Schatten über Elantel - Brandon Sanderson - E-Book

Schatten über Elantel E-Book

Brandon Sanderson

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Brandon Sanderson zählt zu den erfolgreichsten Fantasyautoren überhaupt – seine Romane »Elantris« und die Saga um »Die Nebelgeborenen« machten ihn international zum Superstar. Mit seinem Roman »Schatten über Elantel« führt Sanderson in die Welt von Wax und Wayne, den ungleichen Helden und Ermittlern auf Seiten des Rechts. Die Stadt Elantel ist eine Metropole in Zeiten des Umbruchs, beherrscht von Technik, Magie – und dem Recht der Gesetzlosen. Hier stoßen Wax, Wayne und ihre Gefährtin Marasi auf eine dunkle Verschwörung, die ganz Elantel erschüttern kann. Und die Verbündeten machen sich daran, den Fall auf ihre ganz eigene Weise zu lösen ... In »Schatten über Elantel« begeistert Brandon Sanderson erneut mit der hochexplosiven Mischung aus High Fantasy, Western und feinem Humor, die seine Fans lieben.   Weitere Bände der Reihe: Erstes Zeitalter der Nebelgeborenen: Kinder des Nebels (Band 1) Krieger des Feuers (Band 2) Held aller Zeiten (Band 3) Zweites Zeitalter der Nebelgeborenen (»Wax & Wayne«-Reihe): Hüter des Gesetzes (Band 4) (vormals erschienen als: Jäger der Macht) Schatten über Elantel (Band 5) Bänder der Trauer (Band 6) Metall der Götter (Band 7)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Moshe Feder, der mir eine Chance gegeben hat.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karen Gerwig

ISBN 978-3-492-97701-2

März 2017

© 2015 by Dragonsteel Entertainment, LLC

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Shadows of Self. A Mistborn Novel« bei Tor Books, New York.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Covergestaltung und -motiv: www.buerosued.de

Karten und Illustrationen: Isaac Stewart und Ben McSweeney

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Dank

Dieses Buch hat eine durchaus bewegte Vergangenheit, denn ich schrieb ein Drittel davon während der Arbeit an einem anderen Roman. (Ich wartete damals auf die lektorierte Fassung; ich glaube, es war das letzte Buch des Zyklus DasRad der Zeit.) Deshalb musste ich die Arbeit an diesem Buch unterbrechen und in das andere eintauchen.

Als ich mich wieder daransetzte, hatte sich meine Vision für eine neue Trilogie über Wax, Wayne und Marasi verändert – deshalb kostete mich das erste Drittel ziemlich viel Feinarbeit, bis es zu den anderen beiden Dritteln passte, die ich gleichzeitig schrieb. Dabei konnte ich mich auf die hervorragende redaktionelle Sicht meines Lektors Moshe Feder, meines Agenten Joshua Bilmes und meines Redaktionsassistenten Peter Ahlstrom verlassen. Besonderer Dank gilt auch Simon Spanton, meinem Lektor in Großbritannien.

Wie immer war auch meine Schreibgruppe von unschätzbarem Wert für mich. Sie umfasst Emily Sanderson, Karen und Peter Ahlstrom, Darci und Eric James Stone, Alan Layton, Ben (»Bitte schreib diesmal meinen Namen richtig!«) Olsen, Danielle Olsen, Kathleen Dorsey Sanderson, Kaylynn ZoBell, Ethan und Isaac Skarstedt und Kara und Isaac Stewart.

Wir haben eine Blitz-Beta-Lesephase veranstaltet, und einige aufmerksame Leute trugen hervorragende Hinweise bei. Das waren: Jory Phillips, Joel Phillips, Bob Kluttz, Alice Arneson, Trae Cooper, Gary Singer, Lyndsey Luther, Brian T. Hill, Jakob Remick, Eric James Stone, Bao Pham, Aubree Pham, Steve Godecke, Kristina Kugler, Ben Olsen, Samuel Lund, Megan Kanne, Nate Hatfield, Layne Garrett, Kim Garrett, Eric Lake, Karen Ahlstrom, Issac Skarstedt, Darci Stone, Isaac Stewart, Kalyani Poluri, Josh Walker, Donald Mustard III, Cory Aitchison und Christi Jacobsen.

Es ist unglaublich befriedigend, wenn ich sehe, wie sich die Illustrationen in meinen Romanen im Lauf der Zeit entwickeln. Ich hatte schon immer diese wilde Vision, weit mehr Illustrationen als üblich einzubauen – im Grunde so viele, wie man mir erlaubt. Drei wundervolle Künstler haben das in diesem Band ermöglicht: Chris McGrath hat das Cover gestaltet, und ich liebe seine Darstellung der Charaktere. Mein guter Freund und inzwischen hauptberuflicher Art Director Isaac Stewart hat die Karten und Symbole gestaltet, außerdem das Design der Zeitungsseiten. Die Illustrationen auf den Zeitungsseiten stammen von dem stets großartigen Ben McSweeney.

Bei meiner Agentur JABerwocky geht mein Dank an Eddie Schneider, Sam Morgan, Krystyna Lopez und Christa Atkinson. In Großbritannien verdient John Berlyne von der Zeno Agency euren Applaus.

Bei Tor Books danke ich vielmals Tom Doherty, Linda Quinton, Marco Palmieri, Karl Gold, Diana Pho, Nathan Weaver, Edward Allen und Rafal Gibek. Ingrid Powell war die Korrekturleserin. Die Textredaktion machte Terry McGarry, und das Hörbuch ist von meinem persönlichen Lieblingsvorleser Michael Kramer. Weitere Hörbuchprofis, die Dank verdienen, sind Robert Allen, Samantha Edelson und Mitali Dave. Adam Horne, mein neuer Assistent, liest seinen Namen hier zum ersten Mal in einem Buch. Gut gemacht, Adam!

Schließlich geht wie immer ein großer Dank an meine Familie. Eine wundervolle Frau und drei kleine Jungs, die sich immer noch wundern, dass es in den Büchern, die Daddy schreibt, so wenige Bilder gibt.

Prolog

Waxillium Ladrian, Auftrags-Sheriff, schwang sich von seinem Pferd und wandte sich dem Saloon zu.

»Oh«, sagte der Kleine, während er ebenfalls vom Pferd sprang. »Du bist ja gar nicht mit den Sporen im Steigbügel hängen geblieben und gestolpert!«

»Das ist mir nur einmal passiert«, erwiderte Waxillium.

»Ja, aber es war echt lustig.«

»Bleib bei den Pferden!«, befahl Waxillium und warf dem Jungen die Zügel zu. »Aber binde Destroyer nicht an. Ich brauche sie vielleicht.«

»Klar.«

»Und klau nichts!«

Der Junge – mit rundem Gesicht, siebzehn Jahre alt und trotz wochenlanger Versuche kaum Stoppeln im Gesicht – nickte ernst. »Ich lass deine Sachen in Ruhe, Wax, ich versprech’s.«

Waxillium seufzte. »Das meinte ich nicht.«

»Aber ...«

»Bleib einfach bei den Pferden! Und sprich am besten mit niemandem.« Kopfschüttelnd betrat Waxillium den Saloon; er fühlte sich beschwingt. Im Moment füllte er seinen Metallgeist ein klein wenig, was ihn ungefähr um zehn Prozent leichter machte. Das tat er in letzter Zeit häufig, seit ihm einige Monate zuvor bei einem seiner ersten Einsätze als Kopfgeldjäger das gespeicherte Gewicht ausgegangen war.

Der Saloon war natürlich schmutzig. Praktisch alles hier draußen im Rauland war staubig, abgeschabt oder kaputt. Fünf Jahre hier draußen, und er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt. Na gut, den größten Teil dieser fünf Jahre hatte er sich den Lebensunterhalt als Beamter zu verdienen versucht und war immer weiter von den Bevölkerungszentren weggezogen, um möglichst nicht erkannt zu werden. Doch im Rauland waren sogar die größeren Ballungszentren schmutziger als damals in Elantel.

Und hier, am Rand der besiedelten Gebiete, beschrieb das Wort Dreck das Leben nicht einmal annähernd. Die Männer, an denen er im Saloon vorbeikam, saßen zusammengesunken an ihren Tischen und blickten kaum auf. Dies war eine weitere Eigenart des Raulands – sowohl die Pflanzen als auch die Menschen waren kratziger und wuchsen dichter am Boden. Sogar die fächerartigen Akazien, die sich ab und zu durchaus in die Höhe streckten, hatten diese wehrhafte, zähe Art an sich.

Die Hände in die Hüften gestemmt, ließ er den Blick durch den Raum schweifen, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es gelang ihm nicht. Das nagte an ihm. Warum trug er eigentlich diesen feinen Stadtanzug mit dem lavendelfarbenen Halstuch, wenn keiner davon Notiz nahm? Wenigstens kicherten die Gäste nicht wie im letzten Saloon.

Mit der Hand an der Waffe schlenderte Waxillium zur Bar. Der Barmann war ein großer Mann, der mit seinem schlanken, biegsamen Körperbau aussah, als hätte er ein wenig Terris-Blut in sich. Allerdings wären seine kultivierten Cousins im Becken von Elantel sicher entsetzt gewesen, wenn sie ihn gesehen hätten – in der einen Hand ein fettiges Hühnerbein, an dem er nagte, während er mit der anderen einen Krug einschenkte. Waxillium gab sich Mühe, nicht angewidert zu sein. Die ortsübliche Vorstellung von Hygiene war noch so eine Sache, an die er sich nicht gewöhnen konnte. Hier draußen galt als anspruchsvoll, wer daran dachte, sich zwischen Nasebohren und Händeschütteln die Hand an der Hose abzuwischen.

Waxillium wartete. Er wartete noch ein bisschen. Dann räusperte er sich. Schließlich kam der Barmann schwerfällig zu ihm herüber.

»Ja?«

»Ich suche einen Mann«, sagte Waxillium leise. »Hört auf den Namen Granit-Joe.«

»Kenn ich nicht«, erklärte der Barmann.

»Er ist ja auch bloß der berüchtigtste Gesetzlose weit und breit.«

»Kenn ich nicht.«

»Aber ...«

»Es ist sicherer, wenn man Männer wie Joe nicht kennt«, sagte der Barmann und biss noch einmal von seinem Hühnerbein ab. »Aber ich habe einen Freund.«

»Das überrascht mich.«

Der Barmann warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Ähm«, machte Waxillium. »Entschuldigung. Weiter.«

»Mein Freund ist vielleicht bereit, Leute zu kennen, die andere nicht kennen. Aber es dauert ein Weilchen, bis er hier ist. Zahlen Sie?«

»Ich bin ein Mann des Gesetzes«, sagte Waxillium. »Was ich tue, tue ich im Namen der Gerechtigkeit.«

Der Barmann blinzelte. Langsam, bewusst, als koste es ihn Willenskraft. »Also ... dann zahlen Sie?«

»Ja, ich zahle«, seufzte Waxillium und rechnete im Geist durch, was er für die Jagd nach Granit-Joe schon ausgegeben hatte. Er konnte es sich nicht leisten, schon wieder blank zu sein. Destroyer brauchte einen neuen Sattel, und er verschliss seine Anzüge hier draußen beängstigend rasch.

»Gut«, sagte der Barmann und bedeutete Waxillium, ihm zu folgen. Sie schlängelten sich zwischen den Tischen hindurch und am Klavier vorbei, das neben einer Säule stand. Es schien seit Ewigkeiten nicht gespielt worden zu sein, und jemand hatte eine Reihe schmutziger Krüge darauf abgestellt. Sie betraten einen kleinen Raum neben der Treppe. Es roch nach Staub.

»Warten Sie hier«, sagte der Barmann, schloss die Tür und ging.

Waxillium verschränkte die Arme und beäugte den einsamen Stuhl im Raum. Die weiße Farbe blätterte ab; zweifellos blieb die Hälfte davon an seiner Hose kleben, wenn er sich setzte.

So langsam gewöhnte er sich an die Leute im Rauland, wenn auch nicht an ihre sonderbaren Angewohnheiten. Die Monate, die er nun Kopfgeldjäger war, hatten ihm gezeigt, dass es hier draußen zwischen den ganzen anderen doch gute Männer und Frauen gab. Allerdings war ihnen allen dieser sture Fatalismus eigen. Obrigkeiten vertrauten sie nicht, Gesetzeshütern gingen sie lieber aus dem Weg, auch wenn das hieß, dass ein Mann wie Granit-Joe weiter wüten und plündern konnte. Ohne das Kopfgeld, das die Eisenbahn- und Bergbaugesellschaften aussetzten, würde sich nie etwas ...

Das Fenster zitterte. Waxillium erstarrte, packte die Waffe an seiner Seite und verbrannte Stahl. Das Metall löste ein scharfes Brennen in ihm aus – wie das Gefühl, etwas zu Heißes getrunken zu haben. Blaue Linien zogen sich von seiner Brust zu nahegelegenen Metallquellen, von denen sich mehrere dicht vor dem verriegelten Fenster befanden. Andere wiesen nach unten. Dieser Saloon hatte einen Keller, was unüblich war für das Rauland.

Wenn es sein musste, konnte er Druck auf diese Linien ausüben und sich von dem Metall abstoßen, mit dem sie verbunden waren. Vorläufig beobachtete er aber nur, wie sich eine schmale Stange zwischen Fenster und Rahmen schob, angehoben wurde und den Riegel öffnete. Das Fenster klapperte, dann schwang es auf.

Eine junge Frau in dunkler Hose sprang herein und hielt ein Gewehr in der Hand. Sie war schlank, mit eckigem Gesicht, hatte eine unangezündete Zigarre zwischen die Zähne geklemmt und kam Waxillium irgendwie bekannt vor. Sichtlich zufrieden stand sie auf, drehte sich um und schloss das Fenster. Dabei sah sie ihn zum ersten Mal.

»Verdammt!«, rief sie, wich zurück, ließ die Zigarre fallen und hob das Gewehr.

Waxillium hob ebenfalls die Pistole, machte seine Allomantie bereit und bedauerte, keine Methode gefunden zu haben, die ihn vor Kugeln schützte. Er konnte Druck auf Metall ausüben, ja, aber er war nicht schnell genug, um Kugeln aufzuhalten, es sei denn, er übte seinen Schub auf das Gewehr aus, bevor der Abzug gedrückt wurde.

»Hallo«, sagte die Frau, während sie über Kimme und Korn spähte. »Sind Sie nicht dieser Kerl? Der Peret den Schwarzen umgebracht hat?«

»Waxillium Ladrian«, erwiderte er. »Auftrags-Sheriff.«

»Sie machen Witze. So nennen Sie sich selbst?«

»Klar. Warum nicht?«

Sie antwortete nicht, senkte stattdessen das Gewehr ein wenig und musterte ihn kurz. »Ein Halstuch? Ernsthaft?«, fragte sie schließlich.

»Das ist irgendwie mein Ding«, erwiderte Waxillium. »Der Gentleman-Kopfgeldjäger.«

»Warum braucht ein Kopfgeldjäger überhaupt ein Ding?«

»Ein gewisser Ruf ist wichtig«, erklärte Waxillium und reckte das Kinn. »Die Gesetzlosen haben ebenfalls einen Ruf. Von Granit-Joe haben die Leute von einem Ende des Raulands zum anderen schon gehört. Warum sollte ich das nicht auch so machen?«

»Weil Sie sich dadurch eine Zielscheibe an den Kopf malen.«

»Das Risiko ist es wert«, beharrte Waxillium. »Aber da wir gerade von Zielscheiben sprechen ...« Er wedelte mit seiner Waffe und nickte zu ihrem Gewehr hinüber.

»Sie sind hinter dem Kopfgeld auf Joe her«, stellte sie fest.

»Natürlich. Sie auch?«

Sie nickte.

»Teilen?«, fragte Waxillium.

Sie seufzte, senkte aber das Gewehr. »Also gut. Aber wer ihn erschießt, kriegt das Doppelte.«

»Ich hatte vor, ihn lebend abzuliefern ...«

»Gut. Dann hab ich eine bessere Chance, ihn zuerst zu erwischen.« Sie lächelte ihn an und schob sich zur Tür. »Ich bin Lessie. Dann hält sich Granit-Joe also irgendwo hier auf? Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, habe ich nicht«, entgegnete Waxillium und folgte ihr zur Tür. »Ich habe den Barmann gefragt, aber er hat mich hierhergeschickt.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Sie haben den Barmann gefragt.«

»Klar«, bestätigte Waxillium. »Ich habe die Geschichten gelesen. Barmänner wissen alles und ... Sie schütteln den Kopf.«

»In diesem Saloon gehört jeder zu Joe, Mister Halstuch«, sagte Lessie. »Verdammt, die halbe Stadtbevölkerung gehört ihm. Sie haben den Barmanngefragt?«

»Ich glaube, das haben wir schon festgestellt.«

»Rost!« Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und linste hinaus. »Wie in Ruins Namen haben Sie Peret den Schwarzen erwischt?«

»So schlimm ist es sicher nicht. In der Bar können ja nicht alle ...«

Er verstummte, als er durch die Türöffnung spähte. Der große Barmann war nicht losgelaufen, um jemanden zu holen. Nein, er stand immer noch im Schankraum des Saloons, gestikulierte zur Tür des Nebenraums und drängte die versammelten Gangster und Schurken, aufzustehen und sich zu bewaffnen. Sie schienen zu zögern, und manche machten wütende Gesten, aber mehr als nur ein paar hatten die Waffen gezogen.

»Verdammt«, flüsterte Lessie.

»Den gleichen Weg raus, wie Sie hereinkamen?«, fragte Waxillium.

Ihre Antwort bestand darin, die Tür mit äußerster Vorsicht zu schließen, ihn zur Seite zu schieben und zum Fenster zu hasten. Sie packte das Fensterbrett, um hinauszusteigen, aber in der Nähe krachte ein Schuss, und Holzsplitter platzten vom Sims.

Lessie fluchte und ließ sich zu Boden fallen. Waxillium tauchte neben ihr ab.

»Scharfschütze!«, zischte er.

»Sind Sie immer so aufmerksam, Mister Halstuch?«

»Nein, nur wenn auf mich geschossen wird.« Er spähte über die Kante des Fensterbretts, doch ringsum gab es ein Dutzend Stellen, an denen sich ein Scharfschütze verstecken konnte. »Das ist ein Problem.«

»Da ist wieder diese rasiermesserscharfe Beobachtungsgabe.« Lessie kroch über den Boden auf die Tür zu.

»Ich meinte das in mehrerlei Hinsicht«, wandte Waxillium ein und durchquerte ebenfalls in gebückter Haltung den Raum. »Wieso hatten sie Zeit, einen Scharfschützen in Stellung zu bringen? Offenbar wussten sie, dass ich heute hier auftauche. Das Ganze könnte eine Falle sein.«

Lessie fluchte leise, als sie die Tür erreichte und sie wieder einen Spaltbreit öffnete. Die Gangster stritten leise und deuteten zur Tür.

»Sie nehmen mich ernst«, sagte Waxillium. »Ha! Mein Ruf eilt mir voraus. Sehen Sie das? Sie haben Angst!«

»Glückwunsch«, erwiderte sie trocken. »Glauben Sie, ich bekomme eine Belohnung, wenn ich Sie erschieße?«

»Wir müssen nach oben«, sagte Waxillium mit Blick auf eine Treppe dicht vor der Tür.

»Was soll uns das bringen?«

»Nun ja, zum einen sind alle Bewaffneten, die uns umbringen wollen, hier unten. Ich wäre lieber irgendwo anders, und die Treppe ist einfacher zu verteidigen als dieser Raum. Abgesehen davon finden wir vielleicht auf der anderen Hausseite ein Fenster und können fliehen.«

»Ja, wenn Sie zwei Stockwerke tief springen wollen.«

Springen war für einen Münzwerfer kein Problem. Waxillium konnte im Fallen ein Stück Metall werfen und sich davon abstoßen, sodass er sicher landete. Er war außerdem ein Ferrochemiker und konnte seine Metallgeister nutzen, um sein Gewicht noch weit mehr als derzeit zu reduzieren – bis dahin, dass er praktisch schwebte.

Allerdings waren Waxilliums Fähigkeiten nicht allgemein bekannt, und das sollte auch so bleiben. Er hatte die Geschichten seines wundersamen Überlebens gehört, und ihm gefiel diese mystische Aura. Es gab natürlich Spekulationen, dass er ein Metallgeborener sei, aber solange die Leute nicht genau wussten, worin seine Macht bestand, genoss er einen Vorteil.

»Hören Sie, ich laufe zur Treppe«, sagte er zu der Frau. »Wenn Sie hier unten bleiben und sich den Weg freikämpfen wollen, von mir aus. Damit bieten Sie mir die ideale Ablenkung.«

Sie warf ihm einen Blick zu und lächelte. »Also gut. Wir machen es auf Ihre Art. Aber wenn wir erschossen werden, schulden Sie mir einen Drink.«

Irgendwas an ihr kommt mir bekannt vor, dachte Waxillium. Er nickte, zählte leise bis drei, dann platzte er durch die Tür und richtete seine Waffe auf den nächstbesten Gangster. Der Mann sprang zurück, als Waxillium dreimal schoss – und ihn verfehlte. Seine Kugeln trafen stattdessen das Klavier und brachten mit jedem Einschlag einen Misston zum Erklingen.

Lessie drängelte sich hinter ihm heraus und steuerte auf die Treppe zu. Die zusammengewürfelte Horde von Schlägertypen hob mit erschrockenen Schreien die Waffen. Waxillium schwang seinen Revolver zurück – damit er seiner Allomantie nicht in die Quere kam – und drückte leicht gegen die blauen Linien, die von ihm zu den Männern im Raum führten. Sie eröffneten das Feuer, doch sein Schub hatte ihre Waffen so stark abgelenkt, dass sie ihr Ziel verfehlten.

Waxillium folgte Lessie auf der Flucht vor dem Kugelhagel die Stufen hinauf.

»Heilige Scheiße!«, stieß Lessie hervor, als sie den ersten Treppenabsatz erreichten. »Wir leben noch.« Mit geröteten Wangen blickte sie zu ihm zurück.

Jetzt klickte etwas in Waxilliums Gehirn. »Ich habe Sie doch schon mal gesehen«, sagte er.

»Nein, haben Sie nicht.« Sie wandte den Blick ab. »Belassen wir es ...«

»Im Weeping Bull«, erklärte Waxillium. »Die Tänzerin!«

»O Gott im Jenseits!«, rief sie, während sie ihm vorausging. »Sie erinnern sich.«

»Ich wusste, dass Sie nicht echt waren. Nicht einmal Rusko würde eine so unkoordinierte Tänzerin einstellen, egal, wie hübsch ihre Beine sind.«

»Können wir jetzt bitte aus dem Fenster springen?«, fragte sie, während sie das obere Stockwerk auf Anzeichen von Gangstern hin überprüfte.

»Was haben Sie dort gemacht? Waren Sie hinter einem Kopfgeld her?«

»Ja, irgendwie schon.«

»Und Sie wussten wirklich nicht, dass die Sie zwingen würden ...«

»Das Gespräch ist beendet.«

Sie betraten das obere Stockwerk, und Waxillium wartete kurz, bis ein Schatten an der Wand deutlich machte, dass ihnen jemand nach oben folgte. Er feuerte auf den Gangster, der dort auftauchte, traf wieder nicht, trieb den Mann aber zurück. Unten hörte er Flüche und Streitgespräche. Die Männer im Saloon mochten Granit-Joe gehören, aber sie waren nicht übermäßig loyal. Die ersten auf der Treppe würden mit ziemlicher Sicherheit erschossen werden, und keiner riss sich darum, das Risiko einzugehen.

Das verschaffte Waxillium etwas Zeit. Lessie drang in ein Zimmer vor und ging an einem leeren Bett vorbei, neben dem ein Stiefelpaar stand. Dann öffnete sie das Fenster auf jener Seite, die dem Scharfschützen gegenüberlag.

Vor ihnen erstreckte sich die Stadt Wettering, eine einsame Ansammlung von Geschäften und Wohnhäusern, geduckt, als würde sie – vergeblich – auf den Tag warten, an dem die Eisenbahn ihre Finger bis hierher ausstrecken würde. In mittlerer Entfernung, jenseits der ärmlichen Gebäude, grasten träge einige Giraffen: die einzige Spur von tierischem Leben in der ausgedehnten Ebene.

Vom Fenster aus ging es steil nach unten, ohne ein Dach, auf das man hätte klettern können. Argwöhnisch betrachtete Lessie den Boden. Waxillium steckte die Finger in den Mund und pfiff scharf.

Nichts passierte.

Er pfiff wieder.

»Was zum Henker tun Sie da?«, wollte Lessie wissen.

»Mein Pferd rufen«, antwortete Waxillium, dann pfiff er noch einmal. »Wir können in den Sattel springen und davonreiten.«

Sie starrte ihn an. »Sie meinen das ernst.«

»Natürlich. Wir haben geübt.«

Eine einsame Gestalt bog in die Straße unter ihnen ab: der Junge, der Waxillium gefolgt war. »Äh, Wax?«, rief er herauf. »Destroyer steht einfach nur da und trinkt.«

»Verdammt«, knurrte Waxillium.

Lessie musterte ihn. »Ihr Pferd heißt ...«

»Sie ist ein bisschen zu friedlich, okay?«, schnauzte Waxillium und kletterte auf das Fensterbrett. »Ich dachte, der Name würde sie vielleicht inspirieren.« Er legte die Hand an den Mund. »Wayne! Bring sie hier rüber! Wir springen!«, rief er zu dem Jungen hinab.

»Gar nichts tun wir«, widersprach Lessie. »Glauben Sie, ein Sattel ist magisch und verhindert, dass wir dem Pferd den Rücken brechen, wenn wir hineinkrachen?«

Waxillium zögerte. »Nun ja, ich habe gelesen, dass manche so etwas tun ...«

»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte Lessie. »Und als Nächstes fordern Sie Granit-Joe heraus, stellen sich auf die Straße und veranstalten um zwölf Uhr mittags ein gutes, altmodisches Duell.«

»Glauben Sie, das würde klappen? Ich ...«

»Nein, es würde nicht klappen!«, fuhr sie ihn an. »Niemand tut so etwas. Es ist dumm. Ruin! Wie haben Sie Peret den Schwarzen denn nun wirklich ausgeschaltet?«

Eine Weile starrten sie sich an.

»Na ja ...«, begann Waxillium.

»Ach, verdammt! Sie haben ihn auf dem Scheißhaus erwischt, oder?«

Waxillium grinste. »Ja.«

»Haben Sie ihm auch in den Rücken geschossen?«

»So tapfer wie je ein Mann einen anderen in den Rücken geschossen hat.«

»Hm. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für Sie.«

Er nickte in Richtung Fenster. »Springen?«

»Klar. Warum sich nicht beide Beine brechen, bevor man erschossen wird? Wir können genauso gut aufs Ganze gehen, Mister Halstuch.«

»Ich glaube, wir schaffen das schon, Miss rosa Strumpfband.«

Sie hob die Brauen.

»Wenn Sie mich über meine Kleiderwahl definieren«, sagte er, »dann kann ich doch wohl dasselbe tun.«

»Decken wir am besten den Mantel des Schweigens darüber«, schlug sie vor und holte tief Luft. »Und jetzt?«

Er nickte, fachte seine Metalle an, bereitete sich darauf vor, Lessie festzuhalten und sie beide im Fall zu verlangsamen – gerade genug, damit es aussah, als hätten sie den Sprung auf wundersame Weise überlebt. Währenddessen bemerkte er aber, dass sich eine seiner blauen Linien bewegte – eine blasse, aber dicke Linie, die geradewegs auf die andere Straßenseite führte.

Das Fabrikfenster. Irgendetwas dahinter warf das Sonnenlicht zurück.

Ohne Zögern packte Waxillium Lessie und zog sie nach unten. Den Bruchteil einer Sekunde später pfiff eine Kugel über ihre Köpfe hinweg und traf die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raums.

»Noch ein Scharfschütze«, zischte sie.

»Ihre Beobachtungsgabe ist ...«

»Ruhe jetzt!«, unterbrach sie ihn. »Und nun?«

Waxillium furchte die Stirn, während er nachdachte. Er warf einen Blick auf das Einschussloch der Kugel und schätzte die Flugbahn ab. Der Scharfschütze hatte zu hoch gezielt. Selbst wenn sich Waxillium nicht geduckt hätte, wäre ihm wahrscheinlich nichts passiert.

Warum zielte er so hoch? Die Bewegung der blauen Linie zu der Waffe hatte angezeigt, dass der Scharfschütze laufen musste, um in seine Schussposition zu kommen. Hatte er nur zu hastig gezielt? Oder gab es einen unheilvolleren Grund? Um mich vom Himmel zu holen? Wenn ich aus dem Fenster geflogen wäre?, dachte Waxillium.

Er hörte Schritte auf der Treppe, sah aber keine blauen Linien. Fluchend kroch er hinüber und spähte hinaus. Mehrere Männer schlichen die Treppe herauf, aber nicht die üblichen Schlägertypen von unten. Diese Männer trugen enge weiße Hemden, Bleistiftbärte und waren mit Armbrüsten bewaffnet. Kein Stück Metall an ihnen.

Rost! Sie wussten, dass er Münzwerfer war, und Granit-Joe hatte ein Mordaufgebot für ihn bereitstehen.

Er duckte sich in den Raum zurück und ergriff Lessie am Arm. »Ihr Informant sagte, Granit-Joe sei im Gebäude?«

»Ja«, bestätigte sie. »Das ist er ganz bestimmt. Er bleibt gern in der Nähe, wenn sich eine Gang versammelt, und behält seine Männer stets im Auge.«

»Dieses Gebäude besitzt einen Keller.«

»... und?«

»Also halten Sie sich fest!«

Er packte sie mit beiden Händen und rollte sich mit ihr auf den Boden, was ihr erst einen leisen Aufschrei und gleich darauf einen Fluch entlockte. Er hielt sie auf dem Körper fest und verstärkte sein Gewicht.

Inzwischen hatte er, nachdem er es wochenlang abgezapft hatte, sehr viel davon in seinem Metallgeist gespeichert. Jetzt zog er alles hervor und vergrößerte sein Gewicht innerhalb von kürzester Zeit um ein Vielfaches. Der Holzboden knackte und brach unter ihm auf.

Waxillium fiel durch das Loch, seine feine Kleidung wurde zerrissen, er stürzte hinab und zog Lessie mit sich. Mit zusammengekniffenen Augen übte er Druck auf Hunderte von blauen Linien hinter sich aus, die zu Nägeln im Boden unter ihm führten. Er sprengte sie nach unten weg, zertrümmerte damit den Boden im Erdgeschoss und öffnete den Weg in den Keller.

In einem Regen aus Staub und Splittern brachen sie durch den Boden im Erdgeschoss. Waxillium schaffte es, ihren Fall mit einem Stahlschub zu verlangsamen, aber sie landeten trotzdem hart auf einem Tisch in einem Kellerraum.

Waxillium stieß ein keuchendes Ächzen aus, zwang sich aber, sich umzudrehen und die Holzsplitter abzuschütteln. Zu seiner Überraschung war der Keller mit feinem Hartholz getäfelt und wurde von Lampen in Form üppiger Frauenkörper beleuchtet. Den Tisch, auf den sie gefallen waren, bedeckte ein wertvolles weißes Tischtuch, das jetzt zu einem Bündel zusammengeknüllt war. Die Tischbeine waren abgeknickt, und der Tisch selbst stand schief.

Am Kopfende des Tischs saß ein Mann. Waxillium schaffte es, inmitten der Trümmer aufzustehen und eine Waffe auf den Kerl zu richten, der ein klobiges Gesicht und dunkle blaugraue Haut hatte – das Kennzeichen eines Mannes mit Koloss-Blut. Granit-Joe. Der Serviette nach zu schließen, die er sich in den Kragen gestopft hatte, war er anscheinend beim Abendessen gestört worden. Darauf deutete auch die verschüttete Suppe auf dem zertrümmerten Tisch hin.

Lessie rollte sich stöhnend herum und klopfte sich etliche Splitter von der Kleidung. Ihr Gewehr war anscheinend im oberen Stockwerk zurückgeblieben. Waxillium hielt seine Pistole fest im Griff, während er die beiden Leibwächter in Staubmänteln beäugte, die hinter Granit-Joe standen: einen Mann und eine Frau – Geschwister, so hatte er gehört, und Meisterschützen. Sie waren offenbar von seinem Sturz überrascht worden, denn sie hatten zwar die Hände an den Waffen, hatten sie aber nicht gezogen.

Waxillium hielt die Pistole auf Granit-Joe gerichtet und besaß damit die Oberhand. Wenn er aber wirklich schoss, würden ihn die Geschwister augenblicklich töten. Vielleicht hatte er seine Angriffstaktik nicht so gut durchdacht, wie er es hätte tun sollen.

Joe kratzte in den Überresten seiner zerbrochenen Schüssel herum, die von roten Spritzern auf der Tischdecke eingerahmt wurden. Er schaffte es, etwas von der Suppe auf den Löffel zu bekommen, und hob ihn an die Lippen. »Du«, sagte er, nachdem er die Suppe geschlürft hatte, »solltest tot sein.«

»Vielleicht solltest du eine neue Gangstertruppe zusammenstellen«, erwiderte Waxillium. »Die dort oben taugen nicht viel.«

»Ich meinte nicht sie«, berichtigte ihn Joe. »Wie lange bist du schon hier oben im Rauland und machst Ärger? Zwei Jahre?«

»Ein Jahr«, erwiderte Waxillium. Er war zwar schon länger hier, hatte aber erst vor Kurzem angefangen, Ärgerzu machen, wie Joe es nannte.

Granit-Joe schnalzte mit der Zunge. »Glaubst du, solche wie dich gab es hier noch nie, Sohn? Blauäugig, mit tief hängendem Pistolengürtel und glänzenden neuen Sporen? Gekommen, um unsere rauen Sitten zu ändern? Wir sehen jedes Jahr Dutzende von deiner Sorte. Die anderen sind so anständig und lernen, wie man sich bestechen lässt, oder sterben, bevor sie zu viel kaputtmachen. Nur du nicht.«

Er schindet Zeit, dachte Waxillium. Er wartet, dass die Männer von oben heruntergerannt kommen.

»Waffen fallen lassen!«, verlangte Waxillium und richtete die Waffe auf Joe. »Fallen lassen, oder ich schieße!«

Die beiden Wächter rührten sich nicht. Keine Metalllinien bei der Wache rechts, dachte Waxillium. Bei Joe auch nicht. Der auf der linken Seite hatte eine Handfeuerwaffe und vertraute vielleicht darauf, dass er schneller ziehen konnte als ein Münzwerfer. Die anderen beiden, so hätte er gewettet, hatten schicke Hand-Armbrüste in den Holstern. Einschüssig, hergestellt aus Holz und Keramik. Gebaut, um Münzwerfer zu töten.

Nicht einmal mit Allomantie hätte Waxillium alle drei töten können, ohne selbst erschossen zu werden. Schweiß rann ihm an den Schläfen hinab. Er war versucht, einfach abzudrücken und zu schießen, aber dann wäre er tot gewesen. Und sie wussten das. Es war eine Pattsituation, aber sie hatten Verstärkung.

»Du gehörst nicht hierher.« Joe beugte sich vor, die Ellbogen auf den zerbrochenen Tisch gestützt. »Wir sind hier, weil wir Typen wie dir entgehen wollten. Euren Regeln. Eurer Überheblichkeit. Wir wollen euch hier nicht.«

»Falls das stimmen sollte«, widersprach Waxillium, überrascht, wie ruhig seine Stimme klang, »dann kämen die Leute nicht zu mir und wären verzweifelt, weil du ihre Söhne umgebracht hast. Vielleicht könnt ihr hier oben auf Elantels Gesetze verzichten, das heißt aber nicht, dass ihr überhaupt keine Gesetze braucht. Und es heißt nicht, dass Kerle wie du tun und lassen können, was sie wollen.«

Die Hand am Holster, stand Granit-Joe kopfschüttelnd auf. »Dies ist nicht dein Lebensraum, Sohn. Hier oben hat jeder seinen Preis. Wenn nicht, passt er nicht hierher. Du wirst sterben, langsam und qualvoll, wie ein Löwe in deiner Stadt stürbe. Was ich heute tue, ist ein Akt der Gnade.«

Joe zog seine Waffe.

Waxillium reagierte schnell und stieß sich von den Wandlampen zu seiner Rechten ab. Sie waren fest verankert, deshalb drückte ihn sein allomantischer Schub nach links. Dann drehte er die Waffe und feuerte.

Joe schaffte es, seine Armbrust zu ziehen, und schoss, doch der Pfeil verfehlte Waxillium und schwirrte an jener Stelle durch die Luft, wo Waxillium eben noch gestanden hatte. Dessen eigene Kugel traf dieses eine Mal, erwischte die Leibwächterin, die ebenfalls ihre Armbrust gezogen hatte. Sie fiel zu Boden, und während Waxillium gegen die Wand krachte, übte er weiter allomantischen Druck aus – womit er dem anderen Leibwächter die Waffe aus der Hand schlug, während dieser feuerte.

Waxilliums Schub schleuderte ihm leider auch selbst die Waffe aus der Hand – doch immerhin in Richtung des zweiten Leibwächters. Sie traf den Mann voll im Gesicht und brachte ihn zu Fall.

Waxillium gewann sein Gleichgewicht zurück und spähte zu Joe hinüber. Der wirkte reichlich verdutzt, dass seine beiden Leibwächter außer Gefecht gesetzt waren. Zum Überlegen blieb keine Zeit. Waxillium stürzte auf den kolossblütigen Mann zu. Wenn er an irgendein Metall herankäme, das er als Waffe benutzen konnte, vielleicht ...

Hinter ihm klickte eine Waffe. Waxillium erstarrte, blickte über die Schulter und erkannte Lessie, die eine kleine Hand-Armbrust auf ihn gerichtet hielt.

»Hier draußen hat jeder seinen Preis«, sagte Granit-Joe.

Waxillium starrte den Armbrustbolzen mit der Obsidianspitze an. Wo hatte sie das Ding versteckt? Er schluckte schwer.

Sie hat sich selbst in Gefahr gebracht, ist mit mir die Treppe heraufgekrochen, dachte er. Wie kann es sein, dass ...

Aber Joe hatte von seiner Allomantie gewusst. Sie ebenfalls. Lessie hatte gewusst, dass er die Kugeln der Gangster ablenken konnte, als sie ihm über die Treppe gefolgt war.

»Na endlich«, brummte Joe. »Kannst du mir erklären, warum du ihn nicht einfach in dem Nebenraum erschossen hast, in den ihn der Barmann gesteckt hatte?«

Sie antwortete nicht, sondern musterte Waxillium. »Ich habe Sie gewarnt, dass alle im Saloon in Joes Diensten stehen«, bemerkte sie.

»Ich ...« Waxillium räusperte sich. »Ich finde Ihre Beine immer noch hübsch.«

Sie erwiderte seinen Blick und seufzte. Dann drehte sie die Armbrust und schoss Granit-Joe in den Hals.

Waxillium blinzelte, während der massige Mann gurgelnd und blutend zu Boden sank.

»Ehrlich?«, fragte Lessie und starrte Waxillium finster an. »Mehr fällt Ihnen nicht ein, um mich rumzukriegen? Sie haben hübsche Beine. Ernsthaft? Sie sind hier draußen so was von verloren, Halstuch.«

Waxillium atmete erleichtert auf. »Ach, Einträchtiger! Ich war überzeugt, dass Sie mich erschießen wollten.«

»Hätte ich auch machen sollen«, zischte sie. »Ich fasse es nicht ...«

Ein Poltern auf der Treppe unterbrach sie, als die Schurkentruppe von oben endlich ihren Mumm zusammengekratzt hatte und die Treppe herunterstürmte. Ein gutes halbes Dutzend von ihnen platzte mit gezogenen Waffen in den Raum.

Lessie stürzte sich auf die Pistole des gefallenen Leibwächters.

Waxillium dachte eilig nach, dann tat er, was ihm am natürlichsten erschien. Er stellte sich in theatralischer Pose mitten in den Schutt, einen Fuß aufgestellt, Granit-Joe tot neben sich, beide Leibwächter gefällt. Von der zerstörten Decke rieselte immer noch der Staub, erleuchtet vom Sonnenlicht, das durch ein Fenster hereinfiel.

Die Gangster blieben stehen. Sie betrachteten den gefallenen Leichnam ihres Bosses, dann staunten sie Waxillium an.

Wie Kinder, die in der Speisekammer beim Keksstehlen erwischt wurden, senkten sie schließlich die Waffen. Um zu entkommen, drängelten sich die Vordersten nach hinten, und das ganze lärmende Durcheinander schwärmte wieder die Treppe hinauf. Zurück blieb nur verloren der Barmann, der als Letzter floh.

Waxillium drehte sich um, streckte Lessie eine Hand entgegen und half ihr auf die Beine. Sie sah der fliehenden Banditenhorde nach, deren Stiefel in der Hast ihrer Flucht auf die Holzdielen donnerten. Innerhalb von Augenblicken war es still in dem Gebäude.

»Hm«, sagte sie. »Sie sind so überraschend wie ein Esel, der tanzen kann, Mister Halstuch.«

»Es ist hilfreich, wenn man sein spezielles Ding hat«, bemerkte Waxillium.

»Stimmt. Finden Sie, ich sollte mir auch eins ausdenken?«

»Mir mein eigenes Ding zuzulegen, war eine der besten Entscheidungen, die ich seit meinem Aufenthalt im Rauland getroffen habe.«

Lessie nickte langsam. »Ich habe keine Ahnung, wovon wir da sprechen, aber es klingt irgendwie schmutzig.« Sie warf einen Blick an ihm vorbei auf den Leichnam von Granit-Joe, der in einer Pfütze seines eigenen Bluts leblos in die Luft starrte.

»Danke, dass Sie mich nicht ermordet haben«, sagte Waxillium.

»Ach, ich hätte ihn sowieso irgendwann umgebracht, um mir das Kopfgeld zu holen.«

»Ja, tja ... aber vermutlich wollten Sie das nicht vor seiner Bande in einem Keller ohne Fluchtmöglichkeit durchziehen.«

»Stimmt. Das war ziemlich dumm von mir.«

»Warum also?«

Sie betrachtete weiterhin den Leichnam. »In Joes Namen habe ich einiges getan, das ich inzwischen bereue. Aber soweit ich weiß, habe ich nie einen Mann erschossen, der es nicht verdient hätte. Sie zu töten ... na ja, das wäre mir irgendwie vorgekommen, als würde ich das töten, wofür Sie stehen. Verstehen Sie?«

»Ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.«

Sie rieb sich einen blutigen Kratzer am Hals, den sie sich beim Sturz durch die gesplitterten Holzbalken zugezogen hatte. »Nächstes Mal wird das aber hoffentlich nicht so ein Riesenchaos. Ich mochte diesen Saloon.«

»Ich gebe mir Mühe«, versprach Waxillium. »Ich habe vor, hier draußen einiges zu verändern. Wenn nicht das ganze Rauland, dann zumindest diese Stadt.«

»Tja ...«, meinte Lessie und näherte sich Granit-Joes Leichnam. »Wenn in Zukunft böse Klaviere über einen Angriff auf die Stadt nachdenken, müssen Sie sich das angesichts Ihrer Kunstfertigkeit mit der Pistole gut überlegen.«

Waxillium verzog schmerzlich das Gesicht. »Sie ... Sie haben es bemerkt, wie?«

»Hab selten eine solche Meisterleistung gesehen«, stellte sie fest, während sie niederkniete und Joes Taschen durchsuchte. »Drei Schüsse, drei verschiedene Töne, kein einziger Bandit getroffen. Das erfordert Können. Vielleicht sollten Sie ein bisschen weniger mit Ihrem Ding herumexperimentieren und mehr mit Ihrer Waffe.«

»Also, das klang jetzt wirklich schmutzig.«

»Gut. Ich bin ungern aus Versehen derb.« Sie beförderte Joes Brieftasche zutage, lächelte, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf. Über ihnen, in dem Loch, das Waxillium geschlagen hatte, tauchte ein Pferdekopf auf, gefolgt von einem kleinen menschlichen Kopf mit einem zu großen Bowlerhut. Woher hatte er den?

Destroyer schnaubte zur Begrüßung.

»Na klar, jetzt kommst du daher«, beschwerte sich Waxillium. »Dummes Pferd.«

»Nun ja«, sagte Lessie, »mir scheint das ein verdammt kluges Pferd zu sein, wenn es sich während einer Schießerei von Ihnen fernhält.«

Waxillium hielt ihr lächelnd die Hand entgegen. Sie nahm sie, und er zog sie an sich. Dann hob er Lessie und sich an einer Linie aus blauem Licht entlang aus den Trümmern.

TEIL 1

1

Siebzehn Jahre später

Leise lächelnd betrachtete Winsting den Sonnenuntergang. Es war der ideale Abend, um sich zu versteigern.

»Ist mein Schutzraum vorbereitet?«, fragte er, während er locker das Balkongeländer umfasste. »Für alle Fälle?«

»Ja, Lord Winsting.« Flog trug seinen albernen Rauland-Hut und einen Staubmantel, als wäre er nie aus dem Becken von Elantel herausgekommen. Der Mann war trotz seines fürchterlichen Sinns für Mode ein hervorragender Leibwächter, aber Winsting hielt die Emotionen des Mannes trotzdem fest im Griff und verstärkte Flogs Sinn für Ergebenheit. Man konnte nie vorsichtig genug sein.

»Mylord?«, fragte Flog mit einem kurzen Blick in den Raum hinter ihnen. »Sie sind alle da. Sind Sie bereit?«

Ohne sich von der untergehenden Sonne abzuwenden, hob Winsting den Zeigefinger, um den Leibwächter zum Schweigen zu bringen. Vom Balkon im vierten Oktanten von Elantel aus hatte man einen Blick auf den Kanal und das Zentrum der Stadt – also hatte er einen hübschen Ausblick auf das Feld der Wiedergeburt. Lange Schatten erstreckten sich, von den Denkmälern der Erhobenen Kriegerin und des Letzten Herrschers ausgehend, in den grünen Park, wo einer fantasievollen Legende nach ihre Gebeine nach dem Ende der Asche und der Letzten Erhebung gefunden worden waren.

Die Luft war schwül, leicht gemildert durch eine kühle Brise von der Hammondar Bay, die einige Meilen westlich lag. Winsting trommelte mit den Fingern auf die Balkonbrüstung und sandte geduldig Impulse allomantischer Macht aus, um die Gefühle aller jener zu formen, die sich hinter ihm im Raum befanden. Oder zumindest aller jener, die dumm genug waren, nicht ihre aluminiumgefütterten Hüte zu tragen.

Jeden Moment ist es so weit ...

Zunächst als feine Punkte wie Nadelspitzen in der Luft breitete sich der Nebel vor ihm aus wie Frost auf einer Fensterscheibe. Wie Ranken, die sich umeinanderwanden, zu Flüssen wurden, dann zu Strömen aus Bewegung, die sich über die Stadt legten. Sie verschluckten. Sie verzehrten.

»Eine neblige Nacht«, stellte Flog fest. »Das ist wirklich Pech.«

»Sei nicht dumm!«, wies ihn Winsting zurecht und rückte seine Krawatte gerade.

»Er beobachtet uns«, erklärte Flog. »Die Nebel sind seine Augen, Herr. Das ist so sicher wie der Ruin.«

»Abergläubischer Unsinn.« Winsting drehte sich um und betrat mit großen Schritten den Raum. Hinter ihm schloss Flog die Türen, bevor der Nebel in die Party sickern konnte.

Die zwei Dutzend Gäste – mit den unvermeidlichen Leibwächtern –, die dort herumstanden und sich unterhielten, waren eine ausgewählte Gruppe. Nicht nur wichtig, sondern trotz ihres bemühten Lächelns und des bedeutungslosen Geplauders auch untereinander zerstritten. Er bevorzugte bei derlei Veranstaltungen Rivalen. Sie sollten einander ruhig beobachten, sollten den Preis kennen, wenn sie den Wettstreit um seine Gunst verloren.

Winsting mischte sich unter die Anwesenden. Leider trugen viele von ihnen tatsächlich Hüte, deren Aluminiumfutter sie vor emotionaler Allomantie schützte – obwohl er jedem einzelnen Anwesenden persönlich versichert hatte, dass keiner der anderen Besänftiger oder Aufwiegler bei sich haben werde. Natürlich hatte er von seinen eigenen Fähigkeiten nichts erzählt. Die anderen wussten nicht, dass er ein Allomant war.

Er blickte zum anderen Ende des Raums hinüber, wo sich Blome um die Bar kümmerte. Der Mann schüttelte den Kopf. Keiner sonst im Raum verbrannte Metall. Hervorragend.

Winsting schlenderte zur Bar hinüber, drehte sich um und hob die Hände, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Geste enthüllte die funkelnden diamantenen Manschettenknöpfe an seinem gestärkten weißen Hemd. Die Fassungen bestanden natürlich aus Holz.

»Meine Damen und Herren«, hob er an, »willkommen bei unserer kleinen Auktion! Ab sofort kann geboten werden, bis ich das Gebot höre, das mir am meisten zusagt.«

Weiter sagte er nichts, denn zu viel Gerede tötete die Stimmung ab. Winsting nahm den Drink an, den ihm einer seiner Kellner anbot, und mischte sich wieder unter die Gäste, dann zögerte er und überblickte die Menge. »Edwarn Ladrian ist nicht hier«, sagte er leise. Er weigerte sich, den Mann bei seinem albernen Spitznamen zu nennen: Mister Suit.

»Nein«, bestätigte Flog.

»Hast du nicht gesagt, alle seien gekommen?«

»Alle, die sich angekündigt hatten«, erwiderte Flog und scharrte unbehaglich mit den Füßen.

Winsting schürzte die Lippen, verbarg ansonsten aber seine Enttäuschung. Er war überzeugt gewesen, sein Angebot habe Edwarn neugierig gemacht. Vielleicht hatte der Mann bei einem der anderen Könige der Unterwelt in diesem Raum eingekauft. Darüber musste er nachdenken.

Winsting arbeitete sich zu dem Tisch in der Mitte des Raums vor, auf dem das symbolische Herzstück der Veranstaltung präsentiert wurde. Es war das Gemälde einer liegenden Frau. Winsting hatte es selbst gemalt, und er wurde besser.

Das Gemälde war wertlos, aber die Eingeladenen würden ihm dennoch riesige Summen dafür bieten.

Der Erste, der sich ihm näherte, war Dowser, der die meisten Schmuggelgeschäfte mit dem fünften Oktanten unter sich hatte. Sein Dreitagebart wurde von einem Bowlerhut überschattet, den er offenkundig nicht an der Garderobe gelassen hatte. Eine hübsche Frau an seinem Arm und ein maßgeschneiderter Anzug vermochten aus einem Mann wie Dowser trotzdem keinen Gentleman zu machen. Winsting rümpfte die Nase. Fast alle im Raum waren widerwärtiger Abschaum, doch die anderen besaßen wenigstens den Anstand, nicht danach auszusehen.

»Es ist potthässlich«, stellte Dowser fest, während er das Gemälde betrachtete. »Ich fasse es nicht, dass Sie uns dafür bieten lassen. Ein bisschen dreist, oder?«

»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich ganz offen wäre, Mister Dowser?«, fragte Winsting. »Soll ich es weit und breit hinausposaunen? Bezahlen Sie mich, dafür bekommenSie nächstes Jahr meine Stimme für Ihre Senatskandidatur.«

Dowser sah sich um, als erwarte er, dass die Polizei jeden Augenblick den Raum stürmen könne.

Winsting lächelte. »Beachten Sie bitte die verschiedenen Schattierungen von Aschgrau auf ihren Wangen! Eine Darstellung des Wesens der Welt vor dem Ende der Asche, nicht wahr? Mein bisher schönstes Werk. Möchten Sie ein Angebot machen? Um die Auktion zu eröffnen?«

Dowser schwieg. Irgendwann würde er ein Gebot abgeben. Jeder Einzelne in diesem Raum hatte sich wochenlang geziert, bevor er dem Treffen zugestimmt hatte. Die Hälfte der Gäste waren Unterweltbosse wie Dowser. Die anderen waren Winstings eigene Pendants: Lords und Ladys aus den führenden Adelshäusern, obwohl nicht weniger korrupt als die Unterweltbosse.

»Haben Sie keine Angst, Winsting?«, fragte die Frau an Dowsers Arm.

Winsting runzelte die Stirn. Er kannte sie nicht. Schmal und ungewöhnlich groß, mit kurzem goldenem Haar und einem rehäugigen Ausdruck.

»Angst, meine Liebe?«, fragte Winsting. »Vor den Gästen in diesem Raum?«

»Nein«, widersprach sie. »Dass Ihr Bruder herausfinden könnte ... was Sie tun.«

»Ich kann Ihnen versichern«, erwiderte Winsting, »dass Replar genau weiß, was ich bin.«

»Der Bruder des Gouverneurs höchstpersönlich lässt sich bestechen«, erklärte die Frau.

»Wenn Sie das ehrlich überrascht, meine Liebe«, sagte Winsting, »dann führen Sie ein allzu behütetes Leben. Auf diesem Markt wurden schon weit größere Fische als ich verkauft. Wenn der nächste Fang hereinkommt, werden Sie es vielleicht sehen.«

Diese Bemerkung weckte Dowsers Aufmerksamkeit. Winsting lächelte, als er sah, wie sich die Rädchen hinter Dowsers Stirn drehten. Ja, dachte Winsting, ich habe gerade angedeutet, dass womöglich sogar mein Bruder offen für Ihre Bestechungsgelder wäre. Vielleicht trieb dies das Angebot des Mannes in die Höhe.

Winsting ging, um ein paar Shrimps und Quiches vom Tablett eines Kellners auszuwählen. »Die Frau bei Dowser ist eine Spionin«, sagte er leise zu Flog, der ihm nicht von der Seite wich. »Vielleicht im Dienst der Polizei.«

Flog erschrak. »Mylord! Wir haben jeden der Anwesenden doppelt und dreifach überprüft.«

»Tja, aber die habt ihr übersehen«, flüsterte Winsting. »Ich würde mein Vermögen darauf verwetten. Folgt ihr nach der Veranstaltung! Wenn sie sich aus irgendeinem Grund von Dowser trennt, sorg dafür, dass sie einen Unfall hat!«

»Ja, Mylord.«

»Und Flog«, fuhr Winsting fort, »erledige es unkompliziert. Ich will nicht hören, dass du dir einen Ort ausgesucht hast, wo der Nebel nicht zusieht. Verstanden?«

»Ja, Mylord.«

»Hervorragend.« Winsting lächelte strahlend und ging zu Lord Hughes Entrone hinüber, dem Vetter und Vertrauensmann des Oberhaupts des Hauses Entrone.

Winsting mischte sich eine Stunde lang unters Volk, und langsam kamen die ersten Gebote herein. Manche der Anwesenden zögerten. Sie hätten ihn lieber persönlich getroffen und verdeckte Angebote abgegeben, um dann wieder in Elantels Halbwelt zu verschwinden. Unterweltbosse und Adlige gleichermaßen, sie alle zogen es vor, um ein Thema herumzutanzen, es nicht offen zu besprechen. Doch sie gaben ihre Gebote ab, und die waren nicht schlecht. Am Ende seiner ersten Runde durch den Raum hatte Winsting Mühe, seine Erregung im Zaum zu halten. Bald müsste er sich in seinen Ausgaben nicht mehr beschränken. Wenn sein Bruder ...

Der Schuss kam so unerwartet, dass er zunächst davon ausging, einer der Kellner habe etwas zerbrochen. Doch nein. Der Knall war so scharf, so ohrenbetäubend. Bisher hatte er noch nie gehört, wie eine Pistole in einem Raum abgefeuert wurde. Er hatte nicht gewusst, wie wuchtig das sein konnte.

Der Mund blieb ihm offen stehen, der Drink entglitt seinen Fingern, während er die Quelle des Schusses ausfindig zu machen versuchte. Ein weiterer Schuss folgte, dann noch einer, der Lärm wurde zu einem Gewitter. In einer Kakofonie des Todes feuerten verschiedene Seiten aufeinander.

Bevor er um Hilfe rufen konnte, hatte Flog ihn am Arm gepackt und schleppte ihn zur Treppe, die nach unten in den Schutzraum führte. Einer seiner anderen Leibwächter taumelte gegen den Türrahmen und glotzte mit aufgerissenen Augen auf das Blut, das sein Hemd nässte. Winsting starrte den sterbenden Mann so lange an, bis Flog ihn wegziehen und ins Treppenhaus schieben konnte.

»Was ist hier los?«, wollte Winsting schließlich wissen, während ein Wächter die Tür hinter ihnen zuknallte und abschloss. Die Leibwächter scheuchten ihn das düstere Treppenhaus hinunter, das in gleichmäßigen Abständen von elektrischen Glühbirnen schwach beleuchtet wurde. »Wer hat geschossen? Was ist passiert?«

»Keine Ahnung«, antwortete Flog. Über ihnen waren noch immer Schüsse zu hören. »Ging zu schnell.«

»Irgendjemand fing einfach zu schießen an«, berichtete ein anderer Leibwächter. »Könnte Dowser gewesen sein.«

»Nein, es war Darm«, widersprach ein anderer. »Ich habe den ersten Schuss aus seiner Gruppe gehört.«

So oder so war es eine Katastrophe. Winsting sah sein Vermögen im Stockwerk über ihnen einen blutigen Tod sterben, und ihm war übel, als er schließlich den Fuß der Treppe erreichte und vor einer Tür ankam, die wie der Eingang zu einer Schatzkammer aussah. Flog schob ihn über die Schwelle.

»Ich gehe wieder hinauf«, sagte Flog. »Mal sehen, was ich retten kann. Herausfinden, wer dahintersteckt.«

Winsting nickte, schloss die Tür und verriegelte sie von innen. Dann setzte er sich in einen Sessel, wartete und grübelte. Der kleine Raum glich einem Bunker, in dem es Wein und andere Annehmlichkeiten gab, doch das interessierte ihn nicht. Er rang die Hände. Was würde sein Bruder sagen? Rost! Was würden die Zeitungen schreiben? Er musste das Ganze irgendwie unter Verschluss halten.

Irgendwann klopfte es an der Tür, und Winsting warf einen Blick durch den Spion und erkannte Flog. Hinter ihm überwachte ein kleiner Trupp von Leibwächtern die Treppe. Es schien, als hätten die Schüsse aufgehört, obwohl es sich von hier unten nur wie schwaches Knallen angehört hatte.

Winsting öffnete die Tür. »Und?«

»Sie sind alle tot.«

»Alle?«

»Jeder Einzelne«, bestätigte Flog und betrat den Raum.

Winsting ließ sich schwer in seinen Sessel sinken. »Vielleicht ist das auch ganz gut«, murmelte er auf der Suche nach einem Lichtblick in dieser düsteren Katastrophe. »Dann kann uns niemand damit in Verbindung bringen. Vielleicht kommen wir einfach davon. Wir sollten irgendwie unsere Spuren verwischen.«

Eine gewaltige Aufgabe. Das Gebäude gehörte ihm. Er würde mit den Todesfällen in Verbindung gebracht werden. Er brauchte ein Alibi. Verdammt, er musste seinen Bruder aufsuchen. Das konnte ihn seinen Sitz kosten, selbst wenn die breite Öffentlichkeit nie erfuhr, was passiert war. Entmutigt sank er auf seinem Sitz zusammen. »Also?«, fragte er. »Was meint ihr?«

Als Antwort packte ein Händepaar Winsting an den Haaren, zog ihm den Kopf nach hinten und schnitt ihm zügig die ungeschützte Kehle durch.

2

Ich sollte wohl eins dieser Dinger schreiben, stand in dem kleinen Buch. Um meine Sicht auf alles zu erklären. Nicht die Seite, die die Historiker für mich erzählen werden. Ich bezweifle, dass sie es richtig hinbekommen werden. Und ich weiß sowieso nicht, ob ich das möchte.

Wax tippte mit dem Ende seines Bleistifts auf das Buch, dann kritzelte er eine Notiz auf ein loses Blatt.

»Ich überlege, ob ich die Boris-Brüder zur Hochzeit einlade«, sagte Steris auf der Couch, die jener gegenüberstand, auf der Wax saß.

Er grunzte etwas Unverständliches, ohne mit dem Lesen aufzuhören.

Ich weiß, Sazed ist nicht einverstanden mit meinem Tun, ging es in dem Buch weiter. Aber was erwartet er von mir? Da ich weiß, was ich weiß ...

»Die Boris-Brüder«, fuhr Steris fort. »Das sind Bekannte von dir, oder?«

»Ich habe ihren Vater erschossen«, erwiderte Wax, ohne aufzublicken. »Zweimal.«

Ich konnte sie nicht sterben lassen, las er. Es ist nicht richtig. Die Hämalurgie ist keine böse Kunst mehr, denke ich mir. Sazed ist jetzt beide Seiten, oder? Ruin ist nicht mehr da.

»Könnte es sein, dass sie versuchen werden, dich zu töten?«, fragte Steris.

»Boris junior hat geschworen, mein Blut zu trinken«, sagte Wax. »Boris der Dritte ... und ja, er ist der Bruder von Boris junior. Frag nicht ... Er hat geschworen ... was war es noch mal? Meine Zehen zu essen? Er ist kein kluger Mann.«

Wir können sie einsetzen. Wir sollten es tun. Oder nicht?

»Dann setze ich sie einfach auf die Liste«, schlug Steris vor.

Wax blickte seufzend von dem Buch auf. »Du willst meine Todfeinde einladen«, bemerkte er trocken. »Zu unserer Hochzeit.«

»Irgendjemanden müssen wir einladen«, erwiderte Steris. Sie hatte das blonde Haar zu einem Knoten hochgesteckt, die Papierstapel für ihre Hochzeitsvorbereitungen lagen ringsum ausgebreitet wie die Untertanen bei Hof. Ihr blaues Blumenkleid war modisch, ohne im Geringsten gewagt zu sein, und ihr zierlicher Hut saß so fest auf ihrem Kopf, als wäre er festgenagelt.

»Es gibt ganz sicher noch eine andere Auswahl an möglichen Gästen, die nicht meinen Tod wollen«, sagte Wax. »Wie ich höre, sind Familienmitglieder Tradition.«

»Tatsächlich«, erwiderte Steris, »glaube ich, dass deine übrigen Familienmitglieder dir durchaus den Tod wünschen.«

Da hatte sie nicht unrecht. »Nun gut, aber deine nicht. Zumindest nicht, soweit ich gehört habe. Wenn dir noch Gäste fehlen, lade doch mehr von denen ein.«

»Ich habe schon so viele aus meiner Familie eingeladen, wie es angemessen ist«, erklärte Steris. »Und alle meine Bekannten, denen Beachtung gebührt.« Sie nahm ein Blatt Papier in die Hand. »Du dagegen hast mir nur zwei Namen von Leuten gegeben, die ich einladen soll. Wayne und eine Frau namens Ranette, die – wie du notiert hast – wahrscheinlich nicht versuchen würde, dich bei deiner eigenen Hochzeit zu erschießen.«

»Höchstwahrscheinlich nicht«, stimmte Wax zu. »Sie hat schon seit Jahren nicht mehr versucht, mich umzubringen. Zumindest nicht ernsthaft.«

Seufzend legte Steris das Blatt beiseite.

»Steris ...«, begann Wax. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht gedankenlos sein. Ranette ist in Ordnung. Wir machen Scherze über sie, aber sie ist eine gute Freundin. Sie wird die Hochzeit nicht verderben. Das verspreche ich dir.«

»Wer dann?«

»Wie bitte?«

»Ich kenne dich seit einem ganzen Jahr, Lord Waxillium«, sagte Steris. »Ich nehme dich so, wie du bist, aber ich mache mir keine Illusionen. Irgendetwas wird bei unserer Hochzeit passieren. Ein Bösewicht wird wild um sich schießend mitten in die Feier platzen. Oder wir entdecken Sprengkörper im Altar. Oder Vater Bin wird sich unerklärlicherweise als alter Feind herausstellen und dich ermorden wollen, statt die Zeremonie durchzuführen. Es wird passieren. Ich versuche nur, mich darauf vorzubereiten.«

»Du meinst es ernst, nicht wahr?«, fragte Wax lächelnd. »Du denkst ernsthaft darüber nach, einen meiner Feinde einzuladen, damit du eine mögliche Unterbrechung planen kannst.«

»Ich habe sie nach Bedrohungsgrad und Zugangsmöglichkeiten sortiert.« Steris blätterte in ihren Notizen.

»Warte mal!« Wax stand auf und kam zu ihr herüber. Er beugte sich hinab und blickte über ihre Schulter hinweg auf die Papiere. Auf jedem Blatt stand eine detaillierte Biografie. »Ape Manton ... Die Dashir-Jungs ... Rost! Rick Stranger. Den hatte ich schon ganz vergessen. Woher hast du die alle?«

»Deine Heldentaten sind im Staatsarchiv abgelegt«, antwortete Steris. »Außerdem sind sie von zunehmendem öffentlichem Interesse.«

»Wie lange hast du dafür gebraucht?« Wax blätterte die Seiten auf dem Stapel durch.

»Ich wollte gründlich sein. So etwas hilft mir beim Nachdenken. Abgesehen davon wollte ich wissen, womit du dein Leben verbracht hast.«

Das war eigentlich sogar irgendwie süß. Auf ihre ganz eigene, merkwürdige Steris-Art.

»Du könntest auch Douglas Venture einladen«, schlug er vor. »Er ist so etwas wie ein Freund, verträgt aber keinen Alkohol. Du kannst dich darauf verlassen, dass er für Unruhe sorgen wird.«

»Sehr gut«, lobte Steris. »Und die anderen siebenunddreißig Plätze auf deiner Seite?«

»Dort könnten die Vorarbeiter der Schneiderinnen und der Schmiede meines Hauses sitzen«, sagte Wax. »Und die Polizeichefs der verschiedenen Oktanten. Das wäre eine nette Geste.«

»Na schön.«

»Wenn ich dir bei den Hochzeitsvorbereitungen helfen soll ...«

»Nein, die formelle Bitte zur Durchführung der Zeremonie, die du Vater Bin geschickt hast, war die einzige Aufgabe, die das Protokoll von dir verlangt. Den Rest kann ich erledigen, und das ist die ideale Beschäftigung für mich. Apropos Beschäftigung – eines Tages wüsste ich schon gern, was in dem kleinen Buch steht, das du so oft zurate ziehst.«

»Ich ...«

Unten wurde mit einem Knall die Haustür des Herrenhauses aufgerissen, und bestiefelte Füße trampelten die Treppe herauf. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür, und Wayne kam mehr oder weniger taumelnd herein. Darriance – der Hausdiener – stand entschuldigend dicht hinter ihm.

Wayne war drahtig und mittelgroß, hatte ein rundes, glatt rasiertes Gesicht und trug wie immer seine alte Rauland-Kleidung, obwohl ihm Steris mindestens dreimal eindringlich neue Kleidung angeboten hatte.

»Wayne, du könntest es mal mit der Klingel versuchen«, sagte Wax.

»Nö, das warnt den Butler«, erwiderte Wayne.

»Das ist der Sinn der Sache.«

»Aufdringliche kleine Scheißer«, bemerkte Wayne und knallte Darriance die Tür vor der Nase zu. »Denen kann man nicht trauen. Hör zu, Wax! Wir müssen gehen. Marksman hat wieder zugeschlagen.«

Na endlich!, dachte Wax. »Ich hole nur schnell meinen Mantel.«

Wayne warf einen Blick auf Steris. »’Ello, crazy«, sagte er und nickte ihr zu.

»Hallo, Idiot«, antwortete sie und nickte zurück.

Wax schloss seinen Pistolengürtel über dem feinen Stadtanzug mit Weste und Halstuch, dann warf er seinen Nebelmantel über. »Gehen wir!«, sagte er, während er seine Munition überprüfte.

Wayne drängte sich zur Tür hinaus und rannte die Treppe hinunter. Wax blieb kurz neben Steris’ Couch stehen. »Ich ...«

»Ein Mann braucht seine Steckenpferde«, erklärte sie und nahm ein Blatt Papier in die Hand, um es prüfend zu mustern. »Ich akzeptiere deine Hobbys, Lord Waxillium. Aber gib dir bitte Mühe, dir nicht ins Gesicht schießen zu lassen. Heute Abend haben wir einen Termin für die Hochzeitsporträts.«

»Ich denke daran.«

»Pass dort draußen auf meine Schwester auf!«, verlangte Steris.

»Es ist ein gefährlicher Fall.« Wax eilte bereits zur Tür. »Ich bezweifle, dass Marasi beteiligt sein wird.«

»Wenn du das glaubst, sind deine beruflichen Fähigkeiten fragwürdig. Es ist ein gefährlicher Fall, also sucht sie nach einer Möglichkeit, sich daran zu beteiligen.«

An der Tür zögerte Wax und warf einen Blick zu ihr zurück. Sie hob den Kopf, sah ihm in die Augen. Irgendwie hatte er das Gefühl, ihr Auseinandergehen sollte anders sein. Ein Abschied. Zuneigung.

Steris schien es auch zu spüren, aber keiner von beiden sagte etwas.

Wax neigte den Kopf, nahm einen Schluck Whiskey mit Metallspänen, stürmte zur Tür hinaus und warf sich über die Balkonbrüstung. Mit einem Schub gegen die Silbereinlegearbeiten im Marmorboden der Eingangshalle verlangsamte er sich und landete mit dem dumpfen Pochen von Stiefeln auf Stein. Darriance öffnete vor ihm die Haustür, und er rannte hinaus, um sich zu Wayne in die Kutsche zu gesellen. Für die Fahrt nach ...

Auf der Vortreppe erstarrte er. »Was zum Henker ist das?«

»Ein Automobil«, erklärte Wayne vom Rücksitz des Fahrzeugs aus.

Wax ächzte, eilte die Stufen hinunter und näherte sich der Maschine. Marasi saß hinter dem Lenkmechanismus; sie trug ein elegantes lavendelfarbenes Spitzenkleid. Sie sah viel jünger aus als ihre Halbschwester Steris, obwohl sie nur fünf Jahre trennten.

Sie war jetzt genau genommen Polizistin, Mitarbeiterin des Polizeichefs dieses Oktanten. Sie hatte ihm nie vollständig erklärt, warum sie ihre Karriere als Rechtsanwältin aufgegeben hatte, um sich der Polizei anzuschließen. Aber wenigstens hatte man sie nicht als Streifenpolizistin eingestellt, sondern als Analystin und Assistentin. In dieser Rolle war sie immerhin keinen Gefahren ausgesetzt.

Und doch war sie hier. Mit einem eifrigen Funkeln in den Augen drehte sie sich zu ihm um. »Steigen Sie nun ein oder nicht?«

»Was tun Sie denn hier?«, fragte Wax, während er die Tür mit einigem Zögern öffnete.

»Fahren. Wollen Sie das lieber Wayne überlassen?«

»Ich hätte lieber eine Kutsche und ein gutes Pferdegespann.« Wax ließ sich auf einem der Sitze nieder.

»Seien Sie nicht so altmodisch!«, schalt Marasi, bewegte den Fuß, und der teuflische Apparat machte einen Satz. »Marksman hat die First Union ausgeraubt, wie Sie vorhergesagt haben.«

Wax hielt sich fest. Er hatte vor drei Tagen vermutet, dass Marksman die Bank ausrauben werde. Als das nicht passiert war, hatte er angenommen, der Mann sei ins Rauland geflohen.

»Captain Reddi glaubt, Marksman wird in seinem Versteck im siebten Oktanten Schutz suchen«, bemerkte Marasi, während sie ein Pferdefuhrwerk überholte.

»Reddi irrt sich«, befand Wax. »Fahren Sie in Richtung der Breakouts!«

Sie widersprach nicht. Das Automobil rumpelte und rüttelte, bis sie auf den neuen gepflasterten Abschnitt gelangten, wo die Straße glatt wurde und das Fahrzeug beschleunigte. Dies war eins der modernsten Automobile; die Zeitungen hatten klug über das Modell dahergeredet, es besaß Gummireifen und einen Ottokraftstoffmotor.

Die ganze Stadt verwandelte sich, um sich nach ihnen zu richten. Ganz schön viele Umstände, damit die Leute diese Höllenmaschinen fahren können, dachte Wax säuerlich. Pferde brauchten keinen so glatten Untergrund – obwohl er zugeben musste, dass das Automobil bemerkenswert gut abbog, als Marasi mit voller Geschwindigkeit eine Kurve nahm.

Trotzdem war es ein fürchterlicher, lebloser Haufen Zerstörung.

»Sie sollten eigentlich nicht hier sein«, sagte Wax, als Marasi eine weitere Kurve nahm.

Sie hielt den Blick nach vorn gerichtet. Hinter ihnen lehnte Wayne halb aus dem Fenster, hielt den Hut auf dem Kopf fest und grinste.

»Sie sind ausgebildete Anwältin«, fuhr Wax fort. »Sie gehören in einen Gerichtssaal, nicht auf Mörderjagd.«

»Ich habe in der Vergangenheit ganz gut für mich selbst gesorgt. Da haben Sie sich auch nicht beschwert.«

»Es fühlte sich jedes Mal wie eine Ausnahme an. Und doch sind Sie schon wieder dabei.«

Marasi bewegte den Stab zu ihrer Rechten und schaltete den Motor in einen anderen Gang. Wax bekam den Bogen dabei nicht heraus. Sie schoss um mehrere Pferde herum und veranlasste einen der Reiter, dem Gefährt einen Fluch hinterherzuschreien. Die schlingernde Bewegung drückte Wax gegen die Seitenwand des Automobils, und er knurrte.

»Was ist denn in letzter Zeit mit Ihnen los?«, wollte Marasi wissen. »Sie beschweren sich über das Auto, dass ich hier bin, dass Ihr morgendlicher Tee zu heiß ist. Daraus lässt sich fast schließen, dass Sie eine schreckliche Lebensentscheidung getroffen haben, die Sie tief im Innern bereuen. Ich frage mich, was das sein könnte.«

Wax hielt den Blick nach vorn gerichtet. Im Rückspiegel sah er, wie sich Wayne wieder im Automobil zurücklehnte und die Brauen hob. »Da könnte sie recht haben, Mann.«

»Du bist mir keine Hilfe.«

»Will ich auch gar nicht sein«, erwiderte Wayne. »Zum Glück weiß ich, von welcher schrecklichen Lebensentscheidung sie’s gerade hat. Du hättest echt den Hut kaufen sollen, den wir letzte Woche gesehen haben. Das war ein Glückshut. Ich hab ’nen fünften Sinn für so was.«

»Den fünften ...?«, fragte Marasi.

»Ja, ich rieche nicht für ’nen Haufen Bohnen. Ich ...«

»Da«, sagte Wax, beugte sich vor und spähte angestrengt durch die Windschutzscheibe. Eine Gestalt sprang aus einer Seitenstraße, segelte durch die Luft, landete auf der Straße und katapultierte sich über die Straße vor ihnen.

»Sie hatten recht«, sagte Marasi. »Woher wussten Sie das?«

»Marks wird gern gesehen«, sagte Wax, während er Vindikator aus dem Holster an der Hüfte zog. »Sieht sich gern als Gentlemanverbrecher. Halten Sie dieses Ungetüm bitte in der Spur, wenn Sie können!«

Marasis Antwort wurde abgeschnitten, als Wax die Tür aufriss und hinaussprang. Er feuerte nach unten und übte Schub auf die Kugel aus, um sich selbst in die Luft zu schleudern. Ein Druck gegen eine vorbeifahrende Kutsche erschütterte diese und beförderte Wax zur Seite, sodass er auf dem hölzernen Dach von Marasis Automobil landete.

Mit einer Hand umklammerte er den vorderen Rand des Dachs und hielt die Waffe neben dem Kopf. Der Wind blähte seinen Nebelmantel hinter ihm auf. Vor ihm sprang Marks mit einer Reihe von Stahlschüben die Straße entlang. Tief im Innern spürte Wax das wohlige Brennen seines eigenen Metalls.

Er katapultierte sich von dem Automobil hinab und über die Straße. Marks verübte seine Raubüberfälle stets bei Tageslicht und entkam über die belebtesten Straßen, die er finden konnte. Er war gern berüchtigt. Wahrscheinlich hielt er sich für unbesiegbar. Das passierte gelegentlich, wenn man Allomant war.

Wax vollführte einige Sprünge über Automobile und Kutschen hinweg, zwischen den Wohnhäusern links und rechts hindurch. Der Wind, die Höhe und die Aussicht reinigten seinen Geist und beruhigten seine Gefühle so sicher wie die Berührung eines Besänftigers. Seine Sorgen lösten sich auf, und in diesem Moment gab es nur die Jagd.

Marksman trug Rot, eine alte Straßenkünstlermaske vor dem Gesicht – schwarz mit weißen Stoßzähnen, wie ein Dämon der Tiefe aus den alten Geschichten. Und laut dem Taschenkalender hatte er Verbindungen zum Kreis. Wax hatte diesen seinem Onkel gestohlen. Nach so vielen Monaten war das Buch immer weniger nützlich, aber einige Schätze gab es darin immer noch zu entdecken.

Mithilfe seines Schubs sprang Marks auf den Industriebezirk zu. Wax folgte ihm, indem er von Automobil zu Automobil sprang. Erstaunlich, wie viel sicherer er sich fühlte, während er durch die Nachmittagsluft sauste und nicht in einer dieser fürchterlichen motorisierten Schachteln gefangen war.

Marks drehte sich in der Luft und warf eine Handvoll Münzen in die Luft. Wax stieß sich von einem Laternenmast ab und wich ruckartig aus. Als Marks’ Münzen an ihm vorbeiflogen, schleuderte er sie zur Seite, damit sie das Automobil nicht trafen, das zufällig unter ihnen vorbeifuhr. Das Fahrzeug schleuderte trotzdem und steuerte auf den Kanal zu – der Fahrer hatte die Kontrolle verloren.

Rost und Ruin