Metall der Götter - Brandon Sanderson - E-Book
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Metall der Götter E-Book

Brandon Sanderson

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Beschreibung

Der lang ersehnte 7. Band der Nebelgeborenen-Reihe ist endlich da! »Metall der Götter« ist der finale Band der zweiten Ära des Nebelgeborenen-Universums und erzählt das Ende der Geschichte von Wax und Wayne. Fans können sich wie gewohnt auf epische Fantasy mit viel Action, Magie und Atmosphäre freuen.  Waxillium Ladrian hat den Mantel des Gesetzeshüters niedergelegt und widmet sich nun dem Leben als Senator der Stadt Elantel. Statt auf der Straße finden seine Kämpfe nun auf dem Papier statt. Seine Freunde Wayne und Marasi sind währenddessen weiter auf der Suche nach einem Weg, den »Kreis« zu überführen. Diese zwielichtige Organisation hat viele Menschen entführt, deren Schicksal nie geklärt werden konnte. Als die beiden auf ein geheimes Waffenlager stoßen, das den Frieden zwischen Elantel und den äußeren Städten bedrohen könnte, muss Wax eingreifen und wieder das Schwert werden, zu dem ihn sein Gott, der Einträchtige, auserkoren hat. Weit größere Mächte sind hier am Werk, und wenn er nicht einschreitet, werden die Menschen von Scadrial dem Untergang geweiht sein. Weitere Bände der Reihe: Erstes Zeitalter der Nebelgeborenen: Kinder des Nebels (Band 1) Krieger des Feuers (Band 2) Held aller Zeiten (Band 3) Zweites Zeitalter der Nebelgeborenen (»Wax & Wayne«-Reihe): Hüter des Gesetzes (Band 4) (vormals erschienen als: Jäger der Macht) Schatten über Elantel (Band 5) Bänder der Trauer (Band 6) Metall der Götter (Band 7)

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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Simon Weinert

© Dragonsteel Entertainment LLC 2022

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Lost Metal« bei Tor Books, New York, 2022

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Karten und Illustrationen: Isaac Stewart und Ben McSweeney

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de, München

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Dank

Karte: Das Becken von Elantel

Karte: Die Stadt Elantel und Umgebung

Karte des Beckens und des Südkontinents

Prolog

Teil 1

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

Teil 2

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

Teil 3

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

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69

70

71

72

73

74

Epilog

Marasi

Steris

Allriandre

Kelsier

Ranette

MeLaan

Waxillium

Ars Arcanum

Allomantische Metalle nach Alphabet

Über die drei metallischen Künste

Kombinationen

Über Stachel und Mischen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Ethan Skarstedt,

einem Mann der Ehre.

Dank

Vor sechzehn Jahren saß ich in einer schummrigen Nische des örtlichen Steakrestaurants und unterbreitete meiner Frau eine kühne Idee, die ich gerade entwickelte: eine epische Fantasywelt beschreiben und sie dann durch verschiedene Epochen in die Zukunft führen. Ich hatte schon Mischungen aus Fantasy und Science-Fiction kennengelernt und mitbekommen, dass die epische Fantasy sich an die Technologie des Industriezeitalters herantastete. Aber ich hatte es noch nie erlebt, dass jemand eine Welt in dieser Weise weiterentwickelte – einen ausgedehnten Blick auf einen Planeten gestattete, der sich in die Zukunft bewegte und auf dem die Inhalte der ersten Bücher später als Grundlage für Mythen und Religionen dienten.

Es war riskant. Die Leserschaft neigt zu einem klar umrissenen Genre. Ich jedoch unterbreitete ein Projekt, das sich von diesen Genregrenzen auf eine Art und Weise entfernte, die sich erfahrungsgemäß nicht gut verkaufte. Aber ich war überzeugt, dass dieses groß angelegte Projekt (die Darstellung eines Planeten und seiner Magie über mehrere Epochen) das Risiko wert war. Das bringt uns hierher, zum letzten Buch der Zweiten Epoche der Nebelgeborenen und meinem großen Genreexperiment.

Ob mir das bisher gelungen ist oder nicht, müsst ihr, die Lesenden, entscheiden. Ich jedoch kann eines sagen: Ohne die Hilfe vieler Menschen wäre ich ganz bestimmt nicht dorthin gekommen, wo ich jetzt bin. Ich weiß, dass Danksagungen eine unübersichtliche Anhäufung von Namen sind, aber ich bin ihnen nun mal allen so dankbar. Das sind die Menschen, die, wenn ich mit einem kühnen Plan ankomme, nicht die Augen verdrehen – sondern die Ärmel hochkrempeln und den Plan verwirklichen.

Für dieses Buch hat Joshua Bilmes als mein Agent wieder wie üblich exzellente Arbeit geleistet. Seine Mitarbeiterinnen Susan Velazquez und Christina Zobel haben ebenfalls viel beigesteuert, weil sie die verschiedenen Verträge mit dem Ausland und den Sub-Agenten betreut haben.

Apropos Ausland: Bei diesem Buch hat ganz besonders Gillian Redfearn geholfen – sie ist meine Verlegerin im UK, hat bei diesem Projekt den Hut aufgehabt und das Lektorat übernommen, das sonst meistens vom US-Verlag geschultert wird. Sie hat das fantastisch gemacht, und ich bin froh über ihre Hilfe. Zusätzlich möchte ich mich bei Emad Akhtar und Brendan Durkin von Gollancz im UK bedanken, sowie bei meinen UK-Agenten John Berlyne und Stevie Finegan von der Zeno Agency.

Hier in den USA fungierte Devi Pillai als führende Lektorin und hat ihr ausgezeichnetes Gespür für Handlung und Figuren eingebracht – wie immer. Bei Tor Books möchte ich mich außerdem bei Molly McGhee, Tessa Villanueva, Lucille Rettino, Eileen Lawrence, Alexis Saarela, Heather Saunders, Rafal Gibek, Felipe Cruz, Amelie Littell und Hayley Jozwiak bedanken. Das Korrektorat übernahm unsere Terry McGarry, mit der wir schon viele Jahre zusammenarbeiten.

Nun zum Hörbuch: Der unersetzliche Michael Kramer leiht meinen Charakteren erneut seine Stimme und lässt mich gut klingen. Vielen Dank, Michael! Für alles, was du tust. Zudem möchte ich mich bei Steve Wagner, Samantha Edelson und Drew Kilman von Macmillan Audio bedanken.

Seit einiger Zeit verursachen meine Bücher in der Grafikabteilung tonnenweise Arbeit. Deshalb bekommen diese Revolverhelden ihren eigenen Absatz – obwohl einige von ihnen auch in anderen Absätzen vorkommen müssten. So verdient zum Beispiel Peter Lutjen, der Leiter der Tor-Grafikabteilung, ein herzliches Danke. Chris McGrath hat unsere Coverillustration erstellt. Mein interner Grafiker bei Dragonsteel ist ΙΥΙ < – bisher bekannt als Isaac Stewart. Er erstellte die Karten und Symbole und übernahm die Gestaltung (und die Texte) der Zeitungen. Haltet künftig Ausschau nach Büchern von ΙΥ I<. (Ja, das mit dem Symbol habe ich mir ausgedacht. Ich darf das. Ich habe künstlerische Freiheit.) Unser guter Freund Ben McSweeney, mit dem wir ebenfalls schon viele Jahre zusammenarbeiten, hat die meisten Grafiken für die Zeitungen angefertigt. Rachael Lynn Buchanan war unsere Grafikassistentin, und Jennifer Neal sorgte für zusätzliche Hilfestellung bei den Zeitungen.

In meiner Firma Dragonsteel steht der Unersättliche Peter Ahlstrom dem hauseigenen Lektorat vor, während Karen Ahlstrom bei der Continuity hilft, und verschiedene zusätzliche Lektoratsarbeiten werden von Betty Ahlstrom erledigt. Kristy S. Gilbert ist gerade frisch dabei als Herstellerin.

Das Versand- und Veranstaltungsteam von Dragonsteel wird angeführt von Kara Stewart, und dieses Team besteht aus Christi Jacobsen, Lex Willhite, Kellyn Neumann, Mem Grange, Michael Bateman, Joy Allen, Katy Ives, Richard Rubert, Sean VanBuskirk, Isabel Chrisman, Tori Mecham, Ally Reep, Jacob Chrisman, Alex Lyon und Owen Knowlton.

Unser hauseigenes Team für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit wird geleitet von Adam Horne, während Jeremy Palmer als Marketingchef fungiert. Das betriebswirtschaftliche Team untersteht Mat »My name is actually Matt with two T’s« Hatch und setzt sich aus Jane Horne, Emma Tan-Stoker, Kathleen Dorsey Sanderson, Makena Saluone und Hazel Cummings zusammen.

Und natürlich ist da meine wundervolle Frau Emily Sanderson, sie ist unsere Geschäftsführerin bei Dragonsteel und die reizendste Person auf der Liste.

Weniger reizend, aber immer noch eine große Hilfe sind die Mitglieder der Schreibgruppe. Bei diesem Buch bestand sie aus: Kaylynn ZoBell, Peter Ahlstrom, Karen Ahlstrom, Alan Layton, Eric James Stone, Darci Stone, Kathleen Dorsey Sanderson, Emily Sanderson und Ben »Rick Stranger« Olsen. Dann ist da natürlich noch Ethan Skarstedt – dem dieses Buch gewidmet ist. Ethan ist das realweltliche Vorbild für Narb von Brücke Vier und hilft mir nun schon seit zwanzig Jahren, Soldatenkram und Schusswaffendetails zu berichtigen. Vielen Dank, Ethan, dass du mir dabei hilfst, so zu tun, als wüsste ich, wovon ich rede.

Mi’chelle Walker schuf die Feedbackdatenbank der Beta-Leserunde, die supernützlich war. An der Leserunde teilgenommen haben Trae Cooper, Tim Challener, Ted Herman, Suzanne Musin, Sumejja Muratagić-Tadić, Paige Phillips, Shannon Nelson, Sean VanBuskirk, Ross Newberry, Rosemary Williams, Richard Fife, Rahul Pantula, Poonam Desai, Philip Vorwaller, Paige Vest, Mi’chelle Walker, Megan Kanne, Matt Wiens, Mark Axies Lindberg, Marnie Peterson, Lyndsey Luther, Linnea Lindstrom, Lauren McCaffrey, Kendra Wilson, Kendra Alexander, Kellyn Neumann, Kalyani Poluri, Joy Allen, Joshua Harkey, Jory »Chief Chicken Head Scratcher« Phillips, Jessie Lake, Jessica Ashcraft, Jennifer Neal, Ian McNatt, Chris »Gunner« McGrath, Gary Singer, Frankie Jerome, Evgeni »Argent« Kirilov, Erika Kuta Marler, Eric Lake, Drew McCaffrey, Deana Covel Whitney, David Fallon, David Behrens, Darci Cole, Craig Hanks, Christina Goodman, Christopher Cottingham, Chana Oshira Block, Brian T. Hill, Brandon Cole, Lingting »Botanica« Xu, Bob Kluttz, Ben Marrow, Becca Reppert, Bao Pham, Anthony Acker, Alyx Hoge, Alice Arneson, Alexis Horizon, Aaron Biggs, Joe Deardeuff, Rob West und Jayden King.

Bei der Gamma-Leserunde waren viele der oben Genannten dabei und zudem Sam Baskin, Glen Vogelaar, Dale Wiens, Billy Todd, Ari Kufer, Matthew Sorensen, Ram Shoham, Eliyahu Berelowitz Levin und Aaron Ford.

Eingehende Hilfe bekamen wir bei diesem Buch auch von einer besonderen Gruppe, nämlich von Leuten, die ich gebeten habe, auf mein Magiesystem zu achten und mir Feedback darüber zu geben, wo ich vielleicht etwas mehr erklären muss oder Gefahr laufe, mir selbst zu widersprechen. Wir bezeichnen diese Gruppe als das Magic System Continuity Team, aber ich werde sie von jetzt an offiziell die Arcanisten nennen. Es handelt sich um Joshua Harkey, Eric Lake, Evgeni Kirilov, David Behrens, Ian McNatt und Ben Marrow.

Einen besonderen Dank möchte ich meinen Freunden Kalyani und Rahul aussprechen, langjährige Betalesende, die mich schon lange dazu ermutigen, mich mit indischer Mythologie als Inspiration für Fantasygeschichten zu beschäftigen. Sie haben mich bei diesem Buch ausgezeichnet beraten bezüglich einer bestimmten Figur, die wir zu dritt ausgearbeitet haben, um das Kosmeer ein wenig in diese Richtung auszuweiten.

Mein Dank gilt allen hier Aufgeführten. Und natürlich meiner Leserschaft. Die Nebelgeborenen, das war eine sonderbare, bislang sechzehn Jahre währende Reise, und ich habe den Eindruck, dass sie bald noch sonderbarer werden wird – und (mit etwas Glück) noch etwas unglaublicher.

Prolog

Wayne wusste über Betten Bescheid. Andere Kinder in Zinnlastsiedlung hatten nämlich welche. Ein Bett, das klang viel besser als eine Matratze auf dem Boden – vor allem als eine, die er sich, wenn es nachts kalt war, mit seiner Mama teilen musste, weil sie keine Kohlen hatten.

Und außerdem versteckten sich Monster unter Betten.

Ja, er hatte schon von Nebelgeistern gehört. Die versteckten sich unterm Bett und stahlen den Leuten, die man kannte, das Gesicht. Betten waren also oben weich und federnd, und drunter steckte immer jemand, mit dem man reden konnte. Das klang rostig himmlisch.

Andere Kinder hatten Angst vor Nebelgeistern, aber Wayne war klar, dass sie einfach bloß keine Ahnung hatten, wie man richtig mit ihnen verhandelte. Er könnte sich sehr wohl mit Wesen anfreunden, die unterm Bett wohnten. Man müsste ihnen nur etwas geben, was sie wollten, zum Beispiel etwas zu essen.

Egal, er hatte ja kein Bett. Und keine richtigen Stühle. Sie hatten einen Tisch, den ihnen Onkel Gregr gebaut hatte. Bevor er bei einem Erdrutsch von einer Milliarde Felsbrocken verschüttet und zu Mus zerquetscht worden war. Hin und wieder trat Wayne gegen den Tisch. Könnte ja sein, dass Gregrs Geist ihm zuschaute und ihm der Tisch etwas bedeutete. Sonst war weiß Rost nichts in dieser einfenstrigen Behausung, das Onkel Gregr etwas bedeutet hätte.

Mehr als einen Schemel hatte Wayne nicht, und drum saß er dort, spielte mit seinen Karten – teilte aus und versteckte Karten in seinem Ärmel – und wartete. Um diese Zeit war er immer aufgeregt. Abends beschlich ihn die Angst, sie könnte nicht nach Hause kommen. Nicht, weil sie ihn nicht lieben würde. In der Güllegrube dieser Welt war Mama ein Reigen blühender Frühlingsblumen. Aber eines Tages war Papa nicht mehr nach Hause gekommen. Eines Tages war Onkel Gregr – Wayne gab dem Tisch einen Tritt – nicht mehr nach Hause gekommen. Deshalb war Mama . . .

Denk nicht drüber nach, dachte Wayne und murkste beim Mischen, sodass die Karten auf den Tisch und den Boden segelten. Und schau nicht hin. Erst wenn du das Licht siehst.

Er konnte die Mine da draußen spüren. Niemand wollte gleich neben der Mine wohnen, deshalb lebten Wayne und seine Mama hier.

Er dachte ganz bewusst an etwas anderes. An den Haufen Wäsche, den er heute schon gewaschen hatte. Das war Mamas frühere Arbeit gewesen, die nicht viel eingebracht hatte. Jetzt tat er es, während sie in den Minen Loren schob.

Die Arbeit machte ihm nichts aus. So konnte er die verschiedenen Klamotten anprobieren – ob sie nun von alten Knackern oder jungen Frauen stammten – und so tun, als wäre er diese Leute. Ein paarmal hatte seine Mama ihn dabei erwischt und war wütend geworden. Ihr Ärger verblüffte ihn noch immer. Warum sollte man die Teile denn nicht anprobieren? Dafür waren Klamotten doch da! So komisch war das nun wirklich nicht.

Außerdem ließen die Leute Sachen in ihren Taschen. Zum Beispiel Spielkarten.

Schon wieder kam er beim Mischen durcheinander, und während er die Karten wieder aufsammelte, schaute er nicht zum Fenster hinaus, obwohl er die Mine spüren konnte. Diese offene Arterie, wie ein Loch im Hals, innen rot und Licht ausspeiend wie Blut und Feuer. Seine Mama musste da rein und in den Eingeweiden der Bestie buddeln, nach Metallen suchen und dann ihrem Zorn entkommen. Man konnte nicht immer Glück haben.

Dann bemerkte er es. Das Licht. Erleichtert sah er zum Fenster hinaus und entdeckte sie auf dem Pfad. Sie hielt eine Laterne in die Höhe, um sich den Weg zu leuchten. Wayne beeilte sich, die Karten unter der Matratze zu verstecken, legte sich darauf und stellte sich schlafend. Dann ging die Tür auf. Natürlich hatte sie gesehen, wie er das Licht abgedreht hatte, aber sie war dankbar, dass er wenigstens so tat.

Sie setzte sich auf den Schemel, und Wayne öffnete ein Auge einen Spaltbreit. Seine Mama trug eine Hose und ein geknöpftes Hemd und hatte die Haare hochgesteckt. Kleider und Gesicht waren verschmiert. Sie starrte in die Laternenflamme, sah sie flackern und tanzen, und ihr Gesicht schien hohler zu sein als zuvor. Als würde jemand ihre Wangen mit einem Pickel bearbeiten.

Diese Mine zehrt sie aus, dachte er. Sie verschlingt sie nicht in einem Happen wie Papa, aber sie nagt an ihr.

Mama blinzelte und fixierte dann etwas anderes. Eine Karte, die er auf dem Tisch hatte liegen lassen. Ach Mist!

Sie nahm die Karte und sah ihn geradewegs an. Er stellte sich nicht mehr schlafend. Sonst würde sie Wasser auf ihn kippen.

»Wayne«, sagte sie, »woher hast du diese Karten?«

»Weiß ich nicht mehr.«

»Wayne . . .«

»Hab sie gefunden«, sagte er.

Sie streckte die Hand aus, worauf er ihr widerwillig die restlichen Karten gab. Sie steckte die Karte, die sie erspäht hatte, in die Schachtel. Verdammt! Jetzt würde sie einen Tag damit zubringen, ganz Zinnlast nach der Person abzusuchen, die sie »verloren« hatte. Aber er würde nicht zulassen, dass sie wegen ihm noch weniger Schlaf bekam.

»Tark Vestingdow«, murmelte Wayne. »Die waren in der Tasche seines Arbeitsmantels.«

»Danke«, sagte sie sanft.

»Mama, ich muss Kartenspielen lernen. Damit kann ich gutes Geld machen und für uns sorgen.«

»Gutes Geld?«, fragte sie. »Mit Karten?«

»Keine Bange«, beeilte er sich zu ergänzen. »Ich schummle! Wenn man nicht gewinnt, kann man natürlich auch kein gutes Geld machen.«

Sie seufzte und rieb sich die Schläfen.

Wayne warf einen Blick auf den Kartenstapel. »Tark«, sagte er. »Er ist ein Terriser, wie Papa einer war.«

»Ja.«

»Leute aus Terris machen immer, was man ihnen sagt. Was stimmt denn nicht mit mir?«

»Mit dir ist nichts verkehrt, Schatz«, sagte sie. »Dir fehlt nur ein Elternteil, das dich anleiten kann.«

»Mama«, protestierte er und rappelte sich von seiner Matratze hoch, um sie in den Arm zu nehmen. »Sag so was nicht. Du bist eine tolle Mama.«

Sie drückte ihn seitlich an sich, aber er spürte ihre Anspannung. »Wayne«, fragte sie, »hast du Demmys Taschenmesser genommen?«

»Hat er gepetzt?«, sagte Wayne. »Dem rostigen Mistkerl soll der Rost ausm Arsch wachsen!«

»Wayne! So spricht man nicht!«

»Dem rostigen Mistkerl soll der Rost aus dem Arsch wachsen!«, wiederholte er, nun mit dem Akzent eines Schienenarbeiters.

Er grinste sie unschuldig an und bekam zur Belohnung ein Lächeln, das sie sich nicht verkneifen konnte. Über komische Akzente freute sie sich immer. Papa hatte sie gut gekonnt, aber Wayne konnte sie noch besser. Vor allem jetzt, wo Papa tot war und sie nicht mehr nachahmen konnte.

Doch dann verblasste ihr Lächeln. »Du kannst nicht einfach Sachen nehmen, die dir nicht gehören, Wayne. Das tun nur Diebe.«

»Ich will kein Dieb sein«, sagte Wayne leise und legte das Taschenmesser neben die Karten auf den Tisch. »Ich will ein guter Junge sein. Es . . . passiert mir einfach.«

Sie drückte ihn fester an sich. »Du bist ein guter Junge. Noch nie warst du kein guter Junge.«

Er glaubte ihr, wenn sie das sagte.

»Willst du eine Geschichte hören, mein kleiner Schatz?«

»Ich bin zu alt für Geschichten«, log er und wollte unbedingt, dass sie sie trotzdem erzählte. »Ich bin elf. Noch ein Jahr, und ich darf in der Schenke trinken.«

»Was? Wer hat dir das erzählt?«

»Dug.«

»Dug ist neun.«

»Dug weiß Sachen.«

»Dug ist neun.«

»Willst du sagen, dass ich nächstes Jahr Alkohol für ihn aus der Schenke schmuggeln muss, weil er noch nicht alt genug sein wird, um ihn sich selber zu holen?« Er sah ihr in die Augen und fing an zu kichern.

Er half ihr, das Abendessen zu richten – kalten Haferbrei mit ein paar Bohnen darin. Wenigstens nicht nur Bohnen. Dann kuschelte er sich in seine Decken auf der Matratze und tat beim Zuhören so, als wäre er wieder ein Kind. Das fiel ihm nicht schwer. Schließlich hatte er ja noch dieselben Kleider an.

»Dies ist die Geschichte«, sagte sie, »vom Grellen Germ, dem Ungewaschenen Banditen.«

»Oooh . . .«, sagte Wayne. »Eine neue Geschichte?«

Seine Mutter beugte sich vor und wackelte mit dem Löffel. »Er war der schlimmste Bandit von allen, Wayne. Der böseste, gemeinste und stinkendste. Er badete nie.«

»Weil es so anstrengend ist, richtig schmutzig zu werden?«

»Nein, sondern weil er . . . Halt mal, es ist anstrengend, schmutzig zu werden?«

»Man muss sich doch darin wälzen, oder?«

»Warum im Namen des Einträchtigen sollte man das denn machen?«

»Um zu denken wie der Boden«, sagte Wayne.

»Um . . .« Sie lächelte. »Ach, Wayne. Du bist ein Schatz.«

»Danke«, sagte er. »Warum hast du mir bisher nix von diesem Grellen Germ erzählt? Wenn er doch so schlimm war, hättest du mir dann nicht seine Geschichten als Erstes erzählen sollen?«

»Du warst zu jung«, antwortete sie und richtete sich wieder auf. »Und die Geschichte ist zu gruselig.«

Uuuuh . . . Die musste wirklich richtig gut sein. Wayne hüpfte auf seiner Matratze. »Wer hat ihn erwischt? War es ein Gesetzeshüter?«

»Es war der Allomant Jak.«

»Der?«, sagte Wayne stöhnend.

»Ich dachte, du magst ihn.«

Na ja, den mochten alle Kinder. Jak war neu und interessant und hatte im letzten Jahr alle möglichen schweren Verbrechen aufgeklärt. Zumindest laut Dug.

»Aber Jak nimmt die Bösewichter immer nur gefangen«, beklagte sich Wayne. »Er erschießt nie einen von ihnen.«

»Aber diesmal nicht«, sagte Mama und löffelte ihren Haferbrei. »Er wusste, dass der Grelle Germ der Schlimmste war. Ein Mörder bis ins Mark. Selbst Germs Handlanger – Gud der Töter und Garnicht-Jo – waren zehnmal schlimmer als alle anderen Banditen, die jemals durch die Raulande gestreift sind.«

»Zehnmal?«, sagte Wayne.

»Jepp.«

»Das ist viel! Das ist ja fast das Doppelte!«

Seine Mama runzelte einen Moment lang die Stirn, beugte sich dann jedoch wieder nach vorn. »Sie raubten die Löhne, nahmen nicht nur den fetten Bonzen in Elantel das Geld, sondern auch dem einfachen Volk.«

»Miese Bastarde«, sagte Wayne.

»Wayne!«

»Na schön! Dann eben ganz normale alte Scheißhaufen!«

Sie zögerte erneut. »Weißt du . . . weißt du, was das Wort ›Bastard‹ bedeutet?«

»Das ist ein übler Scheißhaufen, so einer, wie er herauskommt, wenn man wirklich ganz dringend muss, aber es sich zu lange verkneift.«

»Und das weißt du, weil . . .«

»Das hat mir Dug gesagt.«

»Natürlich. Also, Jak, der wollte es nicht hinnehmen, dass das einfache Volk der Raulande beraubt wurde. Bandit zu sein ist eine Sache, aber es gehört sich, dass man das Geld stiehlt, das in die Stadt geht. Leider kannte sich der Grelle Germ in der Gegend sehr gut aus. Deshalb ritt er in die unübersichtlichsten Gegenden der Raulande – und an allen wichtigen Punkten ließ er seine Handlanger als Wachen zurück. Zum Glück war Jak der tapferste Mann der Welt. Und der stärkste.«

»Wenn er doch aber der tapferste und der stärkste war«, sagte Wayne, »warum ist er dann Gesetzeshüter geworden? Er hätte Bandit werden können, und niemand hätte ihn aufhalten können!«

»Was ist schwerer, Schatz?«, fragte sie. »Das Richtige zu tun oder Böses zu tun?«

»Das Richtige zu tun.«

»Wer wird also stärker?«, fragte Mama. »Derjenige, der das Einfache macht, oder der, der das Schwierige macht?«

Ach. Er nickte. Ja, das sah er schon ein.

Sie hielt die Laterne näher an ihr Gesicht, sodass es leuchtete. »Jaks erste Prüfung stellte der Fluss Mensch dar, die große Wasserstraße, die die Grenze zu den ehemaligen Ländern der Kolosse bildet. Das Wasser rauschte so schnell wie ein Zug, es war der schnellste Fluss der ganzen Welt – und er war voller Felsen. Dort, auf der anderen Seite des Flusses, war Gud der Töter postiert, um nach Gesetzeshütern Ausschau zu halten. Er hatte so gute Augen und eine so sichere Hand, dass er auf dreihundert Schritt eine Fliege im Stall traf.«

»Warum sollte er denn ausgerechnet auf die Fliege schießen?«, fragte Wayne. »Wenn er einfach so in den Stall reinschießt, tut’s doch bestimmt auch schon saumäßig weh.«

»Ich habe nicht den Hosenstall gemeint, Schatz«, sagte Mama.

»Und was hat Jak da getan?«, fragte Wayne. »Hat er sich angeschlichen? Herumschleichen ist nicht besonders gesetzeshüterisch. Ich glaube nicht, dass die das machen. Ich wette, dass er nicht geschlichen ist.«

»Tja . . .«, sagte Mama.

Wayne umklammerte seine Decke und wartete.

»Jak war ein noch besserer Schütze«, flüsterte sie. »Als Gud der Töter ihn erspähte, hat Jak als Erster geschossen – über den Fluss hinweg.«

»Wie ist Gud gestorben?«, flüsterte Wayne.

»Durch die Kugel, Schatz.«

»Ins Auge?«, sagte Wayne.

»Vermutlich schon.«

»Also hat Gud gezielt und Jak auch – aber Jak hat als Erster abgedrückt und Gud direkt durch die Kimme ins Auge getroffen! Richtig, Mama?«

»Jepp.«

»Und sein Kopf ist geplatzt«, sagte Wayne. »Wie Obst – knackiges Obst mit harter Schale, aber drinnen ganz glibberig. War es so?«

»Ganz genau so.«

»Mensch, Mama«, sagte Wayne. »Das ist grauenvoll. Bist du dir sicher, dass du mir so etwas erzählen solltest?«

»Soll ich aufhören?«

»Bloß nicht! Wie gelangte Jak übers Wasser?«

»Er ist geflogen«, sagte Mama. Sie stellte ihre Schüssel ab, nachdem sie sie geleert hatte, und machte mit beiden Händen eine ausladende Bewegung. »Mit seinen allomantischen Kräften. Jak kann fliegen und mit Vögeln reden und Steine essen.«

»Krass. Steine essen?«

»Jepp. Und so ist er über den Fluss geflogen. Aber die nächste Prüfung war noch härter. Die Schlucht des Todes.«

»Uuuuh . . .«, machte Wayne. »Ist bestimmt schön dort.«

»Wieso meinst du das?«

»Weil niemand an einen Ort geht, der ›Schlucht des Todes‹ heißt, es sei denn, es ist dort schön. Aber wir wissen ja seinen Namen, also muss jemand hingegangen sein. Und deshalb muss es dort schön sein.«

»Wunderschön«, sagte Mama. »Eine Schlucht, die zwischen bröckelnden Felsnadeln eingegraben ist – die schroffen Spitzen haben bunte Streifen, als hätte man sie angemalt. Aber der Ort war nicht nur wunderschön, sondern auch tödlich.«

»Ja«, sagte Wayne. »Ist ja klar.«

»Jak konnte sie nicht überfliegen, weil der zweite aus der Bande sich in der Schlucht versteckte. Garnicht-Jo. Er konnte meisterhaft mit Pistolen umgehen und ebenfalls fliegen, sich in einen Drachen verwandeln und Steine essen. Hätte Jak versucht, sich an ihm vorbeizuschleichen, hätte Jo ihn von hinten erschossen.«

»Das ist auch am klügsten, wenn man jemanden erschießen will«, sagte Wayne. »Weil die dann nämlich nicht zurückschießen können.«

»Stimmt«, sagte Mama. »Deshalb wollte Jak es nicht dazu kommen lassen. Er musste in die Schlucht hinab. Aber sie war voller Schlangen.«

»Ach du verdammte Scheiße!«

»Wayne . . .«

»Dann halt bloß ganz langweilige alte Scheiße! Wie viele Schlangen?«

»Eine Million Schlangen.«

»Ach du verdammte Scheiße!«

»Aber Jak war nicht auf den Kopf gefallen«, sagte Mama. »Er hatte wohlweislich Schlangenfutter mitgebracht.«

»Eine Million Mal Schlangenfutter?«

»Nö, nur eine Portion«, antwortete sie. »Aber er brachte die Schlangen dazu, dass sie sich darum stritten, und so haben die meisten von ihnen sich gegenseitig umgebracht. Und die, die übrig blieb, war natürlich die stärkste von allen.«

»Natürlich.«

»Und Jak hat sie dazu überredet, Garnicht-Jo zu beißen.«

»Und dann ist Jo ganz rot geworden!«, rief Wayne. »Und hat aus den Ohren geblutet! Und seine Knochen sind geschmolzen, und der geschmolzene Knochensaft ist ihm aus der Nase gelaufen! Und er ist zu einem Haufen Haut zusammengefallen, und die ganze Zeit hat er gezischt und geflennt, denn seine Zähne sind auch geschmolzen!«

»Ganz genau.«

»Mensch, Mama. Du erzählst einfach die besten Geschichten.«

»Es wird noch besser«, sagte sie leise, während sie sich im trüben Licht ihrer Laterne tiefer herabbeugte. »Denn am Ende gab es eine Überraschung.«

»Was für eine Überraschung?«

»Als Jak die Schlucht durchquert hatte – in der es nun nach toten Schlangen und geschmolzenen Knochen roch –, erblickte er die letzte Prüfung: den Einsamen Tafelberg. Ein großer Klotz, der sich aus der Ebene erhob.«

»Das ist aber keine krasse Prüfung«, sagte Wayne. »Er konnte doch hinauffliegen.«

»Tja, das hat er versucht«, flüsterte sie. »Aber der Tafelberg war der Grelle Germ.«

»WAS?«

»Genau«, sagte Mama. »Germ hatte sich mit den Kolossen zusammengetan – diejenigen, die sich in große Ungeheuer verwandeln, nicht die normalen wie die alte Frau Nock. Und die haben ihm beigebracht, wie er sich in ein Monster von gigantischer Größe verwandeln kann. Als Jak also auf dem Tafelberg landen wollte, verschlang dieser ihn einfach.«

Wayne keuchte. »Und dann«, sagte er, »hat er ihn zwischen seinen Zähnen zermalmt, seine Knochen zermahlen wie . . .«

»Nein«, sagte Mama. »Er hat versucht, ihn hinunterzuschlucken. Aber Jak war nicht nur schlau und ein guter Schütze. Er war noch mehr.«

»Was?«

»Eine verdammte Nervensäge.«

»Mama! Das sagt man nicht!«

»In Geschichten darf man das«, erklärte Mama. »Also hör zu, Jak war unausstehlich. Er laberte immer davon, Gutes zu tun. Menschen zu helfen. Den Bösen das Leben schwer zu machen. Fragen zu stellen. Er wusste genau, wie er Banditen den Tag verderben konnte. Während er also verschluckt wurde, streckte Jak Arme und Beine aus und drückte ganz fest – und machte sich so zu einem Klumpen in der Kehle vom Grellen Germ, und das Monster bekam keine Luft mehr. Solche Monster brauchen aber eine Menge Luft, weißt du? Und so hat der Allomant Jak den Germ von innen heraus erstickt. Und als das Ungeheuer tot auf dem Boden lag, ist Jak auf seiner Zunge aus ihm herausgeschlendert – als wäre es eine Fußmatte vor der Kutsche irgendeines reichen Schnösels.«

Holla! »Das ist eine gute Geschichte, Mama.«

Sie lächelte.

»Mama«, sagte er. »Ist das eine Geschichte . . . über die Mine?«

»Na ja«, antwortete sie. »Vermutlich müssen wir alle mal ins Maul des Monsters gehen. Also . . . wohl schon ein bisschen.«

»Dann bist du wie der Gesetzeshüter?«

»Das kann jeder sein«, sagte sie und blies die Laterne aus.

»Sogar ich?«

»Vor allem du.« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Du bist, was immer du sein willst, Wayne. Du bist der Wind. Du bist die Sterne. Du bist alle möglichen Dinge.«

Das war ein Gedicht, das sie mochte. Auch ihm gefiel es. Denn wenn sie es aufsagte, dann glaubte er ihr. Wie hätte es auch anders sein sollen? Mama log nicht. Deshalb kuschelte er sich tiefer in seine Decken und überließ sich dem Schlummer. Vieles stimmte nicht in der Welt, aber ein paar Sachen waren richtig. Und solange sie noch da war, hatten Geschichten etwas zu bedeuten. Sie waren wirklich.

Bis zum nächsten Tag, als wieder ein Stollen in der Mine einstürzte. An jenem Abend kehrte seine Mama nicht zurück.

Teil 1

1

Neunundzwanzig Jahre später

Marasi war noch nie in der Kanalisation gewesen, aber es war genauso ekelhaft, wie sie es sich vorgestellt hatte. Der Gestank war natürlich unglaublich. Schlimmer noch war aber der Umstand, dass sie mit ihren Stiefeln manchmal ausrutschte und ihr dann kurz fast das Herz stehen blieb vor Angst, in den »Matsch« weiter unten zu fallen.

Immerhin war sie so vorausschauend gewesen, heute eine Uniform mit Hose und dazu bis zum Knie reichende lederne Arbeitsstiefel anzuziehen. Das alles bot jedoch keinen Schutz vor dem Gestank, dem ekelhaften Gefühl oder – bedauerlicherweise – den Geräuschen. Wenn sie mit der Karte in der einen und dem Gewehr in der anderen Hand einen Schritt tat, machte der Stiefel ein quatschendes Geräusch von urzeitlichen Ausmaßen. Es wäre das schlimmste Geräusch der Welt gewesen, wenn da nicht auch noch Waynes Gemecker gewesen wäre.

»Wax hat mich nie in die rostige Kanalisation geführt«, grummelte er und hob die Laterne etwas höher.

»Gibt es in den Raulanden Kanalisation?«

»Na ja, nee«, gab er zu. »Weiden riechen fast genauso schlimm, und er ließ mich über Weiden stapfen. Aber, Marasi, dort gab es keine Spinnen.«

»Wahrscheinlich schon«, sagte sie und hielt die Karte ins Laternenlicht. »Du hast sie nur nicht gesehen.«

»Kann schon sein«, grummelte er. »Aber es ist schlimmer, wenn man die Netze sehen kann. Und da ist ja auch noch das, na, du weißt schon, das tatsächliche Abwasser.«

Marasi nickte in Richtung eines Seitentunnels, und sie wandten sich dorthin. »Willst du darüber reden?«

»Worüber?«, fragte er.

»Über deine Stimmung.«

»Mit meiner rostigen Stimmung ist alles in Ordnung«, sagte er. »Ich bin exakt in der Stimmung, in der man sein sollte, wenn man von seiner Partnerin dazu gezwungen wird, das Vorderteil in Dinge zu stecken, die anderen aus dem Hinterteil kommen.«

»Und letzte Woche?«, fragte sie. »Als wir einen Parfümladen untersucht haben?«

»Rostige Parfümeure«, sagte Wayne und kniff die Augen zusammen. »Man weiß nie, was sie mit ihren teuren Düften alles überdecken. Man sollte niemandem trauen, der nicht riecht, wie ein Mensch riechen soll.«

»Nach Schweiß und Alkohol?«

»Nach Schweiß und billigem Alkohol.«

»Wayne, wie kannst ausgerechnet du dich beklagen, wenn sich jemand anders gibt? Jedes Mal, wenn du den Hut wechselst, nimmst du eine neue Persönlichkeit an.«

»Ändert sich dabei auch mein Geruch?«

»Wohl eher nicht.«

»Der Punkt geht an mich. Meine Argumentation ist wasserdicht. Gespräch beendet.«

Sie sahen sich an.

»Ich sollte mir wohl Parfüm besorgen, was?«, sagte Wayne. »Man könnte meine Verkleidungen durchschauen, wenn ich immer nach Schweiß und billigem Alkohol rieche.«

»Du bist ein hoffnungsloser Fall.«

»Das Einzige, was hoffnungslos ist«, erklärte er, »sind meine armen Schuhe.«

»Hättest Stiefel anziehen sollen, wie ich es dir gesagt habe.«

»Hab keine Stiefel«, erwiderte er. »Wax hat sie mir gestohlen.«

»Wax hat deine Stiefel gestohlen. Wirklich.«

»Nun, sie sind in seinem Schrank«, sagte Wayne. »Statt der drei Paar vornehmer Schuhe. Die sind irgendwie in meinem Schrank gelandet, das war reiner Zufall.« Er warf ihr einen Blick zu. »Es war ein fairer Handel. Ich habe diese Stiefel gemocht.«

Marasi schmunzelte. Sie arbeiteten nun schon seit fast sechs Jahren zusammen, seit Wax nach der Entdeckung der Bänder der Trauer in Ruhestand gegangen war. Wayne war jetzt ein richtiger Wachtmeister und nicht mehr nur ein kaum legaler Hilfspolizist. Er trug sogar hin und wieder mal eine Uniform. Und . . .

. . . und Marasi rutschte schon wieder aus. Rostige Hölle! Würde sie hinfallen, würde er nie wieder mit Lachen aufhören. Aber es erschien als der beste Weg. Noch immer wurde an den die ganze Stadt durchziehenden Zugtunneln gebaut, und vor zwei Tagen hatte ein Abrissarbeiter eine seltsame Meldung gemacht. Er wollte den nächsten Abschnitt nicht sprengen, weil seismische Messungen die Existenz einer nicht kartierten Höhle in der Nähe ergeben hatten.

In diesem Bereich von Elantel war der Untergrund voller Höhlen. Und in derselben Gegend tauchten häufig die Schläger einer hiesigen Bande auf und verschwanden wieder. Als hätten sie einen versteckten Fluchtweg in ein unbekanntes, verborgenes Nest.

Marasi konsultierte die Karte, auf der die Konstruktionspläne eingezeichnet waren – neben älteren Einzeichnungen war auch eine Kuriosität markiert, die die Erbauer der Kanalisation vor Jahren gefunden hatten, die aber nie genauer untersucht worden war.

»Ich glaube, MeLaan macht mit mir Schluss«, sagte Wayne leise. »Deshalb wirke ich in letzter Zeit nach außen vielleicht etwas niedergeschlagener als sonst.«

»Weshalb glaubst du, dass sie das tun wird?«

»Weil sie zu mir gesagt hat: ›Wayne, vermutlich mache ich in ein paar Wochen Schluss mit dir.‹«

»Na, das ist aber mal höflich von ihr.«

»Ich glaube, sie hat von dem da oben einen neuen Auftrag bekommen«, sagte Wayne. »Aber es ist nicht in Ordnung, das so langsam zu machen. So macht man einfach nicht Schluss mit ’nem Typen.«

»Und wie macht dann Schluss mit jemandem?«

»Schmeiß ihm etwas an den Kopf«, sagte Wayne. »Verkaufe seine Sachen. Sag seinen Freunden, er sei ein Idiot.«

»Du hattest anscheinend schon interessante Beziehungen.«

»Nee, vor allem schlechte«, erwiderte er. »Ich habe Jammi Walls gefragt, was ich ihrer Meinung nach tun soll – kennst du sie? Sie sitzt fast jeden Abend in der Schenke.«

»Ich kenne sie«, sagte Marasi. »Sie ist eine Frau von . . . zweifelhaftem Ruf.«

»Was?«, sagte Wayne. »Wer behauptet das? Jammi hat einen ausgezeichneten Ruf. Von allen Huren des Viertels ist sie diejenige, die den besten . . .«

»Das muss ich nicht wissen. Danke.«

»Zweifelhafter Ruf«, sagte er kichernd. »Ich erzähl Jammi, dass du das gesagt hast, Marasi. Sie hat so hart für ihren Ruf gearbeitet. Sie verlangt inzwischen das Vierfache von dem, was alle anderen verlangen! Das ist wahrlich ein zweifelhafter Ruf.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Sie meinte, MeLaan würde wollen, dass ich mehr für unsere Beziehung tue«, antwortete Wayne. »Aber ich glaube, da irrt sich Jammi. Denn MeLaan spielt keine Spielchen. Wenn sie etwas sagt, dann meint sie es auch so. Deshalb ist es . . . du weißt schon . . .«

»Tut mir leid, Wayne«, sagte Marasi, klemmte sich die Karte unter den Arm und legte ihm ihre Hand auf die Schulter.

»Ich wusste, dass es nicht halten würde«, sagte er. »Ich wusste es, verrostet noch mal, weißt du? Sie ist, was? Tausend Jahre alt?«

»Grob zwei Drittel davon«, sagte Marasi.

»Und ich bin noch keine vierzig«, sagte Wayne. »Eher sechzehn, wenn du meinen rüstigen, jugendlichen Körper betrachtest.«

»Und deinen Sinn für Humor.«

»Verdammt richtig«, sagte er. Dann seufzte er. »In letzter Zeit war es ein bisschen . . . hart. Wax ist so schnieke geworden, MeLaan war immer wieder monatelang weg. Kommt mir so vor, als wollte mich niemand bei sich haben. Vielleicht gehöre ich in die Kanalisation, weißt du?«

»Tust du nicht«, sagte sie. »Du bist der beste Partner, den ich je hatte.«

»Der einzige Partner.«

»Der einzige? Gorglen zählt nicht?«

»Nö. Er ist kein Mensch. Ich habe Papiere, die beweisen, dass er eine verkleidete Giraffe ist.« Dann lächelte er. »Aber . . . danke, dass du gefragt hast. Danke, dass du dich dafür interessierst.«

Sie nickte und ging wieder voraus. Ihr Leben als Spitzendetektivin und Gesetzeshüterin hatte sie sich definitiv nicht so vorgestellt. Immerhin wurde der Geruch etwas besser – oder sie gewöhnte sich einfach nur daran.

Es war eine große Genugtuung, exakt an der Stelle, die auf der Karte entsprechend markiert war, eine in die Wand eingelassene Metalltür vorzufinden. Wayne hielt die Laterne in die Höhe. Man brauchte keine geschärften Detektivinnenaugen, um zu sehen, dass die Tür vor Kurzem benutzt worden war. Auf einer Seite des Rahmens fanden sich silberne Kratzer, und der Türgriff war frei von den allgegenwärtigen Spinnweben.

Die Leute, die die Abwasserkanäle gebaut hatten, hatten die Tür entdeckt und als historisch eventuell bedeutsamen Ort markiert. Doch aufgrund bürokratischen Schwachsinns war die Notiz verloren gegangen.

»Hübsch«, sagte Wayne und beugte sich neben ihr heran. »Erstklassige detektivische Arbeit, Marasi. Wie viele alte Berichte musstest du lesen, um das zu finden?«

»Zu viele«, antwortete sie. »Die Leute würden staunen, wenn sie wüssten, wie viel Zeit ich im Archiv verbringe.«

»Die Nachforschungen tauchen nicht in den Geschichten auf.«

»Hast du das in den Raulanden auch gemacht?«

»Na ja, die Raulandvariante davon«, erklärte Wayne. »Normalerweise hatte dabei irgendein Typ die Fresse im Trog, bis ihm wieder einfiel, wessen älteren Prospektorenanspruch er verletzte, aber im Grundsatz war es dasselbe. Nur mit mehr Fluchen.«

Sie reichte ihm ihr Gewehr und begutachtete die Tür. Er mochte es nicht, wenn sie eine große Sache daraus machte, dass er inzwischen wieder in der Lage war, ohne zu zittern, ein Gewehr zu halten. Sie hatte noch nie erlebt, dass er eines abfeuerte, aber er behauptete, dass er es könnte, falls nötig.

Die Tür war fest verschlossen und hatte auf dieser Seite kein Schloss. Anscheinend hatten die Leute, die sie verfolgte, die Tür ebenfalls verschlossen vorgefunden – an der Seite sah man jede Menge Spuren. Zwischen Tür und Rahmen war genug Platz, um etwas hindurchzuschieben.

»Ich brauche ein Messer, um da durchzukommen«, sagte sie.

»Kannst meinen messerscharfen Verstand nehmen.«

»Nur leider, Wayne, bist du nicht das Teil, das ich jetzt brauche.«

»Ha!«, sagte er. »Das finde ich gut.«

Er reichte ihr aus seinem Rucksack, in dem sie Ausrüstung, ein Seil und – für den Fall, dass sie auf Metallgeborene stießen – zusätzliche Metalle mit sich führten, ein Messer. Eine solche Bande sollte nicht über einen Allomanten verfügen – es war eine herkömmliche Schutzgelderpressertruppe. Marasi hatte allerdings Berichte gelesen, die sie argwöhnisch machten, und sie gewann allmählich die Gewissheit, dass diese Gruppe vom Kreis finanziert wurde.

Selbst noch nach so vielen Jahren jagte sie Antworten auf Fragen nach, über die sie sich schon zu Beginn ihrer Karriere als Gesetzeshüterin sprichwörtlich den Kopf zerbrochen hatte. Zu der Gruppe, die als Kreis bekannt und einst von Wax’ Onkel Edwarn angeführt worden war, hatte auch seine Schwester Telsin gehört, wie sie später herausgefunden hatten. Eine Gruppe, die einer dunklen Gestalt folgte oder sie verehrte oder sie unterstützte. Die Gestalt nannte sich Trell, und Marasi vermutete in ihr eine Göttin aus alter Zeit.

Sollte es ihr gelingen, die richtigen Leute zu schnappen, würde sie vielleicht endlich Antworten erhalten. Aber es gelang ihr nicht. Vor sechs Jahren war sie einer Antwort nahe gekommen, doch dann waren alle Gefangenen, die sie gemacht hatte – einschließlich Wax’ Onkel –, bei einer Explosion gestorben. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als wieder Schatten nachzujagen, während der Rest von Elantels Eliten sich darauf verständigt hatte, die Bedrohung zu ignorieren. Ohne Beweise war es ihr und Wax nicht gelungen, auch nur die Existenz des Kreises jenseits von Edwarns Lakaien zu belegen.

Mithilfe des Messers gelang es ihr, den Riegel, der die Tür von der anderen Seite verschlossen hielt, zu öffnen. Mit einem leisen Klirren kippte er nach unten, und sie drückte die Tür auf, hinter der ein grob gehauener Gang zum Vorschein kam, der abwärtsführte. Einer der vielen Gänge in dieser Gegend, die in die Zeit vor der Letzten Erhebung zurückreichten. In die Zeit der Legenden und Helden, des Ascheregens und der Tyrannen.

Marasi und Wayne schlüpften durch die Tür und schlossen sie hinter sich. Dann drehten sie vorsichtshalber ihre Laternen ab und machten sich auf den Weg in die Tiefe.

2

»Krawatte?«, las Steris von der Liste ab.

»Gebunden und festgesteckt«, sagte Wax und straffte sie.

»Schuhe?«

»Poliert.«

»Erstes Beweisstück?«

Wax schnippte eine silberne Medaille in die Luft und fing sie wieder auf.

»Zweites Beweisstück?«, fragte Steris, während sie auf ihrer Liste einen Haken setzte.

Er zog einen kleinen Papierstoß aus seiner Tasche. »Hier.«

»Drittes Beweisstück?«

Wax griff in eine andere Tasche und hielt inne. Er sah sich in dem kleinen Büro um – seine Senatorenkammer im Sitzungshaus. Hatte er es liegen lassen . . .? »Zu Hause auf dem Tisch«, sagte er und schlug sich an den Kopf.

»Ich habe eins zur Reserve mitgenommen«, sagte Steris und kramte in ihrem Beutel.

Wax grinste. »Natürlich hast du das.«

»Sogar zwei«, sagte Steris und reichte ihm ein Stück Papier, das er einsteckte. Dann sah sie wieder auf ihre Liste.

Der kleine Maxillium stellte sich neben seine Mutter und überflog mit großem Ernst eine Liste seiner eigenen Kritzeleien. Mit seinen fünf Jahren kannte er die Buchstaben zwar schon, zog es aber vor, seine eigenen zu erfinden.

»Hundebild«, sagte Max, als würde er es von der Liste ablesen.

»Könnte ich gut eines brauchen«, erklärte Wax. »Sind sehr nützlich.«

Max hielt es ihm feierlich hin und sagte dann: »Katzenbild.«

»Davon brauche ich auch eins.«

»Katzen kann ich nicht so gut«, sagte Max und reichte ihm einen weiteren Bogen. »Deswegen sieht sie aus wie ein Eichhörnchen.«

Wax umarmte seinen Sohn und steckte die Bilder ehrfürchtig zu den anderen Papieren. Die Schwester des Jungen – Tindwyl, denn Steris mochte traditionelle Namen – brabbelte in der Ecke unter der Aufsicht von Kath, dem Kindermädchen.

Schließlich reichte Steris ihm seine Pistolen. Schwer und mit langen Läufen, denn Ranette hatte sie so gebaut, dass sie bedrohlich wirkten – aber sie hatten zwei Sicherungen und waren nicht geladen. Es war schon eine Weile her, seit er auf jemanden geschossen hatte. Dennoch nutzte er seinen Ruf als »Gesetzeshütersenator aus den Raulanden« aus. Städter und vor allem Politiker ließen sich durch kleine Schusswaffen einschüchtern. Sie zogen es vor, Menschen mit modernen Waffen wie Armut und Verzweiflung umzubringen.

»Steht auf der Liste auch ein Kuss für meine Frau?«, fragte Wax.

»Das tatsächlich nicht«, erwiderte sie überrascht.

»Ein seltenes Versehen«, sagte er und gab ihr einen langen Kuss. »Eigentlich solltest du heute da rausgehen, Steris. Du hast dich besser vorbereitet als ich.«

»Du bist ein Großherr des Hauses.«

»Ich könnte dich zur Repräsentantin ernennen, die für uns spricht.«

»Bitte nicht«, sagte sie. »Du weißt, dass ich nicht mit Leuten umgehen kann.«

»Du kannst gut mit den richtigen Leuten umgehen.«

»Und sind Politiker jemals richtig?«

»Ich hoffe doch«, sagte er, zog seinen Amtsmantel gerade und wandte sich zur Tür. »Denn ich bin einer.«

Er verließ seine Kammer und ging zum Senatssaal hinunter. Steris würde von ihrem Platz auf der Besucherempore aus zusehen – inzwischen wussten alle, wie wichtig es ihr war, immer denselben Platz zu bekommen.

Als Wax den großen Saal betrat – in dem hektische Betriebsamkeit herrschte, da die Senatoren gerade wieder aus der kurzen Pause zurückkehrten –, ging er nicht zu seinem Platz. Tagelang hatte der Senat über die anstehende Gesetzesvorlage debattiert, und er war nun der letzte Redner. Diese Position hatte er vielen Versprechen und Tauschhandeln zu verdanken, denn er hoffte, seinen Argumenten damit einen Vorteil zu verschaffen und die Chancen zu erhöhen, dass eine furchtbare Entscheidung abgewendet würde.

Er stellte sich bedrohlich, den Daumen in den Pistolengürtel eingehängt, neben das Rednerpult und wartete, bis die Senatoren Platz genommen hatten. Bedrohlich zu wirken hatte er in den Raulanden beim Verhören von Gefangenen gelernt – und es schockierte ihn, wie viele dieser Kniffe auch hier ihre Wirkung nicht verfehlten.

Gouverneur Varlance sah ihn nicht an. Stattdessen richtete er seine Krawatte und legte Gesichtspuder nach – aus irgendeinem obskuren Grund war gespenstisch blasse Haut dieser Tage in Mode. Dann legte er einen nach dem anderen seine Orden vor sich auf den Tisch.

Rost, wie ich Aradel vermisse, dachte Wax. Einen kompetenten Gouverneur zu haben, war mal etwas ganz Neues gewesen. Wie . . . wenn man im Hotel aß und merkte, dass es gar nicht so furchtbar schmeckte, oder wenn man mit Wayne zusammen war und nachher feststellte, dass man seine Taschenuhr noch hatte.

Das Amt des Gouverneurs neigte jedoch dazu, die guten Leute aufzufressen und die schlechten begeistert mitschwimmen zu lassen. Aradel hatte sein Amt vor zwei Jahren niedergelegt. Und es war auch durchaus sinnvoll gewesen, als nächsten Gouverneur jemanden aus dem Militär zu wählen – angesichts der Spannungen mit dem Südkontinent. Viele Menschen in den neu entdeckten Ländern dort – mit ihren Luftschiffen und fremdartigen Masken – waren wegen der Ereignisse vor sechs Jahren unzufrieden. Vor allem damit, dass das Becken von Elantel die Bänder der Trauer behalten hatte.

Momentan sah sich Elantel mit zwei großen Problemen konfrontiert. Das erste waren die Völker des Südkontinents, dessen wichtigste Nation Malwisch darstellte. Lauthals und unablässig schimpften sie über das kleine, schwache Becken. Aggressives Säbelrasseln. Varlance hatte eine Absicherung dagegen sein sollen, doch inzwischen fragte sich Wax, wie dieser sich seine Orden verdient hatte. Denn soweit Wax wusste, hatte die neu geschaffene Armee bisher noch keinerlei Feindkontakt gehabt.

Das zweite Problem lag um einiges näher. Es waren die Teile des Beckens, die außerhalb Elantels lagen, die Bewohner der Ansiedlungen, die man zusammenfassend als äußere Städte bezeichnete. Schon seit Jahren, vielleicht schon seit Jahrzehnten, wuchsen die Spannungen zwischen der Hauptstadt und allen anderen.

Drohungen von einem anderen Kontinent waren schlimm genug, aber Wax sah darin eine in der Ferne liegende Gefahr. Die unmittelbare Gefahr, die ihm am meisten Stress verursachte, war die Gefahr eines Bürgerkriegs zwischen den eigenen Leuten. Er und Steris arbeiteten seit Jahren daran, einen solchen zu verhindern.

Endlich nickte Varlance der Vizegouverneurin zu, einer Terriserin. Sie hatte dunkle Locken und trug ein traditionelles Gewand. Wax meinte, sie aus dem Dorfviertel zu kennen, aber es hätte auch ihre Schwester sein können, und ihm fiel keine passende Möglichkeit ein, wie er sie danach fragen sollte. Wie dem auch sein mochte, mit einer Terriserin im Stab wirkte man jedenfalls seriös. Die meisten Gouverneure hatten Terriser in hohen Ämtern in ihren Kabinetten – beinahe so, als wären Terriser ebenfalls ein Orden, den es zur Schau zu stellen galt.

Adawathwyn stand auf und verkündete dem Senat: »Der Gouverneur übergibt das Wort dem Senator von Haus Ladrian.«

Obwohl er darauf gewartet hatte, ließ Wax sich Zeit, ehe er das Rednerpult erstieg, das von einem riesigen elektrischen Scheinwerfer angeleuchtet wurde. Langsam drehte er sich einmal um die eigene Achse und betrachtete den kreisrunden Saal. Auf einer Seite saßen die gewählten Mitglieder: Senatoren, die ins Amt gewählt worden waren, um eine Gilde, einen Berufsstand oder eine historisch gewachsene Gemeinschaft zu repräsentieren. Auf der anderen saßen die Großherren und Herrinnen: Senatsmitglieder, die ihren Sitz aufgrund ihrer Abstammung erhalten hatten.

»Dieses Gesetz«, erklärte Wax mit lauter, fester Stimme, die im Saal widerhallte, »ist eine sagenhaft dumme Idee.«

Zu Beginn seiner politischen Laufbahn hatte er sich mit seiner Unverblümtheit Zorn zugezogen. Nun aber ertappte er etliche Senatoren beim Schmunzeln. Sie erwarteten es von ihm – hießen es sogar gut. Sie wussten, wie viele Probleme das Becken hatte, und waren froh, dass jemand bereit war, sie offen anzusprechen.

»Die Spannungen mit den Malwischen sind so groß wie nie zuvor«, sagte Wax. »In dieser Situation müssen wir zusammenstehen und dürfen nicht auch noch Keile zwischen unsere Städte treiben!«

»Es geht doch ums Zusammenstehen!«, rief jemand. Es war Melstrom, der Senator der Hafenarbeiter. Er war kaum mehr als eine Marionette von Hasting und Erikell, zwei Adligen, die Wax ein schmerzhafter Dorn im Auge waren. »Wir brauchen einen Führer für das gesamte Becken. Offiziell!«

»Einverstanden«, sagte Wax. »Aber wenn der Gouverneur von Elantel, der nur von Leuten aus Elantel gewählt wurde, auf diese Position gehoben wird, wie soll das ein Zusammenstehen befördern?«

»Sie haben dann jemanden, zu dem sie aufschauen können. Einen starken, fähigen Führer.«

Und der da, dachte Wax mit einem Seitenblick auf Varlance, soll ein fähiger Führer sein? Wir können von Glück sagen, dass er in den Senatssitzungen zuhört und nicht den Terminplan für seine öffentlichen Auftritte durchgeht. Während seiner bisherigen, zweijährigen Amtszeit hatte Varlance siebzehn Parks in der Stadt umgewidmet. Er mochte Blumen.

Wax blieb bei seinem Plan, holte seine Medaille heraus und schnippte sie in die Luft. »Vor sechs Jahren«, sagte er, »hatte ich ein kleines Abenteuer. Ihr wisst alle davon. Ich habe das Wrack eines malwischen Luftschiffes gefunden und eine Verschwörung der äußeren Städte vereitelt, die ihre Geheimnisse gegen Elantel einsetzen wollten. Das habe ich verhindert. Ich habe die Bänder der Trauer zurückgebracht, damit sie sicher verwahrt werden konnten.«

»Und Sie haben beinahe einen Krieg losgetreten«, murmelte jemand weiter hinten.

»Wäre es Ihnen lieber gewesen, ich hätte die Verschwörer gewähren lassen?«, rief Wax. Als keine Antwort kam, schnippte er die Medaille erneut nach oben und fing sie wieder auf. Es war eine der Medaillen, die sich auf die Schwerkraft auswirkten und die die Malwischen benutzten, um ihre Luftschiffe so leicht zu machen, dass sie flogen. »Möchte irgendjemand hier in diesem Saal meine Treue zu Elantel infrage stellen? Dann können wir uns gerne duellieren. Ich lasse Sie auch zuerst schießen.«

Schweigen. Das hatte er sich verdient. Viele Leute in diesem Saal mochten ihn nicht, aber sie hatten Respekt vor ihm. Und sie wussten, dass er kein Agent der äußeren Städte war.

Er warf die Medaille hoch und drückte sie bis zur Decke hinauf. Im Licht schimmernd, segelte sie wieder herab. Als er sie auffing, warf er einen Blick zu Admiralin Jonnes, der derzeitigen Botschafterin der Malwischen. Sie hatte einen besonderen Platz im Plenum, wo auch die Bürgermeister der äußeren Städte platziert wurden, wenn sie eine Sitzung besuchten. Zu dieser Sitzung waren allerdings keine erschienen. Ein sichtbares Zeichen ihrer Wut.

Sollte dieses Gesetz verabschiedet werden, stünde der Gouverneur von Elantel über allen Bürgermeistern der äußeren Städte – und konnte in lokale Streitereien eingreifen. Das ging so weit, dass er einen Bürgermeister absetzen, Sonderwahlen veranlassen und Kandidaten genehmigen konnte. Wax war zwar durchaus damit einverstanden, dass ein zentraler Regierungschef ein wichtiger Schritt zur Einigung des Beckens wäre, aber dieser Gesetzesentwurf war schlicht eine Beleidigung für alle Menschen außerhalb der Hauptstadt.

»Ich kenne unsere Lage«, sagte Wax und drehte die Medaille in seiner Hand. »Besser als ihr alle. Ihr wollt den Malwischen gegenüber Stärke demonstrieren. Ihr wollt beweisen, dass wir unsere Städte dazu bringen können, sich unserer Herrschaft zu beugen. Und deshalb schlagt ihr ein solches Gesetz vor. Aber das unterstreicht doch nur, warum alle anderen so wütend auf Elantel sind! Die Revolutionäre in den äußeren Städten wären ohne die Unterstützung der Leute nie so weit gekommen. Wären die Menschen dort draußen nicht so verdammt wütend auf unsere Handelsbestimmungen und unsere allgemeine Überheblichkeit, dann wären wir nicht in dieser Lage. Mit diesem Gesetz werden wir sie nicht besänftigen! Es ist keine ›Demonstration der Stärke‹. Es ist gezielt so formuliert, dass es die Leute auf die Barrikaden bringt. Wenn wir dieses Gesetz verabschieden, öffnen wir dem Bürgerkrieg Tür und Tor.«

Er ließ seine Worte wirken. Die anderen waren so fest entschlossen, gegen äußere Feinde stark zu erscheinen. Aber wenn man sie gewähren ließ, würden sie sich selbst in einen Krieg aufgrund innerer Zwistigkeiten treiben lassen. Das Problem der Malwischen existierte, war aber nicht so unmittelbar. Ein Bürgerkrieg jedoch wäre verheerend.

Das Schlimmste dabei war, dass es jemand im Geheimen darauf anlegte. Wax war überzeugt, dass sich der Kreis einmal mehr in die Politik Elantels einmischte. Seine . . . Schwester war darin verwickelt. Er wusste nicht genau, weshalb sie einen Bürgerkrieg wollten, aber sie strebten ihn schon seit mehreren Jahren an. Und wenn Wax nicht einschritt, würde er den wahren Feinden in die Hände spielen, und sowohl die Eliten hier im Saal als auch die Revolutionäre draußen in den Städten hätten am Ende Grund zur Klage.

Wax zog den Papierstapel aus seiner Tasche. Er steckte das Hundebild nach hinten und hielt die anderen in die Höhe. »Ich habe hier sechzig Briefe von Politikern in den äußeren Städten. Sie repräsentieren eine große Fraktion, die keinen Konflikt wünscht. Das sind vernünftige Leute. Sie sind gewillt – begierig darauf –, mit Elantel zusammenzuarbeiten. Aber sie fürchten gleichzeitig die Reaktion ihrer Mitbürger, wenn wir fortfahren, ihnen tyrannische Vorschriften aufzuerlegen. Ich schlage vor, dass wir diesen Gesetzesentwurf ablehnen und an einem besseren arbeiten. Einem, der tatsächlich für Frieden und Einigkeit steht. Eine Nationalversammlung mit Repräsentanten aller äußeren Städte – und ein gewähltes offizielles Oberhaupt, das von dieser Versammlung ins Amt gesetzt wird.«

Er hatte mit Buhrufen gerechnet und erntete auch ein paar. Doch der Großteil des Saales schwieg und starrte ihn und seine in die Höhe gehobenen Briefe an. Sie hatten Angst davor, Macht aus der Hauptstadt wegzugeben. Hatten Angst, dass der politische Einfluss der äußeren Städte ihre Kultur verändern würde. Sie waren Feiglinge.

Vielleicht war er auch einer, denn die Vorstellung, dass der Kreis die Strippen zog, erschreckte ihn. Wer von denen, die ihn nun anstarrten, war im Geheimen einer seiner Agenten? Rost noch eins, er verstand noch nicht einmal das Motiv des Kreises. Sie wollten Krieg – als Mittel, um Macht zu gewinnen. Aber da war noch etwas anderes.

Sie erhielten ihre Befehle von etwas, das Trell hieß.

Wax wandte sich langsam ab, die Briefe noch immer in der Hand. Ein Schreck durchfuhr ihn, als er Melstrom den Rücken zukehrte. Er wird auf mich schießen, dachte er.

»Bei allem Respekt, Großherr Ladrian«, sagte Melstrom. »Sie sind ein junger Vater und wissen offenbar nicht, wie man Kinder erzieht. Man lässt sich nicht auf ihre Forderungen ein. Man bleibt fest im Wissen, dass die eigenen Entscheidungen das Beste für das Kind sind. Irgendwann wird es das erkennen. Was dem Sohn der Vater ist, das ist Elantel den äußeren Städten.«

In den Rücken, dachte Wax und drehte sich um.

Er antwortete nicht sogleich. Man musste behutsam vorgehen, wenn man Gegenfeuer eröffnete. Er hatte diese Argumente schon oft – meistens im Privaten – vor vielen der anwesenden Senatoren vorgebracht. Er verzeichnete Fortschritte, aber er brauchte noch mehr Zeit. Mit diesen Briefen konnte er erneut auf die Senatoren einzeln zugehen, auf die Unentschiedenen, und ihnen die Inhalte und Ideen zeigen. Sie überreden.

Fände die Wahl heute statt, würde das Gesetz verabschiedet werden, sagte ihm sein Bauchgefühl. Deshalb war er nicht hergekommen, um seine Argumente zu wiederholen. Sondern er war mit einer Kugel in der Trommel gekommen, schussbereit.

Er faltete die Briefe zusammen und steckte sie in aller Gemütsruhe in seine Tasche. Dann nahm er den kleineren Stapel – nur zwei Blätter – aus der Tasche. Diejenigen, von denen Steris zusätzliche Exemplare mitgebracht hatte für den Fall, dass er sie vergessen würde. Vermutlich hatte sie auch vom anderen Stapel Kopien angefertigt. Und von sieben anderen Sachen, von denen sie wusste, dass er sie nicht brauchen würde – aber sie fühlte sich besser, wenn sie sie für alle Fälle in ihrer Tasche hatte. Rost, diese Frau war das reinste Entzücken.

Wax hielt die Blätter in die Höhe und drehte sie demonstrativ umständlich, um sie zum Lesen ins Licht zu halten. »Teurer Melstrom«, las er laut vor, »es freut uns, dass Sie bereit sind, Vernunft anzunehmen und weiterhin Elantels Handelsvormacht im Becken durchzusetzen. Das ist eine weise Entscheidung. Wir lassen Ihnen während der nächsten drei Jahre ein halbes Prozent unserer Exporterlöse zukommen im Tausch gegen Ihre persönliche Unterstützung dieses Gesetzesentwurfs. Die Häuser Hasting und Erikell.«

Im Saal brach Tumult aus. Wax machte es sich bequem, schob seinen Finger in den Pistolengürtel und wartete ab, bis die entrüsteten Ausrufe verklungen waren. Er sah Melstrom in die Augen, als dieser auf seinen Platz sank. Der rostige Idiot hatte soeben eine wichtige Lektion gelernt: Lass keine schriftlichen Beweise deiner Korruption zurück, wenn dein politischer Gegner ein gelernter Detektiv ist. Idiot.

Als wieder Ruhe eingekehrt war, sprach Wax etwas lauter weiter. »Ich verlange, dass der Fall des Senators Melstrom, der seine Stimme offensichtlich verkauft und damit unverfroren gegen das Antikorruptionsgesetze verstoßen hat, eingehend untersucht wird.«

»Und mit dieser Untersuchung«, sagte der Gouverneur, »soll die Abstimmung über das Elantelische Suprematsgesetz hinausgezögert werden?«

»Wie sollen wir darüber abstimmen«, erwiderte Wax, »solange wir nicht wissen, ob die Stimmen gekauft sind?«

Noch mehr Empörung. Wax ließ sie an sich abprallen, während der Gouverneur sich mit seiner Vizegouverneurin besprach. Sie war schlau. Was Varlance zuwege brachte und was über das Durchtrennen eines Bandes oder das Küssen eines Babys hinausging, war vermutlich ihr Werk.

Während sich der Saal beruhigte, richtete der Gouverneur den Blick auf Wax. »Ich hoffe, dass Sie die Authentizität dieses Briefes beweisen können, Ladrian.«

»Ich habe eidesstattliche Erklärungen von drei voneinander unabhängigen Handschriftenexperten, die besagen, dass er keine Fälschung ist«, erklärte Wax. »Und Sie bekommen einen ausführlichen und unanfechtbaren Bericht meiner Frau darüber, wie ich an diesen Brief gekommen bin.«

»Dann werden wohl Vernehmungen stattfinden müssen«, sagte der Gouverneur. »Nach der Abstimmung über das Suprematsgesetz.«

»Aber . . .«, sagte Wax.

»Wir werden«, unterbrach ihn der Gouverneur, »Melstrom, Hasting und Erikell keine Stimme bei dieser Wahl zuerkennen. Damit stellen wir sicher, dass die Abstimmung nicht korrumpiert wird.«

Verdammt!

Verdammt, verdammt, verdammt!

Bevor er etwas entgegnen konnte, klopfte die Vizegouverneurin mit ihrem Hammer. »Wer ist dafür fortzufahren?«

Die meisten Hände im Senat gingen hoch. Für eine derart einfache Frage reichte eine informelle Abstimmungsmethode – es sei denn, das Ergebnis war sehr knapp. Aber es war nicht knapp.

Die Abstimmung über das Gesetz würde nicht aufgeschoben werden.

»Haben Sie noch mehr Sprengstoff für uns, Ladrian?«, fragte der Gouverneur. »Oder können wir weitermachen?«

»Keinen weiteren Sprengstoff, Euer Ehren«, sagte Wax mit einem Seufzen. »Das war ohnehin die Spezialität meines alten Partners. Aber ich habe noch eine letzte Bitte an den Senat.« Sein Manöver war gescheitert. Nun hatte er noch einen letzten Trumpf im Ärmel. Ein Ersuchen, aber nicht von Waxillium Ladrian.

Sondern von Morgenschuss, dem Gesetzeshüter.

»Ihr kennt mich«, sagte er und drehte sich dabei im Kreis, um allen der Reihe nach ins Gesicht zu schauen. »Ich bin ein einfacher Mann aus den Raulanden. Ich bin kein richtiger Politiker, aber ich verstehe sehr wohl die Wut und das schwere Leben der schuftenden Männer und Frauen. Wenn wir die Rollen von Eltern einnehmen wollen, dann sollten wir unsere Kinder gut behandeln. Wir sollten ihnen Gelegenheit geben, für sich selbst zu sprechen. Wenn wir weiter so tun, als wären sie Säuglinge, werden sie uns bald nur noch ignorieren – im besten Fall. Ihr wollt eine Botschaft aussenden? Dann sendet die Botschaft aus, dass sie uns etwas bedeuten und dass wir bereit sind, ihnen zuzuhören.«

Nun endlich nahm er neben Yancey Yaceczko Platz, einem freundlichen und geduldigen Kerl – und einem der Senatoren, die auf Wax hörten.

»Guter Auftritt, Wax«, flüsterte er ihm zu. »Wirklich ein guter Auftritt. Immer wieder eine Freude.«

Yancey würde für ihn stimmen. Eine ganze Reihe von Adligen sympathisierten mit Wax. Marasi hatte in letzter Zeit zwar einiges geäußert, was ihm seine vererbte Stellung unangenehm machte, aber in diesem Punkt waren die Großherren womöglich sogar etwas weniger korrupt als ihre Gegenparts. Die gewählten Senatoren mussten sich ihre Sitze sichern, und wenn sie für dieses Gesetz stimmten, taten sie etwas für ihre Wähler.

Das war die Krux. Laut der letzten Volkszählung lebten mehr Menschen außerhalb der Stadt als innerhalb. Die meisten Gesetze gingen auf eine Zeit zurück, als es eine Stadt und einen Haufen Bauerndörfer gegeben hatte. Doch nun, wo diese Dörfer zu Städten angewachsen waren, wollten ihre Einwohner im Becken auch mehr zu sagen haben.

Elantel war nicht mehr die schäbige Siedlung, die nach der Apokalypse wiederaufgebaut worden war. Es war eine Nation. Selbst die Raulande veränderten sich, wuchsen, wurden moderner. Rost, angesichts der schieren Größe der Raulande konnte Wax sich vorstellen, dass dort irgendwann einmal mehr Menschen leben würden als im eigentlichen Becken.

Sie mussten diesen Menschen ein Wahlrecht geben und durften sie nicht ignorieren. Er hatte noch immer Hoffnung. Er und Steris und ihre Verbündeten hatten monatelang daran gearbeitet, die Unterstützung dieses Gesetzes zu unterhöhlen. Unzählige Diners, Partys und – das hatte er für ein paar Mitglieder der städtischen Oberschicht eingeführt – Unterricht auf dem Schießstand.

Alles im Namen der Veränderung. Eine Stimme nach der anderen.

Der Gouverneur rief zur Abstimmung, und Herrin Mi’chelle Yomen gab die erste Stimme ab – gegen das Gesetz. Wax empfand an seinem Platz dieselbe Bangigkeit, die ihn vor einer Begegnung mit Banditen erfüllte. Rost . . . das hier war in gewisser Weise noch schlimmer. Jede Stimme war ein Peitschenknall. Herrin Faula und Senator Vindel. Wie werden sie abstimmen? Und Maraya? Hatte man sie überzeugt oder . . .

Zwei von ihnen stimmten für das Gesetz sowie zahlreiche andere, bei denen er unsicher gewesen war. Wax verlor allmählich die Hoffnung; es war schlimmer, als wenn auf einen geschossen wurde – und am Ende stimmten 122 dafür und 118 dagegen.

Das Gesetz wurde verabschiedet. Ihm war übel. Wenn Wax einen Bürgerkrieg verhindern wollte, dann musste er sich ein anderes Vorgehen einfallen lassen.