich vermisse ihn. Kaladin. Aber du musst wissen, dass ich stolz bin, unter dir dienen zu dürfen.«
Sigzil drückte den Arm des Mannes und befahl ihm, die Windläufer auf den nächsten Zusammenstoß vorzubereiten. Seltsamerweise hallte das, was er zu Leyten gesagt hatte, auch in ihm selbst wider. Tief in seinem Inneren fragte er sich … aber diese Stimmen wurden leiser. Als im Lager seine Pläne umgesetzt wurden, nachdem die Generäle sie gebilligt hatten, entdeckte Sigzil etwas Bemerkenswertes.
Das war er. Dieser Mann, der führen konnte. Endlich hatte er die Möglichkeit gefunden, seine Gedanken und Vorstellungen zu bündeln. Er hatte nun einen Grund, diese Vorstellungen so präzise wie möglich zu formulieren und so genau es ging zu berechnen. Seine Liebe zur Ingenieurskunst und Physik kam bei der Verteidigung ins Spiel, und sein Umgang mit den anderen machte ihn stark.
Er war nicht so überheblich, dass er glaubte, das Kommando verdient zu haben. Aber da er nun einmal in seine Rolle hineingezwungen worden war, hatte er etwas Wichtiges entdeckt. Hier, unter den roten Blitzen auf der Ebene voller Klüfte, die er so gut kannte, hatte Sigzil sich selbst gefunden. Das war ihm bei der Ausbildung durch Meister Hoid und Kaladin nie gelungen.
Endlich war Sigzil zu dem Mann geworden, der er schon immer hatte sein wollen.
Der Marsch durch die Klüfte rief für Venli die Kindheit zurück, und sie genoss es. Trotz der roten Blitze über ihnen und dem schrecklichen, hallenden Donnern hier unten. Trotz der sonst vollkommenen Finsternis, die nur durch ihre schwachen Edelsteine durchbrochen wurde. Trotz des strömenden Wassers, das ihr manchmal bis zu den Knien reichte. Trotz des Gestanks nach Tod und nach den Leichen, an denen sie gelegentlich vorbeikamen.
Trotz alldem stellte sie fest, dass sie diesen Ort liebte.
Sie liebte es, dass das Leben sich diese Tiefen erobert hatte, was an dem grünen Glanz der hüpfenden kreisrunden Lebenssprengsel mit ihrem zarten Rückgrat zu erkennen war. Sie schwebten durch die Augenhöhlen der Schädel und die Risse von aufgebrochenen Panzern, tanzten mit Flecken aus Verwesungssprengseln, wie die Pointen in den Scherzen der anderen, rot und grün. Einzeln blieb jeder jedoch bedeutungslos.
Sie liebte den Klang tropfenden Wassers, sich zusammenziehender Ranken, kratzender Kremlinge an den Kluftwänden – und das stetige, gefährliche Platschen der Kluftteufel hinter ihr. Regelmäßig warf sie einen Blick zurück und sah sie eingezwängt zwischen den hoch aufragenden Wänden. Ihre zahlreichen Beine benutzten sie zum Manövrieren, und ihre Gesichter wirkten wie abgebrochene Felsstücke. Kurz empfand sie Panik, dann stimmte sie sich in den Rhythmus der Ehrfurcht ein. Diese Wesen waren jetzt ihre Verbündeten geworden.
Sie schloss die Augen und lauschte auf den seltsamen Ton, dem sie folgte. Je weiter sie ins Landesinnere vordrangen, desto stärker und reiner wurde er. Sie atmete die kräftige Luft ein und ging mit seitwärts ausgestreckten Armen durch die Dunkelheit.
Und stolperte. Ihr Fuß war in eine Ranke unter der Wasseroberfläche geraten. Sie konnte sich gerade noch vor einem Sturz bewahren und stimmte sich in den Rhythmus der peinlichen Verlegenheit ein. Es war wohl besser, die Augen weit offen zu halten.
Das Wasser war nicht tief, wurde aber immer trügerischer. Der Boden der Klüfte war in der Regel flach, denn Krem und Verwitterung hatten so etwas wie ein Gleichgewicht geschaffen, das verhinderte, dass sich die Schluchten vollständig mit Krem anfüllten. Venli glaubte aber, dass die Erosion irgendwann stärker sein würde, denn so war es bereits weit im Osten auf der Ebene. Doch vermutlich war ein solcher Zustand noch weit entfernt.
»Ich mag es nicht, durch dieses Wasser zu waten«, sagte hinter ihr Bila. Jeder ihrer Schritte verursachte ein lautes Platschen. »Mein Hirn hat sich auf den Rhythmus des Schreckens eingestellt und sagt mir, dass dieses Tröpfeln der Beginn eines Ewigsturms ist.«
»Aus dem Ewigsturm fällt viel weniger Regen als aus jedem Großsturm«, sagte Venli. »Es sollte uns gut ergehen.«
Bila hob einen Edelstein, der ihr Gesicht beleuchtete, und schaute die Kluft hinauf in den wütenden Himmel. »Wenigstens dürften wir nicht wieder unter dem Zusammenprall des Ewigsturms mit einem Großsturm leiden.«
Venli hatte die Geschichten über die Flucht in die Klüfte gehört, als die Stürme zum ersten Mal zusammengestoßen waren. Damals war sie auf einem der Plateaus gewesen. Es schien ihr ein ganzes Leben her zu sein, und sie erinnerte sich daran, als würde sie durch die Augen einer anderen Person blicken.
Timbre pulsierte. Eine Theorie: Die Begegnung von Sturm und Sturm war nie mehr so gewaltig gewesen wie bei jenem ersten Mal, als ganze Plateaus zerstört worden waren. Musste dies als ein weiterer Hinweis gelten? War dieser Ort für die Macht des Aufpralls verantwortlich? War er anderswo harmloser, weil er sich an einem anderen Ort ereignete? Oder verhielt es sich so, wie sie ursprünglich vermutet hatten: War die Gewalt des ersten Zusammenstoßes durch das aufbrausende, geradezu jubilierende erste Auftreten des Ewigsturms verursacht worden?
Sie besaß keine Antworten darauf, und so führte sie die Gruppe weiter, bis sie auf ein Hindernis in der Kluft stießen. Es war eine dammartige natürliche Barriere, die von einem Baumstamm gebildet wurde, der sich zwischen den Kluftwänden verkeilt hatte. Ein Wasserfall ergoss sich darüber. Und alle möglichen Haltegriffe aus Holz oder Knochen waren mit Moos überzogen. Sie bekam eine Gänsehaut und stimmte sich in den Rhythmus des Schreckens ein, als sie daran dachte, diese Barrikade zu überklettern. Und die Überreste der Toten berühren zu müssen.
Die anderen um sie herum und hinter ihr zögerten, doch dann legte sich ein Schatten über Venli und verdeckte das grellrote Licht der Blitze am Himmel über ihr. Donnerwolke beugte sich herab und betrachtete das Hindernis. Dann streckte er seine langen Mandibeln neben dem Mund nach Venli aus. Ihr Rhythmus erstarrte, als der Kluftteufel sie mit den armartigen Fortsätzen hochhob und unter sein Kinn drückte. Schließlich kroch er über die Barriere.
Die anderen Kluftteufel folgten seinem Beispiel. Sie trugen die Sänger, gingen mehrmals hin und zurück und überstiegen die Barrikade schließlich mit Leichtigkeit, indem sie die Beine rechts und links gegen die Kluftwände stemmten. Die Vorderbeine waren dick und kräftig, aber nicht in der Lage, etwas zu packen oder anzuheben. Doch die kleineren Mandibeln unter dem Kopf wirkten beweglicher.
Venli atmete tief durch, und ihr Rhythmus setzte wieder ein. Nun stand sie hinter der Barrikade bis zur Hüfte im Wasser, denn hier hatte sich der Strom zu einem kleinen See aufgestaut. Die Nächste, die von den Kluftteufeln abgesetzt wurde, war Leshwi. Venli stimmte sich in den Rhythmus der Anspannung ein. Sie und die Verschmolzene hatten in den letzten Tagen kaum ein Wort gewechselt, beide wussten nicht recht, wie sie nun miteinander umgehen sollten.
Leshwi sah sie an und summte zum Rhythmus der Qual. »Ich weiß nicht, ob ich auf diesem Weg weitergehen kann, Venli. Jahrtausendelang bin ich eine Halbgöttin gewesen. Und jetzt … da stehe ich zitternd und in nasser Kleidung.«
»Würdest du zu ihm zurückgehen?«, fragte Venli. »Würdest du wieder zu seinem Eigentum werden und in einem Krieg kämpfen wollen, an den du nicht glaubst? Würdest du wieder töten, damit du dich erneut behaglich fühlen kannst?«
Leshwis Rhythmus wechselte zum Tadel, während sie Venli wütend ansah. Mit offensichtlicher Mühe stimmte sie sich in den Rhythmus des Rückzugs ein und wandte den Blick ab.
»Du bist doch stark genug gewesen«, sagte Venli zum Rhythmus des Lobes, »dich gegen deine Befehle und deine eigene Art zu wenden, weil du wusstest, dass es richtig ist. Das war der schwierige Teil, Leshwi. Geh einfach weiter.«
»So einfach ist das nicht«, sagte Leshwi. »Ich hatte meine Rolle viele Jahre hindurch vervollkommnet. Und jetzt …« Sie warf einen Blick hinunter auf ihre nasse Kleidung und spreizte die Hände. »Jetzt … Warum bin ich überhaupt hier? Und was mache ich hier? Ich kann dir gar nicht helfen.«
»Doch, das kannst du«, sagte Venli. »Wenn wir einer von Odiums Patrouillen begegnen, besteht die Möglichkeit, dass sie nichts von deinem Seitenwechsel wissen. Einer Verschmolzenen von deinem Ruf werden sie gehorchen. Du bist unsere letzte Hoffnung darauf, nicht entdeckt zu werden.«
Leshwi sagte nichts, sondern summte zum Rhythmus des Nachdenkens.
»Wir werden einen neuen Platz für dich finden«, versprach Venli. »Bei den Lauschern. Du wirst zwar vielleicht keine Gottheit unter uns sein – wir werden keine Götter haben –, aber du wirst etwas sein, das noch besser ist. Frei.«
»Frei …«, sagte Leshwi. »Es ist lange, lange her …« Sie blickte nach oben. »Aber werde ich denn jemals frei sein können, wenn ich nicht in die Luft aufsteigen kann?«
Bald hatten die Kluftteufel alle Lauscher über das Hindernis hinweggehoben. Venlis Edelstein beleuchtete die dunklen Augen von Donnerwolke, während er sich neben ihr herabbeugte. Sein gesamtes Gesicht bestand aus Panzerplatten, und die Augen spähten durch Spalten zwischen den Platten hindurch. Sie spürte, wie Neugier von ihm ausströmte.
»Du möchtest die Quelle des Sangs genauso gern finden wie wir«, sagte Venli.
Er schaute in Richtung des Landesinneren, das noch viele Stunden des Fußmarsches entfernt lag. Dann hielt er den Kopf schräg, und seine langen Mandibeln zitterten. Sie folgte seinem Blick, und ein knisternder Blitz enthüllte etwas in der Kluft. Es war ein weiteres Hindernis zwischen den Wänden, aber es reichte nicht bis zum Boden. Daher erschuf es keinen Damm.
»Sollen wir es uns ansehen?«, fragte sie.
Zur Antwort hob Donnerwolke sie hoch. Das kalte Wasser floss von ihr ab, und sie stieg auf und sah …
Eine Brücke.
Eine der Brücken, die von den Menschen benutzt wurden. Sie war alt, zerkratzt und mit Haspern und Schieferborken bewachsen, und sie befand sich in einer Höhe von etwa zwanzig Fuß. Moos bedeckte die Unterseite, Steinknospen hatten an ihr Halt gefunden. Venli sah Einkerbungen im Holz, wo Pfeile – von ihren eigenen Leuten abgeschossen – während eines Angriffs eingeschlagen waren.
Das war eine andere Art von Leichnam. Venli wurde unter den Armen angehoben, streckte die Hände aus und berührte das Holz. Sie versuchte sich vorzustellen, wie diese Brücke auf den Kluftteufel gewirkt haben mochte, als sie noch neu gewesen war. Sie glaubte, die Wesen würden diese Art von Erklärung mögen.
Schließlich setzte Donnerwolke sie ab, und gemeinsam gingen sie weiter auf den Klang zu. Nun pulsierte der Ton und mit nichts so sehr vergleichbar wie mit einem schlagenden Herzen.
Nervös saß Jasnah bei Königin Fen und ihren Schreiberinnen, während die Spannfeder über das Papier kratzte.
Wir sind nahe herangekommen, Majestät, berichtete die Schreiberin der Windläufer am anderen Ende. Wir haben bis zum frühen Morgen gewartet, als die Luftwaffe des Feindes weniger aufmerksam war, und haben uns dann unter den Wellen genähert. Die Verschmolzenen kennen diesen Kniff und stellen Wachen auf, die dafür sorgen, dass wir ihre Boote nicht von unten zum Kentern bringen, aber es ist uns trotzdem gelungen, ihnen nahe zu kommen, ohne entdeckt zu werden.
Die Neuigkeiten sind sowohl beunruhigend als auch ermutigend, Hellheit. Eure Theorie ist korrekt. Die Laderäume eines jeden Schiffes, die unsere Sprengsel überprüfen konnten, sind mit Steinbrocken und nicht mit Soldaten gefüllt. Die Personen an Deck sollen andeuten, dass die Schiffe überfüllt sind und es unter Deck keinen Platz mehr für sie gibt. Ich gehe davon aus, dass die Leute an Deck keine ausgebildeten Soldaten, sondern Arbeiter sind, denen die Kriegsform gegeben wurde, denn so verhalten sie sich – aber ganz sicher bin ich mir in dieser Hinsicht nicht.
Wie dem auch sei, ich bin überzeugt davon, dass es sich nicht um eine Invasionsarmee handelt. Es ist nichts anderes als Staffage. Wir haben eine kleine Insel erreicht, von der aus wir diese Botschaft senden. Wir glauben nicht, dass der Feind unsere Bemühungen bemerkt hat. Einen Lichtweber dabeizuhaben war praktisch, aber ich bezweifle, dass Rot das Schwimmen sehr genossen hat.
Wir warten auf Anweisungen.
Fen stieß hörbar die Luft aus, als Jasnah das Blatt an ihre eigenen Schreiberinnen weiterreichte, damit sie es kopieren konnten, dann übersetzte sie die Botschaft für die Thaylener und las sie den männlichen Generälen vor. Währenddessen befahl Jasnah den Windläufern, ihre Position zu halten, falls sie für weitere Spähermissionen gebraucht wurden.
Sie hatten sich in einem kleinen Raum neben dem größeren Besprechungsraum eingerichtet, der zwei Tage lang die größten lebenden militärischen Genies beherbergt hatte, die jede denkbare Verteidigung diskutiert hatten. Gegen einen Angriff, der nicht kommen würde.
»Das ist schlecht, Jasnah«, sagte Fen.
»Schlecht?«, erwiderte Jasnah. »Fen, Eure Stadt wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht angegriffen. Odium hat erkannt, dass sie in der Zeit, die ihm zur Verfügung steht, nicht eingenommen werden kann, und so konzentriert er sich auf die beiden anderen Schlachtfelder.«
»Glaubt Ihr wirklich, er würde uns einfach aufgeben?«
»Also, das Wesen, das wir als Odium kennen, wird – auch in seinem neuen Wirtskörper – über alle Maße intelligent sein.«
»Das ist kaum beruhigend«, sagte Fen.
»Fen«, sagte Jasnah, »die Tatsache, dass er brillant ist, mag für Euch eine gute Sache sein. Ein kluger General weiß, wie er eine Schlacht gewinnen kann, aber ein brillanter weiß auch, wann er sich aus ihr zurückziehen muss. Odium hat erkannt, dass das Verschwenden seiner Mittel hier keine sinnvolle Strategie ist, und hat daher nur so getan, als ziehe er Truppen von der Zersplitterten Ebene und von Azimir ab, wo er gewinnen kann. Ihr solltet in Sicherheit sein.«
»Ich sollte es sein, na ja«, sagte Fen. »Jasnah, wie sehr würdet Ihr auf ein ›sollte‹ vertrauen?«
»Theorien mit guten Beweisen sind die Seele aller wissenschaftlichen Entdeckungen«, antwortete Jasnah.
»Wie sollen wir auf diese Informationen reagieren? Wie müssen unsere nächsten Schritte aussehen? Sollen wir unsere Truppen und Strahlenden als Verstärkung zur Zersplitterten Ebene schicken?«
Jasnah nickte. Es war verhindert worden, dass weitere Eidtor-Sprengsel von Sja-anat übernommen wurden – erst einmal und hoffentlich für immer. Die Eidtore in Thaylen-Stadt und auf der Zersplitterten Ebene standen ihnen noch zur Verfügung. Daher konnten Truppen rasch dorthin geschickt werden. Sie wünschte, dasselbe könnte man von Azimir behaupten.
»Und was ist, wenn er genau das will?«, fuhr Fen fort. »Was ist, wenn die leeren Laderäume die Kriegslist sind und wir sie entdecken sollten? Was ist, wenn er einen ganz anderen Plan zur Eroberung dieser Stadt hat?«
Bei den Stürmen, das hätte Jasnah eigentlich erwarten müssen. Es war nicht so, dass Fen recht hatte. Sie irrte sich, aber auf höchst unschuldige Weise. Es war ein Trugschluss – der Gedanke, dass man niemals etwas wissen konnte, weil einem stets die eine oder andere Information fehlte. Wenn man irgendwann glaubte, der Feind habe jede Entscheidung, die man treffen konnte, vorweggenommen, ließ man sich von der Angst leiten, im Irrtum zu sein, anstatt sich auf die Fakten zu verlassen, die man herausgefunden hatte.
»Es ist schon möglich«, antwortete Jasnah und ergriff Fens Hand. »Ich will nicht lügen und etwas anderes behaupten. Aber die Steine in den Laderäumen sind eine kluge Finte, deren Entdeckung uns nicht leichtgefallen ist. Fen, die Zerbrochene Ebene muss den vollen Zorn des Ewigsturms und jedes Verschmolzenen ertragen, den der Feind auf sie werfen kann. Und währenddessen sitzen wir hier und warten ab.«
»Ihr sagt, ich soll meine Stadt im Stich lassen«, sagte Fen. »Ich soll die Truppen fortschicken und Thaylen-Stadt schutzlos zurücklassen.«
»Ich möchte nur zum Ausdruck bringen, dass wir aufgrund der Informationen handeln müssen, die wir besitzen, und nicht aufgrund der Informationen, von denen wir glauben, dass wir sie nicht haben.«
Fen wandte den Blick ab, hielt aber auch weiter Jasnahs Hand. »So nahe. Drei Tage, und wir werden Frieden haben. Aber was wird sein, wenn ich alles wegwerfe, indem ich auf Euch höre, Jasnah? Wir dürfen Thaylen-Stadt doch nicht unverteidigt zurücklassen. Vor allem ich darf es nicht.«
»Ich muss die Strahlenden zur Verstärkung auf die Zerbrochene Ebene schicken«, sagte Jasnah. »Ich habe die Befugnis durch Dalinars Autorität. Azimir können wir wegen des geschlossenen Eidtores nicht mehr erreichen, die Zerbrochene Ebene aber schon.«
»Es könnte mich und mein Volk vernichten.«
»Meine Moralphilosophie sagt mir, dass ich in jeder Situation so viel Gutes tun muss, wie ich kann«, sagte Jasnah.
Fen ließ Jasnahs Hand los. »Gebt Ihr mir die Zeit, mich mit dem zentralen Rat zu besprechen und herauszufinden, wie er darüber denkt?«
»Natürlich«, erwiderte Jasnah. »Ich möchte ohnehin zuerst die Windläufer herbestellen. Spannfedern können gestohlen werden, und deshalb brauchen wir die Bestätigung unserer Informationen.« Die Windläuferin, von der die Nachricht stammte, hatte zwar die korrekten Codeworte zu Beginn benutzt, aber wer wusste schon, was Odium alles in Erfahrung zu bringen vermochte?
Besorgt verließ Fen den Raum. Jasnah erlaubte sich einen kurzen Augenblick des Mitgefühls und musste eingestehen, dass sie die Königin durchaus verstand. Sollte sie wirklich ihre Truppen während dieser höchst wichtigen drei Tage aussenden? Für sie wäre es unerträglich, und dabei spielte es keine Rolle, ob sie das Richtige tat oder nicht. Es war eine merkwürdige Laune der Medizin, dass ein Placebo oft sogar dann wirkte, wenn man genau wusste, dass man keine richtige Medizin erhielt. Diese Lage offenbarte den Grund dafür und war so etwas wie ein umgedrehtes Beispiel. Eine Finte konnte nämlich selbst dann funktionieren, wenn man wusste, dass es eine Finte war, weil man befürchtete, man könnte irgendetwas anderes übersehen haben.
Tu das, was am besten ist, dachte sie. Wenn Entscheidungen schwierig wurden, verließ sie sich auf einen solchen philosophischen Grundsatz. Mit diesem Gedanken machte sie sich daran, die Befehle an ihre Truppe zur Verstärkung der Zerbrochenen Ebene zu formulieren.
Du hast recht, und dein Brief an mich war – charakteristischerweise – voller Weisheit und ausgezeichneter Schlussfolgerungen.
Schallan erwachte in ihrer Vergangenheit. Es war jener Tag. Weißer Teppich. Es … es …
Nein.
Die Vision veränderte sich. Sie war ein Kind. Versteckte sich in einer Ecke. Weinte, während sich ihre Eltern anschrien.
Sie wusste doch, dass ihre Geschichte nicht einzigartig war. Über die Jahre hatte sie vieles gehört und die Züge zahlreicher Leute in ihren Skizzenbüchern gesammelt. Für fast jede Familie wie die von Lopen, voller Liebe und Glück, gab es eine wie die ihre. Wo die glücklichen Zeiten das Sahnehäubchen auf einem Dessert waren, das nur den missgestalteten Klumpen darunter verdeckte, der einfach nicht rechtzeitig aus dem Ofen gekommen war.
Ja, es hatte auch Freude gegeben. Aber oft schien sie lediglich vorgespielt gewesen zu sein. Es war schwer, sich an die guten Zeiten zu erinnern, während sie sich versteckte und die Schreie hörte. Als Erwachsene erzählte sie sich manchmal die Lüge, dass alles bis zum Tod ihrer Mutter wunderbar gewesen war, aber wie bei den vielen anderen Lügen in ihrem Leben hatte sie auch diese zu lange gepflegt. Ja, die Lügen boten Schutz, aber sie konnten auch verletzen.
Mutter warf eine Tür zu, dann näherten sich Schritte. Schallan kam sich in diesem Körper so klein vor. Sie spähte aus ihrem Zimmer und sah, wie Mutter draußen vorbeistapfte. Wie ein Blitz aus rotem und goldenem Haar. Sie murmelte etwas. »So kann ich nicht sein. Ich kann einfach nicht. Ich bin keine Soldatin. Ich bin eine Hausfrau. Das ist es, was ich sein möchte. Was ich immer sein wollte. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht.«
Schallan duckte sich weg.
Wie sehen wir das?, fragte Schleier. Jetzt, wo wir uns erinnern?
Sollen wir ihr folgen?, fragte die Strahlende.
Schallan riss sich zusammen und folgte ihr nicht – aber – bei den Stürmen! – das war ein weiterer Schritt voran. Sie hatte nicht weggeschaut und war der Frage nicht ausgewichen. Das war ihre Mutter.
Ich bin fast bereit, gab sie vor den anderen zu. Aber wir müssen eine Vision finden, in der ich erwachsen bin.
Einverstanden, sagte Schleier. Akzeptiere die Erinnerungen erst einmal.
Im Körper des Kindes trocknete Schallan ihre Tränen und schlich durch die Korridore des Herrenhauses. Vater hatte sich noch nicht oft zu Gewalt herabgelassen, aber jetzt brüllte er die Diener an und schien begierig auf einen Kampf zu sein. Also hielt sie sich von ihm fern und kroch unter die Treppe, wo er nie nach ihr suchte.