Hüter des Gesetzes - Brandon Sanderson - E-Book
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Brandon Sanderson

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Beschreibung

Der fulminante Beginn der zweiten Ära der Nebelgeborenen-Reihe: Alte Helden werden zu Legenden, und neue treten auf den Plan. Rund 300 Jahre nach dem Ende von »Held aller Zeiten«. Waxillium Ladrian verbrachte viele Jahre in der Einöde, dem sogenannten Rauland, und hat mit Hilfe seiner Allomantie Verbrecher gejagt. Nun muss er die Waffen beiseitelegen, nach Elantel zurückkehren und seine Rolle als Oberhaupt eines Adelshauses übernehmen. Doch nicht nur im staubigen Rauland, auch zwischen den schicken Herrenhäusern der Stadt lauern Gefahren: Sein ehemaliger Partner Wayne wird durch seine Ermittlungen nach Elantel geführt und bittet Wax um Hilfe. Zusammen begibt sich das ungleiche Ermittlerduo auf die Spur einer gefährlichen Verbrecherbande ... Dieser Roman erschien vormals unter dem Titel: »Jäger der Macht«. Weitere Bände der Reihe: Erstes Zeitalter der Nebelgeborenen: Kinder des Nebels (Band 1) Krieger des Feuers (Band 2) Held aller Zeiten (Band 3) Zweites Zeitalter der Nebelgeborenen (»Wax & Wayne«-Reihe): Hüter des Gesetzes (Band 4) Schatten über Elantel (Band 5) Bänder der Trauer (Band 6) Metall der Götter (Band 7)

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EPUB

Seitenzahl: 531

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www.Piper-Fantasy.de

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Michael Siefener

© Dragonsteel Entertainment LLC 2011, 2022 (10th Anniversary Edition)

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Alloy of Law«, Tor Books, New York 2011

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2023

Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, München 2012

Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Michael Siefener liegen beim Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Randomhouse GmbH

Für die 10th Anniversary Edition, 2022, hat der Autor wenige inhaltliche und stilistische Korrekturen vorgenommen, die der Piper Verlag in dieser Ausgabe übernommen hat.

Redaktion: Joern Rauser

Karten und Illustrationen: Isaac Stewart und Ben McSweeney

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de, München

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Dank

Vorwort

Karte: Die Stadt Elantel

Karte: Das Becken von Elantel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Sechs Monate später

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Ars Arcanum

Metallurgisches Kurzglossar

Über die drei metallischen Künste

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Joshua Bilmes,

der nie davor zurückschreckt, mir zu sagen, was an einem Buch nicht stimmt, um dann für dasselbe Buch zu kämpfen, auch wenn alle anderen es bereits aufgegeben haben

Dank

Es wäre unmöglich, hier all jene aufzulisten, die mir über die Jahre geholfen haben. Stattdessen ist das Beste, was ich tun kann, hier einige der wunderbaren Menschen aufzuzählen, die mich speziell bei diesem Buch unterstützt haben.

Unter den ersten Lesern dieses Romans waren – wie immer – mein Agent, Joshua Bilmes, und mein Lektor, Moshe Feder. Dieses Buch ist Joshua gewidmet. Als mein Agent hat er länger an meine Arbeit geglaubt als jeder andere Mensch außerhalb meiner Schreibgruppe. Er war und ist mir eine große Hilfe und ein guter Freund.

Andere Erstleser kamen aus meiner Schreibgruppe: Ethan Skarstedt, Dan Wells, Alan und Jeanette Layton, Kaylynn Zo-Bell, Karen Ahlstrom, Ben und Danielle Olsen, Jordan Sanderson (auf eine Art) und Kathleen Dorsey. Und schließlich ist da noch der unverzichtbare Peter Ahlstrom, mein Assistent und Freund, der alle möglichen wichtigen Dinge für mein Schreiben tut und nicht einmal annähernd genug Dank dafür erhält.

Bei Tor Books geht mein Dank an Irene Gallo, Justin Golenbock, Terry McGarry und viele andere, die ich unmöglich alle nennen könnte – von Tom Doherty bis hin zum Vertriebsteam. Vielen Dank euch allen für eure exzellente Arbeit. Einmal mehr verspüre ich den Drang, mich ganz besonders bei Paul Stevens zu bedanken, dessen Einsatz über alles hinausgeht, was ich realistischerweise erwarten könnte.

Unter meinen Betalesern waren Jeff Creer und Dominique Nolan. Ein besonderes Dankeschön geht an Dom für seinen Wissensschatz zu Waffen und Pistolen. Wenn ihr jemals etwas fachmännisch abgeschossen braucht, ist er der, den ihr anrufen wollt.

Die erste Ausgabe dieses Romans hatte ein wunderschönes Cover von Chris McGrath, um den ich explizit gebeten hatte, da er so gute Arbeit bei den Paperbackausgaben der Nebelgeborenen geleistet hat. Sowohl Ben McSweeney als auch Isaac Stewart waren wieder mit dabei und haben ihre Kunstwerke zu diesem Buch beigesteuert, da ihre Arbeit an Der Weg der Könige einfach nur großartig war. In dieser Großartigkeit haben sie auch weitergemacht.

Zum Schluss möchte ich mich einmal mehr bei meiner wunderbaren Frau Emily für ihre Unterstützung, ihre Kommentare und ihre Liebe bedanken.

Vorwort

Hüter des Gesetzes war (so eine Art) Unfall. Es war nicht als Teil der ursprünglichen Nebelgeborenen-Reihe gedacht, aber es ist auch ein exzellentes Beispiel dafür, dass man sich nicht immer zu fest an einen Plan klammern sollte.

Die Wax und Wayne-Bücher, von denen Hüter das erste ist, sollen Spaß machen, temporeich und interessant sein – als Ausgleich zu den Sturmlichtchroniken, die lang und episch sind und viel mentale Energie erfordern, um sich den großen Figurencast zu merken. Das soll nicht heißen, dass die Wax und Wayne-Romane keinen Tiefgang haben, aber sie sind stärker auf eine Handvoll Figuren und persönlichere Geschichten fokussiert, anstatt auf mächtige Konflikte, die das Schicksal ganzer Kontinente entscheiden.

Beim Entwickeln des Kosmeer wurde mir klar, dass ich ein paar rote Fäden haben wollte, die sich durch den gesamten Mega-Zyklus, der Tausende von Jahren abdecken soll, ziehen würden. Darum sah ich in meinem Plan mehrere zentrale Buchreihen vor.

Eine davon ist die Sturmlichtchroniken-Reihe, in der es die Herolde gibt, die Zeitalter überdauern. Ich entschied mich schließlich, die Reihe in zwei verschiedene Handlungsbögen aufzuteilen.

Andere Reihen reißen die Idee von lange etablierten Figuren an. Die Dragonsteel-Reihe soll beispielsweise eine Art Begrenzung werden. Wir werden Romane über Hoids Herkunft haben, und dann springen wir ganz ans Ende zu Romanen aus seiner Perspektive, die sehr spät im Kosmeer-Zyklus spielen.

Mit den Nebelgeborenen hatte ich andere Pläne. Aus ästhetischen Gründen wollte ich eine Fantasywelt erschaffen, die sich verändert, sich aktualisiert und modernisiert. Eine meiner persönlichen Leitlinien als Fan epischer Fantasy ist es, zu versuchen, auf dem aufzubauen, was andere bereits gemacht haben, und die Geschichten dann in Richtungen zu treiben, von denen ich denke, dass sie im Genre bisher nicht oft genug betrachtet wurden.

Deshalb habe ich die Nebelgeborenen-Reihe damals nicht als eine einzige Trilogie an meinen Lektor gepitcht, sondern als ein fortlaufendes Kontinuum – eine Trilogie aus Trilogien. Jede Trilogie sollte ein anderes Zeitalter der Geschichte von Scadrial abdecken und jede sollte von anderen Charakteren handeln – beginnend mit einer epischen Fantasytrilogie und endend mit einer Space-Opera-Science-Fiction-Reihe. Statt bestimmten Charakteren sollte die Magie hier der rote Faden sein.

Dahinter stand eine höhere Absicht – ich wollte mehr erreichen, als nur eine Fantasywelt zu zeigen, die den Weg in die Moderne beschritt. Es ging mir darum, das Verstreichen der Zeit im Universum sichtbar werden und die Leser fühlen zu lassen, welches Gewicht dieses Verstreichen hat.

Manche der Figuren im Kosmeer, so wie Hoid, sind praktisch unsterblich – insofern, als dass sie zumindest nicht altern und eher schwierig zu töten sind. Ich hatte das Gefühl, es würde etwas fehlen, wenn Leser sich auf ein großes Epos einlassen würden und keine der Figuren darin eine Veränderung durchmachen würde. Ich könnte euch zwar erzählen, wie die Dinge sich verändern, aber wenn es immer um dieselben Figuren ginge, dann würde man das Altern des Universums nicht fühlen können.

Bei dieser Reihe wollte ich, dass man ein Gefühl dafür bekommt, wie das Kosmeer sich durch die Zeitalter bewegt, und damit das funktionieren konnte, musste ich ein Risiko eingehen: Ich musste die Welt der Nebelgeborenen regelmäßig mit neuen Figuren und neuen Settings neustarten.

Eine kleine Warnung an alle Schreibenden unter euch: Normalerweise sieht man das im Verlagswesen als Fauxpas. Leser mögen wiederkehrende Figuren, und Brüche zu erzeugen, wie ich es getan habe (und weiter tun werde), schadet oft den Verkaufszahlen. Natürlicherweise haben Leser beim Lesen einer Reihe einen gewissen Schwung, und wenn man sie mit einem Bruch konfrontiert, nach dem alles in sich abgeschlossen ist, gibt es keinen Impuls mehr, rauszugehen und sich das nächste Buch zu holen.

Im Verlagswesen gilt das zwar als Faustregel, aber ich mache mir Sorgen, dass es bei manchen Buchreihen zu schlechten künstlerischen Entscheidungen geführt hat. Wenn Reihen sehr lang werden, scheint etwas Seltsames in den Gehirnen der Leser zu passieren. Sie möchten eigentlich über bekannte Figuren lesen, beginnen aber manchmal, von ihnen genervt zu sein – und lesen nur zu Ende, um herauszufinden, was schlussendlich mit den Charakteren passiert.

Wir alle lieben wiederkehrende Figuren, werden ihrer aber scheinbar auch müde. (Außer der Autor oder die Autorin tut ein paar kluge Dinge, wie Jim Butcher mit Harry Dresden.)

Die Nebelgeborenen-Neustarts sind eine Methode, die ich nutze, um dem entgegenzuwirken, und ich bin zuversichtlich, dass es für die Entwicklung der Reihe auf lange Sicht das Beste ist.

Aber zurück zu der Trilogie aus Trilogien. Nach der epischen Fantasy der Nebelgeborenen-Trilogie wollte ich einige hundert Jahre nach vorn springen, dasselbe Magiesystem behalten und eine neue Reihe schreiben, die in einem Setting spielen sollte, das auf uns wie die 1980er-Jahre wirken würde. Danach plante ich, die Welt zu einem Science-Fiction-Setting weiterzuentwickeln, in dem die Magie komplett zu einer Wissenschaft geworden ist, durch die schließlich Raumfahrt möglich wird. Die ursprüngliche High-Fantasy-Trilogie würde dann der mythologische Hintergrund der späteren Zeitalter werden.

Während der Arbeit an Der Weg der Könige wurde mir klar, dass nach der Veröffentlichung von Held aller Zeiten eine lange Zeit vergehen würde, bis ich wieder Zeit für die Welt der Nebelgeborenen haben würde und mit der zweiten geplanten Trilogie beginnen könnte.

Ich setzte mich hin und schrieb eine Kurzgeschichte, um wenigstens etwas in der Nebelgeborenen-Welt anbieten zu können, das die Lücke zwischen den geplanten Trilogien überbrücken könnte, aber ich war enttäuscht von dem Versuch. Allerdings zeigte er mir auch, dass es zwischen den geplanten Trilogien Geschichten gab, die ich erzählen wollte.

Das war der Zeitpunkt, an dem ich einen Schritt zurücktrat und mich fragte, wie ich das alles eigentlich angehen wollte. Ich entschied, dass ich eine neue Nebelgeborenen-Reihe schreiben wollte, die als Gegengewicht zu den Sturmlichtchroniken fungieren würde. Etwas für die Nebelgeborenen-Fans, das einige der Kernkonzepte der Reihe (allomantische Action, Heist-Geschichten) nutzen würde und sie mit einem anderen Genre – einem anderen als Epic Fantasy – vermischen würde, um etwas zu erschaffen, das temporeicher und klarer fokussiert sein würde als die Sturmlichtchroniken.

Auf diese Weise konnte ich zwischen großen Epen und dichten, actionorientierten Geschichten wechseln. Ich konnte die Nebelgeborenen bei den Lesenden im Gedächtnis halten, während ich an den Sturmlichtchroniken arbeitete.

Das Ergebnis war Hüter des Gesetzes, ein Nebelgeborenen-Experiment im zweiten Zeitalter zwischen den ersten beiden geplanten Trilogien. Somit war dieses Buch nicht wirklich ein Unfall, und es entwickelte sich auch nicht aus einer abgeschlossenen Kurzgeschichte heraus. (Ich habe schon beides gelesen und habe still und leise die Idee weiterverbreitet, da es einfacher ist, als den ganzen Prozess zu erklären.) Ich habe das frühe 20. Jahrhundert als Setting gewählt, weil es eine Zeitperiode ist, die mich fasziniert, und ich fand die Idee eines Kleinstadtgesetzeshüters, der in die Großstadtpolitik hineingezogen wird, sehr spannend.

Die Hüter waren kein richtiger Unfall, aber sie waren definitiv ein Experiment. Ich war nicht sicher, wie die Leser reagieren würden – nicht nur auf einen vorsichtigen Neustart wie diesen, sondern auch auf einen, der den Ton von episch zu klar fokussiert veränderte. Am Anfang war ich besorgt, dass das zu viel sein würde, aber die Fans reagierten mit Begeisterung, und parallel zur Veröffentlichung der 10th Anniversary Edition von Hüter des Gesetzes erschien auch das letzte Buch in der Reihe, Metall der Götter. Nach zehn Jahren kommt nun das Zeitalter, das als »Unfall« begann, zu einem Abschluss, und damit lade ich euch ein, zu erfahren, wie die Geschichte von Wax, Wayne, Steris und Marasi begann.

Prolog

Geduckt kroch Wax an dem zerbrochenen Zaun entlang. Seine Stiefel knirschten über den trockenen Boden. Er hielt seinen Sterrion 36 in Kopfhöhe; der lange, silbrige Lauf war mit rotem Lehm bestäubt. Der Revolver machte zwar keinen besonders ansehnlichen Eindruck, doch die sechsschüssige Trommel war mit solcher Präzision in den Rahmen – aus einer Stahllegierung – eingesetzt, dass in ihren Bewegungen nicht das geringste Spiel war. Das Metall schimmerte nicht, und in den Griff waren keinerlei exotische Materialien eingelassen. Aber die Waffe lag so gut in seiner Hand, als wäre sie eigens dafür geschaffen worden.

Der hüfthohe Zaun war baufällig, das Holz, mit der Zeit grau geworden, wurde von ausgefransten Seilen zusammengehalten. Es roch nach hohem Alter. Sogar die Würmer hatten dieses Holz schon vor langer Zeit aufgegeben.

Wax spähte über die Bretter, in denen sich viele Astlöcher befanden, und beobachtete die verlassene Stadt. Blaue Linien schwebten vor seinem Blick; sie nahmen ihren Ausgang in seiner Brust und deuteten auf Metallquellen in der Nähe – eine Auswirkung seiner Allomantie. Das Verbrennen von Stahl brachte dies hervor; es ermöglichte ihm, Metall aufzuspüren und dagegen zu drücken, wenn er es wollte. Sein Gewicht stand dann gegen das Gewicht des Metalls. Wenn es schwerer war als er, wurde er zurückgedrückt. War er selbst aber schwerer, dann wurde es von ihm abgestoßen.

Doch jetzt drückte er nicht dagegen. Er beobachtete nur die Linien und wollte herausfinden, ob sich eine der Metallquellen bewegte. Aber alles blieb ruhig. Es handelte sich um Nägel, die Gebäude zusammenhielten, um leere Patronenhülsen im Staub und um Hufeisen, die in der stillen Schmiede aufgestapelt waren. All das wirkte genauso reglos wie die alte Handpumpe, die rechts von ihm in den Boden gerammt worden war.

Auch er verhielt sich ganz still. Der Stahl brannte noch immer beruhigend in seinem Magen, und als Vorsichtsmaßnahme drückte er von sich aus recht vorsichtig in alle Richtungen. Noch vor ein paar Jahren hätte er diesen Kniff nicht beherrscht. Er drückte keinesfalls gegen einen bestimmten Gegenstand, sondern erschuf eine Art von Schutzblase um sich herum. Jedes Metall, das in seine Richtung fliegen mochte, würde dadurch ein wenig abgelenkt werden.

Er befand sich nicht in vollkommener Sicherheit, denn er konnte noch immer getroffen werden. Aber nicht alle Schüsse würden das Ziel treffen, auf das sie abgefeuert wurden. Dies hatte ihm schon mehrfach das Leben gerettet. Er wusste nicht einmal genau, wie er das machte. Die Allomantie war für ihn oft etwas Instinktives. Irgendwie war es ihm sogar gelungen, das Metall, das er bei sich trug, davon auszunehmen. Die Pistole wurde dabei nicht aus seiner Hand gedrückt.

Nachdem er die Blase erschaffen hatte, schlich er weiter am Zaun entlang und beobachtete die Metalllinien eingehend, damit sich niemand an ihn heranschleichen konnte. Feltrel war einmal eine blühende Stadt gewesen, doch das lag nun schon zwanzig Jahre zurück. Damals hatte sich ein Koloss-Klan in der Nähe angesiedelt, und das war gar nicht gut gewesen.

Heute schien die Geisterstadt vollkommen verlassen zu sein, auch wenn er wusste, dass dem nicht so war. Wax war hergekommen, weil er einen Psychopathen jagte. Und er hatte Unterstützung mitgebracht.

Er packte den oberen Rand des Zauns und sprang hinüber. Der rote Lehm knirschte unter seinen Füßen. Er duckte sich tief und rannte in gebückter Haltung zur Seite der alten Schmiede hinüber. Seine Kleidung war schrecklich staubig, aber gut geschnitten. Er trug einen feinen Anzug, hatte eine silberfarbene Krawatte umgebunden, und an den Ärmeln seines guten weißen Hemdes klimperten Manschettenknöpfe. Er hatte sich einen Kleidungsstil angewöhnt, der immer ein wenig fehl am Platze wirkte. Dabei sah er so aus, als würde er auf einen vornehmen Ball in Elantel gehen, und wirkte keinesfalls wie jemand, der in einer Geisterstadt des Raulands auf der Jagd nach einem Mörder war. Zur Vervollständigung seines Aufzugs trug er einen steifen runden Filzhut als Schutz gegen die Sonne.

Da hörte er etwas. Jemand trat an der gegenüberliegenden Straßenseite auf eine knarrende Planke. Das Geräusch war so schwach, dass er es beinahe nicht bemerkt hätte. Wax reagierte sofort. Er fachte den Stahl an, der in seinem Magen brannte. Dann drückte er gegen einige Nägel in der Wand neben sich, gerade als ein Schuss die Stille durchschnitt.

Die Wand erbebte unter seinem plötzlichen Drücken, während die alten, rostigen Nägel ächzten. Sein Drücken schob ihn zur Seite, dann rollte er über den Boden. Einen Augenblick lang erschien eine blaue Linie – es war die Kugel, die genau dort auf den Boden traf, wo er vorhin noch gestanden hatte. Als er wieder aufstand, folgte ein zweiter Schuss. Diese Kugel kam ihm näher und wurde nur um Haaresbreite abgelenkt.

Sie zischte an seinem Ohr vorbei. Wäre sie etwas weiter nach rechts geflogen, hätte sie ihn mitten in die Stirn getroffen, ob er nun in einer Stahlblase steckte oder nicht. Er atmete ruhig, hob seinen Sterrion und beobachtete den Balkon des alten Hotels auf der anderen Straßenseite, von wo der Schuss gekommen sein musste. Vor dem Balkon hing das Reklameschild des Hotels, hinter dem sich ein Schütze gut verstecken konnte.

Wax feuerte, drückte gegen die Kugel und trieb sie mit zusätzlichem Schwung vorwärts, damit sie schneller flog und eine größere Durchschlagskraft bekam. Er verwendete nicht die üblichen Blei- oder Kupferkugeln; er brauchte etwas Stärkeres.

Die großkalibrige Stahlkugel knallte gegen den Balkon, und aufgrund der zusätzlichen Kraft durchschlug sie das Holz und traf den Mann dahinter. Die blaue Linie, die zum Revolver des Mannes führte, zitterte, als er zu Boden sackte. Wax stand langsam auf und rieb sich den Staub von der Kleidung. In diesem Augenblick peitschte ein weiterer Schuss durch die Luft.

Er fluchte und drückte wieder gegen die Nägel, obwohl ihm sein Instinkt sagte, dass es zu spät war. Wenn er einen Schuss hörte, half ihm kein Drücken mehr.

Diesmal wurde er zu Boden geschleudert. Die Kraft musste irgendwo bleiben, und wenn sich die Nägel nicht bewegen konnten, dann musste er selbst es tun. Er ächzte auf, als er hinfiel, und hob seinen Revolver. Schweiß verklebte den Staub mit seiner Hand. Rasch suchte er nach dem Schützen. Er hatte Wax nicht getroffen. Vielleicht war die Stahlblase …

Ein Körper rollte vom Dach der Schmiede herunter und fiel auf den Boden. Eine rote Staubwolke stieg auf. Wax blinzelte, hob den Revolver in Brusthöhe und hastete wieder zum Zaun, hinter dem er in gebückter Haltung Deckung suchte. Er behielt die blauen allomantischen Linien im Auge. Sie warnten ihn, wenn sich jemand näherte – aber nur dann, wenn derjenige auch Metall bei sich hatte.

Auf den Leichnam, der neben das Gebäude gefallen war, deutete keine einzige Linie hin. Einige andere zitternde Linien wiesen allerdings auf etwas, das sich im hinteren Teil der Schmiede bewegte. Wax zielte mit seinem Revolver, als eine Gestalt um die Ecke des Gebäudes bog und auf ihn zulief.

Die Frau trug einen weißen Staubmantel, der am Saum gerötet war. Sie hatte das schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, war in eine Hose mit einem breiten Gürtel gekleidet und trug dazu klobige Stiefel. Ihr Gesicht war kantig. Es wirkte stark; die Lippen hoben sich an der rechten Seite zu einem schwachen Grinsen.

Wax stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und senkte seine Waffe. »Lessie.«

»Wirfst du dich wieder selbst zu Boden?«, fragte sie, als sie sich neben ihn hockte, in den Schutz des Zauns. »Du hast mehr Staub auf deinem Gesicht, als Miles Runzeln hat. Vielleicht ist es an der Zeit, dich zur Ruhe zu setzen, alter Mann.«

»Lessie, ich bin drei Monate älter als du.«

»Es sind drei lange Monate.« Sie spähte über den Zaun. »Hast du sonst noch jemanden gesehen?«

»Ich habe einen Mann auf dem Balkon da oben getroffen«, sagte Wax. »Ich konnte nicht erkennen, ob es der verdammte Tan war oder nicht.«

»Er war es nicht«, sagte sie. »Er hätte nicht versucht, dich aus einer so großen Entfernung zu erschießen.«

Wax nickte. Tan mochte es eher persönlich. Ganz nah. Dieser Psychopath bedauerte es jedes Mal, wenn er einen Revolver benutzen musste, und er erschoss nie jemanden, ohne dabei in die Lage zu kommen, die Angst in seinen Augen zu sehen.

Lessie beobachtete die stille Stadt und sah dann Wax an. Sie war bereit und schaute kurz nach unten. Auf seine Hemdtasche.

Wax folgte ihrem Blick. Ein Brief lugte aus seiner Tasche hervor, der ihm früher am Tag zugestellt worden war. Er kam aus der großen Stadt Elantel und war an den Herrn Waxillium Ladrian adressiert. Diesen Namen hatte Wax schon seit Jahren nicht mehr benutzt; er erschien ihm irgendwie falsch.

Er steckte den Brief tiefer in die Tasche. Lessie hielt ihn gewiss für bedeutender, als er in Wirklichkeit war. Die Stadt hatte ihm jetzt nichts mehr zu bieten, und das Haus Ladrian kam auch ohne ihn zurecht. Er hätte diesen Brief verbrennen sollen.

Um sie von dem Brief abzulenken, deutete Wax mit dem Kopf auf den Leichnam des Mannes, der neben dem Gebäude lag. »Ist das dein Werk?«

»Er hatte einen Bogen«, sagte sie. »Und Steinspitzen an den Pfeilen. Fast hätte er dich von oben erledigt.«

»Danke.«

Sie zuckte die Achseln, doch in ihren Augen glitzerte Befriedigung. Um diese Augen hatten sich inzwischen Runzeln gebildet, die das grelle Sonnenlicht im Rauland noch vertieft hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, als sie und Wax einander nachgerechnet hatten, wer dem anderen öfter das Leben gerettet hatte. Aber jetzt hatten sie schon vor Jahren den Überblick verloren.

»Gib mir Deckung«, sagte Wax leise.

»Was für eine Deckung?«, fragte sie. »Etwa Kontodeckung? So ärmlich siehst du nun auch wieder nicht aus.«

Wax hob eine Braue und sah sie an.

»Verzeihung«, meinte sie und zog eine Grimasse. »In letzter Zeit bin ich zu oft mit Wayne zusammen gewesen.«

Er schnaubte, rannte geduckt zu der Leiche, die vom Dach gefallen war, und drehte sie um. Es war ein Mann mit einem grausamen Gesicht, der sich seit mehreren Tagen nicht mehr rasiert hatte. Blut tropfte aus seiner Schusswunde an der rechten Flanke. Ich glaube, ich kenne ihn, dachte Wax, als er die Taschen des Mannes durchsuchte und einen kleinen Splitter aus rotem Glas hervorzog, der die Farbe von Blut hatte.

Er eilte zum Zaun zurück.

»Na?«, fragte Lessie.

»Donals Leute«, sagte Wax und hob den Glassplitter hoch.

»Diese Bastarde«, sagte Lessie. »Sie konnten die Sache einfach nicht auf sich beruhen lassen.«

»Du hast auf seinen Sohn geschossen, Lessie.«

»Und du auf seinen Bruder.«

»Bei mir war es Notwehr.«

»Bei mir auch«, meinte sie. »Dieser Knabe war einfach lästig. Außerdem hat er überlebt.«

»Mit einem Zeh weniger.«

»Man braucht doch keine zehn«, sagte sie. »Eine meiner Cousinen hat nur vier. Sie kommt gut damit zurecht.« Lessie hob den Revolver und warf einen Blick auf die Geisterstadt. »Natürlich sieht sie etwas lächerlich aus, wenn sie geht. Gib mir Deckung.«

»Wie viel?«

Sie grinste bloß, kam hinter dem Zaun hervor und huschte dicht über den Boden auf die Schmiede zu.

Heiliger Einträchtiger, dachte Wax und lächelte, ich liebe diese Frau.

Er hielt nach anderen Schützen Ausschau, aber Lessie erreichte das Gebäude, ohne dass weitere Schüsse abgefeuert wurden. Wax nickte ihr zu und rannte quer über die Straße auf das Hotel zu. Er huschte ins Innere und suchte in allen Ecken nach ihren Feinden. Der Schankraum war aber völlig leer, und so stellte er sich neben die Tür und winkte Lessie zu. Sie rannte zum nächsten Haus auf ihrer Seite und überprüfte es.

Donals Männer. Ja, Wax hatte seinen Bruder erschossen – den Mann, der einen Eisenbahnwaggon nach dem anderen ausgeraubt hatte. Soweit er wusste, hatte Donal nicht einmal etwas um seinen Bruder gegeben. Nein, Donal geriet nur dann in Wut, wenn er Geld verlor. Und das war vermutlich auch der Grund, warum er hier war. Er hatte ein Kopfgeld auf den Verdammten Tan ausgesetzt, weil dieser ihm eine Ladung Biegmetall gestohlen hatte. Vermutlich hatte Donal nicht erwartet, dass Wax Tan am selben Tag jagen würde wie er selbst, aber seine Männer hatten den Befehl, Wax und Lessie sofort zu erschießen, sollten sie ihnen über den Weg laufen.

Wax reizte der Gedanke, diese Geisterstadt einfach zu verlassen und Tan Donal zu überlassen. Doch dieser Gedanke war ihm unangenehm. Er hatte versprochen, Tan persönlich zur Strecke zu bringen.

Lessie winkte aus ihrem Gebäude heraus und deutete dann auf den hinteren Teil. Sie würde es dort wieder verlassen und sich dann von der Rückseite an die nächsten Häuser anschleichen. Wax nickte und machte eine knappe Geste. Er würde versuchen, sich Wayne und Barl anzuschließen, die die andere Seite des Ortes durchkämmten.

Lessie verschwand, und Wax durchquerte das alte Hotel bis zu einer Seitentür. Dabei kam er an alten, schmutzigen Nestern von Ratten und Menschen vorbei. Diese Stadt fing die Schurken ebenso ein, wie ein Hund zu Flöhen kam. Er ging sogar an einer Feuerstelle vorbei, die sich ein Wandersmann auf einem Stück Metall innerhalb eines kleinen Steinkreises geschaffen hatte. Es war ein Wunder, dass der Narr nicht das ganze Haus niedergebrannt hatte.

Vorsichtig zog Wax die Tür auf und trat in die Gasse zwischen dem Hotel und dem Laden daneben. Die Schüsse vorhin waren sicherlich nicht unbemerkt geblieben, und es konnte sein, dass jemand auf der Lauer lag. Da war es besser, außer Sichtweite zu bleiben.

Wax umrundete die hintere Ecke des Ladens und schritt dabei leise über den roten Lehmboden. Hier war die Hügelflanke mit Unkraut überwuchert – mit Ausnahme des Zugangs zu einem alten, kalten Keller. Wax umrundete ihn, blieb stehen und betrachtete die Grube, an der es eine Holzeinfassung gab.

Vielleicht …

Er kniete sich neben die Öffnung und spähte hinunter. Früher hatte hier offenbar eine Leiter gestanden, aber sie war nun verfault – ihre Überreste waren unten in einem Haufen alter Splitter zu erkennen. Die Luft roch schimmelig und feucht … und es lag eine Spur von Rauch in ihr. Jemand hatte dort unten eine Fackel angezündet.

Wax warf eine Kugel in das Loch und sprang mit gezogener Waffe hinterher. Während er fiel, füllte er seinen eisernen Metallgeist, wodurch er sein Körpergewicht verminderte. Er war ein Zwillingsgeborener – ein Ferrochemiker und gleichzeitig ein Allomant. Seine allomantische Gabe bestand im Stahldrücken, und seine ferrochemische Kraft, die Abschöpfen genannt wurde, zeigte sich daran, dass er je nach Belieben schwerer oder leichter zu werden vermochte. Diese Kombination machte ihn sehr mächtig.

Er drückte gegen die Kugel unter sich und verlangsamte seinen Abstieg, bis er sanft aufsetzte. Er kehrte wieder zum Normalgewicht zurück – das heißt zu dem Gewicht, das für ihn normal war. Oft lief er mit etwa drei Vierteln seines Gewichtes herum, um leichtfüßiger und reaktionsschneller zu sein.

Er schlich durch die Finsternis, war schon einen langen und schwierigen Weg gegangen, bis er endlich das Versteck des Verdammten Tan aufgespürt hatte. Am Ende war der Umstand, dass plötzlich alle anderen Banditen, Streuner und Wegelagerer Feltrel verlassen hatten, der entscheidende Hinweis gewesen. Mit leichten Schritten arbeitete sich Wax tiefer in den Keller hinein. Hier war der Geruch des Rauchs auch stärker geworden, und obwohl das Licht immer schwächer wurde, konnte er neben der Erdwand eine Feuerstelle erkennen – dies und eine Leiter, die bei Bedarf in den Eingang gestellt werden konnte.

Er hielt inne. Das bedeutete, dass derjenige, der sich in diesem Keller sein Versteck eingerichtet hatte – vielleicht war es Tan, vielleicht auch jemand anders –, noch hier unten war. Es sei denn, es gab einen anderen Weg hinaus. Wax kroch noch etwas weiter voran und blinzelte in die Dunkelheit.

Irgendwo vor ihm befand sich ein Licht.

Vorsichtig spannte Wax den Hahn seines Revolvers, holte eine kleine Phiole aus seinem Staubmantel und zog den Korken mit den Zähnen heraus. Er kippte die Mischung aus Whisky und Stahl in einem einzigen Schluck herunter und füllte seine Reserven auf. Dann fachte er den Stahl an. Ja … dort vor ihm im Tunnel befand sich Metall. Wie lang war dieser Keller? Er hatte angenommen, dass er sehr klein war, aber die hölzernen Stützbalken deuteten auf einen langen und tiefen Raum hin. Es wirkte eher wie der Zugang zu einer Mine.

Er kroch vorwärts und konzentrierte sich ganz auf die Metalllinien. Wenn er entdeckt wurde, würde jemand mit dem Revolver auf ihn zielen, dann würden die Linien zittern und er wäre in der Lage, dem Gegner auf allomantische Weise die Waffe aus der Hand zu drücken. Doch nichts bewegte sich. Er schlich weiter voran, roch feuchte, schimmelige Erde, Pilzbewuchs, knospende Kartoffeln. Er näherte sich einem zitternden Licht, hörte aber nichts. Die Metalllinien bewegten sich noch immer nicht.

Endlich kam er nahe genug heran, um eine Lampe erkennen zu können, die an einem Haken von einem Holzbalken in der Nähe der Wand hing. In der Mitte des Tunnels baumelte noch etwas anderes. Ein Körper? Erhängt? Wax fluchte leise, eilte voran und war sich dabei deutlich bewusst, dass es eine Falle sein konnte. Es war tatsächlich ein Leichnam, der ihn sehr verwirrte. Auf den ersten Blick schien er viele Jahre alt zu sein. Die Augen waren aus dem Schädel gewichen; die Haut spannte sich über die Knochen. Er stank nicht, und er war auch nicht aufgequollen.

Wax glaubte, ihn zu erkennen. Es war Geormin, der Kutscher, der die Post aus den weiter entfernt liegenden Dörfern der Umgegend wach Wettering brachte. Es handelte sich zumindest um seine Uniform, und es schienen auch seine Haare zu sein. Er war eines von Tans ersten Opfern gewesen, und sein Verschwinden hatte Wax überhaupt erst zu dieser Jagd veranlasst. Das war erst vor zwei Monaten gewesen.

Er ist mumifiziert worden, dachte Wax. Getrocknet und gegerbt wie Leder. Es war abstoßend. Manchmal hatte er mit Geormin etwas getrunken, und obwohl der Mann beim Kartenspiel betrogen hatte, war er doch ein liebenswürdiger Knabe gewesen.

Er hing nicht an einem gewöhnlichen Strick. Geormins Arme waren mit Draht umwickelt, so dass sie zu den Seiten ausgebreitet waren; der Kopf war geneigt und der Mund gewaltsam geöffnet worden. Wax wandte sich von diesem schrecklichen Anblick ab; in seinem Auge zuckte es.

Vorsichtig, sagte er zu sich selbst. Du darfst nicht zulassen, dass er dich wütend macht. Konzentrier dich. Er würde Geormin später abschneiden. Jetzt durfte er es sich nicht leisten, auch nur den geringsten Lärm zu verursachen. Wenigstens wusste er nun, dass er auf der richtigen Spur war. Dies hier war eindeutig das Versteck des Verdammten Tan.

In der Ferne schwebte ein weiterer Lichtfleck. Wie lang war dieser Tunnel bloß? Wax näherte sich der Helligkeit und entdeckte noch eine Leiche, die seitwärts geneigt an der Wand hing. Es handelte sich um Annarel, eine Geologin, die kurz nach Geormin verschwunden war. Arme Frau! Man hatte sie auf dieselbe Art getrocknet, und ihr Körper war in einer besonderen Pose an die Wand genagelt worden. Es wirkte, als würde sie gerade niederknien und einen Felsen untersuchen.

Ein weiteres Licht trieb ihn vorwärts. Dies hier war eindeutig kein Keller. Vermutlich handelte es sich um einen Schmugglertunnel aus der Zeit, als Feltrel eine aufstrebende Stadt gewesen war. Tan hatte das hier nicht erbaut – dazu waren die Stützbalken zu alt.

Wax kam an sechs weiteren Leichen vorbei. Jede wurde von einer brennenden Laterne erhellt und war in einer bestimmten Pose angeordnet. Eine saß auf einem Stuhl, eine andere war aufgehängt worden, als würde sie fliegen, und einige waren an die Wand genagelt. Die späteren Leichen waren frischer, und das letzte Opfer war erst vor ganz kurzer Zeit getötet worden. Wax kannte den schlanken Mann nicht, der da hing, die Hand zum Salut erhoben.

Rost und Ruin, dachte Wax. Das ist nicht bloß Tans Versteck – das ist seine Galerie.

Angeekelt machte sich Wax zum nächsten Lichttümpel auf. Dieser hier war anders. Heller. Als er näher kam, begriff er, dass er das Sonnenlicht sah, das durch eine viereckige Öffnung in der Decke hereinfiel. Der Tunnel führte darauf zu; es war möglicherweise der Zugang zu einer Falltür, die schon vor langer Zeit verrottet war. Der Boden hob sich sanft in Richtung des Loches.

Wax kroch den Hang hoch und steckte den Kopf vorsichtig hinaus. Er befand sich in einem Gebäude, das kein Dach mehr besaß. Die Ziegelmauern standen noch, und links von Wax befanden sich vier Altäre. Es handelte sich um eine alte Kapelle des Überlebenden. Sie schien leer zu sein.

Wax kletterte aus dem Loch und hielt dabei den Sterrion in Kopfhöhe. Sein Mantel war vom Schmutz dort unten fleckig geworden. Die saubere, trockene Luft roch gut.

»Jedes Leben ist ein Theaterstück«, sagte eine Stimme, die in der Kirchenruine widerhallte.

Sofort sprang Wax zur Seite und rollte sich hinter einen Altar.

»Aber wir sind keine Schauspieler«, fuhr die Stimme fort. »Wir sind Puppen.«

»Tan«, sagte Wax. »Komm heraus.«

»Ich habe Gott gesehen, Gesetzeshüter«, flüsterte Tan. Wo war er? »Ich habe auch den Tod gesehen, mit den Nägeln in den Augen. Und ich habe den Überlebenden gesehen, der das Leben selbst ist.«

Wax sah sich hastig in der kleinen Kapelle um. Sie war von zersplitterten Bänken und heruntergefallenen Statuen übersät. Er umrundete den Altar seitlich und bemerkte, dass die Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes kam.

»Andere Menschen rätseln darüber«, sagte Tan, »aber ich weiß es. Ich weiß, dass ich eine Marionette hin. Das sind wir alle. Hat dir meine Ausstellung gefallen? Ich habe so hart daran gearbeitet.«

Wax schlich an der rechten Wand des Gebäudes entlang; seine Stiefel hinterließen eine Spur im Staub. Er atmete flach; ein Schweißtropfen rann ihm an der rechten Schläfe herunter. Sein Auge zuckte. Immer wieder sah er die Leichen an den Wänden.

»Viele Menschen erhalten nie die Möglichkeit, wahre Kunst zu schaffen«, meinte Tan. »Und die besten Darbietungen sind diejenigen, die niemals wiederholt werden können. Monate, ja sogar Jahre werden mit der Vorbereitung verbracht. Alles wird an die richtige Stelle gesetzt. Aber am Ende des Tages beginnt die Verwesung. Ich konnte die Körper nicht richtig mumifizieren; dazu hatte ich weder die Zeit noch die Mittel. Ich schaffte es nur, sie so lange zu erhalten, wie es für diese eine Ausstellung nötig war. Schon morgen wird alles zerstört sein. Du bist der Einzige, der sie gesehen hat. Nur du. Ich glaube … wir sind allesamt Marionetten … weißt du …«

Die Stimme kam tatsächlich aus dem hinteren Teil des Raumes, wo ein Schutthaufen Wax die Sicht versperrte.

»Jemand anders bewegt uns«, sagte Tan.

Wax hastete um den Schutthaufen herum und hob seinen Sterrion wieder an.

Dort stand Tan und hielt Lessie vor sich. Sie war geknebelt und hatte die Augen weit aufgerissen. Wax erstarrte. Lessie blutete aus mehreren Wunden an Arm und Bein. Sie war angeschossen worden, und ihr Gesicht wurde immer blasser. Sie hatte viel Blut verloren. Aus diesem Grunde hatte Tan sie überwältigen können.

Wax regte sich nicht. Er verspürte keine Angst. Das konnte er sich auch nicht leisten, denn sie würde ihn zum Zittern bringen, und dann bestand die Gefahr, dass er sein Ziel verfehlte. Er sah Tans Gesicht hinter Lessie; der Mann hatte ihr eine Garotte um den Hals gelegt.

Tan war ein schlanker Mann mit feingliedrigen Fingern. Er war einmal Leichenbestatter gewesen. Sein ausgedünntes, zurückgekämmtes Haar war schwarz und mit Pomade an den Schädel geklebt. Der hübsche Anzug war blutbeschmiert.

»Jemand anders bewegt uns, Gesetzeshüter«, sagte Tan leise.

Lessie sah Wax in die Augen. Beide wussten, was sie in dieser Lage zu tun hatten. Beim letzten Mal war er derjenige gewesen, der gefangen genommen worden war. Es wurde immer wieder versucht, sie beide gegeneinander auszuspielen. Nach Lessies Meinung war das nicht unbedingt ein Nachteil. Wenn Tan nicht gewusst hätte, dass sie beide ein Paar waren, hätte er sie sofort getötet. Doch so hatte er sie nur in seine Gewalt gebracht. Das ließ ihnen die Möglichkeit, ihm zu entkommen.

Nun senkte Wax den Lauf seines Sterrion. Er drückte gegen den Abzug, bis er kurz vor dem Schuss stand, und Lessie blinzelte. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Wax schoss.

Im selben Augenblick riss Tan Lessie nach rechts.

Der Schuss peitschte durch die Luft und hallte von den Lehmziegeln wider. Lessies Kopf wurde zurückgeworfen, als Wax’ Kugel oberhalb des rechten Auges eindrang. Blut spritzte gegen die Lehmwand neben ihr. Sie sackte zusammen.

Wax stand erstarrt und entsetzt da. Nein … so sollte es nicht … es kann nicht …

»Die besten Darbietungen«, sagte Tan und schaute lächelnd auf Lessies Gestalt herunter, »sind diejenigen, die nur ein einziges Mal gegeben werden können.«

Wax schoss ihm in den Kopf.

Kapitel 1

Fünf Monate später ging Wax durch die kostbar ausgestatteten Räume, in denen eine große, lebhafte Gesellschaft gegeben wurde. Er kam an Männern in dunklen Fräcken vorbei und an Frauen in farbenprächtigen Kleidern mit engen Taillen und vielen Falten in ihren langen Plisséeröcken. Sie nannten ihn Großherr Waxillium oder Großherr Ladrian, wenn sie mit ihm sprachen.

Er nickte allen zu, vermied es aber, sich in ein Gespräch hineinziehen zu lassen. Wax begab sich in eines der Hinterzimmer, wo blendende elektrische Lichter – von denen inzwischen die ganze Stadt sprach – ein stetiges, fast zu gleichmäßiges Licht spendeten und damit das abendliche Düster vertrieben. Hinter den Fenstern sah er Nebel, der Tropfen auf dem Glas bildete.

Ohne auf die Anstandsregeln zu achten, trat Wax durch die gewaltige, verglaste Doppeltür hinaus auf den großen Balkon des Herrenhauses. Hier hatte er endlich wieder das Gefühl, durchatmen zu können.

Er schloss die Augen, zog die Luft tief ein, ließ sie wieder hinaus und spürte die leichte Feuchtigkeit des Nebels auf dem Gesicht. Gebäude sind so … erstickend hier in der Stadt, dachte er. Hatte ich das einfach nur vergessen, oder habe ich es nicht bemerkt, als ich jünger war?

Er öffnete die Augen wieder, stützte sich mit den Händen auf dem Balkongeländer ab und schaute hinaus auf Elantel. Es war die größte Stadt der Welt, eine Metropolis, die vom Einträchtigen selbst entworfen worden war. Es war der Ort, an dem Wax seine Jugend verbracht hatte. Ein Ort, der schon seit zwanzig Jahren nicht mehr seine Heimat war.

Obwohl Lessies Tod schon fünf Monate zurücklag, hörte er noch immer den Schuss und sah das Blut auf den Ziegeln. Er hatte das Rauland verlassen, war in die Stadt zurückgekehrt und hatte sich der Pflicht gestellt, die er seinem Haus gegenüber hatte, nachdem sein Onkel verstorben war.

Es war fünf Monate und eine ganze Welt weit entfernt, aber noch immer hörte er diesen Schuss – klar und deutlich wie der auseinanderbrechende Himmel.

Hinter ihm vernahm er musikalisches Lachen, das aus der Wärme des Zimmers herausdrang. Das Cett-Haus war ein großes Gebäude voller teurer Hölzer, weicher Teppiche und glitzernder Kerzenleuchter. Auf dem Balkon gesellte sich niemand zu ihm.

Von seiner hohen Position aus hatte er einen guten Blick auf die Lichter unten auf der Demoux-Promenade. Eine Doppelreihe heller elektrischer Lampen spendete eine gleichmäßige, strahlende Helle. Sie glühten wie Blasen entlang des breiten Boulevards, der von dem noch breiteren Kanal flankiert wurde; das stille Wasser spiegelte das Licht. Eine abendliche Lokomotive rief ihm einen Gruß zu, während sie durch das ferne Zentrum der Stadt dampfte und ihren dunkleren Rauch unter den Nebel mischte.

Entlang der Demoux-Promenade hatte Wax einen guten Blick sowohl auf das Eisendornhaus als auch auf den Tekiel-Turm, die sich rechts und links des Kanals befanden. Beide waren noch unvollendet, aber die Stahlstreben reckten sich bereits hoch in den Himmel. Schwindelerregend hoch.

Die Architekten machten immer wieder neue Angaben darüber, wie hoch sie zu bauen gedachten; jeder versuchte den anderen auszustechen. Auf der Gesellschaft, die er gerade besuchte, hatte er glaubhafte Gerüchte gehört, denen zufolge die Gebäude mehr als fünfzig Stockwerke haben würden. Niemand wusste, welches am Ende das höhere sein würde, auch wenn bereits viele Wetten darüber abgeschlossen wurden.

Wax atmete den Nebel ein. Draußen im Rauland wäre das Cett-Haus – das drei Stockwerke besaß – so hoch erschienen, wie ein Haus nur sein konnte. Doch hier wirkte es geradezu zwergenhaft. Die Welt hatte sich in den Jahren, die er fern der Stadt verbracht hatte, verändert. Sie war erwachsen geworden, Lichter waren erfunden worden, die kein Feuer benötigten, und Gebäude, die fast höher als der Nebel selbst in den Himmel stiegen. Als Wax auf die breite Straße am Rande des Fünften Oktanten hinunterschaute, fühlte er sich plötzlich sehr, sehr alt.

»Herr Waxillium?«, fragte eine Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um und stellte fest, dass ihn eine ältere Frau – Herrin Aving Cett – durch die Tür ansah. Sie hatte ihr graues Haar zu einem Knoten zusammengebunden und trug eine Rubinkette um den Hals. »Beim Einträchtigen, Sie werden sich da draußen noch erkälten! Kommen Sie doch herein; ein paar Leute möchten mit Ihnen sprechen.«

»Ich werde gleich bei ihnen sein«, sagte Wax. »Ich will nur noch ein bisschen Luft holen.«

Herrin Cett runzelte die Stirn, zog sich aber zurück. Sie wusste nicht, was sie von ihm halten sollte; das wusste niemand. Manche betrachteten ihn als den rätselhaften Erben der Ladrian-Familie, der mit seltsamen Geschichten aus den Gebieten jenseits der Berge in Verbindung gebracht wurde. Die anderen sahen in ihm einen unkultivierten, bäuerlichen Hanswurst. Er vermutete, dass er beides war.

Den ganzen Abend hindurch hatte er sich gezeigt. Es wurde von ihm erwartet, dass er nach einer Ehefrau Ausschau hielt, und fast jeder wusste das. Das Haus Ladrian war nach den unklugen Geschäften seines Onkels zahlungsunfähig geworden, und der einfachste Weg zur Behebung dieses Umstands war eine Heirat. Leider war es seinem Onkel außerdem gelungen, drei Viertel der städtischen Oberschicht gegen sich aufzubringen.

Wax lehnte sich auf dem Balkon vor. Die Sterrion-Revolver unter seinen Armen stachen ihm in die Seite. Mit ihren langen Läufen waren sie eigentlich nicht dazu geeignet, in Holstern unter den Armen getragen zu werden. Sie hatten ihn bereits während des ganzen Abends gestört.

Er sollte zurück zu den anderen gehen, mit ihnen plaudern und versuchen, den Ruf des Hauses Ladrian wiederherzustellen. Aber der Gedanke an diesen überfüllten Raum, in dem es so heiß und eng war, dass man kaum zu atmen vermochte …

Bevor er es sich anders überlegen konnte, hatte er sich über das Balkongeländer geschwungen und fiel drei Stockwerke hinunter auf den Boden zu. Er verbrannte Stahl, warf eine leere Patronenhülse hinter sich und drückte dank seiner Allomantie dagegen. Sein eigenes Gewicht schickte die Hülse schneller hinunter, als er selbst fiel. Wie immer war er dank der Ferrochemie leichter, als er eigentlich sein sollte. Er wusste kaum mehr, wie es sich anfühlte, mit vollem Gewicht herumzulaufen.

Als die Patrone auf den Boden traf, drückte er dagegen und sprang horizontal über die Gartenmauer. Er stützte sich dabei an der Mauerkrone ab, setzte in einem Bogen über den Garten hinweg, verringerte sein Gewicht zu einem Bruchteil des gewöhnlichen und landete weich auf der anderen Seite.

Ah, gut, dachte er, kauerte sich nieder und spähte durch den Nebel. Der Kutschenhof. Die Gefährte, mit denen die Gäste hergekommen waren, standen in Reih und Glied nebeneinander, während sich die Kutscher in einigen gemütlich erhellten Räumen unterhielten, aus denen orangefarbenes Licht in den Nebel hinausdrang. Hier gab es noch keine Elektrizität, sondern nur gutes, Wärme spendendes Kaminfeuer.

Er ging zwischen den Kutschen umher, bis er seine eigene gefunden hatte; dann öffnete er den Koffer, der am hinteren Teil festgebunden war.

Er zog den Abendfrack aus und warf sich seinen Nebelmantel über, ein langes, ihn ganz einhüllendes Kleidungsstück, das einem Staubmantel ähnelte, aber mit einem dicken Kragen und Manschetten an den Ärmeln versehen war. Er steckte sich eine Waffe in die Innentasche, legte seinen Revolvergürtel um und verstaute die Sterrions in den Holstern an seinen Hüften.

Ah, dachte er, viel besser. Er sollte aufhören, diese Sterrions zu tragen und sich stattdessen praktischere Waffen zulegen, die leichter zu verbergen waren. Doch leider hatte er bisher keine besseren als die von Ranette gefunden. War sie nicht ebenfalls in die Stadt gezogen? Vielleicht sollte er sie aufsuchen und dazu überreden, etwas Neues für ihn herzustellen. Vorausgesetzt, sie erschoss ihn nicht sogleich.

Wenige Augenblicke später rannte er durch die Stadt; der Nebelmantel lag leicht auf seinem Rücken. Er ließ ihn aufgeknöpft, und unter ihm kamen sein schwarzes Hemd und die elegante Hose zum Vorschein. Der knöchellange Nebelmantel war von der Hüfte an in Streifen geschnitten, die Quasten flatterten mit einem schwachen Rascheln hinter ihm.

Er ließ eine Patronenhülse fallen, sprang mit ihrer Hilfe in die Luft und landete auf dem Dach des Gebäudes, das auf der anderen Straßenseite dem Cett-Haus gegenüberstand. Dann warf er einen Blick darauf zurück; die Fenster waren in der abendlichen Dunkelheit hell erleuchtet. Welchen Gerüchten würde er Vorschub leisten, indem er auf diese Weise vom Balkon verschwunden war?

Es war doch bereits allgemein bekannt, dass er ein Zwillingsgeborener war. Sein Verschwinden würde dem Ruf seiner Familie nicht gerade förderlich sein. Doch das war ihm in diesem Augenblick gleichgültig. Seit seiner Rückkehr in die Stadt hatte er fast jeden Abend bei dem einen oder anderen gesellschaftlichen Ereignis verbracht, und schon seit vielen Wochen hatte es keine Nebelnacht mehr gegeben.

Er brauchte den Nebel. So war er nun einmal.

Wax rannte über das Dach und sprang auf die Demoux-Promenade herab. Bevor er auf den Boden traf, warf er eine Patronenhülse hinunter und drückte dagegen, wodurch sich sein Abstieg wieder verlangsamte. Er landete zwischen einigen Zierbüschen, in denen sich seine Mantelquasten mit einem Rascheln verfingen.

Verdammt. Im Rauland pflanzte niemand Zierbüsche. Er riss sich frei und zuckte unter den lauten Geräuschen zusammen. Rostete er etwa schon nach wenigen Wochen in der Stadt ein?

Er schüttelte den Kopf, stieß sich erneut in die Luft ab und bewegte sich über den breiten Boulevard und den parallel dazu verlaufenden Kanal. Er flog in einem Winkel, der ihn auf eine der neuen elektrischen Lampen brachte. Das war an einer modernen Stadt wie dieser angenehm: Sie wies eine Menge Metall auf.

Er lächelte, fachte seinen Stahl an, drückte sich von der Straßenlaterne ab und flog in einem hohen Bogen durch die Luft. Der Nebel strömte an ihm vorbei und verwirbelte, während ihm der Wind gegen das Gesicht blies. Es war erregend. Er fühlte sich nie wirklich frei, bis er nicht die Fesseln der Schwerkraft abgeworfen hatte und hoch in den Himmel steigen konnte.

Als er den Scheitelpunkt des Bogens erreicht hatte, den sein Flug beschrieb, drückte er gegen eine andere Lampe und schwang sich noch weiter vorwärts. Die lange Reihe der Metallpfähle war so etwas wie seine eigene, persönliche Eisenbahnlinie. Er sprang immer weiter, und seine Bewegungen erregten die Aufmerksamkeit der Passanten, die unter ihm in Kutschen mit und ohne Pferd dahinfuhren.

Er grinste. Münzwerfer wie er waren relativ selten, aber Elantel war eine große Stadt mit einer gewaltigen Einwohnerzahl. Er war sicherlich nicht der Erste, der dabei beobachtet wurde, wie er mit Hilfe von Metall durch die Stadt sprang. In Elantel dienten Münzwerfer oft als schnelle Kuriere.

Die Größe der Stadt verblüffte ihn noch immer. Millionen lebten hier, vielleicht waren es sogar schon fünf Millionen. Niemand hatte je in allen Bezirken Zählungen durchgeführt – sie wurden Oktanten genannt, und wie zu erwarten war, gab es acht von ihnen.

Millionen – er konnte es sich nicht vorstellen, obwohl er hier aufgewachsen war. Bevor er Wettering verlassen hatte, war er der Meinung gewesen, dass es zu groß geworden war, aber es hatte höchstens zehntausend Einwohner.

Wax landete auf einer Laterne unmittelbar vor dem massigen Eisendornhaus. Er reckte den Hals und schaute durch den Nebel an dem gewaltigen Gebäude empor. Die noch nicht fertiggestellte Spitze verlor sich in der Dunkelheit. Konnte er etwas so Hohes überhaupt erklettern? Es war ihm nicht möglich, mit seiner allomantischen Gabe an Metallen zu ziehen, denn schließlich war er keiner der mystischen Nebelgeborenen aus den alten Geschichten, wie etwa der Überlebende oder die Erhobene Kriegerin. Eine allomantische und gleichzeitig eine ferrochemische Gabe – das war alles, was ein Metallgeborener haben konnte. Schon wenn man eine davon besaß, bedeutete das ein seltenes Privileg. Zwillingsgeborene wie Wax stellten eine große Ausnahme dar.

Wayne behauptete, alle möglichen Kombinationen der Zwillingsgeborenen auswendig zu kennen. Allerdings behauptete Wayne auch, einmal ein Pferd gestohlen zu haben, das vollkommen musikalisch rülpsen konnte, und deshalb war das, was er sagte, nicht immer ganz wörtlich zu nehmen. Wax waren all die Namen und Definitionen für die Zwillingsgeborenen herzlich egal; er wurde Stürzer genannt, was eine Mischung aus Münzwerfer und Abschöpfer war. Aber darüber dachte er kaum nach.

Er füllte seine Metallgeister – die eisernen Reifen, die er an den Oberarmen trug – und machte sich dadurch noch leichter. Sein Gewicht wurde zum zukünftigen Gebrauch gespeichert. Dann fachte er unter Missachtung des vorsichtigeren Teils in sich seinen Stahl an und drückte.

Er schoss nach oben. Der Wind wurde zum röhrenden Sturm, und die Laterne war ein guter Anker – eine Menge Metall, ausreichend im Boden befestigt –, so dass er sich hoch genug davon abdrücken konnte. Er entfernte sich ein wenig von dem Gebäude, und die einzelnen Stockwerke rasten verschwommen an ihm vorbei. Er landete etwa zwanzig Etagen höher, als er nicht mehr länger gegen die Laterne drücken konnte.

Dieser Teil des Bauwerks war bereits vollendet. Das Äußere bestand aus einem gegossenen Material, das wie Stein wirkte. Er hatte gehört, dass es sich um Keramik handelte. Dies war ein üblicher Baustoff für hohe Häuser, bei denen nur die unteren Stockwerke aus Stein bestanden, die oberen aber aus etwas Leichterem.

Er hielt sich an einem Vorsprung fest. Zwar war er nicht so leicht, dass ihn der Wind wegblasen konnte, denn schließlich trug er noch seine Metallgeister an den Oberarmen sowie seine Waffen. Doch aufgrund seines leichteren Körpers war es einfacher für ihn, sich anzuklammern.

Der Nebel wirbelte unter ihm. Er machte einen fast spielerischen Eindruck. Wax schaute nach oben und beschloss seine nächsten Schritte. Sein Stahl zeigte ihm die blauen Linien, die zu Metallquellen in der Nähe wiesen. Bei vielen von ihnen handelte es sich um die Träger des Gebäudes. Wenn er gegen einen von ihnen drückte, würde ihn das von dem Gebäude entfernen.

Dort, dachte er, als er einen kleineren, etwa fünf Fuß über ihm befindlichen Sims bemerkte. Er kletterte an der Fassade des Hauses hoch, und seine behandschuhten Finger fanden sicheren Halt an der reich verzierten Oberfläche. Ein Münzwerfer lernte rasch, keine Angst vor großen Höhen zu haben. Er zog sich auf den Sims, ließ eine Patronenhülse fallen und fing sie mit der Stiefelspitze auf.

Wax schaute nach oben und berechnete seine Flugbahn. Er nahm eine Phiole aus seinem Gürtel, entkorkte sie und kippte die mit Stahlspänen vermischte Flüssigkeit herunter. Durch die zusammengebissenen Zähne stieß er einen zischenden Laut aus, als der Whisky in seiner Kehle brannte. Es war ein gutes Zeug aus Sagins Destillerie. Verdammt, das werde ich vermissen, wenn meine Vorräte erschöpft sind, dachte er und steckte die Phiole wieder ein.

Die meisten Allomanten verwendeten keinen Whisky in ihren Metallphiolen. Die meisten Allomanten verpassten dadurch eine einmalige Gelegenheit. Er lächelte, als sich seine inneren Stahlreserven erneuerten; dann fachte er das Metall an und stieß sich ab.

Er flog in den Nachthimmel hinauf. Leider war der Eisendorn in immer weiter zurückweichenden Schichten erbaut, so dass die oberen Stockwerke beständig schmaler wurden, je höher man kam. Das bedeutete, dass er bald in der offenen Finsternis schwebte, auch wenn er sich geradewegs nach oben abdrückte. Der Nebel umgab ihn, und die Seite des Gebäudes war plötzlich zehn Fuß von ihm entfernt.

Wax griff in seinen Mantel und holte den kurzläufigen Revolver aus der langen, ärmelartigen Innentasche. Er drehte sich, richtete die Waffe von dem Gebäude weg und feuerte.

Er war so leicht, dass ihn der Rückstoß gegen das Haus trieb. Der Schuss hallte laut unter ihm. In den Patronen steckte Schrot, der so fein war, dass er niemanden verletzen konnte, wenn er aus dieser Höhe herunterfiel.

Weitere fünf Stockwerke höher rammte Wax die Wand des Gebäudes und hielt sich an einem stachelartigen Vorsprung fest. Die Verzierungen hier oben waren wirklich verblüffend. Wer sollte sie sich je ansehen? Er schüttelte den Kopf. Architekten waren sonderbare Leute. Sie waren so unpraktisch, ganz im Gegensatz zu einem guten Waffenschmied. Wax kletterte eine weitere Etage hinauf und sprang wieder nach oben.

Nun erreichte er die unverkleideten Stahlträger der unfertigen obersten Stockwerke. Er schlenderte über einen Tragbalken, tänzelte einen senkrechten Träger hoch – sein verringertes Gewicht erleichterte dies – und kletterte auf den höchsten Schaft, der aus der Spitze des Bauwerks hervorragte.

Die Höhe war schwindelerregend. Obwohl der Nebel die Landschaft bedeckte, erkannte er die Doppelreihe der Laternen, die die Straße unter ihm beleuchteten. Andere, sanftere Lichtquellen schimmerten überall in der Stadt; sie waren wie schwimmende Kerzen während der Beerdigung eines Seemannes. Die verschiedenen Parks und die Bucht weit im Westen erkannte er nur deshalb, weil dort jegliche Beleuchtung fehlte.

Früher war diese Stadt einmal seine Heimat gewesen. Sie war es gewesen, bevor er zwanzig Jahre im Staub gelebt hatte, wo Recht und Ordnung bisweilen kaum mehr als eine ferne Erinnerung waren und die Menschen Kutschen als Frivolität betrachteten. Was würde Lessie wohl von diesen pferdelosen Kutschen mit ihren dünnen Rädern gehalten haben, die nur zum Fahren auf den fein gepflasterten Straßen der Stadt geeignet waren? Diese Gefährte fuhren mit Öl und Schmiere statt mit Heu und auf Pferdehufen.

Er drehte sich auf seinem Aussichtspunkt um. Es war schwierig, in der Dunkelheit und im Nebel Einzelheiten zu erkennen. Aber er hatte schließlich seine ganze Jugend in diesem Teil der Stadt verbracht. Die Dinge hatten sich verändert, aber doch nicht so sehr. Er schätzte die Entfernung für seinen nächsten Sprung ab, überprüfte seine Stahlreserven und stürzte sich in die Dunkelheit hinaus.

Er flog in einem großen Bogen über die Stadt und drückte sich eine halbe Minute lang von diesen gewaltigen Stahlträgern ab. Der Wolkenkratzer wurde hinter ihm zu einem dunklen Umriss und verschwand schließlich ganz. Nun nahm sein Schwung ab, und er sackte durch den Nebel nach unten. Still ließ er sich fallen. Als die Lichter näher kamen – und er sah, dass sich niemand unter ihm befand –, richtete er den Lauf seiner Waffe auf den Boden und betätigte den Abzug.

Der Rückstoß schleuderte ihn für einen Augenblick wieder nach oben und verlangsamte so seinen Abstieg. Er drückte sich von der Kugel im Pflaster ab und landete sanft in gebückter Haltung. Unzufrieden bemerkte er, dass er mit seinem Schuss einige gute Pflastersteine ruiniert hatte.

Einträchtiger, dachte er. Er musste sich erst wieder an diesen Ort gewöhnen. Ich bin wie ein Pferd, das durch einen dicht bevölkerten Markt prescht, dachte er und steckte den Revolver wieder in die Innentasche zurück. Ich muss gewandter werden. Draußen im Rauland hatte er als Mann von Welt gegolten. Wenn er nicht aufpasste, würde er jedoch bald zu dem unkultivierten Rohling werden, den der größte Teil des Adels schon jetzt in ihm sah. Es …

Schüsse.

Wax reagierte sofort. Er drückte sich seitlich von einem Eisengitter ab und rollte über den Boden. Dann sprang er wieder auf, griff mit der rechten Hand nach einem der Sterrion-Revolver und packte mit der Linken die Waffe in seinem Mantel.

Er spähte in die Nacht. Hatten seine eigenen unbedachten Schüsse etwa die Aufmerksamkeit der örtlichen Polizisten erregt? Weitere Schüsse wurden abgegeben. Er runzelte die Stirn. Nein. Sie sind zu weit entfernt. Etwas geschieht gerade dort draußen.

Es erregte ihn. Er sprang in die Luft und flog die Straße entlang, wobei er mit seiner Allomantie gegen das Eisengitter drückte, um Höhe zu gewinnen. Er landete auf dem Dach eines Hauses. In dieser Gegend standen viele Mietshäuser mit drei oder vier Stockwerken und schmalen Gassen dazwischen. Wie konnten die Menschen auf so engem Raum leben? Er selbst würde den Verstand dabei verlieren.

Er lief über einige Gebäude – sehr praktisch, dass sie Flachdächer besaßen –, bis er stehen blieb und lauschte. Sein Herz klopfte aufgeregt – und er begriff, dass er auf so etwas gehofft hatte. Das war der Grund, warum es ihn zum Verlassen der Gesellschaft getrieben und er den Wolkenkratzer erklettert hatte und durch den Nebel geflogen war. In Wettering war er oft durch die Nacht patrouilliert, als die Stadt immer größer geworden war – und hatte nach Ärger Ausschau gehalten.

Er betastete seinen Sterrion, als ein weiterer Schuss erschallte. Diesmal war es knapper. Er schätzte die Entfernung ab, ließ eine Patronenhülse fallen und stieß sich daran in die Luft. Er wog nun drei Viertel seines normalen Gewichts und beließ es dabei. Schließlich brauchte man eine gewisse Masse, wenn man kämpfen wollte.

Der Nebel umwirbelte ihn, spielte mit ihm. Man wusste nie, in welcher Nacht der Nebel aufziehen würde; er fügte sich nicht den üblichen Wettergegebenheiten. Es konnte eine feuchte und kalte Nacht sein, und doch zeigte sich manchmal nicht die kleinste Nebelschwade in ihr. Die nächste Nacht mochte trocken wie welkes Laub sein, und der Nebel verschlang sie.

Heute Nacht waren die Schwaden dünn, daher herrschte eine recht gute Sicht. Ein weiterer Schuss durchbrach die Stille. Da, dachte Wax. Der Stahl brannte mit einer sanften Wärme in ihm, und er sprang in einem Wirbel aus Mantelquasten, Nebel und Wind über eine weitere Straße hinweg.

Er landete sanft, hielt die Waffe von sich weg und rannte in gebückter Haltung über das Dach. Dann erreichte er den Rand und blickte in die Tiefe. Unmittelbar unter ihm hatte nahe der Einmündung der Gasse jemand hinter einem Stapel aus Kästen Zuflucht gesucht. In der dunklen, nebligen Nacht konnte Wax kaum Einzelheiten erkennen, doch die Person war mit einem Gewehr bewaffnet, das sie auf einer der Kisten abgestützt hatte. Der Lauf zielte auf eine Gruppe von Leuten, die sich weiter hinten auf der Straße befanden und die unverwechselbaren gewölbten Hüte der Stadtpolizei trugen.

Wax drückte ganz schwach nach allen Seiten und erschuf damit seine Stahlblase. Die Klinke einer Falltür unter seinen Füßen klapperte, als seine Allomantie an ihr zerrte. Er spähte hinunter auf den Mann, der nun auf die Polizisten feuerte. Es wäre besser, etwas wirklich Bedeutendes in dieser Stadt zu tun, anstatt bloß herumzustehen und mit den teuer Gekleideten und Privilegierten zu schwatzen.

Er warf eine Patronenhülse hinunter, und seine Allomantie drückte sie auf das Häuserdach unmittelbar unter ihm. Er drückte noch stärker dagegen und sprang mitten in den wirbelnden Nebel hinein. Dabei verringerte er sein Gewicht beträchtlich, drückte im Fallen gegen einen Fenstergriff und positionierte sich in der Luft so, dass er mitten in der Gasse landen konnte.

Mit Hilfe seines Stahls konnte er Linien sehen, die auf vier verschiedene Gestalten vor ihm wiesen. Während er landete – und sich die Männer fluchend nach ihm umdrehten –, hob er seinen Sterrion und zielte auf den ersten Straßenräuber. Der Mann hatte einen fleckigen Bart und Augen, die so dunkel wie die Nacht selbst waren.

Wax hörte das Jammern einer Frau.

Er erstarrte. Seine Hand war ganz ruhig, aber er konnte sich nicht bewegen. Die Erinnerungen, die so sorgfältig in seinem Kopf weggesperrt waren, brachen durch und überspülten ihn. Lessie mit der Garotte um den Hals. Ein einzelner Schuss. Blut auf der roten Ziegelwand.

Der Straßenräuber riss sein Gewehr hoch und feuerte auf Wax. Die Stahlblase lenkte die Kugel kaum ab. Sie flog durch den Stoff von Wax’ Mantel und verfehlte seine Rippen nur knapp.

Er versuchte, das Feuer zu erwidern, aber dieses Jammern …

O Einträchtiger, dachte er und war über sich selbst entsetzt. Er ließ die Waffe sinken, schoss auf den Boden, drückte sich von der Kugel ab und schleuderte sich nach hinten aus der Gasse.

Kugeln durchschlugen den Nebel überall um ihn herum. Trotz seiner Stahlblase hätte eine von ihnen eigentlich ihr Ziel finden müssen. Es war das reine Glück, das ihm das Leben rettete, als er auf einem Dach landete, herumrollte und schließlich auf dem Bauch zum Stillstand kam, während ihn eine Brüstung vor dem Feuer abschirmte.

Wax rang nach Luft und legte die Hand auf seinen Revolver. Du Idiot, dachte er. Du Narr. Nie zuvor war er in einem Kampf erstarrt, nicht einmal damals, als er noch ein Grünschnabel gewesen war. Niemals. Doch dies war das erste Mal, dass er nach der Katastrophe in der verfallenen Kirche versucht hatte auf jemanden zu schießen.

Am liebsten hätte er sich vor Scham zusammengerollt, aber er biss die Zähne zusammen und robbte zum Rand des Daches. Die Männer waren noch immer dort unten. Jetzt hatte er einen besseren Blick auf sie und erkannte, dass sie sich zum Aufbruch bereitmachten. Vermutlich wollten sie nichts mit einem Allomanten zu tun haben.