Der Splitter der Dämmerung - Brandon Sanderson - E-Book

Der Splitter der Dämmerung E-Book

Brandon Sanderson

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Beschreibung

Mitten in den sturmumtosten Weiten des Ozeans von Roschar liegt die Insel Akinah. Keiner von den vielen Abenteurern, die versucht haben, zu dieser Insel zu segeln, ist jemals zurückgekehrt. Doch nun beschließt Fürstin Navani Kholin, der Sache auf den Grund zu gehen, und entsendet ein Schiff. Denn das Kriegsglück hat sich gewendet, und vielleicht birgt die Insel wertvolle Hinweise im Kampf gegen die Bringer der Leere …

Mit diesem Kurzroman entführt Brandon Sanderson seine Leser an bislang unbekannte Orte in der Welt seiner »Sturmlicht-Chroniken«. »Der Splitter der Dämmerung« spielt nach den Ereignissen von »Die Splitter der Macht« und vor »Der Rhythmus des Krieges«.

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Seitenzahl: 313

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Das Buch

Mitten in den stürmischen Weiten des Ozeans, der die Welt von Roschar umspült, liegt die Insel Akinah. Ein sagenumwobenes Eiland östlich von Aimia, einem untergegangenen Königreich. Keiner von den vielen Abenteurern, die versucht haben, zu dieser Insel zu segeln und die sagenhaften Schätze zu bergen, ist jemals zurückgekehrt. Als eines Tages ein ungewöhnliches Tier auf dem Deck der Schiffseignerin Rysn landet, das nur von Akinah stammen kann, beschließt sie, es dorthin zurückzubringen. Unterstützung erhält die thaylenische Seefahrerin von niemand Geringerem als Großfürstin Navani Kholin, die eine Gruppe Strahlender Ritter mit auf diese Mission entsendet. Denn das Kriegsglück hat sich gewendet, und vielleicht birgt die Insel wertvolle Hinweise im Kampf gegen die Bringer der Leere …

Mit diesem Kurzroman entführt Brandon Sanderson seine Leser auf die hohe See und an bislang unbekannte Orte in der Welt seiner Sturmlicht-Chroniken. Der Splitter der Dämmerung spielt nach den Ereignissen von Die Splitter der Macht und vor Der Rhythmus des Krieges.

Der Autor

Brandon Sanderson, 1975 in Nebraska geboren, schreibt seit seiner Schulzeit fantastische Geschichten. Er studierte Englische Literatur und unterrichtet Kreatives Schreiben. Mit den Sturmlicht-Chroniken, seinem großen Fantasy-Epos um das Schicksal der Welt von Roschar, erobert er regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und begeistert auch in Deutschland viele Tausend Fans. Er wird bereits als der J. R. R. Tolkien des 21. Jahrhunderts gepriesen. Brandon Sanderson lebt mit seiner Familie in Provo, Utah.

Mehr über den Autor und seine Bücher auf:

www.brandon-sanderson.de

Ein Roman aus der Welt derSturmlicht-Chroniken

Aus dem Amerikanischen vonMichael Siefener

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe ist unter dem Titel

DAWNSHARD

bei Dragonsteel Entertainment, LLC, erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Wichtiger Hinweis:

Diese Geschichte spielt zwischen den Ereignissen von Die Splitter der Macht und Der Rhythmus des Krieges.

Deutsche Erstausgabe 12/2022

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2020 by Dragonsteel Entertainment, LLC

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Illustrationen und Karten: Ben McSweeney und Isaac Stewart

Umschlagillustration: Federico Musetti

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-29532-5V001

www.brandon-sanderson.de

Für Kathleen Dorsey Sanderson,denn sie ist die einzige mir bekannte Person, die ihr eigenes Larkin verdient hat. (Fürs Erste werden aber ihre Katzen genügen müssen.)

PROLOG

Für ihn kam nichts der Erfahrung gleich, hoch oben in der Takelage zu hängen und die frische Meeresluft im Gesicht zu spüren, während er auf eine endlose Weite aus schimmerndem blauem Wasser blickte. Der gewaltige Ozean war wie eine breite Straße. Eine Einladung zum Auskundschaften.

Die Leute fürchteten das Meer, aber das hatte Yalb nie verstanden. Das Meer war doch so offen, so einladend. Wer ihm ein wenig Respekt zollte, den trug es überallhin, wohin auch immer man reisen mochte. Es ernährte den Reisenden sogar und wiegte ihn nachts mit seinen Liedern in den Schlaf.

Er holte lange und tief Luft, schmeckte das Salz, sah den vorbeitanzenden Windsprengseln nach und grinste vom einen Ohr zum anderen. Ja, nichts war mit solchen Augenblicken vergleichbar. Aber die Aussicht darauf, ein paar Kugeln von dem neuen Jungen einzuheimsen … nun, das kam diesem Gefühl schon nahe.

Dok hing in der Takelage, und zwar mit dem festen Griff von jemandem, der auf keinen Fall in die Tiefe stürzen will, anders als jemand, der sich nur nachlässig festhält, weil er genau weiß, dass er nicht stürzen wird. Für einen Alethi war der Junge ziemlich geschickt. Die meisten von ihnen setzten nie einen Fuß auf ein Schiff, es sei denn, sie wollten eine breite Pfütze überqueren. Aber dieser Junge konnte nicht nur Steuerbord und Backbord auseinanderhalten, er wusste sogar einen Palstek zu knoten und ein Segel zu reffen, ohne sich dabei selbst zu erhängen.

Aber er hing zu verkrampft in der Takelage. Und er hielt sich an der Reling fest, wenn das Schiff schwankte. Am dritten Tag war er schließlich seekrank geworden. Auch wenn Dok nahe daran war, ein richtiger Seemann zu werden, so war er es doch noch nicht ganz. Und da Yalb es sich neuerdings zur Aufgabe gemacht hatte, neue Matrosen im Auge zu behalten, lag es an ihm, Dok mit einem guten Scherz auf die Sprünge zu helfen. Wenn die Alethi-Königin wollte, dass mehr Angehörige ihres Volkes in den Schifffahrtstraditionen der Thaylener unterrichtet wurden, dann mussten sie auch diesen Teil lernen. Er war ausgesprochen lehrreich.

»Da!«, sagte Yalb, beugte sich vor und streckte den Arm aus, während er in der Brise schaukelte. »Siehst du das?«

»Wo?« Dok kletterte höher und suchte den Horizont ab.

»Da hinten!« Yalb zeigte noch einmal auf die Stelle. »Ein großes Sprengsel, das ungefähr dort aus dem Wasser ragt, wo sich die Sonne spiegelt.«

»Nein«, sagte Dok.

»Hm. Genau da, Dok. Gewaltige Matrosensprengsel. Ich vermute, du kannst nicht …«

»Warte!« Dok beschattete sich die Augen. »Jetzt sehe ich es!«

»Wirklich?«, fragte Yalb. »Wie sieht es aus?«

»Ein riesiges gelbes Sprengsel«, antwortete Dok. »Es steigt aus dem Wasser auf. Es hat große Tentakel, die durch die Luft schweben. Und … und es hat einen hellroten Streifen auf dem Rücken.«

»Na, da werf mich doch einer über Bord und nenn mich einen Fisch«, sagte Yalb. »Wenn du es sehen kannst, bist du wohl ein richtiger Matrose! Du hast die Wette gewonnen.«

Natürlich hatten sie zuvor – als sie sich über diese angeblichen »Matrosensprengsel« unterhalten hatten – dafür gesorgt, dass Dok sie belauschen konnte, sodass er wusste, wie er sie zu beschreiben hatte. Yalb fischte ein paar Klarstücke aus der Tasche und gab sie Dok. Wenn er gleich zu Beginn einmal gewann, würde er gern weiterspielen. Er würde überall Manifestationen von »Matrosensprengseln« sehen, bis sie ihm – nachdem er um eine große Summe gewettet hatte, dass er eines fangen konnte – endlich sagen würden, dass es so etwas wie ein Matrosensprengsel gar nicht gab, und alle würden etwas zu lachen haben.

Wenn jemand dermaßen naiv war, würde er irgendwann all seine Kugeln verlieren, dachte Yalb. Warum also nicht an seine Kumpel? Außerdem würden sie die Kugeln dazu benutzen, allen – einschließlich Dok – beim Landgang einen Trunk zu kaufen. Nur wer seine Kumpel betrunken machen konnte, war ein echter Seemann. Und wenn sie besoffen genug waren, würden sie vielleicht alle hellgelbe Sprengsel mit Tentakeln sehen.

Dok drückte sich in die Takelage. »Stimmt es, dass du einmal untergegangen bist, Yalb?«

»Das Schiff ist untergegangen«, sagte Yalb. »Ich bin nur zufällig an Bord gewesen.«

»Da habe ich aber etwas anderes gehört«, sagte Dok, in dessen Stimme ein leichter Alethi-Akzent lag. »Hast du den Leuten nicht gesagt, dass das ganze sturmverdammte Schiff unter dir verschwunden ist?«

»Na ja, ich habe den halben Ozean geschluckt, bevor mich jemand wieder rausgefischt hat«, antwortete Yalb. »Zu dem Zeitpunkt bin ich nicht gerade ein verlässlicher Zeuge gewesen.«

Er würde den Seemann finden müssen, der diese Geschichte verbreitete, und würde ihm dann den Mund zunähen. Jeder wusste, dass Yalb nicht gern über die Nacht redete, in der die Windesvergnügen untergegangen war. Sie war ein gutes Schiff gewesen und hatte eine noch bessere Mannschaft gehabt. Nur drei davon hatten überlebt.

Die anderen beiden erzählten die gleiche Geschichte, so wie Yalb sie in Erinnerung behalten hatte. Attentäter im Dunkeln – schlimmer als jede Meuterei. Und dann … war das ganze Schiff einfach verschwunden. Monatelang hatte er geglaubt, er müsse verrückt geworden sein. Aber schließlich war es die gesamte sturmverdammte Welt gewesen, die verrückt geworden war; die Bringer der Leere waren zurückgekehrt, ein neuer Sturm hatte sich erhoben, und jeder führte Krieg gegen jeden.

Und nun hatte er Alethi an Bord. Er würde jeden Neuen im Auge behalten, nur zur Sicherheit. Dok schien allerdings ein guter Kerl zu sein, deshalb würde Yalb ihn gut behandeln – indem er ihn schlecht behandelte.

Yalb beugte sich weiter vor und versuchte, sich wieder in Stimmung zu bringen. »Jetzt, da du ein Matrosensprengsel gesehen hast, kannst du doch …« Er runzelte die Stirn. Was war denn das? Was trübte die endlose blaue Schönheit?

»Was?«, fragte Dok eifrig. »Was kann ich, Yalb?«

»Sei still«, sagte Yalb. Er kletterte zum Ausguck hoch und winkte Brekv zu, der dort heute Dienst tat. »Drei Grad Backbord!«

Brekv wirbelte herum, sah in die angegebene Richtung und hob sein Fernglas. Dann fluchte er leise.

»Was ist es?«, fragte Yalb.

»Ein Schiff. Warte einen Augenblick. Es kommt gerade über den Horizont … ja, es ist ein Schiff, mit den Segeln in Fetzen. Es neigt sich nach Backbord. Wie konnte es dir auffallen?«

»Was für ein Wappen hat es?«

»Gar keins«, sagte Brekv und gab Yalb das Fernglas.

Das war ein schlechtes Zeichen. Warum befand es sich während des Krieges allein da draußen? Yalbs eigenes Schiff war schnell und auf Späherfahrt, und deshalb war es sinnvoll, dass es allein unterwegs war. Aber ein Handelsschiff benötigte in dieser Zeit Geleitschutz.

Yalb richtete seine Aufmerksamkeit auf das Schiff. Keine Mannschaft an Deck. Bei den Stürmen! Er gab das Fernglas zurück.

»Willst du es berichten?«, fragte Brekv.

Yalb nickte und kletterte die Takelage hinunter. Dabei kam er an Dok vorbei, der ihn überrascht ansah. Yalb sprang auf das Deck, lief los und war in drei weiten Sätzen bei der Kapitänin.

»Was ist denn los?«, fragte Kapitänin Smta. Sie war eine große Frau, deren Augenbrauen passend zum Haar gelockt waren.

»Ein Schiff«, sagte Yalb. »Keine Mannschaft an Deck. Drei Strich Backbord.«

Die Kapitänin sah die Steuerfrau kurz an, dann nickte sie. Befehle flogen zu den Männern in der Takelage hinauf. Der Bug richtete sich auf das gesichtete Schiff aus.

»Stell ein Enterkommando zusammen, Yalb«, sagte die Kapitänin. »Du begleitest sie, falls deine besondere Erfahrung benötigt werden sollte.«

Besondere Erfahrung. Die Gerüchte stimmten zwar nicht, aber jeder glaubte sie. Es hieß, Yalb sei jahrelang auf einem Geisterschiff gesegelt, und am Ende sei es verschwunden. Das war der Grund, warum niemand die drei Überlebenden zusammen anheuern wollte. So hatten sie sich trennen und ihre eigenen Wege gehen müssen.

Er beschwerte sich nicht über die Behandlung, die ihm zuteilwurde. Es war gut von der Kapitänin gewesen, ihn aufzunehmen. Wenn sie ihm also einen Befehl erteilte, führte er ihn auch aus. Obwohl er bloß ein Matrose ohne jede Autorität war, erwartete doch sogar der Erste Maat Befehle von ihm, als sie endlich bei dem seltsamen Schiff längsseits gegangen waren. Alle Segel waren zu Fetzen zerrissen. Es krängte im Wasser, und nicht einmal Gespenster waren an Deck zu sehen.

Es verschwand nicht unter ihren Füßen, als sie es absuchten. Nach einer Stunde kehrten sie mit leeren Händen zurück. Das Logbuch war nirgendwo zu finden gewesen, und es gab keinerlei Anzeichen von der Mannschaft – keine Lebenden und keine Toten. Es gab nur einen Namen. Erste Träume – ein privates Schiff, von dem der Erste Maat auch früher schon einmal gehört hatte. Es war vor fünf Monaten auf einer geheimnisumwitterten Reise verschwunden.

Während Yalb noch darauf wartete, was die Kapitänin und die anderen nun unternehmen wollten, lehnte er sich gegen die Reling und betrachtete das unglückselige Schiff, das verloren dahintrieb. War es Schicksal, dass gerade er es gefunden hatte? Dass der Mann, dessen Schiff verschwunden war, nun zu einem Schiff gekommen war, dessen Mannschaft verschwunden war? Die Kapitänin würde ein zusätzliches Segel hissen und das Schiff nach Hause schleppen. Dessen war sich Yalb sicher. In diesem Krieg brauchten sie jedes Schiff.

Sie würden ihn an Bord der Erste Träume setzen. Das wusste er. Vermutlich würde das sogar die sturmverdammte Königin höchstpersönlich befehlen.

Das Meer war in der Tat eine seltsame Geliebte. Offen. Einladend. Gastfreundlich.

Manchmal ein wenig zu sehr.

1

Manche mochten es vielleicht als langweilig empfinden, eine neue Handelsexpedition vorzubereiten. Für Rysn hingegen glich dies einer aufregenden Jagd. Ja, sie arbeitete in einem Zimmer, umgeben von zahllosen Papierstapeln, dennoch fühlte sie sich wie eine Jägerin in der Wildnis.

Unter all diesen Berichten verbargen sich so viele bemerkenswerte Schätze. Es gab Einzelheiten über Waren, die zum Verkauf standen, und Gerüchte über Häfen, in denen ganz bestimmte Dinge gebraucht wurden, die durch den Krieg kaum noch zu bekommen waren. Irgendwo zwischen all diesen Informationen war auch die geeignete Gelegenheit für ihre Mannschaft zu finden. Sie durchstöberte alles wie eine Späherin, die durch das Unterholz schleicht – still und vorsichtig und immer auf der Suche nach der vollkommenen Angriffsposition.

Außerdem konnte sie etwas, das ihre Aufmerksamkeit derart beanspruchte, von ihren anderen Sorgen ablenken. Aber sobald ihr dieser Gedanke gekommen war, konnte sich Rysn nicht davon abhalten, einen Blick zu Chiri-Chiri hinüber zu werfen. Das Larkin war mit einem Panzer bedeckt und hatte große, hautartige Flügel. Für gewöhnlich verbrachte es den Tag damit, Rysn um Nahrung anzubetteln oder sich irgendwie in Schwierigkeiten zu bringen. Aber heute hatte es sich – wie so oft in letzter Zeit – zusammengerollt und schlief am anderen Ende des langen Tischs in der Nähe von Rysns Grastopf aus Schinovar.

Inzwischen war Chiri-Chiri vom Maul bis zum Schwanzansatz etwa einen Fuß groß geworden, und der Schwanz maß weitere fünfzehn Zoll. Sie war so groß, dass Rysn zwei Hände brauchte, wenn sie das Larkin tragen wollte. Es sah mit seinen spitzen Esswerkzeugen und den Jägeraugen ziemlich beeindruckend aus. In letzter Zeit war die braune und violette Panzerung allerdings fast kreideweiß geworden. Zu weiß – das war nicht nur eine Art von Mauser. Irgendetwas stimmte da nicht.

Rysn rutschte die Sitzbank entlang. Früher hatte sie ein winziges Büro weit entfernt von den anderen bevorzugt. Nun glaubte sie, dass sie das unbewusst getan hatte, weil sie sich hatte verstecken wollen.

Genug davon! Jetzt besaß sie ein großes Arbeitszimmer, in dem sie zahlreiche Möbel hatte austauschen lassen. Auch wenn sie seit einem Unfall vor zwei Jahren ihre Beine nicht mehr benutzen konnte, reichte die Verletzung nicht so weit die Wirbelsäule hinauf wie bei anderen Personen, mit denen sie in Briefkontakt stand. Rysn konnte aus eigener Kraft sitzen, auch wenn es ihre Muskeln sehr anstrengte, vor allem da sie keine Rückenlehne hatte. Aber das Sitzen war eine gute Übung zur Stärkung der Muskeln.

Statt eines Stuhls – oder einer Reihe von Stühlen – bevorzugte sie lange Bänke mit hohen Rückenlehnen, auf denen sie entlanggleiten konnte. Sie hatte sich solche Bänke passend zu den unterschiedlich langen Tischen in dem Arbeitszimmer bauen lassen, das auch eine große Anzahl von Fenstern aufwies. Es wirkte offen und frei, und sie fragte sich, wie sie je etwas Kleineres und Dunkleres hatte bevorzugen können.

Sie erreichte das Ende der Bank bei Chiri-Chiris Nest aus Decken. Rysn legte ihre Feder beiseite, nahm eine Diamant-Kugel aus einem Pokal, der auf dem Tisch stand, und hielt sie Chiri-Chiri hin. Die Kugel strahlte hell und lud das Larkin dazu ein, sich von ihrem Sturmlicht zu nähren.

Chiri-Chiri öffnete ein silbriges Auge einen Spalt weit und regte sich kaum. Einige Angstsprengsel, gestaltet wie zuckende schwarze Kreuze, erschienen um Rysn herum. Bei den Stürmen! Die Tierärzte hatten nicht viel helfen können. Sie vermuteten zwar, Chiri-Chiri habe eine Krankheit, aber sie sagten, dass Krankheiten bei dieser Spezies eher unterschiedlich und individuell ausfielen. Und Chiri-Chiri war die einzige Vertreterin ihrer Art, die die Ärzte je gesehen hatten.

Rysn versuchte, sich nicht von ihrer Sorge erdrücken zu lassen. Sie ließ die Kugel in der Nähe von Chiri-Chiris Maul liegen und zwang sich, zu ihrer Jagd zurückzukehren. Sie hatte schon durch eine Spannfeder eine Bitte an eine Person übermittelt, von der Rysn glaubte, dass sie Chiri-Chiri helfen konnte. Bis zur Antwort konnte Rysn jetzt nichts mehr tun. Also arbeitete sie weiter. Sie bemerkte, dass sie ihre Feder auf der anderen Seite des Tisches liegen gelassen hatte. Also wollte sie wieder dorthin rutschen und sie holen.

Sofort gab Nikli seine Position bei der Tür auf und holte die Feder für sie. Bevor Rysn ihr Ziel erreicht hatte, streckte ihr der übereifrige Mann das Schreibgerät entgegen.

Rysn seufzte. Nikli war ihr neuer Hauptträger, der sie von Ort zu Ort brachte, wenn sie dazu Hilfe benötigte. Er stammte irgendwo aus der westlichen Makabaki-Region, und obwohl sein Thaylenisch gut war, bereitete es ihm doch Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden. Mit den weißen Tätowierungen im Gesicht und auf den Armen fiel er überall auf.

Er war darauf aus, seine Stellung zu behalten, doch auch wenn sie Eigeninitiative schätzte … »Danke, Nikli«, sagte sie und nahm die Feder an. »Aber warte beim nächsten Mal, bis ich um Hilfe bitte, bevor du sie mir gewährst.«

»Oh«, sagte er und verneigte sich. »Entschuldigung.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie und bedeutete ihm, sich wieder auf die andere Seite des Zimmers zurückzuziehen. Seine Haltung war nicht ungewöhnlich. Als sie erklärt hatte, welche Bänke sie für ihr Arbeitszimmer haben wollte, hatte die anfängliche Reaktion aus völliger Verwirrung bestanden. »Aber warum?«, hatte der Schreinermeister gefragt.

Sie konnte dieses »Aber warum?« einfach nicht mehr ertragen.

Auf alle anderen schienen ihre Taten seltsam zu wirken. Sie war eine Handelsmeisterin mit eigenem Schiff und eigener Besatzung. Sie konnte ihren Dienern befehlen, alles zu holen, was sie benötigte. Und hin und wieder brauchte sie eben Hilfe.

Aber sie brauchte nicht andauernd Hilfe. Das war eine Lektion, die sie selbst zunächst hatte lernen müssen, und deshalb machte sie Nikli für diesen Fehler nicht verantwortlich. Sie schüttelte ihren Anflug von Verärgerung ab, konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit und versuchte, sich erneut von ihrer Erregung antreiben zu lassen.

Dies würde ihre zweite Reise als Schiffseigentümerin sein. Die erste hatte sie vor zwei Wochen beendet; es war eine einfache Hin- und Rückreise gewesen, auf der sich die Mannschaft und sie aneinander hatten gewöhnen können. Es war auch … gut gelaufen. Die Gewinne waren groß gewesen, und die Mannschaft hatte das zu schätzen gewusst. Sie lebte von den Geschäften, die Rysn abschloss.

Aber da war etwas an den Matrosen und ihrer Kapitänin, das Rysn noch nicht richtig einschätzen konnte. Sie zögerten, sich ganz auf sie einzulassen. Vielleicht lag es einfach daran, dass sie an Vstim gewöhnt waren, und Rysns Art war nun mal wenig anders als die ihres Babsk. Oder sie waren auf eine lohnendere und herausforderndere Reise aus, als es die erste Fahrt gewesen war.

Rysn überdachte ihre Möglichkeiten und wählte schließlich drei verschiedene Angebote aus. Alle drei konnten recht lohnend sein; welches also sollte sie annehmen? Sie sann für eine Weile darüber nach, dann schrieb sie eine Liste mit Vor- und Nachteilen für jedes Angebot, wie Vstim es ihr beigebracht hatte.

Am Ende rieb sie sich die Schläfen, wobei die Schmuckstücke an ihren Brauen leise klirrten, und beschloss, die Entscheidung ein wenig hinauszuzögern. In der Zwischenzeit griff sie nach einigen Briefen, die kürzlich durch die Spannfedern hereingekommen waren und von Frauen auf der ganzen Welt stammten, die ebenfalls nicht mehr laufen konnten.

Der Gedankenaustausch mit ihnen war aufregend und erfrischend. Sie drückten so viele von Rysns eigenen Gefühlen aus und waren begierig darauf, ihr all das mitzuteilen, was sie gelernt hatten. Mura, eine Azisch, hatte ein paar bemerkenswerte Geräte für die Hilfe bei Angelegenheiten des täglichen Lebens erfunden und dabei eine wundersame Kreativität bewiesen: Haken und Ringe zum schnellen Abnehmen von Dingen, die an Wandhalterungen hingen, sowie besondere gebogene Drähte und Reifen, die beim Anziehen halfen.

Als Rysn die neuesten Briefe las, fühlte sie sich ermuntert. Früher war sie sich so allein vorgekommen. Nun aber erkannte sie, dass es viele Menschen gab, die sich denselben Herausforderungen stellten, obwohl sie seltsamerweise in der alltäglichen Welt unsichtbar zu sein schienen. Ihre Geschichten bauten Rysn auf, und nach den Vorschlägen dieser Frauen hatte sie zahlreiche Veränderungen an ihrem Schiff anbringen lassen. Einen auf dem Achterdeck festgeschraubten Sitz mit Sonnenschutz zum Beispiel – in der Nähe des Steuerrades. Und Umbauten in ihrer Kajüte, damit sie sich besser darin bewegen und anziehen konnte.

Während das Schiff im Hafen lag, hatten die Zimmerleute ihre Befehle ausgeführt. Doch sie hatten ihr oft verwirrte Blicke zugeworfen. Und immer wieder diese elende Frage gestellt.

»Aber warum?«

Warum hielt sie sich nicht zurück und ließ Untergebene die persönlichen Verhandlungen führen? Sie konnte doch den Vertrag durch die Spannfeder unterschreiben. Warum wollte sie einen Sitz auf dem Achterdeck haben, anstatt die Reise bequem in ihrer Kajüte zu machen? Warum brauchte sie ein Flaschenzug-System, mit dem sie hoch zum Achterdeck kommen und sich wieder hinablassen konnte, wo es doch Träger gab?

Warum, warum, warum. Warum willst du leben, Rysn? Warum willst du deine Lage verbessern? Sie betrachtete die Zeichnungen, die Mura ihr übermittelt hatte. Sie zeigten eine neue Art von Rollstuhl, die ein Feuerer in Jah Keved erfunden hatte. Zurzeit nutzte Rysn den üblichen Typ mit kleinen Rädern an den Hinterbeinen. Zu seiner Handhabung war ein Träger nötig, der den Stuhl zurückkippte – als säße sie in einer umgekehrten Schubkarre – und sie dann dorthin rollte, wo sie hinwollte. Diese Art wurde schon seit Jahrhunderten benutzt.

Aber hier gab es etwas Neues. Ein Stuhl mit großen Hinterrädern, die man selbst mit den Händen drehen konnte. Einen solchen würde sie in Auftrag geben. Auf einem Schiff wäre er nicht sehr von Nutzen – und die Straßen von Thaylen-Stadt waren vermutlich zu uneben und hatten auch zu viele Treppen –, aber wenn sie in ihrem Haus ohne fremde Hilfe vom einen Zimmer ins andere gelangen könnte, wäre schon viel gewonnen.

Sie schrieb eine Erwiderung an Mura, überdachte dann noch einmal die drei möglichen Reisen und wog sie gegeneinander ab. Eine Schiffsladung Fischöl, oder Teppiche, oder Wasserfässer. Alle drei waren so alltäglich. Ihr Schiff, die Wandersegel, war für größere Dinge gebaut worden. Natürlich erschienen aufgrund des Krieges nun auch einfache Reisen gefährlich. Aber sie war von den Besten im Geschäft darin ausgebildet worden, nach Gelegenheiten zu suchen, die niemand sonst fand.

Suche nach den Bedürfnissen, hatte Vstim immer gesagt. Sei kein Blutegel und sauge nicht überall das Geld heraus, wo es möglich ist, Rysn. Finde das unbefriedigte Verlangen …

Sie wollte einen neuen Versuch starten, wurde aber durch ein leises Klopfen an ihrer Außentür unterbrochen. Überrascht schaute sie auf, denn sie erwartete keine Gesellschaft. Nikli fragte mit seinem Blick nach ihrer Zustimmung, dann eilte er in das Vorzimmer und öffnete die Tür.

Eine Sekunde später betrat ein lächelnder Mann ihr Arbeitszimmer. Schockiert ließ Rysn ihre Papiere fallen.

Der Reschi hatte eine tiefbraune Haut, das Haar hing ihm in zwei langen Zöpfen über die Schultern. Talik trug ein traditionelles Reschi-Gewand und ein offen stehendes Oberhemd mit Quasten; die Brust war unbedeckt. Aus den zwei Jahren ihrer Bekanntschaft wusste sie, dass er für gewöhnlich einen seiner vielen teuren thaylenischen Anzüge trug, wenn er auf Reisen ging. Wenn er hingegen traditionelle Kleidung anlegte, wollte er seine Mitmenschen meist daran erinnern, woher er stammte.

Sein Anblick machte sie sprachlos. Er lebte Tausende Meilen von Rysn entfernt. Warum war er nun hier? Sie stammelte etwas und suchte nach Worten.

»Jetzt, wo du eine mächtige Schiffseigentümerin bist«, meinte er, »hast du mir nichts mehr zu sagen? Dann gehe ich wohl besser wieder …« Allerdings grinste er dabei immer breiter.

»Komm rein und setz dich«, sagte sie und rutschte ans andere Ende des Tisches, das nicht ganz von Papieren übersät war. Sie zeigte auf einen Stuhl ihr gegenüber. »Wie um alles auf Roschar hast du es geschafft, so schnell hierher zu kommen? Ich habe dir doch erst vor drei Tagen geschrieben!«

»Wir waren schon in Azimir«, erklärte er und setzte sich. »Der König will sich mit diesem Dalinar Kholin treffen und die Strahlenden Ritter mit eigenen Augen sehen.«

»Der König hat Relu-Na verlassen?«, fragte Rysn und spürte, wie ihr der Kiefer nach unten sackte.

»Seltsame Zeiten«, sagte Talik. »Albträume wandern über die Welt, und die Vorin-Völker vereinigen sich unter einem einzigen Banner – immerhin dem der Alethi. Und so war die Zeit dafür gekommen.«

»Sie … wir stehen nicht unter dem Alethi-Banner«, sagte Rysn. »Wir bilden eine Koalition. Tee?«

Sie packte ihren Stock und zog mit seinem Haken die Kanne über die Tischplatte zu sich. Talik – der so streng gewesen war, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren – sprang auf die Beine, hob die Kanne an und schenkte zwei Tassen ein.

Sie war dankbar. Und gleichzeitig frustriert. Es war ärgerlich, nicht gehen zu können, und dieses Gefühl schienen die Leute zu verstehen. Aber nur wenige verstanden, dass es ihr peinlich war, eine Last zu sein – auch wenn sie wusste, dass es ihr nicht peinlich sein sollte. Obwohl sie die Rücksicht ihrer Umgebung schätzte, bemühte sie sich doch angestrengt, allein zurechtzukommen. Und wenn jemand dies unbeabsichtigt unterlief, wurde es für sie schwerer, den Teil in sich zu ignorieren, der ihr Lügen zuflüsterte. Der ihr sagte, dass sie wertlos sei, weil sie in manchen Dingen hilflos war.

In letzter Zeit gelang es ihr besser, nicht auf diese Lügen zu hören. Keine Schamsprengsel umschwirrten sie mehr. Aber sie suchte noch immer nach dem richtigen Weg, ihren Mitmenschen zu erklären, dass sie kein Kind war, das umhegt werden musste.

»Bei den Göttern nah und fern«, sagte Talik, während er ihr eine Tasse reichte und sich dann wieder setzte. »Ich kann gar nicht glauben, wie schnell die Zeit vergeht. Es ist … erst zwei Jahre seit deinem ersten Besuch bei uns her? Seit deinem Unfall? Es fühlt sich an wie wenige Monate.«

»Für mich fühlt es sich wie eine Ewigkeit an«, sagte Rysn, nippte an ihrem Tee und streckte die andere Hand über den Tisch nach Chiri-Chiri aus. Normalerweise würde das Larkin jetzt herbeihüpfen und ihre Hand beschnüffeln. Heute regte es sich allerdings kaum und stieß nur ein leises Zirpen aus.

»Wir sollten später miteinander plaudern«, sagte Talik. »Kann ich sie mir jetzt ansehen?«

Rysn nickte, schob ihren Tee beiseite und nahm das Larkin vorsichtig in die Hände. Chiri-Chiri schlug mehrfach mit den Flügeln, dann war sie wieder ganz ruhig. Rysn hielt sie so, dass Talik sie deutlich sehen konnte, nachdem er seinen Stuhl um den Tisch herum und neben sie gezogen hatte.

»Ich habe sie schon vielen Tierärzten gezeigt«, sagte Rysn, »aber alle sind ratlos. Sie haben geglaubt, die Larkin seien ausgestorben, falls sie überhaupt schon einmal von einem solchen Wesen gehört haben.«

Talik berührte Chiri-Chiri vorsichtig am Scheitelpunkt ihres Kopfes. »So groß …«, flüsterte er. »Das war mir nicht klar.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Rysn.

»Als Aimia fiel«, erklärte er, »haben die Na-Alind, eine Familie der Großschalen-Götter der Reschi, die letzten Larkin zu sich genommen. Die Großschalen denken und reden nicht so wie die Menschen, und die Wege unserer Götter sind seltsam. Aber soweit wir wissen, hat es ein Versprechen unter ihnen gegeben. Das Versprechen, ihre kleinen Verwandten zu beschützen. Ich habe bisher erst zwei weitere Larkin gesehen. Beide waren Jahrzehnte alt, aber sie waren klein, kaum größer als die Hand eines Menschen.«

»Chiri-Chiri isst gern«, sagte Rysn. »Zumindest früher …«

»In alten Zeiten sind die Larkin noch größer geworden«, erklärte Talik. »Heute sollen sie klein bleiben. Damit sie sich verstecken können. Damit die Menschen sie nicht mehr jagen.«

»Aber was kann ich tun?«, fragte Rysn. »Wie kann ich ihr helfen?«

»Als wir vor drei Tagen deinen Brief erhalten haben«, antwortete Talik, »habe ich sofort zu den Inseln geschrieben. Die Gemahlin des Königs hat sich an Relu-Na gewandt. Die Antwort ist zwar schlicht, aber nicht einfach, Rysn. Gar nicht einfach.«

»Was?«

Talik sah ihr in die Augen. »Auf den Inseln wurde gesagt, sie solle nach Hause gebracht werden.«

»Zu den Reschi-Inseln? Ich vermute, ich kann einen Abstecher dorthin machen. Wie bist du durch das besetzte Gebiet gekommen? Auf dem langen Weg durch den Osten? Wir …« Sie verstummte, als sie seine ernste Miene sah. »Oh. Mit ›nach Hause‹ meinst du Aimia. Na gut, auch das ist nicht unmöglich. Die königliche Marine besitzt einige Außenposten auf der Hauptinsel.«

»Ich meine nicht die Hauptinsel Aimia, Rysn«, sagte Talik. »Du musst sie nach Akinah bringen. In die untergegangene Stadt.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das ist eine unmögliche Reise. Seit Generationen hat niemand mehr einen Fuß auf diese Insel gesetzt.«

Rysn runzelte die Stirn, streichelte Chiri-Chiri und dachte nach. Akinah. Hatte sie den Namen nicht erst vor Kurzem gelesen? Sie setzte Chiri-Chiri ab und rutschte zu ihren Papieren zurück.

Wenige Minuten später hatte sie das gefunden, wonach sie gesucht hatte. »Hier«, sagte sie und hielt das Blatt hoch, sodass Talik sich zu ihr beugen und es lesen konnte. Er maß den Verboten der Vorin keinen großen Wert zu. Genauso wenig wie Rysn, auch wenn sie inzwischen einen Handschuh trug, ohne sich darüber zu beschweren.

Ein Geisterschiff war vor etwa zwei Monaten von einem thaylenischen Kriegsschiff entdeckt worden. Die offiziellen Stellen hatten es mit einer Reise zu der halb mythischen Stadt Akinah in Verbindung gebracht. Die Königin von Urithiru, Navani Kholin, hatte dazu aufgerufen, dass ein weiteres Schiff nach Aimia segeln und in diesem Land eine bestimmte Region untersuchen sollte. Es hat dort, wo den Gerüchten zufolge die Ruinen von Akinah lagen, einen seltsamen Sturm gegeben.

Königin Navani hatte eine Belohnung für alle versprochen, die bereit waren, diese Reise zu unternehmen, aber bisher hatte niemand das Angebot angenommen. Rysn sah Talik an, der ihr aufmunternd zunickte.

Offenbar musste Rysn Urithiru einen Besuch abstatten.

2

Rysn wurde in Urithiru von einem Diener, der als Führer tätig war, und vier Trägern begrüßt. Sie waren von Hellheit Navani abgesandt worden und sollten Rysn zeigen, dass sie erwartet und ihr Besuch sehr geschätzt wurde. Die Träger schleppten eine Sänfte für eine Einzelperson herbei, die sie vor Rysn abstellten. Dann betrachteten sie eingehend ihren Stuhl mit den Rollen daran.

»Hellheit Rysn«, sagte Nikli hinter dem Stuhl, »bevorzugt ihren eigenen Stuhl als Transportmittel.«

Das stimmte zwar, aber Nikli hatte es trotzdem schon wieder falsch gemacht, auch wenn er sich wirklich sehr bemühte. »Ich fühle mich durch diese Abordnung ausgesprochen geehrt«, erklärte Rysn. »Nikli, sie kennen Urithiru viel besser als wir. Es wird wohl das Beste sein, wenn sie mich tragen. Ich würde es aber sehr zu schätzen wissen, wenn du den Stuhl mitnimmst, falls er noch gebraucht werden sollte.«

»Natürlich, Hellheit«, sagte er und klang verlegen. Sie hasste es, ihn zu berichtigen, aber diese Männer betrachteten es sicherlich als ihre persönliche Pflicht, ihr zu dienen. Rysn hatte gelernt, dass das Akzeptieren von Gastfreundschaft für alle Handelsgeschäfte wichtig war.

Sie ließ sich von Nikli zu der Sänfte tragen. Sobald sie sich darin befand, unterdrückte sie alle Gefühle von Unsicherheit und Wertlosigkeit, die immer dann auftauchten, wenn sie wie ein Sack Laviskorn behandelt wurde.

Du musst dir nicht selbst leidtun, dachte sie nachdrücklich. Dein Soll daran hast du schon vor Monaten erfüllt.

Als sie bequem saß, öffnete Nikli Chiri-Chiris Korb, sodass Rysn sie entgegennehmen und im Innern der Sänfte unterbringen konnte. Auch wenn er sich hin und wieder einen Fehltritt leistete, war Nikli doch sehr geschickt darin, ihre Wünsche vorauszuahnen. Das andere würde schon noch kommen, wenn sie mehr Zeit miteinander verbracht hatten.

»Danke, Nikli«, sagte sie.

»Wir sind unmittelbar hinter Euch, Hellheit, falls Ihr etwas braucht.«

Die Alethi trugen die Sänfte die Rampe des Eidtors hinunter; die Vorhänge waren zurückgezogen, sodass sie die Landschaft betrachten konnte. Um Urithiru – die mächtige Turmstadt der Strahlenden Ritter – lagen zehn Plattformen, die durch die Eidtore mit verschiedenen Städten auf der ganzen Welt verbunden waren. Aber das wahre Wunder war der Turm selbst. Er war in den Berg hinein gebaut und strebte in zehn großen Ebenen der Sonne entgegen. Es hieß, er enthalte fast zweihundert Stockwerke. Wieso brachen die niederen Ebenen nicht unter dem Gewicht zusammen?

Seltsamerweise stammten nicht alle Wunder dieser Stadt aus dem Altertum. Rysn hielt nach dem geheimen Alethi-Projekt Ausschau, von dem Vstim ihr berichtet hatte. Als sie auf das Plateau getragen wurde, das die zehn Eidtor-Rampen verband, sah sie es. Das Plateau fiel rechts und links steil ab, und an beiden Seiten errichteten Ingenieure große hölzerne Plattformen.

Offiziell handelte es sich dabei um einen gewaltigen Aufzug. Die eine Seite wurde angehoben, wenn sich die andere Seite absenkte. Sie waren durch neuartig vereinigte Fabriale verbunden – eine Erfindung von Navani Kholin. Rysn besaß das Privileg einer engen Verbindung zu ihrem Babsk, der thaylenischer Handelsminister war, und so hatte sie außerordentlich interessante Dinge über den verborgenen Zweck dieser Plattformen gehört.

Wenn das, was sie da aufgeschnappt hatte, der Wahrheit entsprach … Wenn diese Fabriale das tun konnten, was Königin Navani behauptete …

Chiri-Chiri regte sich in ihren Armen und steckte dann den glatten Krustentier-Kopf aus dem Fenster. Sie gab ein fragendes, klickendes Geräusch von sich.

»Du findest es interessant?«, fragte Rysn hoffnungsvoll.

Chiri-Chiri zirpte.

»Es gibt eine Menge Fabriale in diesem Turm«, bemerkte Rysn. »Wenn du sie aufisst, wie du es beim letzten Mal getan hast, werde ich dich wieder einsperren müssen. Sei also gewarnt.«

Rysn wusste nicht, wie viel davon Chiri-Chiri verstehen konnte. Die kleine Kreatur schien in der Lage zu sein, Rysns Tonfall zu spüren und antwortete manchmal dementsprechend – sogar neckisch, wenn ihr danach zumute war. Aber heute kuschelte sie sich nur wieder ein und schlief weiter. Sie war so lethargisch. Es brach Rysn beinahe das Herz.

Rysn wollte sich ablenken. Sie setzte Chiri-Chiri auf ein Kissen und machte sich Notizen über das, was sie in Urithiru sah. Vieles war seit ihrem letzten Besuch gleich geblieben. Personen aus zahllosen Ländern drängten sich in den überfüllten Hallen und Korridoren. Ihr Führer beantwortete ihre Fragen und erklärte auf dem Weg die Architektur. Schließlich erreichten sie das Atrium des Turms mit seinem gigantischen Glasfenster, hinter dem die Eiswüste zu sehen war. Unwillkürlich musste Rysn an die Bedeutung dieses Ortes denken. Es geschah nicht jeden Tag, dass ein neues Reich gegründet wurde – und erst recht nicht in der mythischen Stadt der Strahlenden Ritter.

Die Sänfte war so klein, dass sie bequem durch die Gänge und auch in einen der wundersamen Fabrial-Aufzüge im Atrium passte. Nun ging es nach oben, zehn Stockwerke. Oben trugen Rysns Diener sie in ein kleines Zimmer, in dem Navani Kholin – die kürzlich gekrönte Königin von Urithiru – ihre Versammlungen abhielt. Sie war eine beeindruckende Frau mit ihrer Alethi-Größe und den schwarzen und grauen Haaren, die in komplizierten Zöpfen um ihren Kopf lagen und von schimmernden Saphiren durchwirkt waren.

Die meisten von Rysns Zeitgenossen begannen ein Gespräch mit der stummen Frage: »Was springt dabei für mich heraus?« Schon früh in ihrer Ausbildung hatte Rysn gelernt, sich diese Frage nicht zu stellen. Ihr Babsk hatte ihr eine andere Sicht auf die Welt beigebracht, sodass sie sich überlegte: »Welche Bedürfnisse kann ich erfüllen?«

Das war die wahre Aufgabe eines Kaufmannes oder einer Kauffrau. Er oder sie musste Bedürfnisse bei sich und der Gegenseite finden, die einander entsprachen, und sie dann so in Einklang miteinander bringen, dass jeder davon profitierte. Es ging nicht darum, was man von den Leuten bekommen konnte, sondern um das, was man für sie tun konnte. Nur dann konnte man erfolgreich sein.

Und jeder hatte Bedürfnisse. Sogar eine Königin.

Die Träger setzten Rysn ab. Sie ließ Chiri-Chiri in der Sänfte zurück, und Nikli trug sie zu dem Stuhl vor Navanis Schreibtisch. In diesen Situationen zog sie es vor, die Sitzgelegenheiten, die ihr geboten wurden, anzunehmen, obwohl ihr eigener Stuhl mit Rollen sorgsam im hinteren Teil des Raums verstaut war.

Die Träger und der Führer zogen sich zurück, aber Nikli wartete an der Tür, damit er zur Stelle sein konnte, wenn Rysn etwas benötigte. Eine junge Frau stand in der Nähe vor einem Schreibpult und machte Aufzeichnungen, während zwei Gardisten die Tür bewachten. Abgesehen davon war Rysn allein und den Blicken dieser unglaublich königlichen Frau ausgesetzt.

Es war gut, dass Rysn ihr Gefühl der Unsicherheit fast vollständig überwunden hatte. Ansonsten wäre diese Situation für sie sehr einschüchternd gewesen. So aber verspürte sie nur ein geringes Unwohlsein. Navani betrachtete Rysn, als wäre sie eine Risszeichnung für ein neues Schiff. Sie schien mit ihren durchdringenden Augen bis in ihre Seele sehen zu können.

»Also …«, sagte die Königin auf Thaylenisch. »Wer seid Ihr noch mal?«

»Hellheit?«, sagte Rysn. »Äh, ich bin Rysn Ftori. Bah-Vstim? Ich bin aufgrund Eurer Anforderung hergekommen.«

»Ja, richtig«, sagte Navani. »Das Geisterschiff.« Navani streckte die Hand aus, und ihre Gehilfin eilte herbei und gab ihr die entsprechenden Notizen. Die Königin erhob sich und ging durch den Raum, während sie die Berichte las. Rysn wartete.

Schließlich blieb die Königin stehen, betrachtete den Stuhl an der Wand, zog ihren eigenen Stuhl hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich unmittelbar vor Rysn hin. Es war eine kleine, aber willkommene Geste. Rysn war es gleich, ob die Leute in ihrer Gegenwart stehen blieben, aber in der Art, wie Navani sich platziert hatte, lag eine gewisse Bedachtsamkeit. So konnten sie auf Augenhöhe miteinander sprechen.

»Königin Fen sagt, Ihr habt das Schiff persönlich in Augenschein genommen?«, fragte Navani.

»Ja, Hellheit«, antwortete Rysn. »Ich habe es gestern aufgesucht, nachdem ich beschlossen hatte, Eurer Bitte zu entsprechen. Das Schiff ist vor zwei Wochen in den Hafen gebracht worden und wird seitdem repariert. Ich bin an Bord gegangen und habe nach Seltsamkeiten Ausschau gehalten.«

Navanis Blick glitt zu dem Stuhl mit den Rädern hinüber.

»Ich wurde getragen, Hellheit«, sagte Rysn. »Ich kann Euch versichern, dass ich mit Hilfe meiner Träger recht beweglich bin.«

»Wisst Ihr«, sagte Navani, »wir haben Strahlende, die sich auf etwas spezialisiert haben, das wir Neuwachsen nennen …«

»Es hat sich herausgestellt, dass meine Verletzung zu alt zum Heilen ist«, gab Rysn zurück. Bei diesen Worten zog sich ihr Magen zusammen. »Ich hatte versucht, mich ihrer Fähigkeiten zu bedienen, sobald ich von ihnen erfahren hatte.«

»Natürlich«, sagte Navani. »Es tut mir leid.«

»Ihr müsst Euch für Euer Angebot nicht entschuldigen, Hellheit«, sagte Rysn.