Krieger des Feuers - Brandon Sanderson - E-Book
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Krieger des Feuers E-Book

Brandon Sanderson

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Beschreibung

Dem Rebellenanführer Kelsier und seiner Armee von Nebelgeborenen ist es gelungen, endlich den tyrannischen Obersten Herrscher zu stürzen! Eine Jahrtausende währende Ära der Unterdrückung geht damit zu Ende, das Volk der Skaa ist endlich frei. Doch wie geht es weiter, wenn der Feind besiegt ist? Vin und ihr Geliebter Elant Wager, der neue König des Zentralen Dominiums, müssen nun das Land aus den Trümmern in ein neues Zeitalter führen – und sehen sich dabei vor große Herausforderungen gestellt: Denn die alten Machthaber geben nicht so einfach auf und ein sagenumwobener Schatz ruft feindliche Armeen auf den Plan. Kann die geheimnisvolle Quelle der Erhebung den Nebelgeborenen helfen? Weitere Bände der Reihe: Erstes Zeitalter der Nebelgeborenen: Kinder des Nebels (Band 1) Krieger des Feuers (Band 2) Held aller Zeiten (Band 3) Zweites Zeitalter der Nebelgeborenen (»Wax & Wayne«-Reihe): Hüter des Gesetzes (Band 4) (vormals erschienen als: Jäger der Macht) Schatten über Elantel (Band 5) Bänder der Trauer (Band 6) Metall der Götter (Band 7)

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Seitenzahl: 1358

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Siefener

 

ISBN 978-3-492-99243-5

© Dragonsteel Entertainment LLC 2007

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Well of Ascension (Mistborn 2)«, Tor Books, New York 2007

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, München 2010

Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Michael Siefener liegen beim Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Karten und Illustrationen: Isaac Stewart

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Erster Teil - Die Erbin des Überlebenden

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Zweiter Teil - Gespenster im Nebel

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Dritter Teil - Der König

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Vierter Teil - Messer

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Fünfter Teil - Schnee und Asche

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Sechster Teil - Worte in Stahl

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Epilog

Ars Arcanum

Zusammenfassung des ersten Buches

Danksagung

 

Für Phyllis Call,

die meine Fantasy-Werke zwar vielleicht nie verstehen wird,

die mir aber mehr über das Leben – und dadurch auch über das Schreiben – beigebracht hat, als ihr vermutlich bewusst ist.

(Danke, Grandma!)

 

 

Erster Teil

Die Erbin des Überlebenden

Ich schreibe diese Worte in Stahl, denn man kann nichts trauen, das nicht in Metall bewahrt ist.

Kapitel 1

Die Armee kroch wie ein dunkler Fleck über den Horizont. König Elant Wager stand reglos auf der Stadtmauer von Luthadel und beobachtete die feindlichen Truppen. Um ihn herum fiel die Asche in fetten, trägen Flocken vom Himmel. Es war nicht die verbrannte weiße Asche, die man zwischen toten Kohlen sehen konnte. Diese hier war von tieferem, gröberem Schwarz. In der letzten Zeit waren die Ascheberge besonders aktiv gewesen.

Elant spürte, wie ihm die Asche Gesicht und Kleidung bestäubte, doch er achtete nicht weiter darauf. In der Ferne stand die blutrote Sonne kurz vor dem Untergang. Von hinten erleuchtete sie die Armee, die heranrückte, um sein Königreich zu vernichten.

»Wie viele?«, fragte Elant leise.

»Unserer Schätzung nach fünfzigtausend«, antwortete Hamm, der gegen die Brustwehr gelehnt stand und die fleischigen Arme verschränkt auf den Stein gelegt hatte. Wie alle anderen Mauern in der Stadt war auch diese schwarz von den zahllosen Jahren des Ascheregens.

»Fünfzigtausend Soldaten …«, wiederholte Elant und verstummte. Trotz umfangreicher Rekrutierungsmaßnahmen hatte Elant kaum zwanzigtausend Männer unter seinem Kommando – und es handelte sich bei ihnen um Bauern, die weniger als ein Jahr ausgebildet worden waren. Bereits der Unterhalt dieser kleinen Armee stellte eine große finanzielle Belastung für ihn dar. Wenn es ihnen gelungen wäre, das Atium des Obersten Herrschers zu finden, sähe die Sache nun anders aus. Doch so wurde Elants Herrschaft von einer wirtschaftlichen Katastrophe bedroht.

»Was denkst du gerade?«, fragte er.

»Ich weiß nicht, El«, antwortete Hamm ruhig. »Kelsier war derjenige mit den Visionen.«

»Aber du hast ihm bei der Planung geholfen«, beharrte Elant. »Du und die anderen, ihr wart seine Mannschaft. Ihr wart diejenigen, die eine Strategie zum Sturz des Reiches entworfen haben, und ihr habt sie in die Tat umgesetzt.«

Hamm schwieg, und Elant glaubte zu wissen, was der Mann nun dachte. Kelsier war der Mittelpunkt von allem. Er war derjenige, der alles organisiert hat, der die Einfälle gesammelt und sie in eine durchführbare Operation umgewandelt hat. Er war der Anführer. Das Genie.

Und er war vor einem Jahr gestorben – am selben Tag, an dem sich die Bevölkerung als Teil seines geheimen Plans wütend erhoben hatte, um ihren gottgleichen Herrscher zu stürzen. In dem darauffolgenden Chaos hatte Elant den Thron bestiegen.

Doch nun sah es immer mehr so aus, als würde er alles verlieren, wofür Kelsier und seine Mannschaft so hart gekämpft hatten. Es bestand die Gefahr, dass sie einem Tyrannen unterlagen, der möglicherweise noch schlimmer war als der Oberste Herrscher, einem unbedeutenden, verschlagenen Grobian in Gestalt eines »Adligen.« Er war es, dessen Armee nun auf Luthadel zumarschierte.

Elants eigener Vater. Straff Wager.

»Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass du ihm den Angriff ausreden kannst?«, fragte Hamm.

»Vielleicht«, meinte Elant zögernd. »Vorausgesetzt, der Rat kapituliert nicht einfach.«

»Ist es schon so weit gekommen?«

»Ich weiß es ehrlich nicht. Aber ich befürchte es. Die Armee hat Angst und Schrecken verbreitet, Hamm.« Und dazu gibt es guten Grund, dachte er. »Wie dem auch sei, ich werde bei der Zusammenkunft in zwei Tagen einen Vorschlag unterbreiten und versuchen, sie von jeglichen vorschnellen Entscheidungen abzubringen. Docksohn ist heute zurückgekommen, nicht wahr?«

Hamm nickte. »Kurz bevor die Armee angerückt ist.«

»Ich bin der Meinung, wir sollten die Mannschaft zu einer Versammlung einberufen«, schlug Elant vor. »Vielleicht finden wir einen Ausweg.«

»Wir sind aber nicht vollzählig«, sagte Hamm und rieb sich das Kinn. »Spuki wird erst nächste Woche zurückkommen, und nur der Oberste Herrscher weiß, wo Weher steckt. Wir haben schon seit Monaten nichts mehr von ihm gehört.«

Elant seufzte. »Ich habe keine andere Idee, Hamm.« Er drehte sich um und richtete den Blick wieder auf die aschebedeckte Landschaft. Die Armee entzündete Lagerfeuer, als die Sonne unterging. Bald würden die Nebel erscheinen.

Ich muss zurück in den Palast gehen und an diesem Friedensangebot arbeiten, dachte Elant.

»Wo ist eigentlich Vin?«, fragte Hamm, während er sich wieder Elant zuwandte.

Elant zögerte, dann sagte er: »Weißt du, ich habe keine Ahnung.«

 

Vin landete sanft auf den feuchten Pflastersteinen und sah zu, wie sich die Nebel um sie herum bildeten. Sie schwollen an, während sich die Dunkelheit niedersenkte, und schienen zu wachsen wie durchsichtige Ranken, die sich umeinanderschlangen und -wanden.

Es war still in der großen Stadt Luthadel. Selbst jetzt noch, ein Jahr nach dem Tod des Obersten Herrschers und der Errichtung von Elants neuer, freiheitlicher Regierung, blieben die einfachen Leute nachts in ihren Häusern. Sie hatten Angst vor dem Nebel; das lag nicht nur in den früheren Gesetzen des Obersten Herrschers, sondern vor allem in viel älteren und tieferen Traditionen begründet.

Leise huschte Vin vorwärts und spannte all ihre Sinne an. In ihr verbrannte sie wie immer Zinn und Weißblech. Zinn verstärkte ihre Sinne und ermöglichte es ihr daher, in der Nacht zu sehen. Das Weißblech machte ihren Körper kräftiger und ihre Füße leichter. Fast die ganze Zeit über ließ sie diese beiden Metalle brennen – zusammen mit Kupfer, das die Macht besaß, ihren Gebrauch der Allomantie vor denjenigen, die Bronze verbrannten, geheim zu halten.

Manch einer war der Meinung, sie leide unter Verfolgungswahn. Sie hingegen empfand sich lediglich als gut vorbereitet. Wie dem auch sei, diese Angewohnheit hatte ihr schon oft das Leben gerettet.

Sie näherte sich einer stillen Straßenecke, blieb stehen und spähte umher. Nie hatte sie wirklich verstanden, wie das Verbrennen von Metallen vor sich ging, doch sie benutzte Allomantie schon ihr ganzes Leben hindurch. Bevor sie von Kelsier in deren Gebrauch ausgebildet worden war, hatte Vin sie instinktiv eingesetzt. Es war ihr gleichgültig. Sie war nicht wie Elant; sie brauchte nicht für alles eine logische Erklärung. Ihr reichte es, wenn sie kleine Metallteile schluckte und dann deren Macht für sich nutzen konnte.

Es war eine Macht, die sie sehr schätzte, denn sie wusste genau, wie es war, wenn sie ihr nicht zur Verfügung stand. Selbst jetzt war Vin nicht gerade das, was man eine Kriegerin genannt hätte. Sie war schmal und schlank, kaum fünf Fuß groß, hatte dunkle Haare und eine blasse Haut, und sie wirkte sehr zerbrechlich. Zwar war sie nicht mehr so unterernährt wie während ihrer Kindheit, die sie auf der Straße verbracht hatte, aber sie hinterließ keineswegs einen einschüchternden Eindruck.

So mochte sie es. Es verschaffte ihr einen Vorteil – und sie konnte jeglichen Vorteil gebrauchen.

Sie liebte die Nacht. Während des Tages war Luthadel trotz seiner Größe übervölkert und einengend. Doch nachts senkte sich der Nebel wie eine dichte Wolke herab. Er machte alles feucht, dämpfte jedes Geräusch und nahm die Sicht. Massige Festungen wurden zu schattenumwobenen Bergen, und überfüllte Wohnhäuser schmolzen wie die Ausschussware eines Kerzenziehers dahin.

Vin kauerte sich neben das Haus und beobachtete die Kreuzung. Vorsichtig tastete sie in sich hinein und verbrannte Stahl – eines der anderen Metalle, die sie zuvor geschluckt hatte. Sofort flackerte eine Reihe blauer, durchscheinender Linien um sie herum auf. Sie waren nur für ihre Augen sichtbar, nahmen ihren Ausgang in ihrem Brustkorb und deuteten auf Metallquellen in der Nähe hin – auf Metalle jeder möglichen Art. Die Dicke dieser Linien entsprach der Größe jener Metallstücke, auf die sie wiesen. Einige zeigten auf bronzene Türklinken, andere auf grobe Eisennägel, welche die Bretter zusammenhielten.

Sie wartete schweigend. Keine der Linien bewegte sich. Das Verbrennen von Stahl war eine einfache Möglichkeit festzustellen, ob sich jemand in der Nähe befand. Wenn diese Person Metall bei sich trug, würden sich die auf sie weisenden blauen Linien verräterisch bewegen. Natürlich war das nicht der Hauptzweck des Verbrennens von Stahl. Vorsichtig steckte Vin eine Hand in den Beutel an ihrem Gürtel und holte eine der vielen Münzen heraus, die in Stofftücher eingewickelt darin lagen. Wie zu allen anderen Metallstücken auch wies nun eine blaue Linie aus Vins Brustkorb auf diese Münze.

Sie warf das Geldstück in die Luft, packte mit ihren geistigen Kräften die zu ihm führende Linie und drückte innerlich gegen die Münze, während sie noch mehr Stahl verbrannte. Das Geldstück schoss davon, beschrieb einen Bogen im Nebel und schlug klimpernd auf die Straßenmitte.

Die Nebelschwaden wickelten sich weiterhin umeinander. Sie waren dicht und wirkten selbst auf Vin geheimnisvoll. Sie waren undurchdringlicher als gewöhnlicher Nebel und beständiger als jedes normale Wetterphänomen; sie wanden und drehten sich und erschufen kleine Ströme um Vin herum. Ihr Blick vermochte den Dunst jetzt zu durchdringen, denn das Zinn schärfte ihre Augen. Die Nacht schien nun heller und der Nebel weniger dicht zu sein. Doch er war immer noch da.

Ein Schatten bewegte sich auf dem Marktplatz, nachdem Vin ihre Münze geworfen hatte. Es war ein Zeichen gewesen. Vin schlich vorwärts und erkannte OreSeur, den Kandra. Er trug eine andere Robe als vor einem Jahr, während er die Rolle des Grafen Renoux gespielt hatte. Doch dieser kahlköpfige, unauffällige Körper war Vin inzwischen vertraut geworden.

OreSeur kam auf sie zu. »Habt Ihr gefunden, wonach Ihr gesucht habt, Herrin?«, fragte er in respektvollem Tonfall, der trotzdem ein wenig feindselig klang. Wie immer.

Vin schüttelte den Kopf. Und schaute sich rasch in der Dunkelheit um. »Vielleicht habe ich mich geirrt«, sagte sie. »Vielleicht ist mir doch niemand gefolgt.« Dieses Eingeständnis machte sie ein wenig traurig. Sie hatte sich darauf gefreut, heute Nacht mit dem Wächter einen kleinen Kampf auszutragen. Noch immer wusste sie nicht, wer er war; in der ersten Nacht hatte sie ihn für einen gedungenen Mörder gehalten. Vielleicht war er das sogar. Doch er zeigte nur sehr wenig Interesse an Elant – und dafür ein umso größeres an Vin.

»Wir sollten zurück zur Mauer gehen«, beschloss Vin und stand auf. »Elant wird sich schon fragen, wo ich bin.«

OreSeur nickte. In diesem Augenblick schoss ein wahrer Hagel aus Münzen durch die Luft und auf Vin zu.

Inzwischen frage ich mich, ob ich der einzige Mensch bin, der noch bei geistiger Gesundheit ist. Können die anderen es denn nicht sehen? Sie haben so lange auf ihren Helden gewartet – auf denjenigen, der in den Prophezeiungen von Terris genannt wird –, dass sie inzwischen ihre Schlussfolgerungen zu schnell ziehen und glauben, jede Geschichte und Legende beziehe sich nur auf diesen einen Mann.

Kapitel 2

Vin reagierte sofort und sprang zur Seite. Sie bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit; die Stoffstreifen ihres Mantels umwirbelten sie, als sie über die feuchten Pflastersteine schlitterte. Die Münzen schlugen hinter ihr auf den Boden. Steinsplitter stoben auf und zogen Spuren durch den Nebel, während sie davonflogen.

»Lauf weg, OreSeur!«, fuhr sie ihn an, obwohl er bereits auf eine nahe gelegene Gasse zustürmte.

Vin kauerte sich zusammen, berührte mit Händen und Füßen die kühlen Steine. Allomantische Metalle flammten in ihrem Bauch auf. Sie verbrannte Stahl und sah, wie die durchscheinenden blauen Linien um sie herum erschienen. Angespannt wartete sie und hielt Ausschau nach …

Eine weitere Münzsalve schoss aus dem dunklen Nebel auf sie zu; jedes einzelne Geldstück zog eine blaue Linie hinter sich her. Sofort fachte Vin ihren Stahl an, drückte mit ihrer inneren Kraft gegen die Münzen und schleuderte sie in die Finsternis zurück.

Wieder war es still in der Nacht.

Die Straße um sie herum war breit – für Luthadeler Verhältnisse –, auch wenn die Wohnhäuser zu allen Seiten hoch aufragten. Der Nebel regte sich träge und verschluckte die Enden der Straße.

Eine Gruppe von acht Männern erschien aus dem Nebel und näherte sich ihr. Vin lächelte. Sie hatte doch Recht gehabt; jemand verfolgte sie. Aber keiner dieser Männer war der Wächter. Sie besaßen weder dessen massige Anmut, noch verströmten sie wie er ein Gefühl von Macht. Diese Männer waren viel alltäglicher. Es waren Mörder.

Das ergab einen Sinn. Wenn sie soeben mit einer Armee zur Eroberung Luthadels hier angekommen wäre, dann hätte sie als Erstes eine Gruppe Allomanten zur Ermordung Elants losgeschickt.

Sie spürte einen plötzlichen Druck an ihrer Seite und fluchte, als sie das Gleichgewicht verlor. Ihre Münzbörse zerrte am Gürtel. Vin riss sie auf und ließ es zu, dass die feindlichen Allomanten die Münzen von ihr fortschleuderten. Die Mörder hatten mindestens einen Münzwerfer bei sich – einen Nebeling, der die Macht hatte, Stahl zu verbrennen und gegen Metalle zu drücken. Tatsächlich gingen von zwei Angreifern blaue Linien aus. Kurz überlegte Vin, ob sie es ihnen heimzahlen und ihre Börsen ebenfalls wegdrücken sollte, doch sie zögerte. Es war noch nicht nötig, jetzt schon ihre Trümpfe auszuspielen. Möglicherweise brauchte sie die Feindesmünzen noch.

Ohne eigene Münzen konnte sie nicht aus der Ferne angreifen. Doch wenn diese Mörder eine gute Mannschaft bildeten, dann hatte es auch keinen Sinn, sie von fern anzugreifen, denn ihre Münzwerfer und Taumler waren sicherlich in der Lage, mit auf sie abgeschossenen Metallstücken fertigzuwerden. Auch eine Flucht war kein Ausweg. Die Männer waren nicht nur hinter ihr her; wenn sie floh, würden sie sich wieder ihrem eigentlichen Ziel zuwenden.

Niemand schickte Mörder aus, um Leibwächter zu töten. Mörder brachten nur wichtige Leute um. Leute wie Elant Wager, den König des Zentralen Dominiums. Den Mann, den Vin liebte.

Vin fachte Weißblech an. Ihr Körper spannte sich, war auf der Hut, war gefährlich. Vier Schläger vorn, dachte sie, während sie die näher kommenden Männer beobachtete. Die Weißblechverbrenner waren bestimmt übermenschlich stark und konnten ungeheure körperliche Schmerzen aushalten. In geringer Entfernung waren sie sehr gefährlich. Und derjenige, der den hölzernen Schild trägt, ist ein Taumler.

Sie machte einen Ausfall nach vorn, und die herankommenden Schläger wichen sofort zurück. Acht Nebelinge gegen eine Nebelgeborene bedeutete, dass sie leicht im Vorteil waren – aber nur, wenn sie sehr vorsichtig waren. Die zwei Münzwerfer kamen an den Straßenseiten heran und waren so in der Lage, von beiden Seiten gegen Vin zu drücken. Der letzte Mann, der still neben dem Taumler stand, musste ein Raucher sein – er war relativ unwichtig im Kampf und hatte die Aufgabe, seine Mannschaft vor feindlichen Allomanten zu verbergen.

Acht Nebelinge. Kelsier wäre mit ihnen fertiggeworden; er hatte sogar einen Inquisitor umgebracht. Aber sie war nicht Kelsier. Sie musste noch herausfinden, ob das gut oder schlecht für sie war.

Vin holte tief Luft und wünschte sich, sie hätte ein wenig Atium zur freien Verfügung. Stattdessen verbrannte sie Eisen. Dadurch konnte sie an einer Münze in ihrer Nähe ziehen – an einer von denen, mit welchen sie beschossen worden war –, so wie sie mit Hilfe von Stahl gegen sie hätte drücken können. Sie packte das Geldstück, ließ es wieder fallen, sprang hoch und tat so, als wolle sie gegen die Münze drücken und sich in die Luft katapultieren.

Doch einer der Münzwerfer drückte gegen das Geldstück, so dass es wegflog. Da die Allomantie es nur erlaubte, dass jemand einen Gegenstand entweder unmittelbar von sich wegdrückte oder zu sich heranzog, besaß Vin nun plötzlich keine feste Verankerung mehr. Wenn sie gegen die Münze drückte, würde sie seitwärts davonschießen.

Sie ließ sich wieder auf den Boden hinunter.

Sollen sie doch glauben, dass ich in der Falle sitze, dachte sie und kauerte sich mitten auf der Straße zusammen. Die Schläger näherten sich ihr nun zuversichtlicher. Ja, dachte sie. Ich weiß, was in euren Köpfen vor sich geht. Das hier soll die Nebelgeborene sein, die den Obersten Herrscher getötet hat? Dieses magere Ding? Kann das möglich sein?

Das frage ich mich selbst auch.

Der erste Schläger duckte sich zum Angriff, und Vin setzte sich ruckartig in Bewegung. Obsidiandolche blitzten in der Nachtschwärze auf, als Vin sie aus ihren Futteralen zerrte, und Blut sprühte schwarz in der Dunkelheit, nachdem sie unter dem Stab des Schlägers hindurchgeschlüpft war und ihm ihre Waffen in die Oberschenkel gerammt hatte.

Der Mann schrie auf. Nun war die Nacht nicht mehr still.

Die Männer fluchten, als Vin sich zwischen ihnen hin und her bewegte. Der Gefährte des Schlägers griff sie an. Er war ungeheuer schnell; seine Muskeln wurden vom Weißblech befeuert. Mit seinem Stab riss er einen Stoffstreifen von Vins Nebelmantel ab, während sie sich zu Boden warf und aus der Reichweite eines dritten Schlägers rollte.

Ein Regen aus Münzen schlug ihr entgegen. Vin streckte die Hand aus und drückte gegen sie. Doch der Münzwerfer drückte weiter – und Vins Kraft schmetterte gegen seine eigene.

Beim Drücken und Ziehen von Metall ging es immer nur ums Gewicht. Und angesichts der Münzen zwischen ihnen bedeutete dies, dass Vins Gewicht mit dem des Mörders zusammentraf. Beide wurden rückwärtsgeschleudert. Vin schoss aus der Reichweite des einen Schlägers, und der Münzwerfer fiel zu Boden.

Ein Wirbel aus Münzen drang von der anderen Seite auf sie ein. Noch während sie durch die Luft taumelte, verbrannte Vin Stahl und verschaffte sich so ein zusätzliches Maß an Kraft. Die blauen Linien waren eine ineinander verschlungene Masse, doch sie brauchte nicht gegen jede einzelne Münze zu drücken, um sie allesamt fortzuschleudern.

Der Münzwerfer ließ seine Geschosse los, sobald er Vins Berührung spürte. Die Metallstücke zerstreuten sich im Nebel.

Vin traf mit der Schulter voran auf die Pflastersteine. Sie rollte sich herum, während sie Weißblech verbrannte, um ihr Gleichgewicht zu stärken, und sprang auf die Beine. Zugleich verbrannte sie Eisen und zog kräftig an den verschwindenden Münzen.

Sie schossen zurück zu ihr. Sobald sie in Vins Nähe waren, wich sie zur Seite aus und drückte sie auf die herannahenden Schläger zu. Doch die Münzen brachen sofort aus und wirbelten durch den Nebel auf den Taumler zu. Er konnte sie nicht wegdrücken. Wie alle Nebelinge besaß er nur eine einzige allomantische Kraft, und diese bestand bei ihm darin, an Eisen ziehen zu können.

Das allerdings tat er mit großem Geschick und schützte so die Schläger. Er hob seinen Schild und ächzte unter dem Ansturm der Münzen auf, die von dem Holz abprallten.

Vin war schon wieder in Bewegung. Nun rannte sie auf den schutzlosen Münzwerfer links von ihr zu, der gestürzt war. Der Mann schrie vor Überraschung auf, und der andere Münzwerfer versuchte Vin abzulenken, doch er war zu langsam.

Der Münzwerfer starb mit einem Dolch in seinem Brustkorb. Er war kein Schläger und konnte daher kein Weißblech verbrennen, um seinen Körper zu stärken. Vin zog ihren Dolch heraus und riss ihm dann die Börse vom Gürtel. Er gurgelte leise, bäumte sich kurz auf und brach zusammen.

Einer, dachte Vin, als sie so heftig herumwirbelte, dass ihr der Schweiß von der Stirn flog. Nun stand sie den übrigen sieben Männern in der korridorartigen Straße gegenüber. Vermutlich erwarteten sie, dass Vin floh. Doch stattdessen griff sie an.

Als sie nahe genug an die Schläger herangekommen war, sprang sie – und schleuderte dann die Börse, die sie dem Sterbenden abgenommen hatte, zu Boden. Der übrig gebliebene Münzwerfer schrie auf und drückte die Börse sofort beiseite. Doch Vin stieß sich an den Münzen ab und sprang über die Köpfe der Schläger hinweg.

Einer von ihnen – der Verwundete – war unglücklicherweise klug genug gewesen zurückzubleiben, um den Münzwerfer zu schützen. Der Schläger hob seine Keule in dem Augenblick, in dem Vin landete. Unter seinem ersten Angriff duckte sie sich weg. Sie hob den Dolch und …

Eine blaue Linie tanzte in ihr Blickfeld. Schnell. Vin reagierte unverzüglich, wand sich, drückte gegen eine Türklinke und schleuderte sich dadurch aus dem Weg. Sie prallte seitlich zu Boden, stützte sich sofort mit der Hand ab, schlitterte mit feuchten Füßen über das Pflaster und kam endlich zum Stillstand.

Eine Münze schlug auf den Boden hinter ihr und prallte von den Steinen ab. Sie war nicht einmal in Vins Nähe gekommen. Vielmehr schien sie auf den verbliebenen Münzwerfer gezielt gewesen zu sein. Vermutlich war er gezwungen gewesen, sie wegzudrücken.

Aber wer hatte sie geworfen?

OreSeur?, fragte sich Vin. Nein, das war ein dummer Gedanke. Der Kandra war kein Allomant – und außerdem hätte er niemals die Initiative ergriffen. OreSeur tat nur das, was man ihm ausdrücklich auftrug.

Der Münzwerfer wirkte genauso verwirrt wie sie. Vin hob den Blick, fachte ihr Zinn an und wurde mit dem Bild eines Mannes belohnt, der auf dem Dach eines Hauses in der Nähe stand. Er war kaum mehr als ein dunkler Umriss und machte sich nicht einmal die Mühe, sich zu verstecken.

Er ist es, dachte sie. Der Wächter.

Der Wächter blieb auf seinem Posten und mischte sich nicht mehr ein, als die Schläger auf Vin zurannten. Sie fluchte, als sie sah, dass drei Stäbe gleichzeitig auf sie einstürmten. Unter dem einen duckte sie sich hinweg, einen anderen umwirbelte sie, und dem Mann, der den dritten hielt, rammte sie einen Dolch in die Brust. Er taumelte rückwärts, fiel aber nicht. Das Weißblech hielt ihn auf den Beinen.

Warum hat sich der Wächter eingemischt?, dachte Vin, während sie beiseitesprang. Warum hat er dieses Geldstück auf einen Münzwerfer abgeschossen, wo der es doch so offensichtlich wegdrücken konnte?

Ihre Beschäftigung mit dem Wächter hätte sie fast das Leben gekostet, als einer der Schläger sie unbemerkt von der Seite angriff. Es war der Mann, dessen Schenkel sie durchbohrt hatte. Vin konnte ihm gerade noch ausweichen. Doch das brachte sie in die Reichweite der Übrigen drei.

Alle griffen sie nun gleichzeitig an.

Zwei Schlägen konnte sie aus dem Weg hasten, doch einer traf sie mitten in die Seite. Der mächtige Schlag warf sie über die Straße, und sie schlug gegen die Holztür eines Ladens. Sie hörte ein Krachen – glücklicherweise nicht von ihren Knochen, sondern von der Tür – und sackte auf dem Boden zusammen; ihre Dolche hatte sie verloren. Ein gewöhnlicher Mensch wäre nun tot gewesen. Doch ihr von Weißblech gestählter Körper war stärker.

Sie rang nach Luft, zwang sich auf die Beine und verbrannte Zinn. Das Metall verstärkte ihre Sinneskräfte, aber auch ihre Schmerzen, und der plötzliche Schock dieser Empfindungen machte ihren Kopf wieder klar. Ihre Seite tat dort weh, wo sie getroffen worden war. Aber sie durfte nicht reglos dort hocken bleiben. Nicht, während einer der Schläger auf sie zustürmte, seinen Stab über dem Kopf schwang und zu einem schrecklichen Schlag ausholte.

Vin kauerte vor der Tür, fachte Weißblech an und packte den Stab mit beiden Händen. Sie ächzte auf, zog die linke Hand zurück, schmetterte die Faust gegen die Waffe und zerbrach das harte Holz mit einem einzigen Hieb. Der Schläger taumelte, und Vin drosch mit ihrer Hälfte des Stabes auf seinen Kopf ein.

Er war zwar benommen, ging aber nicht zu Boden. Ich komme nicht gegen die Schläger an, dachte sie. Ich muss in Bewegung bleiben.

Sie schoss zur Seite und beachtete ihre Schmerzen nicht. Die Schläger versuchten ihr zu folgen, aber sie war leichter, dünner und – was noch viel wichtiger war – schneller. Sie umkreiste die Angreifer, rannte auf den Münzwerfer, den Raucher und den Taumler zu. Ein verwundeter Schläger hatte sich wieder zurückgezogen und beschützte diese Männer.

Als Vin sich ihnen näherte, schleuderte der Münzwerfer ihr eine Handvoll Geldstücke entgegen. Vin drückte sie beiseite, streckte ihre innere Kraft aus und zog an den Münzen in dem Beutel, den der Mann an seinem Gürtel trug.

Der Münzwerfer grunzte auf, als die Börse auf Vin zupeitschte. Sie war durch ein kurzes Band mit seinem Gürtel verbunden, und die vorwärtsstrebende Macht zerrte ihn ebenfalls nach vorn. Der Schläger packte ihn und hielt ihn fest.

Da sich ihr Anker nicht mehr bewegen konnte, wurde nun Vin auf ihn zugezogen. Sie fachte ihr Eisen an und flog mit erhobener Faust durch die Luft. Der Münzwerfer schrie auf und zerrte an dem Band, um sich von seinem Beutel zu befreien.

Zu spät. Der Schwung trieb Vin vorwärts, und als sie an dem Münzwerfer vorbeiflog, rammte sie ihm die Faust gegen das Kinn. Sein Kopf schnellte zurück, und das Genick brach. Als Vin landete, trieb sie dem überraschten Schläger ihren Ellbogen ins Gesicht und warf ihn nach hinten. Ihr Fuß folgte und trat gegen den Hals des Gegners.

Keiner der beiden Männer stand mehr auf. Nun waren drei ausgeschaltet. Die weggeworfene Geldbörse fiel zu Boden, und hundert glitzernde Kupferstücke rollten über das Pflaster um Vin herum. Sie beachtete den pochenden Schmerz in ihrem Ellbogen nicht und wandte sich dem Taumler zu. Er stand mit seinem Schild da und wirkte seltsam unbesorgt.

Plötzlich ertönte hinter ihr ein knackendes Geräusch. Vin schrie auf; ihre vom Zinn unnatürlich geschärften Ohren reagierten bei diesem unerwarteten Laut über. Schmerz schoss in ihren Kopf, und sie hob die Hände an die Ohren. Sie hatte den Raucher vergessen, der zwei Holzstäbe hochhielt, die dazu gemacht waren, scharfe Laute zu erzeugen, wenn sie gegeneinandergeschlagen wurden.

Bewegung und Reaktion, Aktion und Folgen – darum ging es in der Allomantie. Zinn bewirkte, dass ihre Blicke den Nebel zu durchdringen vermochten, und gab ihr so einen Vorteil vor lauernden Mördern. Doch das Zinn schärfte auch ihr Gehör in extremer Weise. Erneut hob der Raucher die Stäbe. Vin ächzte auf, las eine Handvoll Münzen vom Pflaster auf und warf sie dem Raucher entgegen. Natürlich zog der Taumler sie zu sich heran. Sie trafen gegen den Schild und prallten von ihm ab. Und als sie in die Luft stoben, drückte Vin vorsichtig gegen eine von ihnen, so dass sie hinter dem Taumler zu Boden ging.

Der Mann senkte den Schild; er hatte nicht bemerkt, dass Vin eine der Münzen manipuliert hatte. Nun zog Vin sie mit ihrer inneren Kraft auf sich zu. Sie bohrte sich geradewegs in den Rücken des Taumlers. Er stürzte ohne einen Laut.

Vier.

Es wurde still. Die Schläger, die auf sie zugerannt waren, blieben stehen, und der Raucher senkte seine Stäbe. Nun hatten sie keinen Münzwerfer und keinen Taumler mehr – also niemanden, der an Metall ziehen oder es wegstoßen konnte – und Vin stand inmitten eines Feldes aus Münzen. Wenn sie diese benutzte, würden auch die Schläger rasch zu Boden gehen. Sie musste also nur …

Eine weitere Münze schoss durch die Luft, abgefeuert vom Dach des Wächters. Fluchend duckte Vin sich. Doch die Münze berührte sie nicht. Sie traf den Raucher, der noch seine Stäbe in den Händen hielt, mitten in die Stirn. Der Mann taumelte zurück, starb.

Was?, dachte Vin und starrte den Toten an.

Die Schläger griffen wieder an, doch Vin zog sich verwundert zurück. Warum hat er den Raucher umgebracht? Er war doch keine Bedrohung mehr.

Es sei denn …

Vin löschte ihr Kupfer und verbrannte stattdessen Bronze – das Metall, das ihr verriet, ob noch andere Allomanten in der Nähe ihre Kräfte einsetzten. Sie spürte nicht, wie die Schläger Weißblech verbrannten. Sie wurden noch immer eingeraucht; ihre Allomantie wurde versteckt.

Noch jemand verbrannte Kupfer.

Plötzlich ergab alles einen Sinn. Es ergab einen Sinn, dass diese Gruppe es gewagt hatte, eine Nebelgeborene anzugreifen. Es ergab einen Sinn, dass der Wächter auf den Münzwerfer gefeuert hatte. Er ergab einen Sinn, dass er den Raucher getötet hatte.

Vin schwebte in großer Gefahr.

Ihr blieb nur ein Augenblick, um eine Entscheidung zu treffen. Sie hatte nichts als eine Vorahnung, doch sie war auf der Straße aufgewachsen, war eine Diebin und Betrügerin. Vorahnungen waren oft treffsicherer, als jede Logik es je sein konnte.

»OreSeur!«, schrie sie. »Lauf zum Palast!«

Das war natürlich eine geheime Botschaft. Vin sprang zurück und beachtete die Schläger für den Augenblick nicht, als ihr Diener aus einer Gasse hervorhastete. Er zog etwas aus seinem Gürtel und warf es Vin zu. Es war eine kleine Glasphiole, wie sie die Allomanten zur Aufbewahrung ihrer Metallvorräte benutzten. Rasch zog Vin mit ihrer inneren Kraft die Phiole auf sich zu und ergriff sie. Nicht weit von ihr entfernt fluchte der zweite Münzwerfer – der am Boden gelegen hatte, als wäre er tot – und kam auf die Beine.

Vin wirbelte herum und trank den Inhalt der Phiole mit einem raschen Schluck. Sie hatte nur eine einzige Metallkugel enthalten. Atium. Vin konnte es nicht riskieren, sie an ihrem Körper zu tragen, denn sie durfte sich nicht der Gefahr aussetzen, dass ihr die Phiole während eines Kampfes abgenommen wurde. Sie hatte OreSeur befohlen, diese Nacht in ihrer Nähe zu bleiben, damit er ihr in einem Notfall das Atium geben konnte.

Der »Münzwerfer« zog einen verborgenen Glasdolch aus seinem Hüftgürtel und stürmte vor den Schlägern, die nun ebenfalls näher kamen, auf Vin zu. Vin hielt nur einen Augenblick inne. Sie bedauerte ihre Entscheidung, erkannte aber deren Unausweichlichkeit.

Die Männer hatten einen Nebelgeborenen in ihrer Mitte versteckt. Einen Nebelgeborenen wie Vin, eine Person, die alle zehn Metalle verbrennen konnte. Einen Nebelgeborenen, der nur auf den richtigen Moment gewartet hatte, um loszuschlagen, wenn sie unvorbereitet war.

Sicherlich besaß er Atium, und es gab nur einen Weg, gegen jemanden zu kämpfen, der Atium zu seiner Verfügung hatte. Es war das ultimative allomantische Metall, das nur ein ausgewachsener Nebelgeborener einsetzen konnte, und es vermochte in einem Kampf die Entscheidung herbeizuführen. Jede kleine Kugel war ein Vermögen wert – aber wozu wäre dieses Vermögen noch gut, wenn Vin tot war?

Sie verbrannte ihr Atium.

Die Welt um sie herum schien sich zu verändern. Jeder sich bewegende Gegenstand – schwingende Fensterläden, umhertreibende Asche, angreifende Schläger, sogar Nebelschwaden – sandten nun ein durchscheinendes Abbild ihrer selbst aus. Diese Abbilder bewegten sich vor ihren realen Gegenstücken und zeigten Vin genau an, was in einigen Augenblicken in der Zukunft geschehen würde.

Bloß der Nebelgeborene war immun dagegen. Er strahlte nicht nur einen einzelnen Atiumschatten ab, sondern gleich Dutzende – das war das Zeichen dafür, dass er ebenfalls Atium verbrannte. Er blieb kurz stehen. Vins eigener Körper verlor sich jetzt genauso in Dutzenden von verwirrenden Atiumschatten. Nun, da sie in die Zukunft sehen konnte, wusste sie, was er tun würde. Doch das hatte wiederum Auswirkungen auf das, was sie tun würde. Und das beeinflusste seine Handlungen. So setzten sich die Möglichkeiten in die Unendlichkeit fort wie eine Person in zwei Spiegeln, die einander gegenüberstehen. Keiner von beiden war im Vorteil.

Obwohl der Nebelgeborene innehielt, fuhren die vier unglücklichen Schläger mit ihrem Angriff fort, denn sie wussten nicht, dass Vin Atium verbrannte. Sie drehte sich um und stand neben dem Leichnam des Rauchers. Mit dem Fuß trat sie die Klangstäbe in die Luft.

Einer der Schläger hatte sie erreicht und schwang seine Keule. Der durchscheinende Vorschatten seines Schlages fuhr durch ihren Körper. Vin wand sich, duckte sich zur Seite und spürte, wie der wirkliche Hieb über ihrem Ohr dahinschoss. Mit Hilfe des Atiums war es für sie ein einfaches Manöver.

Sie packte einen der Klangstäbe und rammte ihn in den Hals des Angreifers. Dann wirbelte sie herum, ergriff den anderen Klangstab, drehte sich rasch wieder um und schmetterte ihn gegen den Schädel des Mannes. Ächzend fiel er nach vorn, und Vin schlängelte sich mit Leichtigkeit zwischen zwei weiteren Stäben hindurch.

Dem nächsten Angreifer schlug sie die Klangstäbe rechts und links gegen den Kopf. Sie zersplitterten, und als der Schädel des Mannes zerschmettert wurde, gaben sie ein hohles Geräusch von sich wie die Trommelstöcke eines Musikanten.

Der Mann stürzte zu Boden und regte sich nicht mehr. Vin trat seine Keule in die Luft, ließ die zersplitterten Klangstäbe fallen und packte die neue Waffe. Sie fuhr herum, wirbelte die Keule und griff die beiden verbliebenen Schläger gleichzeitig an. Mit einer fließenden Bewegung trieb sie ihnen die Keule nacheinander ins Gesicht.

Sie kauerte sich zusammen, als die Männer starben. In der einen Hand hielt sie die Keule, mit der anderen stützte sie sich auf den dunstfeuchten Pflastersteinen ab. Der Nebelgeborene hielt sich zurück, und sie erkannte die Unsicherheit in seinen Augen. Macht bedeutete nicht unweigerlich Kompetenz, und seine beiden großen Vorteile – Überraschung und Atium – waren dahin.

Er drehte sich um, zog etliche Münzen vom Boden zu sich heran und schleuderte sie – nicht auf Vin, sondern auf OreSeur, der noch in der Einmündung der Gasse stand. Offensichtlich hoffte der Nebelgeborene, dass Vins Sorge um den Diener ihre Aufmerksamkeit ablenkte, so dass er selbst vielleicht entkommen konnte.

Doch da hatte er sich geirrt.

Vin beachtete die Münzen nicht, sondern schoss vor. Auch als OreSeur vor Schmerzen aufschrie – ein Dutzend Münzen drangen in seine Haut ein – ließ sich Vin nicht davon abbringen, ihre Keule gegen den Kopf des Nebelgeborenen zu schleudern. Sobald die Waffe Vins Finger verlassen hatte, wurde allerdings ihr Atiumschatten fest und unveränderlich.

Der nebelgeborene Mörder duckte sich und wich Vins Waffe aus. Doch diese Bewegung lenkte ihn so lange ab, dass Vin den Raum zwischen ihm und ihr durchhasten konnte. Sie musste schnell angreifen; die Atiumkugel, die sie geschluckt hatte, war klein gewesen und würde rasch ausbrennen. Und sobald sie aufgezehrt war, würde sie schutzlos sein. Dann hatte der Nebelgeborene vollkommene Macht über sie. Er …

Ihr entsetzter Gegner hob seinen Dolch. In diesem Moment ging ihm das Atium aus.

Vins raubtierhafte Instinkte reagierten sofort, und ihre Faust schoss vor. Er hob den Arm, um ihren Schlag abzuwehren, doch sie sah seine Reaktion voraus und änderte die Richtung ihres Angriffs. Der Schlag traf ihn nun mitten ins Gesicht. Dann entwand sie ihm mit geschickten Fingern den Glasdolch, bevor er zu Boden fallen und zersplittern konnte. Sie reckte sich und rammte die Schneide ihrem Gegner in den Hals.

Beinahe lautlos sackte er zusammen.

Vin stand heftig atmend über ihm. Die Gruppe der Mörder lag um sie herum. Einen Moment lang verspürte sie eine überwältigende Macht. Das Atium machte sie unbesiegbar. Sie konnte jedem Schlag ausweichen und jeden Feind töten.

Da erlosch auch ihr Atium.

Plötzlich wurde alles matt und trübe. Die Schmerzen in ihrer Seite drangen in ihr Bewusstsein, und sie hustete und stöhnte. Sie hatte große Blutergüsse davongetragen und vielleicht auch ein paar gebrochene Rippen.

Aber sie hatte wieder einmal gewonnen. Was würde geschehen, wenn sie unterlag? Wenn sie nicht vorsichtig genug war oder nicht geschickt genug kämpfte?

Dann würde Elant sterben.

Vin seufzte und schaute auf. Er war noch da und beobachtete sie vom Dach aus. Trotz der über mehrere Monate verteilten Jagden war es ihr nie gelungen, ihn zu fangen. Eines Nachts würde sie ihn in die Enge treiben.

Aber nicht heute. Dazu hatte sie keine Kraft mehr. Ein Teil von ihr befürchtete sogar, er könnte sie niederschlagen. Aber …, dachte sie. Er hat mich gerettet. Ich wäre gestorben, wenn ich zu nahe an diesen verborgenen Nebelgeborenen herangekommen wäre. Er hätte nur Atium verbrennen müssen, ohne dass ich es bemerkt hätte, und ich hätte seinen Dolch in der Brust gehabt.

Der Wächter stand noch einige Augenblicke lang da, wie immer in den treibenden Nebel gehüllt. Dann drehte er sich um und sprang hinein in die Nacht. Vin ließ ihn ziehen; sie musste sich um OreSeur kümmern.

Sie taumelte hinüber zu ihm und hielt inne. Sein unauffälliger Körper – der in einem Hemd und einer Lakaienhose steckte – war mit Münzen übersät, und Blut floss aus mehreren Wunden.

Er schaute auf zu ihr. »Was ist?«, fragte er.

»Ich hatte kein Blut erwartet.«

OreSeur schnaubte. »Vermutlich habt Ihr auch nicht erwartet, dass ich Schmerzen empfinden kann.«

Vin öffnete den Mund und hielt dann inne. Eigentlich hatte sie noch nie darüber nachgedacht. Dann riss sie sich zusammen. Welches Recht hat dieses Ding, mich zu schelten?

Doch OreSeur hatte sich als sehr nützlich erwiesen. »Vielen Dank dafür, dass du mir die Phiole zugeworfen hast«, sagte sie.

»Das war meine Pflicht, Herrin«, erwiderte OreSeur und stöhnte, während er sich an der Hauswand aufrichtete. »Meister Kelsier hat mich mit Eurem Schutz beauftragt. Und wie immer erfülle ich meinen Vertrag.«

Ach ja, der allgegenwärtige Vertrag. »Kannst du gehen?«

»Nur unter großen Mühen, Herrin. Die Münzen haben mehrere Knochen gebrochen. Ich benötige einen neuen Körper. Vielleicht einen der Attentäter?«

Vin runzelte die Stirn. Sie sah kurz auf die toten Männer hinunter, und bei ihrem abscheulichen Anblick drehte sich ihr der Magen um. Sie hatte diese acht Männer getötet, und zwar mit grausamer Unerbittlichkeit, wie sie es von Kelsier gelernt hatte.

Genau das bin ich, dachte sie. Eine Mordmaschine, wie diese Männer. So musste es sein. Schließlich musste jemand Elant beschützen.

Doch der Gedanke daran, dass OreSeur einen von ihnen auffraß – dass er den Leichnam verdaute und seine seltsamen Kandra-Sinne alle Einzelheiten von Haut, Muskeln und Organen in sich aufnahmen, damit er sie nachbilden konnte –, verursachte ihr Übelkeit.

Sie schaute zur Seite und sah den verhüllten Hohn in OreSeurs Blick. Sie wussten beide, was sie von seiner Eigenart hielt, menschliche Körper zu fressen. Und sie wussten beide, was er von ihren Vorurteilen hielt.

»Nein«, sagte Vin. »Wir werden keinen dieser Männer benutzen.«

»Dann müsst Ihr mir einen anderen Körper suchen«, sagte OreSeur. »Der Vertrag besagt, dass ich nicht gezwungen werden kann, Menschen zu töten.«

Wieder revoltierte Vins Magen. Ich werde mir etwas ausdenken, dachte sie. Sein gegenwärtiger Körper war der eines Mörders, den OreSeur nach dessen Hinrichtung angenommen hatte. Vin befürchtete immer noch, jemand in dieser Stadt könnte das Gesicht wiedererkennen.

»Schaffst du es bis zum Palast?«, fragte sie.

»Wenn ich genug Zeit dazu habe«, antwortete OreSeur.

Vin nickte und entließ ihn; dann wandte sie sich wieder den Leichen zu. Irgendwie vermutete sie, dass diese Nacht einen wesentlichen Wendepunkt für das Schicksal des Zentralen Dominiums bedeutete.

Straffs gedungene Mörder würden nie erfahren, welch furchtbaren Schaden sie angerichtet hatten. Die Atiumkugel war Vins letzte gewesen. Wenn sie das nächste Mal von einem Nebelgeborenen angegriffen wurde, war sie ihm schutzlos ausgeliefert.

Und sie würde genauso schnell sterben wie derjenige, den sie heute Nacht getötet hatte.

Meine Brüder lassen die anderen Tatsachen außer Betracht. Sie können die seltsamen Dinge, die nun geschehen, nicht miteinander in Verbindung bringen. Sie sind taub gegen meine Einwände und blind gegen meine Entdeckungen.

Kapitel 3

Mit einem Seufzer legte Elant die Feder auf dem Schreibtisch ab, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rieb sich die Stirn.

Elant glaubte, mehr über Politiktheorie zu wissen als jeder andere Mensch. Sicherlich hatte er mehr über Wirtschaft und Regierungsformen gelesen und mehr politische Debatten geführt als jeder, den er kannte. Er verstand alle Theorien darüber, wie man eine Nation stabil und gerecht machte, und hatte versucht, sie in seinem neuen Königreich anzuwenden.

Aber er hatte nicht vorhergesehen, wie unglaublich ernüchternd ein parlamentarischer Rat sein konnte.

Er stand auf und holte sich gekühlten Wein. Doch als er durch die Balkontüren schaute, hielt er inne. In der Ferne schimmerte etwas durch den Nebel. Es waren die Lagerfeuer der Armee seines Vaters.

Erschöpft stellte er das Weinglas ab. Alkohol würde ihm gewiss nicht helfen. Ich kann es mir nicht leisten einzuschlafen, bis ich mit meiner Arbeit fertig bin, dachte er und zwang sich, zu seinem Stuhl zurückzukehren. Bald würde der Rat zusammenkommen, und er musste seinen Vertragsentwurf noch heute Abend fertigstellen.

Elant nahm das Schriftstück zur Hand und überflog dessen Inhalt. Sogar auf ihn selbst wirkte seine Handschrift verkrampft, und die Seite war übersät mit durchgestrichenen Zeilen und Randbemerkungen – Widerspiegelungen seiner Enttäuschungen. Schon seit Wochen wussten sie um das Vorrücken der Armee, doch der Rat stritt immer noch darum, was man dagegen unternehmen sollte.

Einige der Mitglieder wollten einen Friedensvertrag anbieten, andere glaubten, man solle dem Feind einfach die Stadt übergeben. Wieder andere waren der Meinung, es sei das Beste, unverzüglich anzugreifen. Elant befürchtete, dass die Fraktion, die eine Übergabe befürwortete, beständig an Stärke gewann; daher war sein Friedensvorschlag so wichtig. Dieser Schachzug würde ihm Zeit verschaffen, wenn er vom Rat unterstützt werden sollte. Als König hatte er bereits das Vorrecht, mit einem fremden Diktator Waffenstillstandsverhandlungen zu führen. Sein Vorschlag würde es dem Rat verbieten, etwas Unüberlegtes zu tun, bis Elant wenigstens mit seinem Vater gesprochen hatte.

Er seufzte noch einmal und legte das Blatt wieder auf den Schreibtisch. Der Rat bestand nur aus vierundzwanzig Männern, doch sie zu einer gemeinsamen Stellungsnahme zu bewegen, war beinahe eine größere Herausforderung als die Lösung all jener Schwierigkeiten, über die sie debattierten. Elant drehte sich um und sah an der einzelnen Lampe auf seinem Schreibtisch vorbei durch die offenen Balkontüren und auf die Lagerfeuer. Über sich hörte er Schritte auf dem Dach. Das war Vin, die ihre nächtlichen Runden machte.

Elant lächelte zärtlich, doch nicht einmal der Gedanke an Vin konnte seine gute Laune wiederherstellen. Diese Gruppe von Mördern, gegen die sie heute Nacht gekämpft hat – kann ich den Zwischenfall irgendwie für meine Zwecke verwenden? Wenn er diesen Angriff öffentlich machte, würde der Rat vielleicht daran erinnert werden, welche Verachtung Straff Wager für das menschliche Leben empfand. Daher durfte ihm die Stadt keinesfalls einfach überlassen werden. Aber … vielleicht würden sie dann befürchten, dass er auch ihnen Mörder auf den Hals schickte, und sie würden umso schneller aufgeben.

Manchmal fragte sich Elant, ob der Oberste Herrscher nicht doch Recht gehabt hatte. Natürlich nicht, was die Unterdrückung des Volkes anging, aber doch darin, dass er alle Macht für sich selbst behalten hatte. Das Letzte Reich war höchst stabil gewesen. Es hatte tausend Jahre gewährt, Rebellionen überstanden und die Welt fest im Griff gehabt.

Aber der Oberste Herrscher war beinahe unsterblich, dachte Elant. Das ist ein Vorteil, den ich nie haben werde.

Die Einberufung eines Rates war der bessere Weg. Indem Elant dem Volk ein Parlament mit wirklicher Gesetzgebungsbefugnis geschenkt hatte, hatte er für die Stabilität seiner Regierung gesorgt. Das Volk hatte einen König – einen Mann, der für Kontinuität sorgte und ein Symbol der Einheit war. Doch es gab auch den Rat, der sich aus dem Adel zusammensetzte und die Belange des Volkes zu berücksichtigen hatte.

In der Theorie klang das alles wundervoll. Vorausgesetzt, dieses System überlebte die nächsten Monate.

Elant rieb sich die Augen, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb neue Zeilen auf den unteren Rand des Dokuments.

 

Der Oberste Herrscher war tot.

Selbst ein Jahr später empfand Vin es noch immer als schwierig, das zu begreifen. Der Oberste Herrscher war … alles gewesen: König und Gott, Gesetzgeber und höchster Richter. Er war ewig und absolut gewesen, doch nun war er tot.

Und Vin hatte ihn getötet.

Natürlich war die Wahrheit nicht so beeindruckend wie die Geschichten darüber. Es war nicht heroische Stärke oder mystische Kraft gewesen, die Vin geholfen hatte, den Herrscher zu besiegen. Sie hatte lediglich den Kniff herausgefunden, mit dem er sich unsterblich gemacht hatte, und zum Glück hatte sie sich – beinahe durch Zufall – seine Schwäche zunutze machen können. Sie war weder tapfer noch gerissen. Sie hatte bloß Glück gehabt.

Vin seufzte. Ihre Prellungen und Blutergüsse schmerzten, aber sie hatte schon Schlimmeres durchlitten. Sie saß unmittelbar über Elants Balkon auf dem Dach des Palastes, der einmal die Festung Wager gewesen war. Vins Ruf mochte unverdient sein, doch er hatte dazu beigetragen, Elants Leben zu erhalten. Obwohl Dutzende von Kriegsherren in dem Land gegeneinander kämpften, das einmal das Letzte Reich gewesen war, hatte es niemand gewagt, auf Luthadel zuzumarschieren.

Bis heute.

Feuer brannten vor der Stadt. Straff würde bald wissen, dass seine Attentäter nicht erfolgreich gewesen waren. Was dann? Ein Angriff auf die Stadt? Hamm und Keuler hatten gewarnt, dass Luthadel gegen einen entschlossenen Angriff nicht gehalten werden könnte. Das wusste Straff sicherlich.

Doch für den Augenblick befand sich Elant in Sicherheit. Vin war ziemlich gut darin geworden, Attentäter aufzuspüren und umzubringen. Es verging kaum ein Monat, in dem sie nicht jemanden erwischte, der sich in den Palast zu stehlen versuchte. Viele waren bloß Spione, und nur bei wenigen von ihnen handelte es sich um Allomanten. Doch schon das Stahlmesser eines gewöhnlichen Mannes reichte aus, um Elant zu töten; dazu bedurfte es nicht unbedingt eines Glasdolches.

Sie würde es nicht zulassen. Was immer auch sonst geschehen mochte – und welche Opfer erforderlich sein würden –, Elant musste am Leben bleiben.

Aus plötzlicher Sorge kroch sie zum Gaubenfenster und warf einen Blick auf ihn. Elant saß sicher an seinem Schreibtisch unter ihr und schrieb an seinem neuen Friedensvorschlag oder an irgendeinem Erlass. Seine Stellung als König hatte den Menschen Elant erstaunlich wenig verändert. Er war etwa vier Jahre älter als sie – was bedeutete, dass er Anfang zwanzig war – und legte großen Wert auf Gelehrsamkeit, aber nur geringen auf sein äußeres Erscheinungsbild. Er kämmte sich lediglich dann die Haare, wenn er an einer wichtigen Versammlung teilnehmen musste, und irgendwie gelang es ihm, selbst gut geschnittene Kleidung so zu tragen, dass sie unordentlichwirkte.

Er war vermutlich der beste Mann, den sie je kennengelernt hatte: aufrichtig, entschlossen, klug und umsichtig. Und aus irgendeinem Grunde liebte er sie. Manchmal war diese Tatsache für sie noch verblüffender als die Rolle, die sie beim Tod des Obersten Herrschers gespielt hatte.

Vin schaute hoch und warf einen Blick zurück auf die schimmernden Lagerfeuer. Dann sah sie zur Seite. Der Wächter war noch nicht zurückgekehrt. In Nächten wie dieser forderte er sie oft heraus und kam dabei Elants Zimmer jedes Mal gefährlich nahe, bevor er wieder in der Stadt verschwand.

Wenn er Elant töten wollte, hätte er es tun können, als ich gegen die anderen gekämpft habe …

Das war ein beunruhigender Gedanke. Vin konnte Elant nicht rund um die Uhr bewachen. Er war beängstigend oft schutzlos.

Es stimmte, dass Elant noch weitere Leibwächter besaß, und einige davon waren sogar Allomanten. Doch diese waren genauso überbeansprucht wie sie selbst. Die Attentäter heute Nacht waren die fähigsten und gefährlichsten gewesen, denen sie je gegenübergestanden hatte. Sie zitterte, als sie an den Nebelgeborenen dachte, der sich unter ihnen befunden hatte. Er war nicht sehr gut gewesen, doch es bedurfte keines großen Geschicks, um Atium zu verbrennen und dann Vin an genau der richtigen Stelle zu treffen.

Die Nebel wanden und kräuselten sich weiterhin. Die Gegenwart der feindlichen Armee kündete von einer verwirrenden Wahrheit. Die Kriegsherren in der Umgebung hatten damit begonnen, ihre Herrschaftsbezirke zu festigen, und dachten an Expansion. Selbst wenn Luthadel sich irgendwie gegen Straff behaupten konnte, würden danach schon bald andere kommen.

Müde schloss Vin die Augen und verbrannte Bronze. Sie befürchtete immer noch, der Wächter – oder irgendein anderer Allomant – könnte sich in der Nähe befinden und Elant in der wieder eingekehrten Ruhe nach dem Attentatsversuch zu ermorden versuchen. Die meisten Nebelgeborenen hielten Bronze für ein ziemlich nutzloses Metall, da es leicht unwirksam gemacht werden konnte. Mit Kupfer konnte ein Nebelgeborener seine Allomantie verbergen – und sich überdies vor der Manipulation seiner Gefühle durch Zink oder Messing schützen. Die meisten Nebelgeborenen erachteten es als närrisch, ihr Kupfer nicht die ganze Zeit über brennen zu lassen.

Dennoch … Vin besaß die Fähigkeit, Kupferwolken zu durchdringen.

Eine Kupferwolke war nichts Sichtbares. Sie war viel unbestimmter. Eine Luftblase, in der ein Allomant seine Metalle verbrennen konnte und sich nicht darum sorgen musste, dass ein Bronzeverbrenner ihn dabei bemerkte. Doch Vin konnte auch Allomanten spüren, die Metalle innerhalb einer Kupferwolke verbrannten. Sie war sich noch nicht sicher, warum das so war. Sogar Kelsier, der mächtigste Allomant, den sie je gekannt hatte, war nicht in der Lage gewesen, eine Kupferwolke zu durchdringen.

Heute Nacht aber spürte sie gar nichts.

Seufzend öffnete sie die Augen. Ihre seltsame Macht war verwirrend, doch sie war nicht einzigartig. Marsch hatte ihr versichert, es sei auch den Stahlinquisitoren möglich, Kupferwolken zu durchdringen, und sie wusste, dass der Oberste Herrscher es ebenfalls gekonnt hatte. Aber … warum gerade sie? Warum war Vin – ein Mädchen, das kaum zwei Jahre der Ausbildung als Nebelgeborene hinter sich hatte – zu so etwas in der Lage?

Da war noch mehr. Lebhaft erinnerte sie sich an den Morgen, an dem sie gegen den Obersten Herrscher gekämpft hatte. Dabei war etwas geschehen, das sie bisher noch niemandem berichtet hatte – auch weil sie befürchtete, dass all die Gerüchte und Legenden um ihre Person der Wahrheit entsprechen könnten. Irgendwie hatte sie damals die Kraft des Nebels eingesaugt und ihn statt der Metalle dazu benutzt, ihre allomantischen Kräfte zu befeuern.

Nur mit dieser Hilfe – der Hilfe des Nebels – war es ihr am Ende gelungen, den Obersten Herrscher zu besiegen. Sie sagte sich selbst, dass sie bloß Glück gehabt hatte, die Kniffe des Obersten Herrschers herauszufinden. Doch in jener Nacht war etwas … seltsam gewesen – etwas, das sie selbst getan hatte. Etwas, wozu sie nicht in der Lage hätte sein dürfen und das sie nie wiederholen konnte.

Vin schüttelte den Kopf. Es gab so vieles, das sie nicht wusste, und das betraf nicht allein die Allomantie. Sie und die anderen Führer von Elants jungem Königreich hatten ihr Bestes gegeben, doch ohne die Hilfe und Führung Kelsiers fühlte sich Vin blind. Pläne, Ziele und sogar Erfolge waren wie Schattengestalten im Nebel – formlos und undeutlich.

Du hättest uns nicht verlassen dürfen, Kell, dachte sie. Du hast die Welt gerettet – und dazu hättest du in der Lage sein sollen, ohne sterben zu müssen. Kelsier, der Überlebende von Hathsin, der Mann, der den Zusammenbruch des Letzten Reiches geplant und herbeigeführt hatte. Vin hatte ihn gekannt, mit ihm zusammengearbeitet und war von ihm ausgebildet worden. Er war eine Legende und ein Held. Doch er war auch nur ein Mensch gewesen. Fehlbar. Unvollkommen. Es war leicht für die Skaa, ihn zu verehren und dann Elant und den anderen die Schuld für die schwierige Lage zu geben, die Kelsier geschaffen hatte.

Dieser Gedanke schuf bittere Empfindungen bei ihr. So war es oft, wenn sie an Kelsier dachte. Vielleicht war es das Gefühl der Verlassenheit, vielleicht war es auch nur das unangenehme Wissen, dass Kelsier – wie Vin selbst – seinem Ruf nicht ganz entsprach.

Vin seufzte noch einmal, schloss die Augen und verbrannte weiter Bronze. Der nächtliche Kampf hatte sie erschöpft, und sie fürchtete die Stunden, die sie noch in Wachsamkeit verbringen musste. Es war schwierig, aufmerksam zu bleiben, wenn …

Sie spürte etwas.

Vin riss die Augen auf und fachte ihr Zinn an. Sie wirbelte herum und duckte sich gegen das Dach, um ihre Gestalt noch undeutlicher zu machen. Da draußen war jemand, und er verbrannte Metall. Bronzepulse pochten schwach und leicht, beinahe unmerklich – als ob jemand ganz leise eine Trommel schlüge. Sie wurden durch eine Kupferwolke gedämpft. Die Person – wer immer sie war – glaubte, dass diese Kupferwolke sie vollständig verbarg.

Außer Elant und Marsch hatte Vin bisher niemanden weiterleben lassen, der ihre seltsame Gabe kannte.

Vin schlich vorwärts. Ihre Finger und Zehen waren kalt vom Kupfer des Daches. Sie versuchte die Richtung herauszufinden, aus der das Pulsieren kam. Etwas daran war merkwürdig. Sie hatte Schwierigkeiten, die Metalle zu bestimmen, die ihr Gegner verbrannte. War das der rasche, heftige Schlag von Weißblech? Oder war es der Rhythmus des Eisens? Das Pulsieren war undeutlich, wie Kräuselungen auf dickem Schlamm.

Sie kamen irgendwo aus der Nähe. Vom Dach …

Von genau vor ihr.

Vin erstarrte und kauerte sich zusammen. Der Nachtwind blies ihr eine Mauer aus Nebel entgegen. Wo war der Feind? Ihre Sinne stritten miteinander; ihre Bronze sagte ihr, dass sich etwas rechts vor ihr befand, aber dem konnten ihre Augen nicht zustimmen.

Eingehend betrachtete sie den düsteren Nebel, schaute dann nach oben, um sicher zu sein, und stand auf. Das ist das erste Mal, dass meine Bronze sich irrt, dachte sie und zog die Stirn kraus.

Dann sah sie es.

Es war nichts im Nebel, sondern etwas aus Nebel. Die Gestalt stand wenige Fuß von ihr entfernt und war leicht zu übersehen, denn ihre Umrisse hoben sich im Dunst nur sehr schwach ab. Vin keuchte auf und trat einen Schritt zurück.

Die Gestalt blieb dort, wo sie war. Vin konnte nicht viel von ihr erkennen; sie war undeutlich und schemenhaft und wurde nur von den chaotischen Wirbeln des windgepeitschten Nebels nachgezeichnet. Wenn die Gestalt nicht so unveränderlich gewesen wäre, hätte Vin sie nicht weiter bemerkt. Sie war wie der Umriss eines Tieres, das man kurz in den Wolken am Himmel erblickt.

Aber sie blieb. Jede neue Nebelschwade verlieh dem dürren Körper und dem langen Kopf festere Gestalt. Sie war verschwommen und beharrlich zugleich. Sie wirkte wie ein Mensch, doch es fehlte ihr die Festigkeit des Wächters. Sie wirkte … falsch.

Die Gestalt machte einen Schritt nach vorn.

Vin reagierte sofort, warf eine Handvoll Münzen hoch und drückte sie mit ihrer inneren Kraft von sich weg. Die Metallstücke zischten durch den Nebel, zogen Spuren hinter sich her und durchdrangen die schattenhafte Gestalt.

Einen Augenblick lang stand sie noch da. Dann löste sie sich einfach auf und verschwand im Gewirbel des Nebels.

 

Elant verzierte die letzte Zeile mit einem Schnörkel, obwohl er wusste, dass ein Schreiber diesen Vertragsentwurf noch einmal kopieren musste. Er war der Ansicht, nun endlich einen Vorschlag ausgearbeitet zu haben, der den Rat davon überzeugen würde, dass sie sich Straff nicht einfach ergeben durften.

Unwillkürlich warf er einen raschen Blick hinüber zu einem Stapel mit Papieren, der auf seinem Schreibtisch lag. Zuoberst ruhte ein unschuldig aussehender gelber Brief, der noch gefaltet war und einen blutartigen Fleck an der Stelle trug, wo das Siegel gebrochen worden war. Der Brief war kurz. Elant kannte ihn auswendig.

Mein Sohn,

ich bin sicher, dass du es genossen hast, dich um die Interessen des Hauses Wager in Luthadel zu kümmern. Ich habe das Nördliche Dominium eingenommen und werde bald zu unserer Festung in Luthadel zurückkehren. Dann kannst du mir die Kontrolle über die Stadt übergeben.

König Straff Wager

Von allen Kriegsherren und Despoten, die das Letzte Reich seit dem Tod des Obersten Herrschers heimgesucht hatten, war Straff der gefährlichste. Das wusste Elant aus erster Hand. Sein Vater war ein wahrer Adliger; er sah das Leben als Wettkampf zwischen den Grafen um den besten Ruf an. Er hatte das Spiel gut geführt und das Haus Wager zum mächtigsten des Hochadels vor dem Zusammenbruch gemacht.

Elants Vater betrachtete den Tod des Obersten Herrschers weder als Tragödie noch als Sieg, sondern lediglich als eine gute Gelegenheit. Die Tatsache, dass Straffs willensschwacher Narr von einem Sohn nun die Herrschaft über das Zentrale Dominium für sich beanspruchte, war sicherlich für ihn eine unversiegbare Quelle der Belustigung.

Elant schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinem Entwurf zu. Noch ein paar Durchgänge und Verbesserungen, und ich werde mir etwas Schlaf gönnen. Ich muss nur noch …

Eine verhüllte Gestalt glitt durch das Oberlicht und ließ sich auf den Boden hinter ihm herunter.

Elant hob eine Braue und wandte sich an die zusammengekauerte Gestalt. »Weißt du, ich lasse die Balkontüren aus einem ganz bestimmten Grund offen stehen, Vin. Du könntest durch sie hereinkommen, wenn du wolltest.«

»Ich weiß«, meinte Vin. Dann schoss sie quer durch das Zimmer, wobei sie sich mit der unnatürlichen Geschmeidigkeit eines Allomanten bewegte. Sie sah unter seinem Bett nach, begab sich dann in sein Kabinett und warf die Türen auf. Mit der Anspannung eines wachsamen Tieres sprang sie wieder daraus hervor; anscheinend hatte sie dort drinnen nichts gefunden, was ihren Argwohn erregte. Nun spähte sie durch die Tür, die zu Elants restlichen Zimmern führte.

Elant betrachtete sie zärtlich. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er sich an Vins besondere … Eigenheiten gewöhnt hatte. Er zog sie damit auf, dass sie seiner Meinung nach unter Verfolgungswahn leide, doch sie selbst hielt sich lediglich für vorsichtig. Bei jedem zweiten Besuch in seinen Gemächern schaute sie unter seinem Bett und im Kabinett nach. Die anderen Male hielt sie sich zurück, aber Elant erwischte sie oft dabei, wie sie misstrauisch verschiedene mögliche Verstecke beäugte.

Sie war viel weniger nervös, wenn sie keinen besonderen Grund hatte, sich um ihn zu sorgen. Doch Elant begriff allmählich, dass sich hinter dem Gesicht, das er früher einmal als das von Valette Renoux gekannt hatte, eine vielschichtige Persönlichkeit verbarg. Er hatte sich in ihre höfische Seite verliebt, ohne die nebelgeborene, nervöse und verstohlene Seite zu kennen. Noch immer fiel es ihm nicht leicht, in diesen Seiten ein und dieselbe Person zu erblicken.

Vin schloss die Tür, hielt kurz inne und beobachtete ihn mit ihren großen, dunklen Augen. Elant stellte fest, dass er lächelte. Trotz – oder vielmehr gerade wegen – ihrer Merkwürdigkeiten liebte er diese dünne Frau mit ihrem entschlossenen Blick und dem aufbrausenden Temperament. Sie glich keiner Frau, die er je gekannt hatte; sie war von einfacher, aber ehrlicher Schönheit und Klugheit. Doch manchmal machte sie ihm Sorgen.

»Vin?«, fragte er und stand auf.

»Ist dir heute Abend etwas Seltsames aufgefallen?«

Elant dachte nach. »Außer dir?«

Sie runzelte die Stirn und schritt quer durch das Zimmer. Elant betrachtete ihre kleine Gestalt, die in einer schwarzen Hose und einem geknöpften Männerhemd steckte. Die Quasten ihres Nebelumhangs zog sie hinter sich her. Wie üblich hatte sie die Kapuze nach hinten geschoben und ging mit geschmeidiger Anmut – es war die unbewusste Eleganz eines Menschen, der gerade Weißblech verbrannte.

Konzentriere dich!, sagte er zu sich selbst. Du bist wirklich sehr müde. »Was ist los, Vin?«

Vin warf einen raschen Blick hinüber zum Balkon. »Dieser Nebelgeborene, der Wächter, ist wieder in der Stadt.«

»Bist du sicher?«

Vin nickte. »Aber … ich glaube nicht, dass er dich heute Nacht holen will.«

Elant zog die Stirn kraus. Die Balkontüren standen noch immer offen, und Nebelschwaden trieben durch sie hindurch; sie krochen über den Boden und zersetzten sich schließlich. Hinter diesen Türen lag … Dunkelheit. Chaos.

Es ist nur Nebel, rief er sich in Erinnerung. Wasserdampf. Nichts zu befürchten. »Wieso bist du so sicher, dass der Wächter es nicht auf mich abgesehen hat?«

Vin zuckte die Achseln. »Das spüre ich einfach.«

Sie gab oft solche Antworten. Vin war auf der Straße groß geworden, und sie vertraute ihren Instinkten. Seltsamerweise tat Elant das auch. Er beobachtete sie und erkannte die Unsicherheit, die sich in ihrer Haltung ausdrückte. Irgendetwas hatte sie in dieser Nacht aus der Ruhe gebracht. Er sah ihr in die Augen und hielt ihrem Blick eine Weile stand, dann schaute sie beiseite.

»Was ist es?«, fragte er.

»Ich habe … noch etwas gesehen«, gestand sie. »Oder ich glaube etwas gesehen zu haben. Etwas im Nebel, wie eine Gestalt, die aus Rauch bestanden hat. Ich konnte sie mit meiner Allomantie auch spüren. Sie ist allerdings wieder verschwunden.«

Elant blickte noch düsterer drein. Er trat vor und legte die Arme um sie. »Vin, du mutest dir zu viel zu. Du kannst nicht die Nacht über durch die Stadt schleichen und dann den ganzen Tag aufbleiben. Sogar Allomanten brauchen Schlaf.«

Sie nickte still. Wenn sie in seinen Armen war, schien sie nicht mehr die mächtige Kriegerin zu sein, die den Obersten Herrscher getötet hatte. Sie wirkte wie eine Frau, die kurz vor der völligen Erschöpfung stand und von den Ereignissen überwältigt worden war – eine Frau, die sich vermutlich genauso fühlte wie Elant.