Der Legat (Projekt Stellar Buch 6): LitRPG-Serie - Roman Prokofiev - E-Book

Der Legat (Projekt Stellar Buch 6): LitRPG-Serie E-Book

Roman Prokofiev

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Beschreibung

"Hiermit ergeht folgender Befehl: - Verbindung der Militär-Orbitale entsprechend des Himmelsangriffsplans. - Start eines synchronisierten Angriffs auf den Schwarzen Mond, sobald dieser in Reichweite kommt. - Völlige Entleerung der Absolute-Reaktoren sämtlicher Raketen zur Sicherstellung des Vernichtungsvorgangs." Als Grey mit einer Armee neuer Verbündeter zurückkehrte, war die Legion besiegt. Viele Inkarnatoren hatten den Heldentod erlitten, und die Stadt stand kurz vor der völligen Zerstörung. Tausende von Seelen, die noch immer im Würfel gefangen waren, versuchten, sich aus ihrem extradimensionalen Gefängnis zu befreien, während der Stern vom Himmel aus tatenlos zusah. Aber die wahre Gefahr stellen weder die A-Monster, die Shivas noch die Besessenen dar. Vielmehr ist es derjenige, der Projekt Stellar einst ins Leben rief – und der nun sein wahres Gesicht enthüllt und die Existenz aller Inkarnatoren bedroht.

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Inhaltsverzeichnis

Einschub: Hexe

1

2

3

4

5

Einschub: Wesson

6

7

8

9

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Einschub: Der Einschlag

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Einschub: Die Stadt

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25

26

27

Epilog

Über den Autor

Der Legat

von Roman Prokofiev

Projekt Stellar

Buch 6

Magic Dome Books

Der Legat

Projekt Stellar Buch 6

Originaltitel: The Legate (Project Stellar Book #6)

Copyright ©R. Prokofiev, 2022

Covergestaltung © Ivan Khivrenko 2022

Designer: Vladimir Manyukhin

Deutsche Übersetzung © Kerstin Fricke, 2022

Erschienen 2022 bei Magic Dome Books

Anschrift: Podkovářská 933/3, Vysočany, 190 00

Praha 9 Czech Republic IC: 28203127

Alle Rechte vorbehalten

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Einschub: Hexe

ES WURDE BEREITS HELL, als Tyrea »Hexe« Mun die Mauer von Prometheus erklommen hatte.

Die Einheiten der Legion waren gezwungen gewesen, ihren Beobachtungsstützpunkt nach dem Kampf hastig aufzugeben. Die Überreste der Schlacht waren überall zu sehen: dunkle Blutflecken auf den Pflastersteinen, Leichen inmitten der zerstörten, rauchenden Ausrüstung.

Die Truppen der Besessenen waren im Rücken der Stadtverteidiger gelandet. Dadurch und dank ihres blitzschnellen Vorrückens hatten sie es geschafft, die gigantischen Befestigungsanlagen im Nullkommanichts zu erobern. Die Flugtruppen der Bina Shea hatten beim Kampf während der letzten Nacht eine entscheidende Rolle gespielt, indem sie mehrere Vorstöße wagten und die Luftunterstützung der Stadt blockierten.

Der Angriff hatte die Legionäre aus heiterem Himmel getroffen, die nach dem achtundvierzig Stunden andauernden Ringen mit Tausenden von Krabbenskorpionen ohnehin schon völlig ausgelaugt waren. Die Verteidigung der Stadt wurde an mehreren Stellen durchbrochen, woraufhin sie zusammenbrach und die überlebenden Legionäre sich aus letzter Kraft in Sicherheit bringen und verhindern konnten, vollkommen eingekesselt zu werden.

Hexe war außerordentlich enttäuscht, dass es den Inkarnatoren der Legion, die den Rückzug der Kämpfer gedeckt hatten, gelungen war, die komplette Auslöschung der Stadttruppen zu verhindern. Trotz ihrer immensen Bemühungen hatte sie sie dennoch unterschätzt. Der Angriff war zwar überraschend erfolgt und die Angreifer hatten ihre taktische Überlegenheit ausnutzen können, doch die Legionäre hatten erbittert, wild und brutal gekämpft. Es war so gut wie niemand in Gefangenschaft geraten, und die Verluste der Angreifer waren sehr viel höher als erwartet, insbesondere unter den Einheiten der Bina Shea.

Aber es herrschte Krieg. Der Sieger bekam alles.

Sie hörte die Stimmen der Männer weiter unten, die sich lautstark unterhielten und die Leichen aufschichteten, wobei sie ihnen jegliche Wertgegenstände abnahmen. Hin und wieder erfolgten noch Gnadenschüsse, die wie Echos des fernen Geschützfeuers jenseits des Horizonts klangen.

Von hier aus konnte man die Stadt schon sehen. Die schützende Kuppel wurde von blassblauen Blitzen überzogen und ließ die glänzenden Umrisse der Supertürme darunter erkennen.

Sie kniff erbost die Augen zusammen. Die ehemalige Legatin der Ersten Legion und legendäre Verzauberin war nun eine Besessene, die man auch die Mondhexe nannte. Beim Anblick der Doppelnadeln, die den Nadelturm bildeten und die fast schon über der Megapole zu schweben schienen, loderte der unüberwindbare bittere Hass abermals in ihr auf.

Es war eine Ewigkeit her, dass sie die Stadt zum letzten Mal mit eigenen Augen gesehen hatte. Nun wurde es Zeit, dass sie an den Ort zurückkehrte, den sie einst als ihr Zuhause betrachtet hatte.

Zudem wurde es höchste Zeit, dass sie Gerechtigkeit walten ließ.

Ihr vom Rock-Genom verbessertes Sehvermögen erlaubte es ihr, selbst aus dieser Entfernung die kleinsten Details auszumachen, so wie Raubvögel aus höchster Höhe eine weit unter ihnen durchs Gras huschende Maus erkennen konnten. Sie sah die gefrorenen Kolosse toter Scyllas, die rauchenden schwarzen Krater und das Geschützfeuer an der verbliebenen Sektion der letzten Mauer, die noch von den Legionären gehalten wurde. Die Stadt schöpfte ihre restlichen Ressourcen aus in dem Versuch, die Woge an A-Monstern zu vernichten, die sich aus den Tiefen des Ozeans erhob.

Ihr blieb nur noch, den letzten Schlag auszuführen.

Ihre Streitmacht war dreimal so groß wie die der Stadt: die Insektoiden der Bina Shea, die Abtrünnigen, die Kampfgruppen der Besessenen sowie eine ganze Horde Zeloten. Ihnen konnten nur zwei Probleme zu schaffen machen: der Mangel an Koordination und ihr gegenseitiger Abscheu voreinander.

Genau darum musste sie sich kümmern, denn wie hieß es doch so schön: Der Feind meines Feindes...

Wie als Antwort auf ihre Gedanken machte sich eine neue Präsenz in ihrer Psi-Wahrnehmung bemerkbar. Mächtig und boshaft schien diese Person aus dem Nichts aufzutauchen und eine seltsame Azur-Technik einzusetzen, die sie an uralte Magie erinnerte.

Sie wirbelte herum und wich instinktiv einen Schritt zurück. Zwar hatte sie keine Ahnung gehabt, welcher Zelot als ihr Vertreter auserwählt wurde, doch nun stand vor ihr die einzige Person, die sie auf gar keinen Fall sehen wollte.

Die Leere unter dem langen blauen Kopfputz schien nichts als Hass und Boshaftigkeit auszustrahlen. Falls er jemals ein normaler Inka gewesen war, so hatte er seine menschliche Gestalt schon vor sehr langer Zeit aufgegeben. Sein Anblick erinnerte sie an den Grund, aus dem so viele Inkarnatoren vor den höheren Evolutionen zurückschreckten. Bei Kriegern bedeuteten sie einige irreversible Körperveränderungen, während Technomanten zu mechanischen Abscheulichkeiten wurden und Verzauberer ihre entsetzliche azurische Natur enthüllten.

Umgeben in eine Nebelwolke blieb der Mann einige Schritte von ihr entfernt stehen.

Hexe spürte, wie ihre Wimpern und Augenlider zu Eis wurden, als die bitterkalte Aura ihre Haut versengte. Die seltene Quelle dieses Mannes und seine mächtigen Azur-Genomods hatten ihn in eine wahrhaftige Verkörperung des Elements Eis verwandelt.

Erschrocken aktivierte sie Höherer Metabolismus, um ihre Körperfunktionen zu beschleunigen und seinen Angriff abzuwehren. Den Gerüchten zufolge hatte dieser besondere Inkarnator keine Geduld für seinesgleichen, die seine Nähe nicht ertragen konnten, und betrachtete sie als Schwächlinge, die seiner Aufmerksamkeit nicht wert waren.

»Hexe«, sagte er mental, und seine subvokale Aussprache fühlte sich in ihrem Verstand wie verrosteter Stahl auf Glas an.

»Aeneas.«

In der Vergangenheit waren nicht alle Inkarnatoren bereit gewesen, sich der Ersten Legion anzuschließen. Prometheus’ besondere Strategie war vielleicht fragwürdig, aber nichtsdestotrotz effektiv gewesen. Auf diese Weise waren die Stadt-Inkas zur stärksten aller Gruppen geworden und hatten den mächtigsten Staat der Erde erschaffen.

Doch selbst vor dem Eintreffen der Besessenen hatten sich innerhalb der Reihen der Inkas zahlreiche Verstoßene, Außenseiter und all jene, die ihre Unabhängigkeit behalten wollten, wiedergefunden. Viele von ihnen waren abgehauen und untergetaucht, abgeschnitten von den Terminals und ohne Zugriff auf das Stellar-System.

Nach vielen Jahren des Umherstreifens durch das Ödland, des Erkundens von A-Zonen und des Sammelns aller Arten unglaublicher Genome hatten sich die überlebenden verstoßenen Inkas schnell entwickelt. Einige wenige verloren im Verlauf ihrer Entwicklung den Verstand und ihre menschliche Gestalt und wurden zum Grund für neue Alarme. Zwar waren die Reihen der Überlebenden aufgrund von Prometheus’ Säuberungsaktionen ausgedünnt worden, doch die Verbliebenen verfügten über immense Macht und einen wahrhaft diabolischen Verstand.

Der wahre Name dieses Mannes schien im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten zu sein. Heute kannte man ihn unter diversen Bezeichnungen und Spitznamen: Aeneas, Frost, Eisig oder der Fürst des Eises waren nur einige davon. Zu Prometheus’ Zeit hätte der Würfel auf ihn gewartet, doch der grausame und gerissene Verstoßene war nie in die Hände der Stadt geraten. Nach allem, was Hexe in Erfahrung gebracht hatte, war er früher einer von Lefties Assistenten im Kult der Schwarzen Rose gewesen, dessen Nest bei Castors Angriff zerstört worden war.

Es hatte Zeiten gegeben, zu denen sie Jagd auf andere Verstoßene gemacht hatte, doch die Zeiten hatten sich geändert. Heute waren dies die einzigen Verbündeten, die sich die Besessenen noch leisten konnten.

Aeneas wurde als einer der Anführer des Zelotenkults angesehen. Anscheinend gab es noch andere, die ihre Namen und Identitäten jedoch geheim hielten und von denen einige tief innerhalb der A-Zonen inmitten der Fanatiker lebten, während andere als Tempelwachen von Urgentum eingesetzt wurden; wiederum andere hatten sich offenbar den Reihen der Bastler, der angeheuerten Kopfgeldjäger, versteckt. Nun versammelten sie sich alle hier wie ein Schwarm Aasgeier, angezogen von den Reichtümern der Stadt und in der Hoffnung, etwas von dem sagenhaften Loot abzubekommen.

Zuvor war es Leftie gewesen, der alle Verbindungen dieser verworrenen Kette zusammenzufügen und ihre kombinierten Bemühungen zu koordinieren vermochte. Aber jetzt war Leftie fort, spurlos verschwunden — und sie würde selbst herausfinden müssen, was sie von den Zeloten zu erwarten hatte.

»Ich bin jetzt hier«, sagte Aeneas. »Was willst du?«

»Die Stadt.« Sie deutete auf die hoch aufragenden Wolkenkratzer, die sich unter der Kuppel drängten. »Wir sind fast da. Und wir haben ein gemeinsames Ziel. Wenn wir diese Schlacht gewinnen wollen, müssen wir zusammenarbeiten.«

Aeneas trat näher und hinterließ eine sichtbare Spur aus Raureif hinter sich. Trotz des gemäßigten Klimas verwandelte sich alles um sie herum rasend schnell zu Eis und wurde von einer dicken Frostschicht überzogen.

Die wütenden kristallisierten Sterne seiner Psi-Aura setzten ihr zu und bedrängten ihre Wahrnehmung. Selbst ihre kürzlich erfolgte Auseinandersetzung mit Prometheus’ jüngster Inkarnation hatte sich nicht derart schmerzhaft und furchterregend gestaltet.

»Glaubst du allen Ernstes, wir würden deine Befehle befolgen, Puppe?«

Ihr Blut geriet in Wallung, als sie diese uralte herablassende Anrede hörte. Diese Beleidigung für jede Frau deutete an, dass sie nichts als ein hirnloses Weibchen wäre.

Es war noch nie leicht gewesen, sich mit den Zeloten abzugeben. Diese Azur-Fanatiker lebten schon immer in ihrer eigenen Welt. Sie hassten und verabscheuten die Stadt-Inkas und die Besessenen gleichermaßen und zogen es vor, nur kurze, temporäre Allianzen zu schließen. Wieso begriff Aeneas nicht, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als zusammenzuarbeiten?

Hexe riss sich zusammen und entgegnete mit fester Stimme: »Nein, ich will nicht, dass ihr meine Befehle befolgt. Wir sollten uns schlichtweg einigen. Warum kommt ihr nicht in die Stadt? Wieso mussten wir uns hier treffen? Was hat Leftie euch versprochen?«

»Das will ich zuerst von dir hören.«

»Unser Ziel ist allseits bekannt!« Sie warf stolz den Kopf in den Nacken. »Wir wollen Stellar! Und Rache! Wir wollen die Verräter aus der Stadt tot sehen.«

»Aber die Shea. Ihr habt die Shea hergebracht. Haben sie einen Mittelsmann?«

»Das geht euch nichts an.«

Als würde er ihre Unhöflichkeit gar nicht zur Kenntnis nehmen, wandte sich der Eis-Verzauberer den Bina Shea in der Ferne zu, deren silbrig-blaue Umrisse aussahen wie steinerne Gargoylen, die an den Zinnen der Mauer erstarrt waren.

»Das ist ein neuer Schwarm«, stellte er fest. »Er ist nicht vollständig. Sie brauchen den Nukleus. Sind sie deshalb hergekommen?«

»Das ist unwichtig. Sie stehen unter unserer Kontrolle«, erwiderte Hexe eisig. »Was sie für ihre Hilfe erhalten, geht euch nichts an.«

Der Zelot war sichtlich unzufrieden mit ihrer Antwort. Hexe erschauderte bei dem verzweifelten Versuch, die immense Kälte, die ihren Hals umfing, abzuwehren. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Aeneas im Verlauf der Verhandlungen aggressiv werden könnte — erst recht nicht im Herzen der Armee der Besessenen.

Dennoch ging er das Risiko ein. Innerhalb dieser ersten Sekunden ihres mentalen Duells, das für jeden ahnungslosen Beobachter unsichtbar verlief, gelang es ihm, sie zu brechen, zu blockieren und zu einem langsamen Tod zu zwingen.

Hexe erstarrte, stand regungslos da und konnte keinen Finger mehr bewegen und nicht einmal atmen. Das musste das Phänomen sein, das als kryonische Stasis bekannt war und bei dem sich sämtliche Körperflüssigkeiten des Opfers augenblicklich zu Eis verwandelten.

Entsetzt merkte Hexe, dass sie dem nichts entgegensetzen konnte. Aeneas hatte ihren Wirtskörper soeben in eine leblose Eisstatue verwandelt und sie darin eingesperrt. Sie konnte sich nicht einmal mehr reinkarnieren, da er ihre Umbra längst mit seinen gefrorenen Krallen aus ihrem Leib gerissen und in einen Klumpen aus kristallisiertem Eis eingesperrt hatte.

»Uns geht alles etwas an, Tyrea Mun. Hast du das verstanden?«

Sie konnte nicht einmal schreien.

Einige Sekunden lang musterte Aeneas die in dem gefrorenen Kristall gefangenen sich schlängelnden schwarzen Venen, als wüsste er nicht, was er mit ihr anstellen sollte. Zu guter Letzt berührte er das Gebilde mit einem fleischlosen Finger.

Ein greller Funke bohrte sich in den Kristall.

Die Folter schien überhaupt kein Ende zu nehmen, dabei hatte sie gerade mal einen Sekundenbruchteil gedauert. Lautlos schreiend wand sich Hexe in krampfhafter Agonie. Das Azur des Funken drang in ihre Enyo ein und peinigte die Essenz ihrer Inkarnatorennatur.

Dann ließ der Schmerz nach. Sie befand sich erneut in ihrem toten Wirtskörper.

Reinkarnation.

Ihr stehen gebliebenes Herz schlug wieder. Ihr Blut, das zu einem eisigen Matsch erstarrt war, setzte seinen üblichen Kreislauf fort. Die Nadeln, die sich in ihre Lunge bohrten, waren verschwunden. Sie konnte wieder sprechen.

Dennoch blieb sein eisiger Griff um ihre Kehle bestehen. Er spielte mit ihr, hielt sie an der Schwelle zwischen Leben und Tod, nur um seine Macht zu demonstrieren.

Wie konnte er es wagen? Nun gut, dann würde sie es ihm eben mit gleicher Münze heimzahlen!

»Denk nicht mal daran«, warnte Aeneas sie.

Mehr Schmerz durchzuckte sie, als eine neue Eisladung ihr Herz durchbohrte, derart qualvoll und mächtig, dass sie aufkeuchte und sich instinktiv an die Brust fasste. Der grelle Funke war noch immer dort und verharrte in ihrer Umbra wie ein Dorn, bereit, sie jeden Moment in Stücke zu reißen.

»Was hast du mit mir gemacht?«, stieß sie keuchend hervor.

»Das bezeichnet man als Eissplitter. Mein persönliches Brandmal.« In Aeneas’ Stimme schwang eine Spur von Selbstgefälligkeit mit. »Solltest du dich je gegen mich wenden, dann stirbst du. Wenn du versuchst, ihn zu entfernen, ist das ebenfalls dein Tod. Und solltest du jemals meine Befehle missachten, ist das dein Ende. Hast du dämliche Puppe allen Ernstes geglaubt, du könntest uns vorschreiben, was wir zu tun und zu lassen haben?«

»Ganz und gar nicht. Ich...«

»Halt den Mund! Niemand hat dir die Erlaubnis gegeben, etwas zu sagen. Du gehörst jetzt mir. Du wirst tun, was ich sage — oder du beißt ins Gras.«

Dieser Mistkerl! Sie hatte schon von solchen Methoden gehört und auch einige der Opfer gesehen — allerdings hätte sie nie gedacht, dass sie eines Tages das Ziel eines derartigen Angriffs werden könnte. Es war ein großer Fehler gewesen, seinem Wunsch nach einem Treffen unter vier Augen zuzustimmen und ihm zu gestatten, sich ihr zu nähern.

Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen und versuchte, sich zu wehren, nur um sofort die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens zu erkennen. Aufgrund der azurischen Art des Splitters war Aeneas die einzige Person, die ihn wieder entfernen konnte, solange er lebte. Ihre Optionen stellten sich daher denkbar einfach da: Entweder sie gehorchte ihm oder sie starb.

»Diese Lektion wirst du dummes Püppchen nie mehr vergessen«, fuhr Aeneas fort. »Wir sind durchaus dazu in der Lage, die Stadt zu betreten und uns zu nehmen, was immer wir wollen. Und jetzt wirst du meine Fragen beantworten oder sterben. Haben die Shea einen Mittelsmann?«

»Ja«, stieß sie keuchend hervor und schluckte ihren Stolz herunter.

Diesen Kampf hatte sie wie eine blutige Anfängerin verloren. Jetzt musste sie dafür sorgen, dass sie nicht auch noch ihr Leben verlor. Aeneas konnte sie ebenso leicht zerbrechen, wie sie es mit einem normalen Menschen vermochte. Wie viele Evolutionen hatte er durchlaufen, um eine derart unfassbare Macht zu erlangen — vier oder sogar fünf?

»Wer ist es? Wo sind sie?«

Nachdem er seine Antwort erhalten hatte, nickte Aeneas zufrieden und fuhr fort. Nun sprach er mit der ruhigen Stimme eines Sklavenhalters, der Befehle erteilte.

»Hör mir jetzt genau zu. Es gibt drei Hindernisse, die wir überwinden müssen, um in die Stadt zu gelangen. Das erste ist der Titan. Du wirst ihn mit deinem Raumschiff angreifen.«

»Das ist unmöglich. Die Rächer ist weg.«

Aeneas schlug ihr ins Gesicht — nicht körperlich, sondern diesmal mental –, wodurch sie auf die Knie fiel. In der rechten Gesichtshälfte hatte sie augenblicklich jegliches Gefühl verloren. Hexe starrte sein eisiges Erscheinungsbild an, während ein fünffingriger Abdruck wie eine chemische Verbrennung auf ihrer Haut prangte.

»Dadurch wirst du mich nie mehr vergessen, Puppe!«, stieß Aeneas zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Was für ein Haufen Verlierer. Schwach. Armselig. Wo ist dein Schiff?«

»Das wissen wir nicht. Zack ist mit einigen unserer Leute weggeflogen.«

»In diesem Fall muss es der Stern regeln. Die Startrampe. Ich will, dass ihr die Startrampe angreift und blockiert. Bist du mutig und fähig genug, um das hinzukriegen?«

Das war genau das, was sie im Verlauf der Verhandlungen vorschlagen wollte. Die Startrampe im All war einer der strategisch wichtigsten Punkte der Stadt — der Orbitalfahrstuhl und der einzige Versorgungshub, über den sie mit dem Stern verbunden war. Sobald man sie blockierte, wären die Cosmo zu Verhandlungen gezwungen.

Offen gesagt bezweifelte Hexe stark, dass es der Stern wagen würde, Orbitalschläge innerhalb der Stadtgrenzen durchzuführen. Die tektonische Kriegsführung war dafür viel zu destruktiv. Dennoch mussten sie sicherstellen, dass so etwas nicht passierte, schlichtweg weil man nie wissen konnte, auf welche Ideen verzweifelte Personen kamen.

»So«, fuhr Aeneas fort. »Der Titan. Der Stern. Und der dritte Schlüssel zur Stadt... Du weißt selbstverständlich, wo sich der Würfel befindet, nicht wahr?«

»Er ist vor menschlichen Augen verborgen. Die einzige Person, die den genauen Standort kennt, ist ihr Hüter«, murmelte Hexe.

Wieder einmal durchloderte entsetzlicher Schmerz ihre Quelle, sodass sie sich krümmte und an den kalten Steinen der Mauer festklammern musste. Ihr neuer Herr empfand diese Antwort offensichtlich nicht als zufriedenstellend.

»Möglicherweise muss ich dich doch töten«, meinte Aeneas nonchalant. »Du bist sogar noch nutzloser, als ich erwartet hatte.«

Das war sein voller Ernst. Tief in ihrer Umbra entwickelte der Splitter langsam neue Ausläufer und machte sich bereit, sie von innen heraus zu zerreißen.

»Nein! Nein, warte... Ich weiß vielleicht nicht, wo der Würfel ist, aber... aber ich kenne jemanden, der das weiß!« Hexe stöhnte und nahm ihre letzte Kraft zusammen.

Noch vor fünf Minuten hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie mal um ihr Leben flehen, sich vor Schmerz winden und zu Füßen des reglos dastehenden Aeneas gegen das Eis ankämpfen würde. Für sie hatte der Tod immer wie die bessere Wahl ausgesehen. Sie hatte sich nie davor gefürchtet, auf die andere Seite des Randes zu wechseln, doch jetzt, wo sie im wahrsten Sinne des Wortes direkt vor der Stadt stand und der ersehnte Sieg und die Rache bereits in Reichweite waren, kam ihr das Kriechen in die Sicherheit des Todes wie etwas völlig Absurdes vor.

Auf einmal wurde ihr klar und deutlich bewusst, dass sie sich gar nicht aus eigenem Willen an ihr Leben klammerte. Die stolze Tyrea Mun, die legendäre Legatin der Ersten Legion, die sie einst gewesen war, wäre lieber gestorben, als zu einer fügsamen Marionette zu werden. Doch die Mondhexe, die sie heute war — die Besessene, die von der Dunkelheit geführt wurde — zog das Überleben um jeden Preis vor.

»Das ist deine letzte Chance, Puppe«, erklärte Aeneas. »Mir ist völlig egal, wie du es machst, aber du wirst es herausfinden. Ansonsten ist das dein Tod. Hast du verstanden?«

»Ja. Ja, das habe ich«, brachte sie mühsam hervor und versuchte vergeblich, sich auf alle viere aufzurappeln. »Ich werde es herausfinden.«

»Gut. Ich bin sehr froh, dass wir uns einig werden konnten.« Aeneas schnaubte. »Du wirst später genauere Anweisungen erhalten. Was ist? Hast du noch Fragen?«

»Nur eine«, antwortete sie keuchend und schaffte es endlich, aus der Position einer sich übergebenden Katze in eine etwas aufrechtere Haltung überzugehen. »Weißt du, was aus Leftie geworden ist?«

»Das kannst du ihn auch selbst fragen, Puppe.«

1

ES HATTE NOCH NICHT EINMAL angefangen zu dämmern, als ich hinausging, um jene zu treffen, die meinem Ruf gefolgt waren.

Sie waren die ersten Vorboten unserer Armee, wenn man die riesigen Kampf-Rocks und die Flotte aus Heliflugzeugen, die nur wenige Stunden gebraucht hatten, um mehrere hundert Arktis-Soldaten ins Nest zu befördern, denn so bezeichnen konnte.

Auf der Landeplattform wimmelte es von bewaffneten Einheiten. Allein der Anblick dieses militärischen Chaos mit klappernden Rüstungen, summenden Propellern und flatternden Flügeln munterte mich auf. Wenn all diese Freiwilligen aus einem einzigen Clan hergekommen waren, dann hatten wir vielleicht eine Chance auf den Sieg.

»Grey!«

Zwei Individuen, die ich nur zu gut kannte, traten aus der Menge hervor. Ich erkannte Eds schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und Aces runde, bärtige Visage.

Die beiden hatte ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen! Zuletzt waren wir uns bei der Befreiung des Timus begegnet.

In ihren Späheranzügen — deren Modifikationen ich nicht erkannte — und mit den Suvorovgewehren über der Schulter wirkten die beiden ehemaligen Tribute wie erfahrene Krieger. Ace, der noch immer ein Muskelprotz war, schleppte einen schweren Raketenwerfer und einen Sack voller Munition mit sich.

»Grey! Du bist es wirklich, Mann! Oh, Verzeihung, Senior-Zenturio Grey, Sir! Ave!« Ed nahm Haltung an und salutierte auf Legionsart.

»Lass den Rang aus dem Spiel, Ed.« Ich umarmte erst ihn und danach auch Ace herzlich. »Ihr habt also beschlossen, uns zu begleiten?«

»Was dachtest du denn, Mann?«, donnerte Ace. »Du rufst uns, also kommen wir! Und wir haben die anderen mitgebracht! Wir oder niemand!«

Wir oder niemand war das uralte Motto der Wolfsköpfe, Rakshas legendärer Zweiter Kohorte, die im Laufe der Geschichte die meisten Tribute der nördlichen Clans erhalten hatte. Ace sprach die Worte aus, ohne darüber nachzudenken, was für die tiefe Verbindung zwischen seinem Clan und der Legion sprach. Dieses Band war in jeglicher Hinsicht mit Blut geschmiedet worden.

»Danke, Freunde. Wie ist die Stimmung im Clan?«

»Sie haben uns deine Rede vorgespielt. Und du hast absolut recht. Zwei meiner Brüder sind bei der Legion, genau wie Aces Schwester. So ist das bei allen, wie du ja genau weißt. Unsere Leute werden kämpfen. Und vielen Dank für den Eid...«

Ich tippte ihm freundschaftlich gegen das offene Visier. Wieder einmal zog sich mein Brustkorb derart zusammen, dass ich keinen Ton mehr herausbrachte.

Diese jungen Leute setzten ihr Vertrauen in mich; sie schlossen sich mir an und hatten viele andere mitgebracht. Ich durfte einfach nicht zulassen, dass sie umkamen...

Da ritten die Eliteeinheiten der Clans auf den legendären Weißen Wölfen Fenrirs an uns vorbei. Diese riesigen Tiere reichten selbst dem größten Mann bis zur Schulter und verließen gelassen in Zweierreihen die Tiefen der kampferprobten Drachen-Flugzeuge, wobei sich schwarze Lederharnische auf ihrem weißen Fell abzeichneten. Auf jedem Wolf saß ein Soldat in voller Kampfmontur. Mein Interface identifizierte sie als Morphs der Bina-Klasse — doch anders als die Cyberwarge der Abtrünnigen sahen diese Wölfe beeindruckend aus und waren wohlproportioniert.

Eine junge Frau sprang vom Rücken eines Wolfs. Sie war groß, gut gebaut und bei bester Gesundheit. Ihr Gesicht wirkte noch sehr jung, und unter ihrer mit Pelz ummantelten Haube quoll goldenes Haar hervor.

Zaghaft trat sie vor mich und fragte verunsichert: »Grey?«

Ihre Stimme klang hell und laut. Zwar hatte ich sie noch nie zuvor gehört, dennoch erkannte ich sie sogleich wieder. Ich hatte sie in der Vergangenheit genau ein einziges Mal gesehen: auf dem Bild im alten Vox, das ich von Sven Greyholm geerbt hatte. Vor mir stand Ellyn Greyholm, Svens Halbschwester, die dieselbe Mutter hatte wie er.

»Ich dachte einfach...« Sie stockte, fuhr dann jedoch fort. »Du bist es also wirklich — der Inkarnator, der den Körper meines Bruders übernommen hat? Der neue Prometheus?«

»Nein«, widersprach ich. »Ich bin Grey. Mein Name ist jetzt Grey.«

»Das war Svens Codename...«

»Das weiß ich. Ich habe ihn übernommen, um seiner zu Gedenken. Zu jener Zeit wusste ich nicht, wer er oder ich war, und ich bin auch nicht schuld an seinem Tod.«

»Du bist anders. Auch wenn du Svens Gesicht hast, wirkt es ebenfalls verändert«, stellte sie nachdenklich fest. Plötzlich wirbelte sie herum. »Vater!«

»Ooh.« Ace fiel die Kinnlade herunter, als ein Reiter auf einem riesigen weißen Wolf auf uns zukam. Lautlos zog er sich zurück, während der weitaus diplomatischere Ed längst mit der Menge verschmolzen war.

»Ich bin der Vater des Mannes, dessen Körper Sie an sich genommen haben, Inkarnator«, sagte der Mann und blickte mit seinen strahlenden, immer noch sehr blauen Augen auf mich herab.

Er hatte sich kein bisschen verändert und ähnelte seinem älteren Bruder, dem Anführer des Fenrir-Clans, stark: trocken, stark und sehnig, trotz seines Alters ohne ein Gramm Fett am Leib. Sein ernstes Gesicht erinnerte mich an die Borke einer alten Eiche, sein Haar an einen vom Alter weiß angelaufenen Goldbarren.

Damals im Timus hatte ich seine Biografie gelesen. Fünfzehn Dienstjahre bei den Wolfsköpfen, verbunden mit zahlreichen Kampf-Raids und Medaillen, gefolgt von weiteren zehn Jahren als Konsul der Neuen Arktis. Das war ein erfahrener Mann, der sich in der Welt auskannte, die Quintessenz dessen, wie weit es ein Clan-Tribut innerhalb der Legionshierarchie bringen konnte.

Ich nickte. »Ich weiß. Schön, dass wir uns jetzt kennenlernen.«

»Eins wollte ich Sie die ganze Zeit fragen«, gestand der Mann. »Wie ist es passiert? Wie ist er gestorben? Mein Sohn... Wie haben Sie ihn gefunden?«

»Er gehörte dem Legions-Raid an, der in die A-Zone vordrang, in der mein Sarkophag gelandet ist. Sie wurden von einem Tiferet angegriffen, einem Rieseninsekt. Als ich Sven fand, fehlte sein halber Schädel. Er hat nicht mehr geatmet. Ich konnte ihn nicht retten.«

Von dem Mann ging eine starke Aura der Trauer und des Verlusts aus. Mein Anblick hatte ihn daran erinnert, was sie verloren hatten — aber es schwang auch so etwas wie Eifersucht darin mit. Ich hatte mich des Körpers eines Menschen bemächtigt, den sie liebten, und ihnen die Gelegenheit genommen, sich von ihrem Sohn und Bruder zu verabschieden und ihn anständig zu beerdigen. In ihren Augen glich das einem Sakrileg.

Ich versuchte, ihre Emotionen mit meinem Anführer des Rudels zu besänftigen, während ich ihnen in meinem offenen Blick meine tief empfundene Aufrichtigkeit vermittelte. Es war in der Tat ein unglücklicher Zufall gewesen, für den ich rein gar nichts konnte.

»Dumm gelaufen«, kommentierte der Anführer der Wölfe schließlich und wandte den Blick ab. »Ich weiß, wie so etwas passieren kann. Hatten Sie... hatten Sie zu jener Zeit andere Optionen?«

»Nein, die hatte ich nicht«, erwiderte ich. »Hört mich an, Wölfe. Ich kann euch euren Sohn und Bruder nicht zurückgeben. Ich kann euch nicht einmal mehr seinen Körper überlassen. Bitte nehmt stattdessen das hier an, damit ihr ein Andenken an ihn habt.«

Ich reichte ihnen den Fang-Dolch und den Cryptor-Siegelring mit den Clansymbolen. Beides waren Svens persönlicher Besitz, und sie hatten mir mehr als einmal das Leben gerettet — doch ich war auch der Ansicht, dass man seine Schulden bezahlen musste. Zudem ging ich fest davon aus, dass der Fenrir-Clan neue Nachfolger finden würde, die dieser Objekte würdig waren.

»Behaltet sie einfach, Inkarnator«, entschied der alte Greyholm ernst. »Als Symbol des Namens meines Sohnes und als Erinnerung an ihn. Uns erwartet eine glorreiche Schlacht, und ich hoffe, dass sie allen anderen Wölfen Glück bringen. Sitz auf, Ellie.«

Er hob die Hand zum Legionssalut und reichte sie dann dem Mädchen. Ohne den nachdenklichen Blick von mir abzuwenden, saß sie auf seinem weißen Wolf auf und nahm hinter ihm Platz.

Das Tier gähnte und bleckte seine zehn Zentimeter langen Fangzähne. Was für eine Bestie! Ich hätte zu gern gewusst, wie sie es schafften, sie ohne Zuhilfenahme von Neuralverbindern zu lenken.

»Das beruht auf einer besonderen Technik, die nur die Wolfsflüsterer beherrschen«, erklärte mir Circe, die sich die ganze Zeit unauffällig in der Nähe aufgehalten hatte. »Es gleicht einer mentalen Verbindung, ist aber nicht ganz dasselbe. Die Technik ist ein Geheimnis des Clans, das Fenrirs Kinder über die Generationen weitergeben.«

»Hast du meine Gedanken gelesen?«

»Vergiss nicht, dass ich Verzauberin bin. Und seit letzter Nacht bin ich wie eine Stimmgabel auf dich eingestellt«, fügte sie mit beschämtem Lächeln hinzu. »Bitte entschuldige; das wird nicht wieder vorkommen. Es ist nur so, dass deine Gedanken sehr stark und klar waren. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du über ein unglaublich mächtiges Psi-Feld verfügst? Obwohl ich deine Azur-Aura nicht messen kann, vermute ich, dass deine Suggestionskraft schon fast die Stufe der vierten Evolution erreicht hat. Liege ich damit richtig?«

»Fast«, gab ich widerstrebend zu, da ich nicht gern über meine ungewöhnliche Quelle sprach. »Wolfsflüsterer, sagst du? Außerordentlich interessant. Könntest du zufälligerweise auf dieselbe Art Rocks steuern?«

»Ja, aber die Sache ist weitaus komplizierter. Rocks gehören zu den mächtigsten Bina-Kreaturen, die es gibt. Es kam bisher nur sehr selten vor, dass einer gezähmt werden konnte. Das letzte Mal hat jemand vor über fünfzig Jahren ein Ei gefunden. Man muss schon ein Verzauberer mit einer ganz besonderen Gabe sein, und diese gibt es nur hier in Avalon. Die Falken sind ein uraltes Volk, und durch ihre Adern strömt noch immer das Blut von Siegfried und Irene. Wenn diese besondere Quellenart bei einem von ihnen erwacht, werden sie von ihren Timus-Pflichten befreit und mit der Aufgabe betraut, für die Legion geflügelte Monster zu zähmen und zu züchten. Man bezeichnet sie auch als Vogelherren, und das ist eine höchst ehrenhafte Position. Warum fragst du?«

»Ich habe vor einigen Monaten das Ei eines Rocks gefunden und das Küken unabsichtlich geweckt, sodass es beschloss zu schlüpfen.« Während ich ihr das mitteilte, spürte ich, wie ihr Staunen zunahm.

»Soll das etwa bedeuten, dass du den Rock geprägt hast? Mental, meine ich?« Sie riss die Augen auf. »Du hast ihn erweckt und nicht mal versucht, ihn bei dir zu behalten? Wieso denn das?«

»Weil seine Eltern kamen und dort, wo wir uns befanden, auf einmal jede Menge los war.« Ich erschauderte bei dem Gedanken an meinen Kampf gegen Gnarl und an das Eintreffen der Megavögel.

»Bist du dir sicher, dass du ihn erweckt hast?«

»Ja, das bin ich. Wieso?«

»Folge mir.«

Der Vogelmeister von Avalon stellte sich als dürrer alter Mann mit Adlernase heraus, das mich ebenfalls an einen großen Vogel erinnerte. Nun, da meine Evolution meine Quelle und die Intensität meines Psi-Felds und meiner Azur-Manipulationen verbessert hatte, war ich in der Lage, die kleinsten Details der Azur-Konzentrationen in anderen Personen und sogar Inkas wahrzunehmen, was es mir ermöglichte, den Kreislauf der A-Energie in ihren Körpern nachzuvollziehen. Das half mir wiederum dabei, fast fehlerfrei ihre Entwicklungsart und die Intensität ihrer Azur-Gaben allein anhand ihrer Formen und Farben zu erkennen.

Der Vogelmeister war ein Verzauberer, so viel stand zweifelsfrei fest. Ich konnte seine seltsame samenförmige Quelle und das feine Geflecht aus Jadefäden erkennen, die seine Brust bis hinunter zu seinem Rückgrat und hinauf zu seinem Schädel durchzogen. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.

Miko schaltete sich prompt ein und teilte mir mit, dass diese spezielle Energieart Hyrkha genannt wurde und in der Tat äußerst selten war. Die Inkas, die eine derartige Gabe besaßen, waren in der Lage, mit jeglicher lebendigen Natur, darunter allen Tieren und Pflanzen, auf Tausende verschiedener Arten zu kommunizieren.

Witzigerweise war meine »Anführer des Rudels«-Genomod eine Art minderwertiges Gegenstück. Möglicherweise hatte der Rattenkönig einst eine ähnliche Energieart besessen.

Nachdem er sich meine Geschichte über das Ei des Rock angehört hatte, erzählte er mir im Gegenzug einige höchst interessante Details.

Das Zähmen eines Rock wurde als wahre Heldentat angesehen, selbst wenn es einem Inkarnator gelang, was vor allem daran lag, dass ein solcher Freiwilliger zufällig genau im Moment des Schlüpfens auf ein derartiges Ei stoßen musste. Der Versuch, einen erwachsenen Rock zu zähmen, hatte sich als unmöglich herausgestellt, während ein neugeborenes Küken die erste Kreatur, die es sah, als seine symbolische »Mutter« ansah. Ein mentaler Kontakt zu ihm schuf eine Prägung, eine Verbindung, die das Küken für immer mit dem Verzauberer verband, der es erweckt hatte.

So einfach sich das auch anhörte, so war es in der Praxis eine sehr schwere Aufgabe. Die Geburt des Kükens bewirkte einen tödlichen Anstieg der A-Energie. Darüber hinaus bauten die Rocks ihre Nester hoch oben auf unerklimmbaren Gipfeln und beschützten sie mit ihrem Leben. Ein Nest zu entdecken und sich ihm unbemerkt zu nähern, das dann auch noch zu überleben — das stellte selbst für einen Inkarnator eine reife Leistung dar.

Damals war es Kai und mir gelungen, das Ei zu stehlen — und ich hatte das Küken im Laufe meines Kampfes gegen Gnarl eher unabsichtlich erweckt. Seine Eltern, die aufgrund seines Rufs eintrafen, hatten mir ebenso unabsichtlich zum Sieg verholfen. Zwar nahmen sie ihren Nachwuchs mit sich, doch ich hatte die mentale Prägung bereits durchgeführt und somit eine besondere Verbindung zwischen uns beiden hergestellt.

Der Vogelmeister berichtete mir sodann, dass Rocks außergewöhnlich schnell erwachsen wurden. Im Alter von zwei Monaten wuchsen ihnen bereits Federn. Zu diesem Zeitpunkt schubst ein Elternteil das Küken aus dem Nest, das sich hoch oben auf einer Klippe befindet, um es dann mitten im Sturz aufzufangen. Diese grausame Praxis wird mehrere Dutzend Male wiederholt, bis der junge Rock gelernt hat, die passenden Luftströmungen zu finden, und bis er seine Flügel ausbreitet. So lehrten sie ihren Nachwuchs das Fliegen — und wenn ich dem Vogelmeister Glauben schenken konnte, war noch kein einziges Küken in den Tod gestürzt.

Sobald das geschafft war, nahmen die Eltern ihr Kind mit und brachten ihm das Jagen bei. Konnte der Jungvogel fliegen und für sich selbst sorgen, scheuchte man ihn gnadenlos aus dem Nest, denn die Jagdgebiete der Vögel waren hart umkämpft. Demzufolge flog der junge Rock davon und suchte sich ein eigenes Territorium, im Allgemeinen direkt neben einer A-Zone, doch manchmal auch in der Nähe menschlicher Siedlungen, und im letzteren Fall sah sich das Stellar-System gezwungen, eine neue Mission zu erteilen...

Jeder der von den Menschen gezähmten Kampf-Rocks hatte eine eigene Geschichte. Üblicherweise wurden diese Eier aus dem verlassenen Nest bereits toter Eltern geborgen. Dennoch gab es auch andere Geschichten, die rasch zu Legenden wurden.

In jedem Fall war das, was ich getan hatte, eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen durfte. Inzwischen waren mehrere Monate vergangen. Das Küken musste längst Federn haben und konnte vielleicht sogar schon fliegen. Der Vogelmeister riet mir, dorthin zurückzukehren und es von seinen Eltern zurückzufordern.

Circe machte diese Information sehr unruhig.

»Das ist eine einmalige Gelegenheit, Grey!«, beharrte sie. »Ein Rock ist ein Morph der Gold-Klasse und ein unvergleichlicher Raubvogel. Es ist nahezu unmöglich, ihn umzubringen. Er fliegt schneller als jedes Heliflugzeug und kann es im Kampf problemlos mit einer Inka-Gruppe aufnehmen. Was Haustiere angeht, ist er zudem ausgesprochen nützlich. Jammerschade, dass du dich an nichts erinnern kannst! Ich kann es durchaus.« Sie verdrehte verträumt die Augen, als würde sie die Vergangenheit noch einmal durchleben. »Siegfried hatte früher ebenfalls einen Rock. Und Falke flog einen goldenen Rock namens Sleipnir. Diese Vögel sind legendär, Grey. Überleg dir nur, welche Auswirkungen ein Rock auf die Moral der Clans haben würde, wenn du auf ihm in die Schlacht fliegst!«

»Mir macht es nichts aus, dorthin zurückzukehren, aber wir haben im Augenblick keine Zeit dafür«, erwiderte ich ruhig, aber entschlossen. »Unsere oberste Priorität ist es, so schnell wie möglich die Stadt zu retten. Ach, was ist übrigens mit den Katzen? Ist es dir gelungen, ein Treffen zu arrangieren?«

»Sie warten schon auf dich.«

Die Katzen waren ein Händler-Clan, der alle menschlichen Siedlungen auf dem Planeten miteinander verband. Sie hatten ihre Augen und Ohren überall: in Form unzähliger Spione, ebenso bekannter wie unbekannter. Es war unmöglich, etwas größeren Ausmaßes zu tun, ohne die Aufmerksamkeit ihrer Informanten zu erregen. Ich hatte meine Lektion gelernt und wusste, dass man ihren Einfluss nicht unterschätzen durfte.

Außerdem war ich mir fast sicher, dass die Katzen die ganze Zeit von den Vorbereitungen für den Angriff auf die Stadt gewusst hatten; eventuell hatten sie sogar mitgeholfen und die Abtrünnigen, die Zeloten und die Besessenen mit Waffen und Munition ausgestattet. Man konnte sein Leben darauf verwetten, dass sie von diesem Deal über alle Maßen profitierten und ihren Einfluss und Wohlstand weiter vergrößerten.

Aus genau diesem Grund konnten sie auch den Überraschungseffekt unseres Angriffs vereiteln, indem sie dem Feind Informationen zuspielten. Wir durften uns nicht einbilden, dass unsere Mobilisierungsmaßnahmen unbemerkt geblieben waren — unter den Clans gab es jede Menge Verräter und Spitzel des Feindes.

Demzufolge mussten wir die Katzen auf unsere Seite bringen und dafür sorgen, dass sie für uns arbeiteten. Um das zu erreichen, hatte ich genau das richtige Ass im Ärmel.

Doch vor dem Treffen mit dem Vertreter der Katzen musste ich noch etwas Wichtiges erledigen. Ich musste Wesson aufsuchen, der auf null zurückgesetzt worden war und den die Avalonier aufgrund ihrer Herzensgüte in eine ihrer Kasematten eingesperrt hatten.

Es war auf jeden Fall gut, dass er am Leben geblieben war. Sein Attentat auf den Anführer Avalons hatte diesen Leuten derart große Angst eingejagt, dass es mir äußerst schwergefallen war, sie von seinem gelöschten Gedächtnis zu überzeugen — und dass er nun im Grunde genommen ein erwachsenes Baby in einer merkwürdigen Welt war.

Ich wusste einfach nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Prometheus hatte schon versucht, auf ähnliche Weise zurückgesetzte Inkas zu reformieren, die ihr Leben mit sauberer Weste neu anfangen konnten. Er schien dabei jedoch keinen großen Erfolg gehabt zu haben, da die meisten Feinde der Erste Legion früher oder später doch im Würfel gelandet waren. Lefties Beispiel bewies eindeutig, dass sie durch den Vorgang der Animafikation letzten Endes doch von ihrer wahren Vergangenheit erfuhren. Wie viele von ihnen waren in ihre alten Gewohnheiten zurückgefallen, obwohl sie einen Neuanfang und neue Werte vermittelt bekommen hatten? Da ich keine Zahlen kannte, blieb mir die Antwort verborgen, und auch Miko konnte nur mit den Achseln zucken.

In diesem besonderen Fall hatte Wesson seinen alten Wirtskörper behalten, dazu alle Genome und einige äußerst gefährliche Fähigkeiten, die damit einhergingen. Der Versuch, ihm die Wahrheit vorenthalten zu wollen, wäre sinnlos.

Daher beabsichtigte ich, ihm alles zu sagen, ihm seine Waffen zu geben und ihn freizulassen. Selbstverständlich nicht sofort, aber nach einer Weile. Sollte er sich doch selbst einen neuen Weg suchen. Circe hatte versprochen, mir dabei zu helfen.

Doch Wesson hatte uns die Aufgabe unerwarteterweise erleichtert.

Obwohl er von den Avaloniern bewacht wurde, stießen wir auf eine leere Zelle. Es war Wesson im Laufe der Nacht gelungen, aus seinem Hochsicherheitsgefängnis zu entkommen.

Weder die dicken Kerkermauern noch die steile und hohe Klippe, unter der ein Fluss toste, hatten ihn aufhalten können. Er hatte einen Teil des Mauerwerks direkt unter der Decke und direkt neben einer schmalen Schießscharte zerlegt, danach mehrere Reihen von Stahlgitterstäben mit nackten Händen herausgerissen und es irgendwie geschafft, durch ein Loch zu schlüpfen, das gerade groß genug für eine Katze zu sein schien. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie er all das halb nackt und ohne Azur, Waffen und Ausrüstung vollbringen konnte, noch dazu ohne zu wissen, was ihn draußen überhaupt erwartete.

So unmöglich es sich auch anhörte, war er doch spurlos verschwunden. Selbst eine Suchmission erwies sich als erfolglos. Ich vermutete, dass er äußerst alarmiert gewesen sein musste, als er halb nackt und gefesselt in einer Gefängniszelle zu sich gekommen war, was ihn zu seinem Ausbruch bewogen hatte. Vielleicht war das Ganze aber auch von einem mir unbekannten Faktor ausgelöst worden.

In jedem Fall hatten wir nun ein weiteres Problem in Gestalt eines zurückgesetzten Krieger-Inkas, der irgendwo in den avalonischen Bergen lauerte. Niemand vermochte vorherzusehen, was in seinem Zustand von ihm zu erwarten war.

Laut Miko bestand jedoch die Möglichkeit, dass er auf seinen Cogitor hörte und sich auf die Suche nach dem nächsten Stellar-Terminal machte — und dann musste er letzten Endes in der Nähe des inaktiven Monolithen Europa 2 auftauchen.

Mir fehlte allerdings die Zeit, um mich persönlich auf die Suche nach ihm zu machen. Gegen Mittag hatten alle Clans aus Sibirien, Avalon, Neu-Mumbai, den Wasserstädten und Jaipur ihre Teilnahme an unserer militärischen Allianz bestätigt. Memphis war weiterhin unentschlossen — wenngleich Circe meinte, sie würden sich bloß zieren.

Die Mobilisierung und Logistik waren in vollem Gang. Wir mussten einen detaillierten Plan schmieden und dann zuschlagen — was einige Zeit in Anspruch nahm.

Am späten Nachmittag fand mein Treffen mit dem Vertreter der Katzen statt. Der Mann war bereits in Avalon eingetroffen und wartete in meiner Suite.

Als ich ihn erblickte, stutzte ich. Sowohl der Schnitt seines Kapuzenmantels als auch seine schlichte, unauffällige Reisekleidung kamen mir sehr vertraut vor. Kaum hatte er die Kapuze abgenommen, verschlug es mir die Sprache.

Dasselbe unvergessliche Gesicht. Dasselbe sarkastische Grinsen. Dieselben verschlagenen Fältchen in den Augenwinkeln, die seine wahre Natur verbargen.

Der Mann, der vor mir stand, war der identische Zwilling der Katze — des Händler-Inkarnators aus der Stadt, den ich getötet und dessen Seele ich nur wenige Sekunden vor dem Absoluten-Angriff auf die Stadt in meinem Animarium eingesperrt hatte.

Dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass der wahre Anführer des Katzen-Clans weiterhin in meinem Animarium festsaß — und ich hatte vor, diese Tatsache im anstehenden Gespräch auszunutzen.

Wie war das überhaupt möglich?

»Sie wollen mich sehen?«, fragte der Händler.

2

Dämmerung

»Aber das ist nicht möglich, Grey! Es muss eine vernünftige Erklärung dafür geben! Ich leite eine vollständige Analyse ein...«

MIKO SCANNTE SOFORT das Aussehen und den Körperbau des Mannes und erstellte zwei holografische Ansichten nebeneinander: eine der alten und eine der neuen Katze. Danach führte sie gute hundert unterschiedliche Tests durch und verglich sie miteinander. Es dauerte nur eine Sekunde, da hatte sie auch schon sämtliche kleinen Unterschiede markiert.

Letzten Endes gab es davon nämlich doch eine Menge. Seine kahlen Flecken waren etwas größer, sein Haar hatte nicht dieselbe Länge, das Muster seiner Fältchen und Falten an den Augenlidern war etwas anders, usw. All das war mit bloßem Auge weder zu erkennen noch zu analysieren, doch diese Unterschiede stellten den unwiderlegbaren Beweis dafür dar, dass eine völlig andere Person vor mir stand.

Ein Doppelgänger. Ein Klon.

Sehr witzig. Bedeutete das, dass die Katzen im Besitz der lange verschollen geglaubten utopianischen Technologie waren?

Auf einmal fiel mir etwas ein, das mir Kai mal beiläufig erzählt hatte. Man kann den Anführer der Katzen mit niemand anderem verwechseln. Damals hatte ich ihn falsch verstanden, doch es hätte genauso gut bedeuten können, dass sie praktisch gesichtslos waren und die Aufgabe, den wahren Anführer unter der Vielzahl aller identisch aussehenden Personen zu finden, schlichtweg unmöglich war.

Es bedeutete ebenfalls, dass ihnen immer mehr als genug frische Wirtskörper zur Verfügung standen.

Was für ein interessantes Projekt, insbesondere wenn es ihnen gelungen war, auch Quellen zu klonen. Seltsamerweise fand sich in den Stellar-Archiven rein gar nichts zu diesem Thema — oder meine Freigabe reichte für derartige Informationen nicht aus.

»Es muss auch nicht unbedingt ein Klon sein, Inkarnator. Das ist nur eine Theorie. Denkbar wäre auch, in der Reihenfolge abnehmender Wahrscheinlichkeit: plastische Chirurgie, eine auf dem Metamorphismus basierende genetische Modifikation, ein autonomes Ebenbild... Wir wissen es schlichtweg nicht.«

»Sind Sie überrascht?«, wollte die Katze wissen, der meine Verwirrung nicht entging. Nach kurzem Zögern nahm der Mann in einem der Ohrensessel Platz und bedeutete mir, dasselbe zu tun.

Wieder einmal erinnerten mich sein Gesichtsausdruck und seine Körpersprache an die Katze, die ich in der Stadt kennengelernt hatte. Ich hätte zu gern gewusst, ob man ihnen das antrainierte und welche Methoden sie benutzten. Das war doch bestimmt nicht die einzige Kopie.

»Ein wenig«, gab ich zu. »Wer sind Sie? Ein Doppelgänger? Ein Klon?«

»Ich bin nur einer von vielen«, erwiderte er mit leisem Lächeln und bestätigte meinen Verdacht. »Wussten Sie es denn nicht?«

»Nein. Wie ist das möglich?«

»Die Katzen haben ihre eigenen Geheimnisse. Doch es ist allseits bekannt, dass man sie nie mehr vergisst, wenn man sie einmal gesehen hat.«

»Aber ich habe in der Stadt andere gesehen.«

»Das waren bloß normale Menschen, die für uns arbeiten«, erklärte er. »Oder Novizen-Kätzchen. Warum wollten Sie mich sehen, Inkarnator Grey?«

Ich schloss kurz die Augen. Vor mir stand ein gewöhnliches menschliches Wesen. Kein Inkarnator. Nur ein stinknormaler Kerl mit Azur-Fähigkeiten, dessen schwache Quelle als dunkler Zickzack in seiner Brust zu erkennen war.

Zudem war er undurchschaubar und hatte seinen Verstand mithilfe einer mir unbekannten Technik blockiert, sodass ich nicht einmal erkennen konnte, ob mein Anführer des Rudels bei ihm Wirkung zeigte.

Die andere Katze, die, die ich kannte, war ein wahrer blauer Inka, der seine Kräfte jedoch unter Verschluss hielt. Kein anderer wäre in der Lage gewesen, mithilfe von Schattenportalen zu reisen, oder hätte die Kraft besessen, Mora und Whisper die Stirn zu bieten.

Was wiederum bedeutete, dass er der einzig echte sein musste. Alle anderen waren bloß Kopien — Fälschungen, wenn man so wollte –, die höchstwahrscheinlich nicht die geringste Ahnung hatten, was während meiner Verhandlungen mit Mora und Whisper auf dieser Klippe geschehen war. Irgendwie bezweifelte ich, dass alle anderen Katzen über die geheimen Pläne ihres Anführers im Bilde waren, denn das hätte gegen jedes Prinzip der Vertraulichkeit verstoßen. Außerdem war Mora die einzige Zeugin unseres kurzen Austauschs gewesen, und sie konnte die Katzen nicht ausstehen.

»Die Katzen wissen doch bestimmt, was vor sich geht«, sagte ich. »Ich brauche Ihre Hilfe. Ich benötige Waffen und Transportmittel, aber vor allem bin ich auf der Suche nach Informationen.«

»Unser Clan verkauft all diese Dienste. Es ist nur eine Frage des Preises«, entgegnete er ausweichend. »Eine Sache sollten Sie jedoch wissen, Inkarnator: Wir sind sehr bedacht darauf, uns unseren guten Ruf und die Freundschaft mit all unseren Klienten zu bewahren. Sie können sich alle auf unsere Verschwiegenheit verlassen, solange sie bezahlen.«

»In diesem Fall möchte ich von Ihnen erfahren, wen Sie in diesem Kampf zu unterstützen gedenken. Wollen Sie, dass die Stadt von den einfallenden Horden zerstört wird? Auf welcher Seite stehen Sie?«

»Die Stadt, die Zeloten, die Besessenen... Jeder hat seine eigene Wahrheit. Was für eine Fliege schlecht ist, erweist sich als gut für die Spinne.« Er zuckte mit den Achseln. »Wir stehen nur auf unserer eigenen Seite, und daran wird sich nie etwas ändern.«

Ich hatte gewusst, dass er so etwas sagen würde. »In diesem Fall dürfte es in Ihrem eigenen Interesse sein, mir zu helfen«, gab ich langsam zu bedenken. »Den Grund dafür kennen Sie, nicht wahr?«

»Ich schätze schon. Allerdings wäre es mir lieber, wenn Sie es aussprechen.«

»Ich hatte schon in der Stadt mit einem Ihrer Vertreter zu tun. Er wurde dort allgemein als der Anführer angesehen und hat uns in mehrfacher Hinsicht unterstützt. Handel, Informationen... Sie wissen vermutlich, wovon ich spreche?«

Er nickte. »Oh ja, das tun wir. Er verschwand kurz nach all den... Entwicklungen in der Stadt. Würden Sie mir vielleicht verraten, was passiert ist?«

»Das möchte ich eigentlich nicht, aber ich kann Ihnen etwas zeigen.«

Ich aktivierte den Cryptor des Handschuhs und nahm den Zylinder aus Berylliumbronze heraus.

Das Animarium.

Ganz langsam stellte ich es auf den Tisch zwischen uns. »Wissen Sie, was das ist?«

Fast unmerklich spannte er sich an wie ein wildes Tier, das sich für den Absprung wappnete. »Ein Seelenlager«, flüsterte er. »Was ist da drin?«

»Nur eine Seele. Die Anima eines Inkarnators. Und Sie wissen ganz genau, wem sie gehört.«

Eine lange Pause folgte. Miko entdeckte ein abgehendes Vox-Signal, als er versuchte, mit jemandem außerhalb zu kommunizieren.

»Woher haben Sie sie?«, fragte er schließlich.

»Das ist im Augenblick irrelevant. Es zählt nur, dass sie sich in meinem Besitz befindet. Und Sie können sie zurückhaben — sobald sie alle Bedingungen, die ich Ihnen gleich nennen werde, erfüllen. Das ist der Preis für Ihre Hilfe.«

»Aber wir müssen uns vergewissern...«

»Sie werden sich wohl oder übel auf mein Wort verlassen müssen.« Ich stand auf und verstaute das Animarium wieder im Handschuh. »Die Anima darin gehört der eben erwähnten Katze. Ich kann Ihnen bei Bedarf einen Beweis liefern und hoffe, Sie sind vernünftig genug, nicht den Versuch zu wagen, sie auf eigene Faust an sich zu bringen, wenn Sie verstehen, was ich meine? Das könnte für Sie böse enden. Erinnern Sie sich an den Inka, der einen Anschlag auf den Clan-Anführer durchgeführt hat? Etwas in der Art wird dann passieren. Sie wissen doch bestimmt, was aus ihm geworden ist. Habe ich mich klar ausgedrückt, Händler?«

Er nahm es gut auf. Sein Training war hervorragend. Dennoch verrieten seine Körpersprache und winzige Veränderungen seiner Mimik einige seiner Geheimnisse.

Erstaunen. Überraschung. Neugier. Vor mir saß noch immer ein normaler Mensch. Er konnte es bei Weitem nicht mit der anderen Katze aufnehmen.

Jetzt gelang es mir endlich, mich zu entspannen. Ich hatte ihn in der Hand.

»Ich habe Sie gehört«, sagte er nach einer Weile. »In Ordnung. Belassen wir es dabei. Was verlangen Sie von den Katzen?«

Ich schenkte ihm ein Lächeln. Endlich stellte er die richtigen Fragen.

Schon jetzt hatte ich eine recht gute Ahnung von den Söldnerqualitäten der Katzen: Um mit ihnen zu verhandeln, musste man auf jeden Fall ein Ass im Ärmel haben. Darüber hinaus durfte man keine Schwäche zeigen. Diese Leute waren in der menschlichen Natur überaus bewandert und konnten hervorragend bluffen, außerdem würden sie jeden entdeckten Schwachpunkt sofort ausnutzen.

»Lassen Sie es mich Ihnen Punkt für Punkt erläutern.«

* * *

Der Vertreter der Katzen blieb nicht lange. Unsere Unterhaltung war nur kurz, und danach fühlte ich mich völlig ausgelaugt. Diese Leute waren erfahrene Feilscher, die genau wussten, wann man nachgeben und wann man standhalten musste. Ich verlangte viel — aber was ich ihnen anbot, war auch nicht zu verachten. Zudem war mir offen gesagt schleierhaft, ob ich soeben das Richtige getan hatte.

Dennoch benötigten wir unbedingt die Hilfe der Katzen — und erst recht ihre Loyalität. Um die Fäden zu durchtrennen, die sie mit dem gesamten Invasionsapparat verbanden, mussten wir genau wissen, wo sich besagte Fäden befanden und wer daran zog. Das Spionagenetzwerk der Katzen war über alles gut informiert und kannte sämtliche Details — und jetzt mussten wir uns ihre Augen und Ohren ausborgen und sie zu den unsrigen machen.

Während ich die Anima des Anführers der Katzen verwahrte, waren sie gezwungen, uns zu helfen. Unser Erfolg garantierte seine Freilassung. Doch sobald das geschehen war...

In diesem Augenblick würden wir die Zeche bezahlen müssen, doch selbst für diesen Fall glaubte ich, eine Lösung zu haben. Dennoch musste ich zuerst herausfinden, wen der Anführer der Katzen unbedingt aus dem Alpha-Siegel des Würfels befreien wollte.

Mein nächstes Gespräch war ebenso ernst. Um unsere Aktionen zu koordinieren, benötigten wir eine stabile Kommunikation mit der Stadt. Ohne sie war unser Vorrücken zum Scheitern verursacht.

So sehr ich es verabscheute, mit meiner wahren Identität hausieren zu gehen, insbesondere nach dem vorsätzlichen Anschlag auf mein Leben in der Neuen Arche, blieb mir keine andere Wahl. Außerdem musste es einige Maulwürfe der Stadt innerhalb der Clans geben, die die Nachricht über den Rat der Clans, die Mobilisierung und die Tatsache, dass ich sie vom Eid befreit hatte, längst weitergegeben hatten. Die Bilder dieser Rede waren aktiv verbreitet worden, um alle von der Bedeutung der militärischen Mission zu überzeugen, daher war es zu diesem Zeitpunkt ohnehin sinnlos, meine Identität weiterhin geheim halten zu wollen.

»Sind Sie bereit, Grey?«, fragte Olivia.

Ich nickte.

Sie aktivierte den Transmitter. Wir warteten beide, während einer der Synthetischen, ein Techniker, versuchte, die richtige Verbindung zu finden.

Endlich erschien ein Bild, auf dem Castor zu sehen war: der riesige Krieger in seinem modifizierten Herkules-Exoanzug, der seinen Helm in der Armbeuge liegen hatte.

Er sah nicht gut aus. Unser Ruf musste ihn inmitten der Schlacht erreicht haben. Ihm klebten zottelige blonde Locken in der Stirn; sein Anzug war von Einschussdellen übersät. Dunkle Flecken bedeckten seinen zerrissenen Umhang: Dabei konnte es sich um Dreck, aber auch Blut handeln. Eine andere Erklärung wollte mir nicht einfallen, da der Kommandant der Legion sonst stets auf Reinlichkeit und ein makelloses Aussehen bedacht war, um anderen Inkas ein Vorbild zu sein.

Es machte ganz den Anschein, als sähe es nicht besonders gut für sie aus, wenn selbst ihr Großstratege an vorderster Front mitkämpfen musste...

»Ave«, grüßte Castor ruhig. »Sie haben also endlich beschlossen, Kontakt zu uns aufzunehmen.«

»Ave«, erwiderte Hanako Eto, die Anführerin aus Jaipur, heiser.

Ich hörte ihr die Nervosität an. Castor war eine Legende, einer jener Inkarnator-Helden, die in den Gutenachtgeschichten ihrer Kindheit eine Rolle gespielt hatten, und glich beinahe einem Halbgott. Er hatte ein überwältigendes Charisma, das er durch sein gutes Aussehen unterstrich. Man musste schon steinhart sein, um so jemanden zur Rede zu stellen. Sich seinem Willen zu widersetzen, stellte eine beachtliche Herausforderung dar.

Auch unter den Anführern der Clans, die sich für dieses Gespräch versammelt hatten, spürte ich eine gewisse Nervosität. Das, was gleich passieren würde, war dazu bestimmt, in die Geschichte einzugehen. Ich gewährte ihnen ein wenig mentale Unterstützung und ließ eine warme Welle meines Psi-Felds durch den Raum wabern.

»Ich höre«, sagte Castor.

»Der Eid wurde aufgehoben, Archon. Wir erkennen weder die Macht der Stadt noch ihre Schirmherrschaft noch länger an. Von jetzt an sind die Sieben Clans als freie, unabhängige Siedlungen zu betrachten.«

»Was, einfach so? Dann haben Ihr Wort und Ihre Ehre jetzt keine Bedeutung mehr?«, entgegnete Castor eisig und runzelte die Stirn. »Das ist schlichtweg Verrat, selbst wenn Sie es als etwas anderes bezeichnen. Der Eid kann nicht von einer Seite aufgekündigt werden. Ich hoffe, Ihnen sind die Konsequenzen einer solchen...«

»Ich habe den Eid aufgehoben, Castor«, fiel ich ihm ins Wort und trat ins Bild.

Ein neues Hologramm tauchte neben dem der Clananführer auf. Nun konnte mich Castor sehen und direkt mit mir sprechen.

»Grey.« Der riesige Krieger senkte kurz die Lider. »Sie sind am Leben.«

»Trotz Ihrer gegenteiligen Bemühungen.«

»Wie bitte?«

»Die Absoluten, Castor. Die Sie auf die Neue Arche abgefeuert haben.«

Seine Miene überschattete sich. Er schwieg und spannte die Kiefermuskeln an.

»Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich nicht die Absicht hatte, Sie zu töten, Grey«, erklärte er langsam. »Mir blieb nur noch genug Zeit, um Mora loszuschicken, damit sie sie rausholt, was ihr jedoch nicht gelungen ist. Ich...«

Er stockte. Ein nervöses Zucken tauchte in seinem Gesicht auf. Dennoch fuhr er fort. »Das ist eine Angelegenheit, die wir unter vier Augen besprechen sollten. Ich werde Ihnen alles erklären.« Castors Hologramm bebte, als hätte er sich aufgebracht vom Projektor entfernt. »Wir müssen uns treffen, Grey. Persönlich. Wann kehren Sie in die Stadt zurück?«

»Zuerst müssen wir noch etwas anderes klären. Ich habe die Clans vom Eid befreit. Sprechen Sie mir die Autorität ab, dies zu tun?«

Ein erdrückendes Schweigen senkte sich auf uns herab.

Castor erwiderte nichts. Ich konnte ihm ansehen, dass er hin und her gerissen war. Der Kapitulationspakt, der euphemistisch als der »Eid« bekannt und vor langer Zeit von den Sieben Clans und dem Rat der Archons besiegelt worden war, stellte die Grundlage für das Wachstum der Stadt dar. Nur dank des Eids existierten sowohl die Legion als auch der Timus in ihrer heutigen Form.

Castor war einer der Ideologen des Eids gewesen, die Nemesis der Besessenen, der Schöpfer und die Inspiration des Systems der Stadt. Es musste ein schwerer Schlag für ihn sein, mitansehen zu müssen, wie sich sein Lebenswerk in Luft auflöste.

Doch die Zeiten hatten sich geändert. Der Eid hatte seine Relevanz verloren und war zu einem Anachronismus geworden, den man schnellstmöglich loswerden musste. Davon war ich felsenfest überzeugt, aber wie weit würden der Glaube und die Loyalität des Legionskommandanten reichen? War er in der Lage, flexibel zu reagieren und seinen eigenen Ambitionen den Rücken zu kehren?

Die Zeit war gekommen, genau das herauszufinden.

Endlich hob Castor den Blick und starrte mich mit finsterer Miene an. »Als amtierender leitender Archon der Stadt, Großstratege der Legion und Stellar-Inkarnator erkenne ich Ihre Entscheidung an und bestätige sie im Namen der Stadt. So sei es! Der Eid wurde für null und nichtig erklärt. Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.«

Ich nickte ihm zufrieden zu und spürte die Erleichterung, die die neben mir erstarrten Clan-Anführer durchflutete. Ihnen war soeben ein gewaltiger Stein vom Herzen gefallen.

Wir hatten es geschafft.

»Trotz der Abschaffung des Eids sind alle Clans bereit, sich der Verteidigung der Stadt anzuschließen«, erklärte der Anführer Sibiriens mit heiserer Stimme. »Unsere Kohorten sind fast vollständig angetreten.«

»Vielen Dank.« Castor senkte den Kopf. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass die Stadt das niemals vergessen wird.«

Er konnte seine Gefühle zu gut verbergen, um überrascht zu wirken, aber ich merkte, dass er sich wirklich über die Neuigkeit freute. »Wann können Sie vorrücken? Ehrlich gesagt stecken wir hier ziemlich in der Klemme. Wir könnten dringend Hilfe gebrauchen. Niemand hatte erwartet, dass der Feind einen solchen Druck aufbauen kann.«

»Es könnte noch zwei oder drei Tage dauern«, antwortete ich.

»Nun gut. In diesem Fall werde ich den Kontakt zur Siebten Kohorte herstellen. Es wäre weitaus effektiver, wenn Sie zusammen zuschlagen. Zudem ist es essenziell, dass wir unsere Aktionen koordinieren. Haben Sie schon einen Plan?«

Es folgte eine langgezogene militärische Besprechung, die den gesamten Abend beanspruchte und bis weit in die Nacht hineinreichte. Wir mussten unsere Stärken beurteilen und unser gemeinsames Vorgehen planen. Die Clans waren aufbruchbereit, doch es galt, den Feind an den verletzlichsten Positionen anzugreifen. Die Logistik stellte ein weiteres Problem dar, ebenso die Koordination und diverse Unstimmigkeiten innerhalb der Sieben Clans.

Glücklicherweise erwiesen sich ihre in der Legion verbrachten Jahre als hilfreich. Die Clans waren bereit, Seite an Seite zu kämpfen und eine einzige vereinigte Armee zu bilden, wobei die früheren und jetzigen Legionäre ihren Kern darstellten.

Die Clan-Anführer und ihre Entourage waren zudem außerordentlich nützlich. Einige sehr clevere Kommandanten und kompetente Taktiker tauchten aus ihren Reihen auf. Es dauerte nicht lange, da hatten wir einen brauchbaren Plan, mit dem wir die Landezonen des Feindes zerstören und ihre Kommunikations- und Versorgungslinien durchtrennen wollten. Darauf sollte ein Blitzangriff auf die hinteren Einheiten des Feindes erfolgen, die mit dem Erstürmen der Mauern beschäftigt waren.

Unsere Aufgabe bestand darin, sie zwischen uns und der Legion einzukesseln, damit sie in der Falle saßen. Vorausgesetzt, es gelang Castor, die Dritte Mauer bis zu unserer Ankunft zu halten (denn laut letzten Informationen hatte sich die Legion wie ein Pitbull darin verbissen), würden wir die Angreifer einfach zwischen uns zerquetschen können.

Die Stadt wurde von drei unabhängigen Gruppen angegriffen: den Abtrünnigen, den Zeloten und den Besessenen. Sie konnten einander nicht besonders gut leiden, daher wäre es am einfachsten, sie nach und nach zu vernichten.

Sehr viele Worte waren gefallen und Zahlen berechnet worden, bis wir kurz vor Tagesanbruch einen mehr oder weniger eindeutigen Plan für einen militärischen Feldzug hatten. Einiges davon würde zweifellos an die Gegebenheiten und neuesten Informationen von den Katzen angepasst werden, aber jetzt hatten wir einen guten Überblick darüber, was wir tun und in welche Richtung wir zuschlagen würden.

Unsere Aufgabe wurde dadurch erleichtert, dass mir Castor die Siebte Kohorte unterstellte: eine Eliteeinheit, die während der letzten Jahre auf einer Geheimmission außerhalb der Stadt unterwegs gewesen war. Diese besondere Kohorte war zwar klein, bestand jedoch aus Spezialtruppen, die dafür ausgebildet worden waren, undercover im Ödland zu agieren. Sie verfügte über ein umfassendes Netzwerk an Informanten sowie eine starke Kampfgruppe aus Inkas. Laut der Timus-Gerüchte durfte sie aus allen Tributen mit außerordentlichen Azur-Fähigkeiten die erste Wahl treffen. Zusammen mit den kleineren Legionsgarnisonen in den Siedlungen war sie für die Verteidigung der Stadt mobilisiert worden — womit sich unseren Rängen fast eintausend gut ausgebildete Soldaten anschlossen.

Ich hätte zu gern eine Mütze Schlaf bekommen, was jedoch nicht möglich war, da uns das erste Tageslicht auch das erste »Geschenk« der Katzen einbrachte: die Rächer.

Die Händler mussten über ihre eigenen Kanäle Kontakt zu Arachne aufgenommen haben. Außerdem war auch der ganze Aufruhr innerhalb der Clans nicht unbemerkt geblieben.

Das Raumschiff tauchte klugerweise getarnt in der Nähe auf, und ein nicht gekennzeichnetes Flugmobil ließ das gesamte Flugabwehrsystem Avalons beinahe durchdrehen, als es die neuen Besucher ins Nest brachte.

Alice und Arachne.

Unser Wiedersehen verlief gleichzeitig freudig und traurig. Die beiden Frauen schienen gut miteinander auszukommen. Ich empfing Eindrücke ihrer Gefühle, die sich ähnelten, aber gleichzeitig auch unterschiedlich waren: Erleichterung, Freude, aber auch Hoffnung. Zudem sah ich mich durch ihre Augen als strahlenden Inkarnator, der wieder einmal dem Tod getrotzt hatte.

Dabei wurde mir aber auch die Last bewusst, die mir Prometheus aufgebürdet hatte und die zunehmend schwerer zu werden schien. Sie alle — die Inkas, die Besessenen und sogar die normalen Menschen um mich herum — glaubten, ich wäre eine Art Messias und wollte sie unter meinem Banner vereinen. Sobald es mich nicht mehr gäbe, würde diese ganze Koalition mit all ihrer Hoffnung schneller in sich zusammenfallen, als Wellen eine Sandburg zerstörten.