Der Tribut (Projekt Stellar Buch 3) - Roman Prokofiev - E-Book

Der Tribut (Projekt Stellar Buch 3) E-Book

Roman Prokofiev

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Beschreibung

Jeder Überlebende träumt davon, eines Tages die Stadt zu erreichen. Als letzte Hoffnung der Menschheit verfügt sie über die besten Ressourcen und klügsten Köpfe und bringt die Crème de la Crème der überlebenden Zivilisation zusammen. Hinter den uneinnehmbaren Mauern und unter der undurchdringlichen Schutzkuppel tobt das Leben in der Stadt, das fast nicht von der hochmodernen Kultur der berühmten utopianischen Ära zu unterscheiden ist. Grey macht sich auf die Reise in die Stadt und will dem Geheimnis um seine Vergangenheit auf den Grund gehen. Er wird die gnadenlosen Trainingsmethoden kennenlernen, mit denen die Kinder der Sieben Clans zu neuen Krieger, Verzauberer und Technomanten gemacht werden – und er wird den wahren Herrschern der Stadt begegnen und endlich herausfinden, welchem Zweck Projekt Stellar tatsächlich dient.

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Der Tribut

 

 

 

 

von Roman Prokofiev

 

 

Projekt Stellar

Buch 3

 

 

 

 

 

 

Magic Dome Books

Der Tribut

Projekt Stellar Buch 3

Buch 2 Originaltitel: The Tribute (Project Stellar Book #3)

Copyright ©R. Prokofiev, 2020

Covergestaltung © Ivan Khivrenko 2020

Designer: Vladimir Manyukhin

Deutsche Übersetzung © Kerstin Fricke, 2021

Lektor: Lilian R. Franke

Erschienen 2021 bei Magic Dome Books

Anschrift: Podkovářská 933/3, Vysočany, 190 00 Praha 9

Czech Republic

Alle Rechte vorbehalten

 

Dieses Buch ist nur für deine persönliche Unterhaltung lizensiert. Das Buch sollte nicht weiterverkauft oder an Dritte verschenkt werden. Wenn du dieses Buch mit anderen Personen teilen möchtest, erwirb bitte für jede Person ein zusätzliches Exemplar. Wenn du dieses Buch liest, ohne es gekauft zu haben, besuche bitte deinen shop und kaufe dir dein eigenes Exemplar. Vielen Dank, dass du die harte Arbeit des Autors respektierst.

 

Die Personen und Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Jede Übereinstimmung mit realen Personen oder Vorkommnissen wäre zufällig.

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Inhaltsverzeichnis:

 

Prolog

1

2

Einschub: Die Stadt

3

4

5

6

7

Einschub: Whisper

8

9

10

Einschub: Alice

11

12

13

Einschub: Arachne

14

15

16

Einschub: Die Archons

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

Epilog

Stellar-Archive

 

Prolog

 

 

 

»IHRE GESCHICHTE KLINGT gelinde gesagt suspekt, Tribut!«

 

Der Legionär sah mir mit geübtem Misstrauen in die Augen. In seinem Augenimplantat leuchtete ein böses rotes Licht und ließ ein Gitternetz aus Scannerstrahlen über mich hinweggleiten. Das Tattoo über meiner Augenbraue kribbelte und reagierte auf die Identifizierung.

 

Ich hielt seinem Blick stand und zuckte mit den Achseln. Inzwischen hatte ich ihnen schon dreimal alles erzählt, was ich wusste. Zuerst dem Patrouillenleiter, danach dem Kommandanten der Wache und zu guter Letzt diesem Hünen, der den vollen Stern eines Zenturios auf dem Schulterschutz trug.

 

Ich war in der A-Zone zu mir gekommen und wies Symptome eines Gedächtnisverlusts auf. Nachdem es mir mit Mühe und Not gelungen war, durch unterirdische Wartungstunnel aus der bombardierten Stadt zu entkommen, hatte ich Tara kennengelernt und war ihr nach Fort Angelo gefolgt, wo man mich mit der Mission betraut hatte, Kontakt zur Stadt aufzunehmen. Daraufhin hatte ich alles mir Mögliche getan, um dieses Ziel zu erreichen. All das war die nackte, unverfälschte Wahrheit, bei der ich nur ein winzig kleines Detail ausgelassen hatte. Das Problem bestand darin, dass viele der Verteidiger des Forts, die meine Geschichte hätten bestätigen können, entweder verwundet waren, vermisst wurden oder im Kampf das Leben verloren hatten.

 

Der Zenturio gab einen beeindruckenden Anblick ab: riesig, mit Kampfesnarben und ungewöhnlich korpulent. Kein normaler Mensch konnte derartige Muskeln entwickeln. Dabei musste es sich entweder um Genmanipulation oder um A-Mutationen handeln. Oder beides. Abgesehen von den biologischen Verbesserungen besaß er auch noch kybernetische Implantate, die sein rechtes Auge und den Großteil des Schädels sowie die linke Hand und den Unterarm ersetzten.

 

Er war einer der Nachfahren der Inkarnatoren, dieser sagenumwobenen Krieger, für die die Legion bekannt war. Ich behielt die Kontrolle über die Situation und spürte das schwache Pulsieren seiner Quelle, während ich seine Emotionen mit meiner Psi-Wahrnehmung überwachte. Er merkte nichts davon, war blind und leicht genervt durch die Behinderung ihrer Pläne. Zudem befolgte er das Standard-Verhörprogramm, dessen Stufen nicht besonders schwer zu erraten waren.

 

Eine beklemmende Umgebung schaffen. Druck ausüben. Versuchen, die Emotionen des Verdächtigen zu manipulieren. Einen optischen Polygrafen mit Gesichtsausdruckserkennung einsetzen. All das konnte bei jemandem funktionieren, der nicht in der Lage war, seine Gefühle zu kontrollieren – aber nicht bei einem Inkarnator. Ich war gespannt, ob er meine Abwehr zu durchdringen vermochte und was er über die Person herausfinden würde, die da vor ihm saß.

 

»Was gibt's da zu grinsen?«, fauchte er mich empört an. »Na los, raus damit, dann können wir zusammen darüber lachen!«

 

»Nichts, Sir.«

 

»Dann lassen Sie mich Ihnen etwas sagen. Jeder Desertionsversuch wird als Eidbruch ausgelegt. Sie kennen die Strafe dafür, nicht wahr?«

 

»Negativ, Sir. Wie ich bereits sagte, kann ich mich an rein gar nichts erinnern«, erklärte ich gelassen. »Ich habe keinen Desertionsversuch unternommen, ganz im Gegenteil. Es war mir bloß nicht möglich, Kontakt zur Stadt aufzunehmen. Die Abtrünnigen haben die Kommunikation gestört.«

 

»Das werden wir überprüfen. Mir kommt Ihr Verhalten äußerst merkwürdig vor. Sie wirken zu ruhig und selbstsicher und scheinen nicht im Geringsten gestresst zu sein. Ich kenne sehr viele Leute, die sich längst in die Hose geschissen hätten, aber Ihre Vitalwerte machen nicht den Anschein, als wären sie auch nur ansatzweise beeinträchtigt. Selbst Ihr Adrenalinausstoß ist unverändert. Was ist Ihr Problem, Tribut?«

 

Jetzt wusste ich, was ihm zu schaffen machte. Er, ein Legionär, jemand, der würdig war, den Stern von Stellar zu tragen, und der einem Übermenschen am nächsten kam, war es gewohnt, dass alle anderen zu ihm aufblickten. Und nun saß ich vor ihm und blieb seelenruhig. Meine unbeeindruckte Haltung schien ihn zu verärgern. Es war, als würde seine Autorität auf einen armseligen Rekruten wie mich keinerlei Auswirkung haben.

 

»Der einzige Überlebende des Raids«, fuhr er fort und tippte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, »der einen vollständigen Gedächtnisverlust erlitten und es geschafft hat, aus der A-Zone zu entkommen. Höchst eigenartig.«

 

Er hielt inne. Ich spürte den elektrischen Impuls eines Befehls, der über den Vox-Kanal an jemanden außerhalb des Raums geschickt wurde.

 

Die Automatiktür glitt mit leisem Zischen auf, und zwei weitere Personen traten ein. Ein Mann und eine Frau, beide sehr jung und in die grünen Anzüge einer Teilrüstung gekleidet, die der, die mein Wirt anfangs getragen hatte, ähnlich sah. Der Mann war stämmig, rothaarig und gehörte einer häufig vertretenen gemischten Ethnie an, während die Frau eindeutig afrikanischer Herkunft war. Sie hatte volle Lippen, goldene Haut und sich das Haar zu feinen Zöpfen geflochten.

 

»Melden uns wie befohlen, Sir.«

 

Der Legionär unterbrach den mentalen Bericht, den er gerade verschickte. »Rühren, Tribute. Erkennen Sie diese Person? Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?«

 

Sie beäugten mich misstrauisch. Ich spürte ihr Erstaunen, gefolgt von sofortigem Erkennen. Das schwache Pulsieren ihrer Quellen war nicht zu übersehen. Das waren Tribute, die noch über das Geschenk ihrer Inkarnatorenvorfahren verfügten.

 

Zu meiner Überraschung schien die Frau mein Psi-Feld zu bemerken. Instinktiv griff ihr Verstand nach mir, was mich dazu zwang, den Kontakt sanft zu beenden.

 

Interessant. Sie war eine Verzauberin, jung und unerfahren, so schwach, dass sie ihre Gabe nur spüren und nicht kontrollieren konnte, aber nichtsdestotrotz mit den entsprechenden Anlagen.

 

»Ja, Sir!« Der junge Mann räusperte sich und sah mich überrascht an. »Das ist Sven. Sven von den Brisen. Wir nennen ihn Grey. Er ist Kadett des zweiten Jahrs.«

 

»Das ist korrekt.« Die junge Frau nickte und beäugte mich. »Das ist Sven Greyholm vom Fenrir-Clan.«

 

Abgesehen vom Erstaunen konnte ich noch etwas anderes in ihren Augen erkennen: das zarte Aufflackern von Freude.

 

»Aber er sieht jetzt anders aus«, fuhr sie langsam fort und schien jedes Wort abzuwägen. »Seine Haare sind länger. Er ist unrasiert. Es ist fast, als wäre er älter geworden.«

 

»Älter, sagen Sie?«, hakte der Zenturio nach.

 

»Ja, Sir!«, bestätigte sie mit lauter, klarer Stimme. »Ich habe ihn zuerst gar nicht erkannt.«

 

»Verstehe. Wegtreten!«

 

Sobald die beiden gegangen waren, bedachte der Legionär mich mit einem weiteren langen Blick. »Auch das ist seltsam, Tribut. Ihre Beschreibung weicht von dem ab, was in der Datenbank steht. Nicht viel, nur um ein paar Prozent, aber das ist schon bemerkenswert. Wie lange waren Sie verschwunden? Wenige Tage? Wie können Sie das erklären?«

 

»Das kann ich nicht, Sir. Wie ich bereits sagte, erinnere ich mich an nichts. Es war, als wäre ich neu geboren worden. Ich habe alle möglichen Dinge gesehen – A-Monster, Abtrünnige, den Krieg …«

 

»Das ergibt Sinn. Wenn Sie die Wahrheit sagen, dann haben Sie eine Menge durchgemacht.« Es schien fast, als würde er sich langsam für mich erwärmen. »Dieses Ödland kann aus einem Kind schnell einen Soldaten machen.«

 

Ich konnte spüren, dass er aus irgendeinem Grund das Interesse an mir verloren hatte und über etwas von größerer Bedeutung nachdachte. Die erste Hürde auf meinem Weg hatte ich offenbar überwunden.

 

»Gut, Greyholm. Ihre Identität wurde bestätigt. Sowohl Ihr Zeichen als auch Ihr Ausweis sind echt.« Er schob mir die Karte mit den Fingerspitzen zu. »Man wird Sie von der Gefallenenliste nehmen. Alles Weitere entscheiden andere Stellen.«

 

»Was wird jetzt mit mir passieren, Sir? Ich würde gern in Fort Angelo bleiben.«

 

»Das ist nicht möglich. Als Tribut der Arktis sind Sie Eigentum der Stadt und der Legion«, stieß der Legionär zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein rechter Mundwinkel zuckte. »Ihr Clan hat den Eid geschworen.«

 

»Aber …«

 

»Ruhe!«

 

Er konzentrierte sich und richtete seine Aufmerksamkeit von mir auf jemanden, den ich nicht sehen konnte. Die Veränderung seiner emotionalen Aura ließ mich vermuten, dass er seinen Vorgesetzten kontaktiert hatte.

 

»Okay«, sagte er nach einer Pause. »Ich habe mit ihnen über Sie gesprochen. Sie können die Nacht hier im Lager verbringen. Morgen früh machen sich einige unserer Schiffe auf den Heimweg. Sie werden Sie zurück zur Stadt bringen. Im Timus findet Ihre Nachbesprechung statt, und dort wird auch darüber entschieden, was mit Ihnen geschehen wird. In jedem Fall gratuliere ich Ihnen zu Ihrer sicheren Rückkehr. Wegtreten!«

 

Er deutete mit dem Kopf auf die offene Tür. Seine Stahlhand zuckte und bedeutete mir, zu gehen.

 

Die Legionäre hatten ihr Lager in der Nähe von Fort Angelo aufgeschlagen. Dort standen Reihe um Reihe identischer rechteckiger Kisten, die trügerisch leicht und plastikartig aussahen, aber tatsächlich robust wie Stein waren. Laut meinem Interface handelte es sich dabei um »Feldmodule«.

 

Im Lager schien eine chaotische Aktivität zu herrschen, die in Wirklichkeit genau organisiert war. Am Himmel darüber wimmelte es von Ornoptaren und kleinen Gleitern, und das ohrenbetäubende Dröhnen der abhebenden Heliflugzeuge hallte durch die Luft. Eine Gruppe von Legionären eilte einem mir unbekannten Ziel entgegen, wobei sie ihre Waffen schussbereit in den Händen hielten. Der Legion schien es nicht an Hightechausrüstung zu mangeln. Einige der Soldaten trugen massive Exoanzüge mit allen nur vorstellbaren Modifikationen, der Lagerperimeter war mit den spinnenartigen Umrissen von Antipersonen-Taranteln und den ratternden Monstrositäten in Form von Zeus-Mechanoiden umgeben.

 

Dies war die erste Militäreinheit, die mir unter die Augen kam, die wie eine professionelle Armee aussah und ebenso diszipliniert wie gut ausgerüstet war. Allein die Größe der Truppe, die sie für den Kampf gegen die Abtrünnigen losgeschickt hatten, war beeindruckend. Gut tausend Soldaten, von denen viele direkte Nachfahren der Inkarnatoren waren.

 

Doch einen Inkarnator hatte ich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen.

 

Zwei Legionäre führten mich zu einem der leeren Module und sperrten mich darin ein, indem sie die Automatiktür verriegelte.

 

Ich stieß einen Seufzer aus, sah mich um und betrachtete die grauen Wände. Es wäre ein Kinderspiel, von hier zu entkommen. Die Frage war nur: War es die Sache auch wert?

 

Wieso wollte ich den Legionären meine wahre Natur verschweigen? Was konnte ich dadurch erreichen? Welche Konsequenzen würde es nach sich ziehen? Kai hatte mich gewarnt, eindringlich sogar, dass die Legion versuchen würde, mich zu manipulieren, um den neuen Inka für ihre eigenen Zwecke einsetzen zu können. Und ich war mir nicht sicher, ob sich ihre Ziele mit meinen deckten. Eins wusste ich jedoch mit Sicherheit: Wenn ich mich ihnen voreilig zu erkennen gab, konnte das unnötiges Aufsehen erregen. In diesem Fall würde die Legion mich rund um die Uhr im Auge behalten – und ich wusste nicht, ob die Stadt jemanden wie mich gern aufnehmen würde.

 

Meine Hauptaufgabe bestand darin, zur Stadt zu gelangen und diesen verfluchten Turm der Leere und das geheime Versteck darin zu finden, in dem mein altes Ich seinem Nachfolger – also mir – etwas hinterlassen hatte. Anscheinend enthielt dieses Versteck auch einen Hinweis auf meine Identität. Möglicherweise gelang es mir mit dem Inhalt darüber hinaus, einige der Mysterien des Stellar-Systems zu ergründen.

 

Warum sollte ich mich also querstellen, da sie mir doch gerade angeboten hatten, mich dort hinzufliegen? Und selbst wenn ich einigen der Stadt-Inkas begegnete und sie mich erkannten, was konnte da schon Schlimmes passieren? Ich war eben auch ein Inkarnator und noch dazu jemand, der gerade erst mehrere Besessene eliminiert und einen Blauen Alarm beendet hatte.

 

Ich öffnete mein Interface und starrte das inaktive graue Icon meines Cogitors nachdenklich an. Nach allem, was Gnarl mir erzählt hatte, zweifelte ich zunehmend an Mikos Hilfe. Zugegeben, wir waren ein Team, aber Cogitoren gehörten zum Stellar-System – und wenn es hart auf hart kam, konnte sich mein niedliches neurales Netzwerk als Riesenproblem herausstellen.

 

Ich hatte Miko in dem Moment deaktiviert, in dem mir die Anwesenheit der Legionäre in Fort Angelo aufgefallen war. Denn wenn die Besessenen Inkarnatoren erkennen konnten, weil sie die symbiontischen Aktivitäten ihres Gehirns bemerkten, gab es Grund zu der Annahme, dass die Legion ebenfalls dazu in der Lage war. Doch in dieser Hinsicht hatte ich mich geirrt. Während sie die ersten Untersuchungen bei mir durchgeführt hatten, war mir klar geworden, dass sie weder Zugriff auf das Stellar-System noch auf einen der Interferometer hatten, wie die Besessenen sie verwendeten. Jedenfalls nicht die normalen Menschen unter den Legionären. Sie verfügten über eine Art internes Netzwerk und eine Datenbank, was es ihnen ermöglichte, die Zeichen der Soldaten zu identifizieren, aber das hatte nichts mit dem Stellar-System zu tun – oder es war nichts als ein blasser Schatten davon, so wie die Legionäre nichts als ein mickriger Abklatsch der einstigen Inkarnatoren waren.

 

Ach, egal.

 

Wach auf, Miko!

 

 

 

 

1

 

 

 

DER VERTRAUTE UMRISS erschien in der Ecke meines Blickfelds. Meine niedliche virtuelle Assistentin gähnte und reckte sich, um dann ein Auge zu öffnen und mich träge zu mustern.

 

»Hi, Grey. Wurdest du gefangen genommen? Nicht schon wieder!«

 

»Nein, eigentlich nicht. Die Legionäre haben mich festgenommen.«

 

»Im Ernst? Kann ich mich mal umsehen? Oh, wow, sie haben hier ein Vox-Netzwerk aufgebaut! Warte kurz, dann hacke ich das Verschlüsselungsprotokoll …«

 

»Warte! Ist das auch wirklich sicher? Werden sie es nicht merken?«

 

»Wir sind vollkommen sicher. Mach dir keine Sorgen. Ich werde mich nur mal umschauen und nichts anrühren. Du hast sogar eine Freigabe und ein Log-in, kannst du dir das vorstellen?«

 

Ich schüttelte ungläubig den Kopf. War das denn zu fassen? Wie wollte die Legion gegen die Technomanten der Besessenen kämpfen, wenn sich jeder Cogitor in ihr Vox-System hacken konnte?

 

Miko wackelte kokett mit einem Finger. »Hör mal! Ich bin nicht nur irgendein alter Cogitor, sondern ein Alpha Plus, falls du das vergessen haben solltest. Außerdem haben die Besessenen keine Cogitoren, und sie können auch nicht auf die Stellar-Datenbanken mit den Verschlüsselungsprotokollen zugreifen. Also überlass das einfach mir, okay? Doch zuerst würde ich gern wissen, was passiert ist.«

 

Ich konzentrierte mich auf die Ereignisse der letzten Tage. Es war eine glückliche Fügung, dass ich bei meiner Ankunft in Fort Angelo meine alte Kleidung getragen hatte, denn die vom Monolithen ausgegebene Ausrüstung hätte einige unerwünschte Fragen aufgeworfen. Zudem trug ich nur das Notwendigste bei mir: meinen Fang-Dolch, den Cryptor und die Rattenwaffen. Die anderen Waffen hatte ich gerade noch rechtzeitig im Cryptor verstauen können. Zwar hatten die Legionäre den Cryptor bei der ersten Durchsuchung konfisziert, aber ich bezweifelte, dass sie es wagten, ihn zu öffnen und eine gewaltige Explosion zu riskieren, indem sie ein Clan-Artefakt hackten.

 

»Es ist alles in bester Ordnung, Inkarnator. Wir schweben nicht in unmittelbarer Gefahr. Du hast den ersten Test bestanden und stehst auf der Liste der Personen, die zurück in die Stadt gebracht werden. Sven Greyholms Profil wurde durch die Erwähnungen ›unbestätigter Gedächtnisverlust‹, ›Aufenthalt in einer A-Zone‹ und ›mögliche A-Mutationen‹ ergänzt. Vermutlich wird man uns in der Stadt gründlicher untersuchen. Dein Plan klingt machbar, aber ich schätze die Wahrscheinlichkeit dafür, dass man unsere Identität enthüllt, als hoch ein.«

 

»Und was ist, wenn ein anderer Inkarnator mich sieht, Miko? Werde ich dann identifiziert?«

 

»Sämtliche Informationen über dich befinden sich im System. Es gibt zwei Methoden, durch die du möglicherweise identifiziert werden kannst. Der erste Fall tritt ein, wenn ein anderer Cogitor mir eine ID-Anfrage schickt. Sollten wir sie annehmen, werden beide Seiten der anderen ihren jeweiligen Status mitteilen. Auch durch einen Systemcheck wäre es denkbar. Alle aktiven Inkarnatoren – dich eingeschlossen – werden im Register des Archivs geführt. Hat der Cogitor eines anderen Inkarnators vor Kurzem seine Archive aktualisiert, wird er dich anhand deines Aussehens erkennen können. Allerdings gilt es dafür auch einige Hindernisse zu überwinden …«

 

Sie rümpfte die Stupsnase und wartete darauf, dass ich die richtige Antwort erriet. Als ich nichts erwiderte, fuhr sie fort.

 

»Sie sind doch ziemlich offensichtlich, oder nicht? Niemand kann alles sehen oder wissen. Jedes Informationssystem ist per Definition fehlerbehaftet. Dieser neugierige Inkarnator muss zuerst einmal kürzlich seine Archive aktualisiert haben, und zwar innerhalb der letzten drei Wochen, also nachdem wir uns erstmals am Terminal registriert haben. Und darüber hinaus muss er auch den bewussten Versuch unternehmen, dich zu identifizieren.«

 

»Was heißt das genau?«

 

»Wie oft überprüfst du die Personen, die dir über den Weg laufen?«

 

Jetzt wusste ich, was sie meinte. Mein Interface erlaubte es mir in der Tat, die Daten jedes Gegenstands und jeder Person »auszulesen«, indem es die Informationen aus den Stellar-Archiven bezog. Aber um das zu tun oder es auch nur zu versuchen, musste ich mich bewusst auf diesen Gegenstand oder diese Person konzentrieren und ein Pop-up-Menü mit allen Daten aufrufen. In letzter Zeit nutzte ich diese Funktion intuitiv und rief die Daten dann auf, wenn ich sie benötigte. Würde das System jeden um mich herum markieren, wäre mein Leben eine digitale Hölle.

 

Was aber auch bedeutete …

 

»Ganz genau. Darauf wollte ich hinaus. Versuch, den Inkarnatoren nicht aufzufallen – und falls es doch passiert, verhältst du dich unauffällig und bleibst cool, damit niemand einen Grund hat, deine ID zu überprüfen. Es gibt außerdem besondere Geräte, mit denen man das Erscheinungsbild entweder verbergen oder verändern kann. Ohne ID-Anfrage ist es schlichtweg unmöglich, einen Inkarnator in einem neuen Wirtskörper zu erkennen. Wie du dich vielleicht erinnerst, konnten wir Alice nur anhand ihres Tattoos identifizieren.«

 

Es könnte also klappen.

 

Wie war der Stand der Dinge? Wir hatten eine sehr praktische Mitfahrgelegenheit in die Stadt. Wie es dort weiterging, stand in den Sternen, aber immerhin wurde mir so der anstrengende Marsch durch den wilden Kontinent und eine Reise über fast 2.000 Kilometer Ozean erspart. Außerdem war es weitaus einfacher, als Sven Greyholm, Tribut des Fenrir-Clans, in die Stadt zu gelangen.

 

Alices Situation machte mir hingegen Sorgen. Ich hatte keine Ahnung, wie sie auf die Nachricht reagieren würde, dass man mich weggebracht hatte. Es war denkbar, dass sie einen Solo-Raid gegen das Legionärslager unternahm und alles kurz und klein schlug. Das war ein sehr gefährliches Szenario, insbesondere für Alice. Wenn die Legion von Inkarnatoren begleitet wurde – woran für mich kein Zweifel bestand, denn wie hätten sie Gnarl sonst bezwingen wollen? –, konnte sie große Schwierigkeiten bekommen.

 

Ich erinnerte mich daran, wie ich sie nach unserem Kampf gegen die Besessenen in den Monolithen zurückgetragen hatte. Danach war ich in der Hoffnung, Spuren von Kais Anima zu finden, noch einmal hinausgegangen. Dass Gnarl das letzte Mitglied des Blizzard-Teams direkt vor meinen Augen getötet hatte, machte mir schwer zu schaffen. Doch ich hatte keine Spur von Kai entdeckt, außer den Shuriken aus blauem Stahl und dem Blutfleck auf dem Gras.

 

Es stand 2:1. Kai hatte mit seinem Leben für Evyls und Gnarls Tod bezahlt.

 

Während ich gegen die Wuttränen angekämpft hatte, hatte ich unsere Trophäen eingesammelt: die Azurid-Fragmente des zerbrochenen Eis, unsere Ausrüstung und was von den beiden Besessenen übrig geblieben war. Unser Hauptpreis war Auroras Fracht – der Behälter aus Berylliumbronze, der mehrere Kartuschen mit neutralem Umbra, Trübsals verfluchtem Geschenk, enthielt. Ich wusste zwar noch nicht, was ich damit anstellen wollte, aber wir hatten sie auf keinen Fall dort zurücklassen können.

 

Später hatte ich meinem Zorn freien Lauf gelassen und alle Überreste mit einem Blitz verbrannt, der jede Spur des kürzlich stattgefundenen Kampfes beseitigt hatte.

 

Die Aufhebung des Blauen Alarms hatte uns zehn Empfehlungen eingebracht, durch die wir Alices Status als Inkarnatorin wiederherstellen hatten können. Sie hatte ihren Cogitor sowie die Fähigkeit zur Reinkarnation zurückbekommen. Nun, da die Peitsche der Leere das Biest zerstört hatte, war Alice im Vollbesitz ihres Körpers.

 

Trotzdem wünschte ich, es wäre so einfach …

 

Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Wand, schloss die Augen und ging mental noch einmal unsere letzte Unterhaltung durch.

 

Kurz nachdem ich Alice in den Monolithen zurückgebracht hatte, war sie umgekippt und hatte lange geschlafen. Miko hatte gemeint, Gnarls Angriff müsste sie sehr viel Kraft gekostet haben und dass es einige Zeit dauern könnte, bis das Gleichgewicht ihres Enyos und ihrer Quelle wiederhergestellt wären.

 

Doch am nächsten Morgen traf ich Alice vor dem Terminal an, und Miko teilte mir mit, dass wir soeben eine ID-Anfrage von einem fremden Cogitor erhalten hatten.

 

»Richie«, erklärte Alice mit leisem Lächeln und verdächtigem Glitzern in den Augen. »Das ist Richie. Ich hatte völlig vergessen, wie niedlich er ist. Ich habe mit ihm gesprochen. Wir haben uns die ganze Nacht unterhalten.«

 

»Wie fühlst du dich?«

 

»Ich? Es geht mir gut. Das Biest … ist weg«, antwortete sie. »Du bist Verzauberer, Grey. Ein richtiger. Du hast mich gerettet. Keinem anderen wäre das gelungen. Vielen Dank.«

 

»Du bist jetzt eine Inkarnatorin von Stellar und brauchst meine Hilfe nicht mehr. Jetzt bist du frei.«

 

»Frei. Ja«, meinte sie mit seltsamem Gesichtsausdruck. »Willst du nichts mehr mit mir zu tun haben? Soll ich gehen?«

 

Unverhofft ging sie auf die Knie, umklammerte meine Hand und presste ihre Stirn in fast schon religiöser Ehrfurcht dagegen. Inzwischen wusste ich bereits, dass es sich dabei um eine Art Ritual handelte, das sie in ihrem alten Clan gelernt hatte, dennoch gingen mir all diese Anzeichen für ihre Bewunderung langsam auf die Nerven.

 

»Ja, aber …«

 

»Ich kann nirgendwohin. Ich habe niemanden mehr. Niemanden … Ich möchte dir folgen. Ich kann dir helfen. Wenn ich darf«, fügte sie hinzu und blickte zu mir auf. »Grey der Verzauberer. Alice die Kriegerin. Wir sind ein Team. Ein gutes Team.«

 

»Ich dachte, du wolltest dir einen neuen Körper besorgen?«, rief ich ihr in Erinnerung und half ihr sanft wieder auf die Füße.

 

»Ja. So war das auch. Der hier ist alt.« Sie blickte nachdenklich auf ihre Hände herab, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. »Aber er gehört mir. Ich habe mich daran gewöhnt. Darum werde ich ihn behalten. Aber …«

 

»Aber was?«

 

Anstelle einer Antwort zerkratzte sie sich einen Unterarm. Die scharlachroten Klauenspuren schwollen sofort an und bluteten. Doch die Heilung ließ auf sich warten. Die Blutung hörte nach und nach auf, aber es dauerte zu lange – viel länger als zuvor.

 

Alice zeigte mir ihren blutenden Arm, leckte sich die andere Hand ab und strich sich damit über die Wunden. Augenblicklich schlossen sie sich und verwandelten sich in blass rosafarbene Narben.

 

»Meine Regeneration ist schwach«, erklärte sie. »Nun ist sie wieder normal. Nur das Genom. Das Biest hat sie verbessert. Seine Azur-Fähigkeit. Jetzt nicht mehr. Jetzt kann ich … getötet werden.«

 

Ich nickte. Das Biest – dieses mächtige außerweltliche Wesen, das sich ihres Körpers bemächtigt hatte – musste ihre Regenerationsfähigkeit verbessert und sie praktisch unsterblich gemacht haben. Und jetzt, da sie diesen Vorteil verloren hatte, war sie ebenso verletzlich, wie es ein Krieger-Inkarnator, der die dritte Evolution durchlaufen hatte, nur sein konnte.

 

»Ich habe nicht die Absicht, dich wegzuschicken«, sagte ich. »Ich möchte Fort Angelo helfen. Danach muss ich in die Stadt gehen.«

 

»Die Stadt … Ich kann nicht«, murmelte sie bedrückt.

 

»Warum nicht? Du bist jetzt eine Inka. Du bist Teil von Stellar.«

 

»Ich kann nicht. Die Legion. Die Stadt. Sie haben mich nicht vergessen. Alter Groll. Gefährlich, sehr gefährlich.«

 

»In diesem Fall werde ich allein gehen.«

 

»Bitte mach das nicht. Die Stadt … ist böse. Stellar ist böse. Der Würfel. Das Omega-Siegel.«

 

»Ich muss leider gehen. Das verstehst du doch, oder?«

 

Sie seufzte schwer und schien zu begreifen, dass sie es mir nicht ausreden konnte. »Na gut. Zuerst Fort Angelo. Danach die Stadt. Es ist weit. Sehr weit. Wie sollen wir dahin kommen?«

 

»Das weiß ich noch nicht.«

 

Nach diesem Gespräch hatten wir unsere Besitztümer im extradimensionalen Inventar von Stellar verstaut und waren nach Fort Angelo aufgebrochen. Wir hatten damit gerechnet, auf die Abtrünnigen zu stoßen, stattdessen hatten wir das Lager der Legionäre und ihre Himmelspatrouillen gesehen, die überwachten, wer sich dem Fort näherte. Beim Reinkommen hatte es nicht das geringste Problem gegeben – doch danach hatten sie mich als Sven Greyholm identifiziert, und jetzt saß ich hier.

 

Was sollte ich nun machen? Meine größte Sorge war, dass Alice versuchen könnte, ins Lager einzubrechen, um mich zu befreien, womit sie meine Pläne gestört und ihre Lage nur noch verschlimmert hätte.

 

»Du solltest dir nicht so viele Gedanken machen, Inkarnator. Sie hat Richie, nicht wahr? Er ist so niedlich!« Miko verdrehte die Augen und leckte sich die Lippen.

 

»Auch du, Brutus?«

 

Miko kicherte. »Bist du etwa eifersüchtig? Entschuldige. Aber er ist wirklich sehr niedlich. Anders als einige andere … Es besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass er sie davon abhält, irgendwelche Dummheiten zu machen.«

 

Ich war mir da nicht so sicher.

 

* * *

 

Am nächsten Morgen wurde ich von zwei Legionären aus dem Schlaf gerissen.

 

»Aufstehen, Greyholm. Hier sind Ihre Sachen.«

 

Ich öffnete das Paket, das sie mir die Hand gedrückt hatten. Darin befanden sich mein Clan-Cryptor und Fang. Ich konnte kaum glauben, dass sie mir alles zurückgegeben hatten. Daraus ließ sich nur schlussfolgern, dass sich in der vergangenen Nacht nichts geändert hatte.

 

Das heiterte mich derart auf, dass ich sofort einen Plan schmiedete, wie ich Kontakt zu Alice aufnehmen könnte. Dazu musste ich nur ein paar Minuten allein sein.

 

Es war früher Morgen, und unter dem grauen Himmel wachte das Lager gerade auf. Wir gingen – oder vielmehr führten sie mich – an identischen Reihen mit Modulen entlang ans andere Ende des Lagers, wo sie eine Art Landeplatz freigelassen hatten. Ich konnte die gedrungenen Umrisse von Heliflugzeugen ausmachen und viele Soldaten, die dort eifrig dabei waren, diese zu entladen. Immer mehr grüne Kisten stapelten sich auf dem Platz um die Peregrine. Personen liefen im Gänsemarsch die Rampen hinauf und verschwanden in den Frachträumen.

 

»Wohin bringen Sie mich?«

 

»Sie steigen zusammen mit den anderen in den Flieger. Es geht in die Stadt. Ihr Transport wird bereits bela…«

 

Der Rest des Satzes wurde von einem lauten Dröhnen verschluckt. Wir drehten alle die Köpfe in Richtung des schwarzen Punktes, der hinter den Bergen aufgetaucht war und sich schnell näherte. Er schoss an uns vorbei, und sein Umriss erinnerte an die Silhouette eines Menschen.

 

Das ohrenbetäubende Getöse und ein heftiger Windstoß bewirkten, dass ich mich instinktiv duckte, aber dank meiner Binokularsicht hatte ich bereits einen guten Blick auf das Objekt werfen können, während mein Interface es hilfreicherweise markierte und weitere Informationen einblendete.

 

Ein Flügelanzug. Ein unbekanntes Ikarus-Modell, um genau zu sein. Der Anzug war pechschwarz und sah Engels uraltem fliegendem Exoanzug ähnlich. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Versionen schien darin zu bestehen, dass Engels Anzug zwei silberne Flügel hatte, dieser hier jedoch eine saphirfarbene Flammenspur hinter sich herzog.

 

Der fliegende Besucher drehte über dem Lager eine steile Kurve und landete abrupt irgendwo in der Nähe der Lagermitte.

 

Die Legionäre waren ebenfalls stehen geblieben und starrten den Neuankömmling an. Die Ankunft des fliegenden Kriegers hatte in der Tat in etwa dieselbe Wirkung, als wäre ein legendärer Messias vom Himmel herabgestiegen. Neid stieg in mir auf. War mein Auftauchen als Engel ebenso spektakulär gewesen?

 

»Wer ist das?«, fragte ich.

 

»Das ist Cassandra«, antwortete eine der Wachen. »Sie ist eine Inka! Sie ist die Legatin der achten Kohorte, die Himmelsteufel genannt wird.«

 

»Gibt es hier außer ihr noch andere Inkarnatoren?«, wollte ich wissen.

 

Der Legionär stieß mich anstelle einer Antwort mit seinem Gewehrlauf an. »Bewegung, Tribut. Ihr Transport ist Nummer 13. Stellen Sie sich in die Schlange, um an Bord zu gehen.«

 

Als wir an der Reihe mit den Latrinen vorbeikamen, verharrte ich in der geplanten beschämter Pose und warf meinen Wachen einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich glaube, ich platze gleich. Kann ich noch kurz austreten?«

 

Die Legionäre waren normale Menschen, gut ausgebildet, aber nichtsdestotrotz menschlich. Also legte ich noch mal nach und übte mithilfe von Anführer des Rudels noch etwas psionischen Druck aus. Ich konnte nicht darauf hoffen, sie unter meine Kontrolle zu bringen – dafür war ich zu schwach, außerdem vermutete ich, dass sie jede aggressive Handlung gespürt hätten. Doch meine Empathie und mein Psi-Feld waren durchaus geeignet, sie sanft in die richtige Richtung zu leiten.

 

»Sie müssen noch mal aufs Klo?«, hakte einer der beiden nach. »Okay, gehen Sie, solange Sie noch können. Es ist ein langer Flug.«

 

Der andere nickte nur, und unter seinem geschlossenen Helm drang ein Glucksen hervor.

 

Es hatte funktioniert!

 

Mir war letzte Nacht bereits aufgefallen, dass es im Lager recht anständige Latrinen in zweckdienlichen Modulen gab, die etwas abseits standen. Wir hielten auf die nächste zu. Ich hastete hinein und aktivierte dabei gleichzeitig den schwarzen Würfel meines Cryptors.

 

Jetzt musste ich mich beeilen. Ich setzte das mentale Verstärkungsstirnband auf, dass ich Löwengesicht abgenommen hatte, und hielt eine leere Azur-Batterie bereit. Als ich mir die Nadel des Extraktors in den Hals rammte, zuckte ich zusammen.

 

Azur-Extraktion eingeleitet

 

Verlorenes Azur: …

 

Sie haben 10.000 Azur verloren

 

Gesamt-Azur: 3.930/36.300

 

Das kleine grüne Licht des Extraktors ging an, weil die Batterie voll aufgeladen war. Ich schob sie in den Schlitz des Stirnbands und konzentrierte mich.

 

Das Gerät verstärkte mein Psi-Feld um ein Vielfaches, bis meine mentale Kontrolle das gesamte Lager umfasste. Für den Bruchteil einer Sekunde vibrierte die Luft um mich herum und ich hörte die Stimmen Tausender menschlicher Gedanken. Einige von ihnen waren hinsichtlich ihrer Kraft und Psi-Aktivität durchaus bemerkenswert – bei ihnen musste es sich um die Verzauberer der Legion oder Inkarnatoren wie mich handeln.

 

Ich hatte weder die Zeit noch das Verlangen, mich genauer damit zu beschäftigen, denn ich wusste, dass sie mich ebenfalls spüren konnten. Stattdessen verwandelte ich mein Psi-Feld in einem dünnen Strahl, den ich weit über die Grenzen des Lagers hinausschickte, um nach der vertrauten lodernden Hitze von Alices Verstand zu suchen.

 

Ja! Ich entdeckte sie fast sofort. Sie wartete am vereinbarten Treffpunkt auf mich. Prompt nutzte Miko die hergestellte Verbindung, um Richie die Informationen über unsere Pläne zu schicken, während ich den Moment nutzte, um mich von meiner Teamgefährtin zu verabschieden. Kaum hatte sie meine Berührung gespürt, öffnete sie mir ihren Verstand. Einige Sekunden lang genossen wir eine lautlose Unterhaltung.

 

»Wo steckst du?« Ihre Stimme klang eindringlich. »Brauchst du Hilfe?«

 

»Nein, es geht mir gut. Ich bin im Lager der Legionäre und breche jetzt auf zur Stadt. Bitte mach keine Dummheiten.«

 

Ich spürte ihre Wut und ihre Feindseligkeit. Doch im nächsten Augenblick reagierte sie und bat mich um weitere Instruktionen.

 

»Geh nicht zurück zum Monolithen. Die Legion wird ihn sicher überprüfen.«

 

Das war ihr längst klar. Die hatte den seltsamen Flügelanzug am Himmel ebenfalls gesehen. Da fiel mir Engels Anzug wieder ein, den wir in Evyls Labor im Konvoi zurückgelassen hatten. Ich schickte Alice ein klares Bild der silbrigen Flügel.

 

»Was treiben Sie da drin so lange, Greyholm?«

 

Meine Wachen trommelten gegen die dünne Tür. Mir blieb keine Zeit mehr.

 

»Die Flügel. Ich verstehe. Ich werde sie finden.« Alices Botschaft vermittelte mir Ruhe und Selbstsicherheit.

 

»Pass auf, Inkarnator! Jemand versucht, dich aufzuspüren! Brich die Kommunikation sofort ab!«

 

Ich konnte es ebenfalls spüren. Jemand schnüffelte herum. Die Aura dieser fremden Person fühlte sich wie ein sanftes, aber beharrliches Kribbeln an, während sie versuchte, die Quelle der Interferenzen aufzuspüren. Die Legion musste jemanden mit Psi-Fähigkeiten haben, der meiner ebenbürtig war – wenn nicht gar noch besser – und der meine Präsenz zu spüren schien.

 

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie riskant es gewesen war, das Lager ohne angemessene Ausbildung zu betreten.

 

Da der Verstärker meine Fähigkeiten vervielfachte, gelang es mir problemlos, den sensitiven Psi-Fingern meines Gegenspielers zu entrinnen. Ich wich dem Kontaktversuch aus, riss mir das Stirnband herunter und deaktivierte Anführer des Rudels. Dann schaltete ich meine Psi-Fähigkeit aus und schottete meinen Geist ab. Es fühlte sich an, als wäre ich taub und blind geworden, da ich mich bereits an meine Psi-Wahrnehmung gewöhnt hatte.

 

»Greyholm!« Die Stimmen der Legionäre klangen wütend.

 

Schnell verstaute ich all die Instrumente meines Verbrechens in meinem Cryptor und ging hinaus. Nun musste ich mich beeilen, bevor der geheimnisvolle Verzauberer die Gelegenheit bekam, der Sache auf den Grund zu gehen.

 

Zu meinem Glück hatte das Boarding bereits begonnen. Wir liefen über das Flugfeld, als gerade mehrere Ornoptare mit heiserem Krächzen landeten. Diese gewaltigen A-Vögel in mechanischer Rüstung sahen den Ptaren erschreckend ähnlich. Offenbar hatte es die Legion – zweifellos mit der Hilfe einiger Verzauberer – geschafft, sie zu zähmen und als eine Art fliegender Kavallerie einzusetzen.

 

Jeder dieser Vögel hatte einen speziellen Sitz auf dem Rücken. Brust, Bauch und Kopf wurden mit Platten aus silbriger Panzerung geschützt, die man mit Lederriemen befestigt hatte. Neben den geschwärzten Läufen der Maschinengewehre der Legionäre und der mechanischen Panzerung ihrer Exoanzüge wirkten die zahnbewehrten Schnäbel und bösartigen gelben Augen der A-Vögel erschreckend deplatziert.

 

»Vorsicht!« Eine der Wachen zerrte an meinem Arm und zog mich von den Vögeln weg, die mit ihren dreikralligen Füßen am Boden scharrten. »Sie mögen keine Fremden. Wenn sie dir den Schädel mit dem Schnabel einschlagen, war's das.«

 

»Greyholm! Schwingen Sie Ihren Arsch hier rüber!«

 

Ich erklomm die Rampe und betrat den schwarzen Bauch eines großen Fracht-Heliflugzeugs, um durch die schmale Gasse zwischen zwei Reihen mit Stahlsitzen zu gehen, von denen einige bereits besetzt waren.

 

Als ich eintrat, scannte eine Legionärin mit den Insignien eines Optios mein Zeichen. »Noch ein Tribut? Greyholm? Da drüben.« Sie zeigte auf den mir zugewiesenen Sitz.

 

Ich ließ mich darauf sinken und schnallte mich über Kreuz mit den Sicherheitsgurten an, so wie es auch all die anderen taten. Dabei stellte ich fest, dass die Afrikanerin, die mich gestern Abend identifiziert hatte, rechts neben mir saß. All die anderen in meiner Nähe waren Männer in grünen Teilrüstungen, die alle verdächtig jung aussahen. Anscheinend wurden alle Tribute zurück in die Stadt geschickt.

 

Kurze Zeit herrschte reges Treiben in der Kabine, bis alle Sitze besetzt waren und sich verbeulte alte Kisten im Frachtabteil stapelten. Danach blinkten die Freigabelichter, die Rotoren erwachten zum Leben und der Peregrine erhob sich in den Himmel.

 

Wir flogen zur Stadt.

 

 

 

 

2

 

 

 

DER PEREGRINE HATTE KURS auf die Stadt genommen. Das angestrengte Dröhnen der Rotoren während des Starts war einem stetigen Summen gewichen. Die weiße Ausdehnung hoch aufgetürmter Wolken sauste an den Fenstern vorbei. Ich musterte die anderen Passagiere und versuchte, mir jedes noch so winzige Detail zu merken.

 

Etwa 40 Personen saßen im Flieger, ebenso Männer wie Frauen und hauptsächlich Soldaten, die in die komplette Legionärsmontur gekleidet waren: geschlossene Helme, verschlissene grüne Umhänge mit dem Stern von Stellar und massive Brustplatten aus einem stumpfen, silberfarbenen Metall. Fast alle hatten die schweren Teile ihrer Ausrüstung abgelegt, wirkten entspannt und dösten langsam ein.

 

Ohne die Helme stellten sie eine Vielfalt an unterschiedlichen Typen dar. Jeder von ihnen besaß eine starke und einzigartige Persönlichkeit, und zusammen genommen bildeten sie eine Ansammlung so gut wie jeder Ethnie unter der Sonne.

 

Ich sah auch mehrere verwundete Soldaten, einige mit Verbänden, zwei waren sogar auf Tragen geschnallt und bewusstlos. Zwischen ihnen saß eine Legionärin mit Ärmelaufnäher, auf dem das medizinische Symbol einer sich um eine Schale windenden Schlange prangte. War sie die Raid-Ärztin? Bedeutete das, dass die Legion dennoch in Kampfhandlungen verwickelt worden war?

 

Die restlichen Passagiere, die eine Minderheit darstellten, waren Tribute wie ich. Das war allein anhand ihrer leichten Ausrüstung und ihres jungen Alters zu erkennen. Es waren Frauen und Männer, die alle höchstens 20 sein konnten. Auch bei ihnen war jede dem Menschen bekannte Hautfarbe und Augenform vertreten.

 

Die Afrikanerin zu meiner Rechten musste meinen neugierigen Blick bemerkt haben. Sie stieß mich unauffällig mit dem Ellbogen an und zwinkerte mir zu. »Hörst du mich, Greyholm? Over. Alles okay?«

 

»Im Grunde genommen schon.« Ich erwiderte das Augenzwinkern und spürte das neugierige Interesse, das von ihr ausging.

 

»Man hat uns gebeten, dich im Auge zu behalten.« Sie grinste mich an und zeigte ihre perfekten weißen Zähne. »Wir haben den Befehl, dich nach der Ankunft ins medizinische Zentrum zu bringen. Angeblich bist du nicht ganz richtig im Kopf. Stimmt das?«

 

»So könnte man es ausdrücken«, erwiderte ich ausweichend.

 

»Entspann dich, Sven. Wir haben noch 20 Flugstunden vor uns. Aber ich würde zu gern wissen, wie du die A-Zone überlebt hast.« Sie rückte näher an mich heran. »Du würdest nicht glauben, welche Geschichten man sich über dich erzählt! Alter Falter! Was ist mit Hunchbacks Raid passiert? Ist die ganze Gruppe 19 umgekommen? Auch Maria?«

 

»Wer ist Maria?«

 

»Tigris' große Schwester aus Jaipur! Die Brünette aus dem dritten Jahr, weißt du nicht mehr?«

 

Maria? Ich dachte an die Gruppe aus Legionären zurück, die bei meiner Ankunft auf der Erde ums Leben gekommen waren. Darunter hatte sich in der Tat eine Brünette befunden. Sie war der Dunkelheit zum Opfer gefallen und hatte mich später durch die zerstörte Stadt gejagt. Wahrscheinlich war Sven Greyholm nicht der einzige Tribut bei diesem Raid gewesen.

 

»Sie wurden alle getötet«, antwortete ich. »Ich war der einzige Überlebende und weiß nicht mal mehr, wie sie alle gestorben sind. Offenbar habe ich einen echt heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Als ich wieder zu mir kam, waren sie alle tot. Da waren Monster, die um ihre Leichen gekämpft haben … riesige Kreaturen. Ich konnte entkommen und in einen unterirdischen Tunnel flüchten. Es hat gute 24 Stunden gedauert, bis ich aus der Stadt raus war.«

 

Sie riss die Augen auf. »Du erinnerst dich an nichts mehr? An absolut gar nichts?«

 

»Nein. Nicht einmal an meinen eigenen Namen. Da ist nichts als Leere. Angeblich leide ich unter posttraumatischer Amnesie. An dich kann ich mich übrigens auch nicht erinnern.«

 

»Ist nicht wahr! Wie willst du dann trainieren?«

 

»Keine Ahnung.«

 

»Verdammt! Ich fand gleich, dass du irgendwie komisch aussiehst. Als stündest du völlig neben dir. Eva wird den Schock ihres Lebens kriegen.« Bei den letzten Worten musste sie kichern.

 

»Eva?«

 

»Deine Freundin«, erklärte sie mit sarkastischem Grinsen. »Ihr beide seid doch zusammen, oder nicht? Du bist ihr Liebster und all das. Ich bin gespannt auf ihr Gesicht, wenn sie dich sieht. Dabei hat sie sich schon einen Ersatz besorgt … Ups!« Sie zuckte zusammen, als sie merkte, dass sie zu viel gesagt hatte.

 

Ich musste schmunzeln. Offenbar erwartete meinen Wirt eine Art Liebesdrama.

 

Diese junge Verzauberin schien Greyholm sehr gut zu kennen. Sie mussten wenigstens ein Jahr lang zusammen trainiert haben. Aus diesem Grund stellte sie eine wahre Fundgrube an Informationen dar, und ich beschloss, sie auszuschöpfen, solange ich konnte, um mögliche Minenfelder später besser umschiffen zu können. Dank der Amnesie ließ sich mein seltsames Verhalten wenigstens zum Teil erklären, und ich hatte ohnehin nicht vor, länger als notwendig in der Akademie der Tribute zu bleiben. Dennoch wäre es schlau, im Voraus etwas besser Bescheid zu wissen.

 

»Hey, tut mir echt leid, aber an deinen Namen erinnere ich mich auch nicht mehr.«

 

»Ich bin Esther. Esther Marlowe. Aus offensichtlichen Gründen nennt man mich Bohnenstange, auch wenn ich den Spitznamen nicht leiden kann.«

 

»Habe ich auch einen Spitznamen?«, erkundigte ich mich.

 

Sie kicherte. »Du bist Dolly. Nein, ganz im Ernst! Kennst du dieses alte Lied Goodbye Dolly Gray …«

 

»Sehr witzig. Das vergessen wir besser gleich wieder. Woher kommst du?«

 

»Aus Neo Mumbai. Vom Ikarusclan.«

 

»Ich kannte jemanden aus dem Ikarusclan«, fiel mir dabei ein. »Sein Name war Rico. Der Verzauberer aus Fort Angelo. Er hat mir sehr geholfen.«

 

»Rico«, murmelte Esther und nickte bedrückt. »Ja, er ist ein entfernter Verwandter. Ich hörte, er wäre ums Leben gekommen.«

 

»Würdest du mir vielleicht etwas über den Timus erzählen, Esther?« Ich sah ihr in die Augen. »Und über mich? Ich erinnere mich wirklich an nichts mehr. Wir beide waren Freunde, nicht wahr?«

 

»Äh, eigentlich nicht.« Sie wandte den Blick ab. »Wir kannten uns, aber mehr auch nicht.«

 

»Würdest du mir bitte ein bisschen mehr erzählen?«

 

Nach und nach schaffte ich es, dass sie sich ein wenig öffnete, indem ich ihr die richtigen Fragen stellte. Eine halbe Stunde später unterhielten wir uns, als würden wir uns schon unser ganzes Leben kennen.

 

Sowohl Esther als auch Sven Greyholm waren im zweiten Ausbildungsjahr am Timus, der Militärakademie, in der die Kadetten für den Dienst in der Legion als Krieger, Verzauberer oder Technomant vorbereitet wurden. Wie es der Eid vorsah – bei dem es sich um eine Art Vereinbarung handelte, die die Stadt mit allen Vasallenclans getroffen hatte –, mussten Letztere in jedem Jahr ihre jungen Männer und Frauen zum Timus schicken. Die passenden Kandidaten wurden von den Vertretern der Stadt mithilfe von Genkartierung ausgewählt. Soweit ich es verstand, war das Hauptkriterium für die Eignung, dass der Kandidat eine mächtige Quelle besaß. Logischerweise handelte es sich bei den meisten auf diese Art ausgewählten Tributen mit wenigen Ausnahmen um Nachfahren der einstigen Inkarnatoren.

 

Danach verbrachten die Tribute fünf Jahre mit dem Training und Raids, bevor sie sich für weitere 15 Jahre für den Dienst in der Legion zu verpflichten hatten. Bei herausragender Leistung konnten einem ein paar Jahre erlassen werden, und viele dieser Tribute wurden sogar in ihre Heimatstädte zurückgeschickt, um ihre letzten Dienstjahre in den lokalen Einheiten der Legion zu absolvieren.

 

Das war ein seltsames System, das mich auf erschreckende Weise an den ehemaligen Frondienst erinnerte. Menschliche Opfergaben, wenn man so wollte. Indem sie jedes Jahr das »Frischfleisch« beanspruchte, schlug die Stadt gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe. Erstens nahm sie den Clans die talentiertesten jungen Leute und brachte jeden, der auch nur ansatzweise Azur-Fähigkeiten aufwies, unter ihre Kontrolle. Zweitens sicherte sie sich ihre Loyalität, denn 20 Jahre im Dienst der Stadt stärkte das Band zwischen dem Rekruten und der Legion und die Stadt wurde zu einer Heimat in der Fremde. Drittens bekamen sie die höchstrangigen Vertreter der Clans in die Finger, denn viele der Tribute entstammten den Herrscherfamilien und garantierten somit die Treue der Clans.

 

Zu guter Letzt (ich wollte gar nicht so genau darüber nachdenken, aber es war zu naheliegend) bekam die Stadt so eine Auswahl an nutzbaren Kandidaten mit ebenso vielfältiger Bandbreite an Quellen: frische Wirtskörper für jeden Bedarf und Geschmack.

 

Sven war ein Tribut aus der Arktis. Nach allem, was Esther mir erzählt hatte, warteten im Timus eine Reihe an Freunden und Verwandten sowie eine Freundin auf ihn. Nach dem gescheiterten Raid hatte man ihn als im Kampf gefallen eingestuft. Doch jetzt würde ich in seinem Körper dort eintreffen, jemand mit anderen Manieren, anderer Körpersprache und ohne jegliche Erinnerungen. Wie würden sie das auffassen?

 

Ich stellte einige unschuldige Fragen über die Inkarnatoren der Stadt und atmete auf. Esther schien nichts über sie zu wissen. In dem Jahr, das sie nun schon am Timus verbracht hatte, war es ihr gerade mal gelungen, aus der Entfernung einige Blicke auf sie zu werfen. Die Inkarnatoren besuchten den Gerüchten zufolge die Hauptbasis der Legion, daher konnten die Tribute ihnen nur während der großen militärischen Einsätze oder den Stadtzeremonien begegnen. Das Risiko, einem über den Weg zu laufen, war minimal. Soweit ich es herausgefunden hatte, wurden die Timus-Kadetten von normalen Menschen ausgebildet.

 

Esthers Antworten wurden immer einsilbiger, bis sie schließlich einnickte. Alle anderen schliefen bereits tief und fest. Der Raid musste für sie sehr anstrengend gewesen sein. Ich bezweifelte, dass sie sich währenddessen hatten ausruhen können. Ein Soldat nutzte nun mal jede sich bietende Gelegenheit zum Schlafen.

 

Ich hatte dieses Problem nicht länger. Während ich mich zurücklehnte und die Augen schloss, um so zu tun, als wäre ich ebenfalls eingeschlafen, konnte ich mich endlich konzentrieren und nachdenken.

 

Neben den beiden Verdienstorden und der Beseitigung des Blauen Alarms nach meinem Sieg über die Besessenen hatte Gnarl auch noch ein höchst interessantes Genom fallen lassen.

 

Mein Interface zeigte es als hellbraun mit scharlachrotem Schimmern an. Im Stellar-System hatte jede Farbe eine eigene Bedeutung und war abhängig von der Klasse der Kreatur, von der das Genom stammte. Ich besaß bereits grüne, blaue, rote und goldene, sogar ein purpurfarbenes – doch obwohl dieses hier einige nekrotische Ansätze aufwies, war es kein Nekro.

 

Schraders Genom

 

Klasse: Purpur (Azur, quantenmechanisch)

 

Verfügbare genetische Modifikationen:

 

Multithreading. Ermöglicht es Ihrem Verstand, simultan mehrere nicht miteinander verbundene Aufgaben auszuführen. Die Anzahl der Aufgaben hängt von der Kapazität Ihrer Quelle ab.

 

Anforderungen:

 

Evolution (2)

 

Gehirnneustrukturierung (5)

 

Quellen-Upgrade (10)

 

Neuromatrix

 

Fähigkeitstyp: Passiv

 

Ortho-Positronenimpuls. Ermöglicht es Ihnen, einen mächtigen kurzen Impuls auszusenden, um alle positron- und quantenbasierten elektrischen Systeme auszuschalten.

 

Anforderungen:

 

Evolution (1)

 

Limbisches-System-Upgrade (5)

 

Gehirnneustrukturierung (5)

 

Melon (5)

 

Neuronukleus

 

Fähigkeitstyp: Aktiv

 

Kosten: 10.000 Azur

 

Spektralanalyse. Erlaubt es Ihnen, die Eigenschaften eines Objekts mithilfe durchdringender Strahlen zu studieren.

 

Anforderungen:

 

Evolution (1)

 

Limbisches-System-Upgrade (5)

 

Gehirnneustrukturierung (5)

 

Melon (5)

 

Fähigkeitstyp: Aktiv

 

Kosten: 3.000 Azur

 

Alle Anhängsel dieses Genoms schienen sich eher für einen Computer statt für einen Menschen zu eignen. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, welches Lebewesen ein derartiges genetisches Material hervorgebracht hatte. Handelte es sich um eine Art Azur-veränderten biomechanischen Kadaver? Faszinierend. Die Auswirkungen des Multithreadings waren mir nicht ganz klar. Der Impuls musste einem sehr mächtigen EMP-Angriff ähneln, durch den alle Arten von elektronischen Geräten verschmort wurden, während es sich bei der Spektralanalyse vor allem um ein Forschungshilfsmittel handelte. Alle Fähigkeiten des Genoms waren zweifellos sehr interessant, dennoch sagte mir keines davon zu. Ich war mir sicher, dass ein fortschrittlicher Nekromant dieses Geschenk nur zu gern angenommen hätte.

 

Danach nahm ich die beiden mit Fragezeichen gekennzeichneten Gene genauer unter die Lupe. Das »nicht-identifizierte genetische Alien-Material« – der geheimnisvolle Loot, der von den Kreaturen vom Schwarzen Mond stammen musste und den die Besessenen sinnvoll eingesetzt hatten. Möglicherweise fanden sich darin nützliche Upgrades für mich, aber wie sollte ich sie entschlüsseln? Es schienen sich immer neue Mysterien aufzutun.

 

Was bedeutete, dass ich mit Schraders Genom nichts anfangen konnte. Demzufolge stand es mir frei, meine drei Neurosphären in etwas anderes zu investieren. Aber in was? In meine Quelle oder meine körperlichen Eigenschaften? Das brachte mich auf eine Idee …

 

»Quelle!« Fast glaubte ich, das Flehen der deaktivierten Miko zu hören.

 

Aber natürlich. Körperliche Upgrades waren viel zu leicht zu entdecken. Schon jetzt war ich einem normalen Menschen weit überlegen, und meine letzten Upgrades des zentralen Nervensystems hatten meine Geschwindigkeit und Reaktionszeit auf phänomenale Weise verbessert. Aber die Quelle war trotz allem mein größtes Geschenk und meine wichtigste Waffe. Zudem brauchte ich dank des Geschenks des Daats keine Evolutionen, um sie jetzt zu verbessern, und es wäre doch jammerschade, das nicht auszunutzen.

 

Nachdem ich meine Entscheidung getroffen hatte, investierte ich eine Neurosphäre in Quellen-Upgrade (8). Da mir noch zwei weitere blieben, musste ich aus der Vielzahl möglicher Upgrades auswählen, zu denen auch einige alte gehörten: Lichtschild, Pyrokinese, Aura des Lichts, Lichtwelle, Heilung durch Licht …

 

Schutz, Feueranrufung, eine blendende Aura, die Fähigkeit, dem Gegner mit gerichteten Wellen aus loderndem Licht zu schaden, oder die Fähigkeit, zu heilen. Was davon sollte ich nehmen?

 

Außerdem wäre es klug, mich für nur eine Option zu entscheiden. Ich wusste bereits aus Erfahrung, dass die Azur-Fähigkeiten anfangs zwar recht schwach waren, jedoch zunehmend effektiver wurden, je mehr man sie maximierte. Der voll ausgebaute Blitz war inzwischen zu meiner Waffe der Wahl geworden, während Verstärkung mit Licht es mir ermöglicht hatte, den Rock zu verwunden und Evelynn Mail zu töten.

 

Nachdem ich mir die Beschreibungen der Fähigkeiten durchgelesen hatte, wählte ich ohne zu zögern Heilung mit Licht aus und investierte beide Neurosphären in dieses Upgrade.

 

Heilung mit Licht (3). Verleiht Ihrem Licht des Ra einen mächtigen regenerativen Effekt, durch den sämtliche Toxine neutralisiert und schwere Verletzungen geheilt werden, darunter auch Schäden an inneren Organen.

 

Fähigkeitstyp: Aktiv

 

Kosten: 1.000 Azur pro Minute

 

Miko hätte vermutlich gesagt, dass ich einen Fehler machte, indem ich mich nicht breit genug aufstelle. Ja, mir war bewusst, dass sich meine Quelle vom Typ Ra perfekt für einen Kampf-Verzauberer eignete, der seine Feinde mit Licht besiegte und ganze Städte wie der legendäre Phönix in Schutt und Asche legte. Für mich persönlich war Heilung mit Licht aufgrund meiner Inkarnationsfähigkeit und meines Hydra-Genoms eher nutzlos.

 

Aber für alle um mich herum würde diese besondere Azur-Fähigkeit einen gewaltigen Unterschied machen. Ich war es leid, diejenigen zu verlieren, die mir ihr Vertrauen schenkten. Hätte ich diese Fähigkeit von Anfang an gehabt, wäre Tara vielleicht noch am Leben, ebenso wie Kai.

 

Ich rief mein Interface auf und nahm das Ergebnis in Augenschein:

 

Name: Grey

 

Rang: Allarch

 

Kampfgruppe: Amnesie (Empfehlungen: 1, Verdienstorden: 4)

 

Gesamt-Azur: 3.930/36.300

 

Quelle: Energietyp Ra

 

Besondere Fähigkeiten: Lichtfleck (1), Verstärkungen mit Licht (3), Lichtblitz (3), Heilung mit Licht (3)

 

Physikalische Modifikationen: Quellen-Upgrade (10), Knochenstruktur-Upgrade (1), Muskelgewebe-Upgrade (2), Metabolismus-Upgrade (2), Nervensystem-Upgrade (5), Neocortex-Upgrade (2), Thalamus-Upgrade (2), Blutkreislauf-Upgrade (2)

 

Genetische Modifikationen: Binokularsicht (Ptar-Genom), Undurchdringlichkeit (Tiefkrabben-Genom), Anführer des Rudels (Rattenkönig-Genom), Molekularregeneration (Hydra-Genom)

 

Verfügbare Neurosphären: 0

 

Verfügbare Genome: Eisanubis-Genom, Schraders Genom, ??? (nicht-identifiziertes genetisches Material), ??? (nicht-identifiziertes genetisches Material)

 

Als das erledigt war, schlief ich mit einem zufriedenen Gefühl ein und schloss mich den friedlichen Reihen der Legionäre um mich herum an, die schon längst im Traumland wandelten.

 

Ein Stoß in die Rippen weckte mich auf, der begleitet wurde von einem durchdringenden Alarm und der blechernen Stimme des Piloten:

 

»Achtung, Achtung! Überprüfen Sie Ihre Sicherheitsgurte, halten Sie sich fest, und sichern Sie die Fracht.«

 

In der pechschwarzen Nacht draußen vor den Fenstern jaulte der Wind und seltsame blassblaue Blitze zuckten durch die Luft, die mich an Transmutationsstürme erinnerten. Das Flugzeug wackelte, und die Rotoren dröhnten und wurden stark beansprucht. Über unseren Köpfen flackerte die Notfallbeleuchtung.

 

Die Legionäre regten sich, unterhielten sich leise und schnallten sich an.

 

»Was ist passiert?«, fragte ich.

 

Mit leisem Kichern drehte sich Esther vom Fenster zu mir um. »Das ist eine Welle. Man kann da draußen rein gar nichts sehen. Da muss gerade eine krasse Show abgehen.«

 

»Was ist eine Welle?«

 

»Nur etwas, das den Gezeiten folgt. Man bezeichnet es auch als Hitzewelle. Es kommt dazu, wenn Wind, Wasser und Strahlung auf Azur treffen. Alles wird miteinander vermischt und bricht wie ein verrückter Tsunami über einen herein. Das ist ein Schauspiel! Man kann von Glück reden, wenn man sich nicht die Seele aus dem Leib kotzt!«

 

»Jetzt übertreib mal nicht, Bohnenstange«, schaltete sich ein stämmiger Rothaariger zu ihrer Rechten ein. »Wir haben eine Welle gestreift, na und? Es wird kurz etwas holprig, und danach können wir weiterschlafen.«

 

Seine Worte hätten kaum zu einem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Im nächsten Augenblick bebte das Flugzeug so stark, dass mir die Zähne klapperten. Ich glaubte schon, es würde auseinanderbrechen. Das Jaulen und Kreischen draußen wurde immer lauter – und ich hätte schwören können, auch die Stimmen einiger gigantischer Monster im tosenden Sturm zu hören.

 

Das Atmen fiel mir schwer. Die Fenster waren von außen beschlagen, als würden wir uns in einem Kessel mit kochender Suppe befinden, durch den wir uns nun mühsam den Weg bahnen mussten. Mein Azur-Zähler zeigte mir einen langsamen, aber stetigen Azur-Zufluss an. Das Heliflugzeug wackelte und bebte weiterhin und wurde von den aufgewühlten Elementen durchgeschüttelt.

 

Die meisten Legionäre saßen reglos und blass da. Irgendjemand übergab sich, ein loser Schulterschutz rutschte klappernd über den Boden und rollte mal hierhin und mal dahin. Esther bewegte lautlos die Lippen und kniff die Augen zusammen. Wahrscheinlich betete sie.

 

Der Schwarze Mond hatte die Welt drastisch verändert. Das war etwas, das man inmitten eines Kontinents nicht unbedingt bemerkte, doch hier an der Küste, an der diese heftigen Stürme tobten, war es offensichtlich. Die Gezeiten waren nun zwölfmal so stark, die Zyklone und Taifune, die das Meer mit sich brachte, ließen sich nicht einmal ansatzweise mit jenen aus früheren Zeiten vergleichen. Beim Einschlag waren sehr viele Fragmente des Schwarzen Mondes ins Meer gestürzt und hatten A-Zonen im Wasser geschaffen, die aus offensichtlichen Gründen so gut wie nicht zu beseitigen waren und das maritime Leben radikal verändert hatten. Der Ozean war zur Brutstätte der schrecklichsten Monster geworden, die regelmäßig an Land gingen – und keiner konnte auch nur ahnen, welche unheilvollen Vorgänge sich in den Tiefen der Meere abspielten.

 

Doch unsere Piloten hatten mehr als genug Erfahrung. Sie flogen eindeutig nicht zum ersten Mal durch die Wellenfront. Trotz des unerträglichen Wackelns, des Tosens des Sturms und der heftigen Windstöße kamen sie nicht vom Kurs ab.

 

Schon bald ließ der Sturm nach, und die Turbulenzen waren immer seltener zu spüren. Die Notfallbeleuchtung ging wieder aus. Alle rührten sich auf ihren Sitzen, waren sichtlich erleichtert und unterhielten sich leise.

 

»Ist es noch weit?«, wollte ich von der noch immer blassen Esther wissen.

 

»Nein, wir sind fast da«, antwortete sie. »Mann! Ich dachte, ich würde der Schwarzen Prinzessin gegenübertreten.« Sie schenkte mir ein gequältes Lächeln. »Alles in Ordnung bei dir?«

 

»Es geht mir gut«, erwiderte ich. Nach dem Transmutationssturm hatte mich das gerade Erlebte wenig beeindruckt.

 

»Wie wär's mit einer kleinen Aufmunterung?« Sie reichte mir eine seltsame durchscheinende Frucht – eine Beere, auf der ein knallroter Dorn prangte. Nach kurzem Zögern steckte ich sie mir in den Mund und zuckte zusammen, als mir der entsetzlich saure Geschmack durch Mark und Bein ging. Beinahe hätte ich sie wieder ausgespuckt, aber der Nachgeschmack war unerwartet süß, als würde die Beere aus zwei Schichten bestehen.

 

+2 Azur, teilte mein Interface mir schlicht mit.

 

Es war also eine Azur-Frucht! Aßen sie in der Stadt wirklich A-Lebensmittel? Höchst interessant.

 

Esther lachte auf. »Jetzt ist mir klar, dass du dich an nichts erinnerst!« Sie amüsierte sich prächtig über mich. »Du hättest dein Gesicht sehen sollen! Den Trick kennt doch wohl jeder. Man muss schon in Mumbai zur Welt gekommen sein, um Siah essen zu können, ohne das Gesicht zu verziehen. Aber jetzt bist du wacher, nicht wahr?«

 

Ich konnte das Ausmaß der energiespendenden Wirkung der Frucht nur schwer ermessen, weil ich dank meiner Metabolismus-Upgrades ohnehin ständig in Bestform war. Aber Esther schien jetzt hellwach zu sein. Sie schob die Fensterblende auf, drückte die Nase ans Glas und starrte hinaus. Ich konnte einen Blick auf eine monotone, nebelverhangene Ebene voller Grün und Grau werfen, die zwischen den Wolken zu sehen war. Flogen wir übers Meer?

 

Die Legionäre gähnten und streckten sich, um richtig wach zu werden. Einige machten sich daran, die zuvor abgelegten Ausrüstungsteile wieder anzubringen. Der Geruch nach Legionsrationen und heißem Sublimat waberte durch die Luft. Sie schienen alle eigene Rationen zu haben, und auch ich bekam eine Tasse mit heißer Brühe.

 

Kurz darauf hallte erneut eine Durchsage aus den Lautsprechern.

 

»Alle anschnallen! Die Landung steht kurz bevor!«

 

Wir näherten uns anscheinend der Stadt.

 

Zuerst sah ich unter uns nichts als Grün und Grau. Nach und nach nahm das komplexe Mosaik aus mehreren gigantischen Mauern, die die Stadt umgaben, Gestalt an.

 

»Der Weiße Stern«, erklärte Esther. »Die erste und größte Mauer.«

 

»Seltsamer Name.«

 

Sie warf mir einen missbilligenden Blick zu. »Sie wurde nach Elaine, dem Weißen Stern, benannt. Sie war eine der Stadtgründerinnen – und gehörte zur Legion. Die Mauer wurde entsetzlich oft wieder aufgebaut. Angeblich ruht sie auf den verkohlten Kriegsmaschinen der Ersten Legion.«

 

»Hat wirklich jemand versucht, die Stadt zu stürmen?«

 

»Aber natürlich. Die Monster. Die Shea. Die Besessenen. Hast du nie etwas über die Rote Schlacht gelesen? Oder über Siegfrieds Barriere?«

 

Von oben mochte die Mauer wie ein Kinderspielzeug aussehen, dabei war sie eine monströse Befestigungsanlage von mehreren hundert Metern Höhe und bestand aus Metall, Stein und verstärktem Plastik. Auf der Innenseite wurde sie von riesigen, dreieckigen Rippen gestützt, die auch als Zutrittspunkte dienten. Eine zweispurige Straße führte die gesamte Brustwehr entlang. Ich bemerkte viele Wachtürme, auf denen sich runde Landeplattformen für Ornoptare befanden, sah die gewaltigen Mikados, die in ihren Gehegen auf den Flugfeldern erstarrt waren, und die Vierfachläufe der Flugabwehr-Impulskanonen, die gen Himmel gerichtet waren.

 

Die Stadt war auf einem Plateau errichtet worden und befand sich zwischen mehreren Berggipfeln, die als natürliche Verteidigungsanlagen dienten. Die konzentrischen Mauern verbanden sie miteinander und bildeten Kreise, die ineinander ruhten. Jeder potenzielle Eindringling würde zuerst fünf gut befestigte Abwehrreihen nacheinander überwinden müssen, die an sich schon Festungen glichen.

 

Der Raum zwischen den Mauern wurde von ordentlichen rechteckig angelegten Feldern und Farmen genutzt. Hinter den sicheren Mauern konnte die Stadt die Versorgung mit frischen, nicht-synthetischen Lebensmitteln ermöglichen. Ich betrachtete das spinnwebartige Netzwerk aus Straßen, die vollkommen gerade Strecke der Einschienenbahn und die himmelblauen Wasserkollektoren, die gespiegelten Hemisphären der Ökokuppeln mit den Pflanzschulen und die grasenden Herden, die Staubwolken aufwirbelten. Das Gebiet innerhalb der Mauern glich einem kleinen Land. Wir flogen weiter, und es war kein Ende in Sicht.

 

Was die Stadt selbst anging … Als sie erstmals am Horizont aufgetaucht war, hatte ich meinen Augen nicht trauen wollen. Mir war, als würden wir in die glorreiche Vergangenheit unseres Planeten zurückkehren. Die spiegelnden Wolkenkratzer aus Stahl und Glas, die Viadukte und Einschienenbahnen, der endlose Strom bunter Autos auf den mehrstufigen Straßen, das Aufblitzen von Neon und riesiger holografischer Werbeanzeigen. Es kam mir beinahe so vor, als hätte Utopia hier nie aufgehört zu existieren.

 

All diese urbane Opulenz wurde durch die gegabelte Spitze eines dünnen Turms gekrönt, die in der Wolkenschicht über uns verschwand.

 

Esther warf mir einen Seitenblick zu. »Beeindruckend, nicht wahr?« Sie grinste breit. »Das ist schon was anderes als unsere Clantürme. Willkommen in der Stadt.«

 

Ich hörte ihr nicht mehr zu, da meine Aufmerksamkeit von einem winzigen blinkenden Symbol in der Ecke meines Sichtfelds gefesselt wurde. Die zweite Videobotschaft meines alten Ichs – die, die ich zusammen mit Mikos Aktivierungscode erhalten hatte – war endlich verfügbar.

 

Lies das, wenn du die Stadt erreichst.

 

Ich öffnete die Datei.

 

 

 

 

Einschub: Die Stadt

 

 

 

GENAU WIE DIE ERSTE DATEI war auch bei dieser das Video gelöscht worden. Ich hatte nur einen leeren Hintergrund mit flackernden Interferenzen vor mir. Die vertraute Stimme erklang - eine raue Männerstimme, die wie von einem fernen Echo leicht verzerrt wurde.

 

War das meine alte Stimme? Ich lauschte gespannt. Vielleicht fand ich heraus, wer ich war, indem ich versuchte, den Tonfall und die Eigenheiten des Sprechers zu identifizieren.

 

»Du hast die Stadt also erreicht? Gut gemacht. Braver Junge. Ich werde dir jetzt etwas zeigen. Sieh genau hin, und versuch, es dir zu merken. Was immer du nicht verstehst, kann Miko dir erklären. Sie ist ein kluges Mädchen und wird Bescheid wissen.«

 

Ein Bild erschien und nahm nun mein gesamtes Sichtfeld ein. Die Welt um mich herum – die Kabine, sogar Esthers unaufhörliches Geplapper – verschwanden im Hintergrund, als würde ich in diese Nachricht aus der Vergangenheit eingesaugt.