Der leise Tod - Axel Adamitzki - E-Book
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Axel Adamitzki

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Beschreibung

Eine Frau wird auf einem Parkplatz überfahren und getötet. Unfall mit Fahrerflucht? Kriminaloberkommissarin Sophie Nessbach glaubt nicht daran, doch sie steht allein mit dieser Einschätzung. Gegen alle Widerstände beginnt sie mit ihrer Arbeit und nach und nach tauchen ihre Ermittlungen ab in eine Zweisamkeit – über Jahre von der Toten und ihrer Tochter gelebt -, die am Rande der Normalität lag. Auch ein zweiter Mord sieht nach einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht aus. Aber die Kriminaloberkommissarin lässt sich nicht mehr beirren. Schließlich fügt sie gänzlich unterschiedliche Lebensziele zusammen und erkennt dabei die kranke Wahrnehmung des Mörders.

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Der leise Tod

 

Kriminalroman

 

 

 

Hinweis

 

Das vorliegende Buch ist eine komplett überarbeitete Ausgabe des Buches, das 2014 unter dem Titel »Sophie Nessbach und der leise Tod« erschienen ist. Inhaltlich gibt es keine Veränderungen.

 

Die Rechte an dem Werk liegen beim Autor. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors. Das nachfolgende Werk ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt, auch stimmen Orte und ihre Beschreibungen nicht mit der Wirklichkeit überein. Markennamen sowie Warenzeichen, die im vorliegenden Werk Verwendung finden, sind Eigentum ihres rechtmäßigen Eigentümers.

Alles ist Fiktion, gleichwohl – emotional und abstrakt betrachtet – wäre alles genau so möglich.

 

 

Beschreibung

 

Eine Frau wird auf einem Parkplatz überfahren und getötet. Unfall mit Fahrerflucht? Kriminaloberkommissarin Sophie Nessbach glaubt nicht daran, doch sie steht allein mit dieser Einschätzung. Gegen alle Widerstände beginnt sie mit ihrer Arbeit und nach und nach tauchen ihre Ermittlungen ab in eine Zweisamkeit – über Jahre von der Toten und ihrer Tochter gelebt -, die am Rande der Normalität lag. Auch ein zweiter Mord sieht nach einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht aus. Aber die Kriminaloberkommissarin lässt sich nicht mehr beirren. Schließlich fügt sie gänzlich unterschiedliche Lebensziele zusammen und erkennt dabei die kranke Wahrnehmung des Mörders.

 

 

Impressum

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors. Das nachfolgende Werk ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt, auch stimmen Orte und ihre Beschreibungen nicht mit der Wirklichkeit überein. Markennamen sowie Warenzeichen, die im vorliegenden Werk Verwendung finden, sind Eigentum ihres rechtmäßigen Eigentümers.

Alles ist nur Fiktion, und doch – emotional und abstrakt betrachtet – wäre alles genau so möglich.

 

Axel Adamitzki

Scheiblerstraße 81

47800 Krefeld

www.axel-adamitzki.de

 

Schlusslektorat: Bianca Weirauch, Weida

 

Bildnachweis: www.depositphotos.com

 

 

1

 

Sie wartete auf einem Parkplatz mitten im Wald.

Sie sah zur Uhr: 10:07.

Früher war er pünktlich.

Menschen ändern sich.

Sie schüttelte den Kopf.

Nein, er nicht.

Aber Halt!

Sie hatte von Depressionen gesprochen.

Mit geschlossenem Mund buchstabierte sie das Wort: D-e-p-r-e-s-s-i-o-n-e-n.

Sie schob die Bilder übereinander: Depressionen und ... ihn.

Kein Einklang!

Sie wurde unruhig, und sie sah sich um. Keine Spaziergänger, keine Autos, kahle Bäume, an dünnen Ästen vereinzelt verwelkte Blätter vom letzten Jahr und noch keine aufgesprungenen Knospen. Sie hörte einen Specht. Unablässig hämmerte der sein Begehren in einen Baum.

Ist das nicht zu früh? Anfang März?

Sie zuckte die Achseln, sie wusste es nicht.

Sie suchte ihn, die Augen wollten ihn fragen. Obwohl alle Bäume kahl waren, sah sie ihn nicht. Schade!

Ein Hund bellte irgendwo im Wald, ein Auto fuhr langsam vorbei, Dreißiger Zone, und verschwand in einer Kurve - hinter Kirschlorbeersträucher.

Wieder war alles still.

Was mache ich hier?

Ja! Was mache ich hier?

Die Antwort war so einfach und so kompliziert: Mein Leben retten.

Sie sah zur Uhr: 10:23.

Er wird nicht kommen, nein, natürlich nicht.

Angst stieg auf, und sie begriff langsam: Sie wird gehen. Nach Karlsruhe.Und ich kann es nicht verhindern.

Der Specht hämmerte unablässig. Es interessierte sie nicht mehr, denn sie hatte verloren - sie hatte sie verloren.

Wieder ein Auto, wieder langsam, und wieder fuhr es vorbei. Ihre letzte Hoffnung verschwand in der Kälte, in einer Kurve ... hinter Kirschlorbeersträucher.

Ich habe es nicht anders verdient.

Stimmt! Und jetzt?

Die Havel war so nah. Sie schüttelte den Kopf ... zu feige. Dabei müsste sie stark und mutig sein. Sei stark! Sei mutig! Sie wollte es herausbrüllen, doch es ging nicht, kein Aufbegehren - sie war zu schwach.

Und jetzt?

Und jetzt und jetzt! Ich weiß es nicht!

Ein hässliches Lächeln huschte ihr übers Gesicht, verschwand in ihren Gedanken.

Dann geh. Zurück. Ins Nichts.

Nein! Stopp! Warte!

Noch einmal schritt sie den leeren Parkplatz ab, bis ans Ende, bis in den letzten Winkel: Nichts ... natürlich nicht.

Wieder ein Auto, wieder langsam, sehr langsam, sehr, sehr langsam.

Sie drehte sich um.

Eine helle Limousine rollte auf den Parkplatz, blieb stehen. Das graue Tageslicht spiegelte sich in der Frontscheibe. Sie konnte den Fahrer nicht erkennen, aber er war es, sie wusste es, er war es.

Nichts war verloren.

Die Hände wurden feucht, das Herz begann zu rasen - nach so vielen Jahren.

Das Auto stand in der Einfahrt, es wartete.

Zögerlich, sehr bedächtig ging sie los.

Das Auto sah sie an.

Ihre Schritte wurden energischer. Das Hämmern in den kahlen Bäumen gab ihr Antrieb. Oh, du mein Specht!

Das Auto fuhr los, es hatte sie erkannt, es kam auf sie zu, und ... es wurde schneller.

Sie blieb stehen.

Es wurde schneller.

Wie angewurzelt stand sie da.

Es wurde schneller.

Was soll das?

Es wurde schneller. Schneller!

Und augenblicklich begriff sie.

Aber natürlich.

Sie lächelte. Zaghaft und mutig, verständnisvoll und mutig, duldend und so mutig.

Der Schlag gegen die Knie tat nicht weh. Eigenartig! Hastig veränderte sich ihr Blickwinkel. Kopfüber flog sie durch die Luft. Sie sah den grauen Himmel, sah Äste, sah den Schotterboden, sie roch den Schotterboden, ein Hauch von Moos, ein Hauch von Schlamm, ein Hauch von Blut. Neben ihrer Nase lag ein Kronkorken, eingedrückt im Schotterboden - er war verrostet.

Steh auf! Ihre innere Stimme unternahm einen verzweifelten Versuch.

Gleich noch einmal.

Steh auf!

Sie konnte nicht. Sie drehte sich um. Das ging! Es war nicht einfach, aber es ging.

Und sie wartete.

Steh auf! Ein letzter, zaghafter Versuch.

Es geht nicht, wirklich nicht!

Wozu auch? Es war nicht mehr wichtig, nein, es war nicht mehr wichtig.

Sie kapitulierte.

Der graue Himmel blendete sie. Sie drehte den Kopf. Und endlich sah sie ihn, sah sie den Specht.

Da bist du ja!

Sie war erleichtert, so erleichtert.

Die Limousine kam zurück, der Motor heulte auf, wurde lauter. Ein großer Schatten berührte sie. Ein großer Schatten ...

O mein Gott.

2

 

Es klingelte an der Wohnungstür.

Maria Stein saß am Schreibtisch, am Computer, Seminararbeit. Es war der 4. Juli 1630, Gustav Adolf, König von Schweden, war auf Usedom gelandet, der Dreißigjährige Krieg trat in eine neue Phase - sie konnte jetzt nicht zur Tür.

Es klingelte erneut.

Maria Stein verlor die Konzentration. Gustav Adolf war entsetzt, wurde böse, war es nicht gewohnt zu warten, nicht auf die Zeugen Jehovas, nicht auf die Paketpost.

Drei, vier Mal in der Woche schellte es am frühen Nachmittag an der Haustür, und es war immer für irgendwelche Nachbarn.

Es klingelte ein weiteres Mal.

Maria Stein speicherte ›Gustav Adolf‹ ab, stand auf, ging in den Flur.

Es klingelte wieder.

Jetzt reicht es! Sie wollte den Türöffner ... Nein! Sie nahm den Hörer ab, war gereizt.

»Ja?«

»Nessbach, Kriminalpolizei. Würden Sie uns bitte öffnen!« Eine Frauenstimme, jung, bestimmend und freundlich.

Kriminalpolizei? Maria Stein wiederholte das Wort. Stumm. Als Frage. Was will die Kriminalpolizei in unserem Haus? Bei uns?

Im Kopf tastete sie sich durch die Nachbarschaft: Hochparterre, links, rechts ... Familien mit zwei, drei Kindern.

Die Kinder?

Nein, glaub ich nicht.

Aber was wusste man schon. 1.OG? 2.OG? Diese Leute kannte sie nicht. 3.OG?

»Hallo, sind Sie noch da?«

»Ja! Zu wem möchten Sie?«

»Sind Sie Frau Maria Stein?«

»Ja.«

»Wir möchten zu Ihnen.«

Zu mir? Warum?, hätte sie fragen müssen, doch sie drückte geradewegs auf den Türöffner, sie gehorchte.

Sie öffnete die Wohnungstür, hielt sich am Türblatt fest, ... Polizei? ... hatte augenblicklich nasse Hände, und die Hände rutschten ab.

Sie trat einen Schritt in den Flur und hörte Schritte, auf der ersten, nein, höher, auf der zweiten Etage.

Schlechtes Gewissen bedrängte Maria Stein, und sie trat zurück in die Wohnung.

Schlechte Gewissen? Aber warum?

Warum, warum? Die Kriminalpolizei kommt nicht grundlos - zu niemandem.

Plötzlich drängten Ahnungen nach vorn, Vorkommnisse, die die Polizei interessieren könnten: Karlsruhe ... Kunststudium ... Christian ... und ... Sie verbot sich den nächsten Gedanken.

Unsinn! Warum sollte Sie das interessieren?

Richtig! Bleib ruhig.

Sie reckte den Hals, lauschte in den Flur.

Die Schritte kamen jetzt von der dritten Etage - sie waren schnell.

Sehr schnell. Zu schnell?

Am Ende waren sie gar keine ... Maria, was bist du dumm.

Maria Stein trat erneut einen Schritt in den Flur und sah sie jetzt. Sie waren zu zweit, und sie sahen normal aus. Aber wie sehen ...?

Eine abgrundtiefe Angst überfiel sie. Das Haus atmete Stille, niemand würde sie hören. Sie blickte auf die gegenüberliegende Wohnungstür. Frau Herzog war nicht da, kam erst spät - wie jeden Tag.

Sie waren fast oben, die Kriminalpolizistin und vor ihr ein Mann, riesig, durchtrainiert, blonde Glatze, drei- Millimeter-Haare.

Nein - nein - nein!

Maria Stein flüchtete in die Wohnung, warf die Tür zu, zitterte, die Beine, die Hände, ein Leberfleck unter dem rechten Wangenknochen jagte auf und ab.

Sekunden vergingen.

»Frau Stein, würden Sie bitte öffnen!«

Maria Stein blickte durch den Türspion. Die Polizisten standen mitten im Flur, sahen normal aus, und sie hielten ihr die Dienstausweise entgegen.

Sie sah die Stempel, sah den Berliner Bären.

»Frau Stein, wir haben Ihnen etwas mitzuteilen und würden es nur ungern von hier aus ... Bitte, öffnen Sie.«

Eine Mitteilung? Nur eine Mitteilung?

Sie blickte durch den Türspion. Unentwegt.

Die beiden Polizisten standen wie angewurzelt im Flur. Die Kriminalpolizistin war jung, sah verschwiegen aus, sah freundlich aus. Wie eine Freundin. Eine Freundin? Was für ein absurder Gedanke.

Sie war älter als Maria Stein; drei, vier, fünf Jahre, vielleicht war sie auch schon über dreißig.

»Frau Stein, bitte!«

Maria Stein war unsicher, war allein und hilflos. Die Dienstausweise verharrten in der Luft. Und endlich ... War es der Berliner Bär? Oder waren es die freundlichen und bestimmenden Augen der Kriminalpolizistin? Sie wusste es nicht, aber sie beruhigte sich. Außerdem, jetzt fiel es ihr auf: Sie kannten ihren Vornamen.

Maria Stein öffnete die Tür.

Und sie wartete.

Auf die Mitteilung.

»Ich bin Kriminaloberkommissarin Nessbach und das ist mein Kollege, Kriminalhauptmeister Geller.«

Der Riese nickte bei der Erwähnung seines Namens.

Beide standen in der Mitte des Flurs. Sie schwiegen und warteten sichtlich gespannt auf eine Reaktion. Die Dienstausweise verharrten noch immer hypnotisierend in der Luft, waren die Brücke, über die Maria Stein gehen sollte.

Die Oberkommissarin beobachtete sie aus wachen Augen, nichts entging ihr. Maria Stein musste vorsichtig sein. Sie war nicht geübt im Empfangen von Mitteilungen. Und endlich streckte sie den Arm aus.

»Darf ich?«

Sie wollte den Dienstausweis genauer betrachten. Die Oberkommissarin ignorierte den Arm, akzeptierte den Wunsch, trat einen Schritt auf sie zu und hielt ihr den Ausweis auf Armeslänge entgegen.

 

Im Haus klappte eine Tür, ein Kind quengelte, eine Frau erhob die Stimme, sie klang gereizt. Eine Nachbarin. Sie wohnte schräg unter ihnen, Maria Stein kannte sie nicht näher. Allenfalls »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«.

Maria Stein beobachtete die Polizisten, die wirkten nicht irritiert, blieben ruhig, ließen sie nicht aus den Augen.

Schließlich ging sie zur Seite, ließ die Polizisten eintreten.

Sie blieben an der Tür stehen.

Und warteten.

Die Oberkommissarin blickte den Flur entlang. Die Küchentür stand offen. Gemeinsames Leben fand in der Küche statt, öffentliches Leben gab es nicht, aber das konnte sie nicht wissen.

Maria Stein hielt sich an der Wohnungstür fest und plötzlich kam die Angst zurück ... einer Welle gleich.

Dienstausweise sind nur ein Stück Papier.

Sie musste handeln, und sie überwand ihre Ungeübtheit.

»Bitte, was haben Sie mir mitzuteilen?« Ihre Stimme klang fremd. Hölzern. Das erschreckte sie.

»Können wir irgendwo ...« Die Oberkommissarin deutete auf die offene Küchentür.

Maria Stein schüttelte zaghaft den Kopf und hielt sich am Türblatt fest. Für eine Mitteilung muss man sich nicht setzen. Eine Mitteilung ist ein Satz, vielleicht eine kurze Erklärung, in jedem Fall bedarf sie keiner Antwort, ging es Maria Stein durch den Kopf. Außerdem wollte sie behänd wieder allein sein, zurück zu ...

Die Oberkommissarin räusperte sich.

»Es tut mir leid, ich muss Ihnen eine bedauerliche Mitteilung machen.«

Stille.

Maria Stein begriff nicht. Bedauerlich? Wann ist etwas bedauerlich? Bedauerlich für mich? Bedauerlich für die Polizistin? Bedauerlich für uns beide?

Was für Gedanken.

Sie hob den Kopf, starrte die Oberkommissarin an. Aus weichen Augen erwiderte die Polizistin den Blick.

»Ihre Mutter hatte einen Verkehrsunfall.«

Die Mitteilung!

Erneute Stille.

Maria Stein senkte den Kopf, der Blick tauchte ab, suchte irgendwo einen Halt. Und im nächsten Moment vernahm sie, einem Schlag, einem Tiefschlag gleich, eine unfassbare Endgültigkeit.

»Ihre Mutter ist ihren Verletzungen noch an der Unfallstelle erlegen.«

Maria Stein sah die Oberkommissarin aus leeren Augen an, die Schultern sanken nach unten, die Beine begannen erneut zu zittern. Maria Stein ließ das Türblatt los, wollte in die Küche, wollte sich setzen, einfach nur setzen, nicht denken, das Gehörte an der Tür zurücklassen, machte einen Schritt und sackte zusammen - fiel der Oberkommissarin direkt in die Arme.

3

 

Sebastian lag auf dem Bett. Nackt. Verschwitzt. Neben ihm atmete Susanne, Anfang zwanzig, fast genau drei Jahre jünger als er. Er kannte sie kaum, und es war auch ohne Belang. Bis heute.

Ihre Körper vertrauten einander, ihre Körper brauchten einander - seit zwei Jahren.

Susanne stand auf, sah ihn an, lächelte. Ihre Brustwarzen hatten sich beruhigt. Er schaute zu, wie sie stolz durch das Hotelzimmer schritt. Ihre weißen Pobacken glänzten im Halbdunkel wie tanzende Lichter in der Nacht.

Wortlos ging sie ins Bad. Wasser rauschte. Sie wusch sich: die Hände ... die Brüste ... den Spalt.

Er sah es nicht, er wusste es. Er schloss die Augen, die Bilder erregten ihn.

Sie kam zurück und kramte in ihrer Tasche. Er richtete sich auf und stützte sich auf einen Ellenbogen.

»Willst du schon gehen?«

Sie hob den Kopf, blickte auf seine Erregung, lupfte eine Augenbraue.

»Ich kann dich doch so nicht liegen lassen.«

Er ließ sich auf den Rücken fallen, erwartete sie, und sie kam. Sie setzte sich rittlings auf ihn, beugte sich vor und küsste ihn gierig. Nur einen Moment. Und sie richtete sich wieder auf. Ihre kleinen Brüste drängten nach seinen Händen.

Wortlos vergingen die nächsten Minuten. Sie verloren sich im Lärm ihrer Begierden.

 

»Wann fliegst du zurück?«

»Gegen sechs.«

Susanne vernahm die Antwort mit vollkommener Gleichgültigkeit, stand auf, ging erneut ins Bad und schlüpfte schließlich in ihren Slip.

»Was wolltest du eigentlich in Berlin?«

»Ich hatte etwas zu erledigen.«

Sie erwartete keine Erklärung, hörte kaum zu.

Doch hätte sie zugehört, und hätte sie ihn angesehen, dann hätte sie ... Seit heute wollte Sebastian mehr als dieses Hotelzimmer, mehr als diese wenigen Stunden alle zwei, drei Wochen.

Aber er wusste nicht, wie man eine Frau wirklich kennenlernt, wie man ihre Beachtung für sich gewinnt - Sebastian Vogt wusste nicht, wie man eine normale Beziehung beginnt und lebt.

Heute hatte er vieles geändert. Verändert. Er hatte Mut bewiesen, hatte seinen Schatten verlassen, war stark gewesen, sehr stark.

Doch hier versagte er.

Susanne war die erste Frau, die ihn wahrlich faszinierte. Dabei war sie noch so jung. Aber sie wusste, was sie wollte ... glaubte er. Manchmal ihn, manchmal.

Alle anderen Frauen waren langweilig: Brüste und Spalten, loser Zeitvertreib.

 

Er blieb stumm.

Susanne streifte ihr T-Shirt über nackte Haut. Sie schien seine Absichten nicht zu spüren, natürlich nicht. Sie kramte in ihrer Tasche.

Er stand auf, ging zum Fenster und schob die Gardinen zur Seite. Die Stadt hatte sie wieder. Trübes Tageslicht eroberte den Teppichboden, eroberte das Bett.

Susanne war angezogen. Sebastian stand nackt vor ihr, ohne Erregung - alles hat seine Zeit.

Sie kramte erneut in ihrer Tasche.

»Was suchst du?«

»Ich kann mein Handy nicht finden.«

»Willst du meins ...?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich denke, es liegt im Auto.«

Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er nahm sie in den Arm. Sie verspannte sich, der Rücken wurde starr. Er ließ sie los.

»Kommst du am Wochenende nach London. Ich könnte ein Ticket hinterlegen lassen. Wie letztens.«

»Ich weiß nicht. Ich melde mich.«

Sie strich ihre Jacke glatt, vertrieb den Schatten seiner Arme, und sie ging.

Er sah zur Tür.

Sie war weg.

 

Sebastian Vogt dachte nach.

Heute war es anders, heute fehlte sie ihm. Heute hätte er gern den Rest des Tages mit ihr verbracht, nicht hier, irgendwo - vielleicht sogar unter Menschen. Nur wo? Er dachte nach, doch ihm kam keine Idee.

Er ging duschen, hielt das Gesicht in den Wasserstrahl, konnte kaum atmen, zog den Kopf zurück, wollte nicht ertrinken, nicht hier, nicht heute.

Er packte zusammen: verschwitztes Hemd, gebrauchte Boxershorts, verschwitzte Hose.

Und er zog sich an: frisches Hemd, frische Boxershorts, frische Hose.

Er ging zur Tür.

Sah sich nicht um.

Was für ein Tag.

4

 

Sophie Nessbach saß am Küchentisch, neben ihr die junge Frau. Für die Oberkommissarin war es eine ungewohnte Situation. Ungewohnt, nicht unbekannt, auch nicht alltäglich, nur ungewohnt und ... hässlich.

Verkehrsunfall!

Die junge Frau, Maria Stein, hatte einen Moment benötigt, hatte den Begriff langsam zu einem Vorgang geformt, im Kopf modelliert. Aus Angst war Entsetzen geworden, und sie war der Oberkommissarin bewusstlos in die Arme gesackt.

Sophie Nessbach war nicht darauf vorbereitet gewesen, doch Geller hatte blitzschnell reagiert, hatte sie beide gepackt, hatte seine Muskeln spielen lassen und hatte sie hochgehalten, Sophie Nessbach auf Zehenspitzen, dicht gedrängt neben der Getorkelten und neben seinem Hals, neben seinem billigen Aftershave.

»Jetzt ist es gut, Geller. Lassen Sie mich runter. Ich hab sie. Packen Sie hier ...«, hatte sie gesagt. Und Geller hatte sie losgelassen, das billige Aftershave war neben ihr versandet.

Er hatte Maria Stein gepackt, hatte sie auf seine Arme gezogen ... ganz leicht. Doch die junge Frau war rasch wieder zu sich gekommen.

»Lassen Sie mich.« Sie hatte sich gewehrt.

Geller hatte sie abgesetzt, hatte sie neben der Garderobe grob vorsichtig an die Wand gedrückt.

Sophie Nessbach hatte wieder die offene Küchentür gesehen, den Küchentisch, einen Stuhl und sie waren langsam mit der jungen Frau in die Küche gegangen.

Und hier saßen sie.

Maria Steins Oberkörper wog hin und her, und hin und her. Sie hatte die zitternden Hände im Schoß vergraben, und sie badete in kaltem Schweiß, ihr hellblaues Herrenhemd war nass, klebte auf den Schultern, am Rücken, auf den Brüsten - ein Büstenhalter bewachte ihre Würde.

Sophie Nessbach wollte helfen, doch sie hielt sich zurück, blieb neutral. Sie hatte die Tote gesehen, die Mutter, die grausam entstellte Leiche. Das war kein Unfall gewesen. Auch wenn man auf dem Kommissariat anderer Ansicht war.

Kriminalrat Lummer hatte Sophie Nessbach fünf Tage gegeben. »Ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht«, hatte er gesagt. Er hatte die Leiche nicht gesehen, hatte die mögliche Abfolge der Tat nicht zur Kenntnis genommen, hatte nur kurz von seinen Statistiken aufgeblickt, von seinen Memos, von seinen amtlichen Vorgängen, die verteilt auf seinem Schreibtisch einen arbeitsamen Eindruck vermittelten. »In fünf Tagen haben Sie ein Ergebnis oder die Ermittlungen gehen zurück an ›Verkehr‹.«

In fünf Tagen stimmte seine Statistik wieder.

So oder so.

 

Maria Steins Oberkörper wog noch immer hin und her, und hin und her. Sophie Nessbach hielt sich weiter zurück, betrachtete die junge Frau, machte sich ein erstes Bild.

Maria Stein war schlank und jung, Anfang zwanzig, der blonde Pagenkopf hatte seine Ordnung verloren, klebte strähnig im Schweiß.

Trug man das wieder: Pagenkopf? Offensichtlich.

Der Leberfleck unter dem rechten Wangenknochen raste auf und ab. Maria Stein schien erregt, die Nerven angespannt, und ihre braunen Augen blickten groß und rund ins Nichts. Sie war weit weg.

Sophie Nessbach musste warten. Geller stand gelangweilt und desinteressiert an der offenen Terrassentür.

Auf der Straße lachten Kinder, sprachen laut und johlend, übertönten einander ... und lachten wieder.

Irgendwo fuhr ein Auto los.

Sophie Nessbach hasste dieses Warten. Nicht zuletzt diese Schwäche hatte sie hierhergebracht, hier, nach Berlin, und hatte zudem für einen abrupten Knick in ihrer Karriere gesorgt. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.

»Frau Stein, sollen wir jemanden benachrichtigen?«

Die Frage verschwand ungehört in den Wänden. Maria Steins Oberkörper wog weiter hin und her, und hin und her.

»Vielleicht sollten wir einen Arzt ...?«

Die junge Frau schüttelte augenblicklich den Kopf.

Oh! Sieh mal einer an. Maria Stein war ganz nah.

Sophie Nessbach stand auf, ging zum Kühlschrank, ging zum Küchenschrank, ließ Maria Stein nicht aus den Augen. Ihr Oberkörper beruhigte sich langsam.

Was ist das hier? Ein Spiel? Eine Vorführung? Gedanken, die Sophie Nessbach beschlichen. Sie stellte ein Glas Wasser auf den Tisch.

»Hier! Trinken Sie, Frau Stein. Es wird Ihnen guttun.«

Maria Stein schüttelte unmerklich den Kopf. Sie vergrub die Hände tiefer im Schoß.

»Ich möchte ins Bad.«

Ihre Augen hielten sich am Glas fest, und sie wartete. Wie ein Kind. Oder ... wie eine Beschuldigte?

Sophie Nessbach nickte.

»Bitte, es ist Ihre Wohnung. Soll ich Sie begleiten?«

»Nein ... Danke.«

Maria Stein stand zittrig auf, verließ die Küche und ging gebeugt den Flur entlang. Hatte die Nachricht sie zerbrochen?Schon möglich.

Ihre Schritte waren sacht und lautlos. Sie verschwand hinter einer Tür auf der linken Seite. Die Tür wurde verriegelt. Sophie Nessbach ging eilends und lautlos hinterher. Sie horchte an der Tür: Wasser plätscherte.

Es gab keinen Grund, der jungen Frau zu misstrauen. Sophie Nessbach misstraute ihr. Maria Stein hatte noch keine Fragen gestellt:

Wie ist es passiert? Was genau ist passiert? Wer ist schuld? Wo ist meine Mutter? Kann ich sie sehen?

Nicht eine Frage.

Sie waren nun beinahe eine Dreiviertelstunde hier.

Maria Steins erste Worte aus der Gegensprechanlage hatten selbstsicher geklungen. Doch der Anblick der Polizisten hatte sie verwirrt, hatte sie leise werden lassen. Die Oberkommissarin hatte es deutlich gesehen. Es war nicht diese Unsicherheit, die Menschen zeigen, die sich unerwartet mit der Polizei konfrontiert sehen, diese Unsicherheit, die sie ohne Anschuldigung anklagt - das hier war anders.

Hat sie etwas mit dem Tod der Mutter zu tun? Ist der Zusammenbruch, das Zittern, die Unsicherheit eine einzige Inszenierung?

Sophie Nessbach blickte den Flur entlang: drei Türen auf der rechten Seite, die Wohnungstür auf der anderen und ganz hinten, geradezu, die Küchentür. Geller war nicht zu sehen. Er war keine Hilfe.

Sie drehte sich um. Ein paar Schritte weiter gab es noch eine Tür, die stand offen. Sophie Nessbach ging hin und blickte in den Raum:

ein Bett,

ein Schrank,

ein Regal ... voller Bücher und Ordner,

ein Schreibtisch,

ein Stuhl.

Alles war an seinem Platz, war aufgeräumt, sogar die aufgeschlagenen Bücher auf dem Schreibtisch, neben dem Computer, wirkten aufgeräumt, unterstrichen eine nüchterne und befremdliche Ordnung.

Sophie Nessbach ging zurück und horchte: Das Wasser plätscherte noch immer. Sie blickte den Flur entlang:

Parkettfußboden,

weiße Wände, kahl, keine Bilder,

ein beigefarbener Regenmantel an der Garderobe,

ein schwarzer Stockschirm im Schirmständer,

ein Paar weiße Sandalen, ordentlich nebeneinander,

ein Paar rote Ballerinas, ordentlich nebeneinander.

Ihr ging augenblicklich ein düsterer und erschütternder Gedanke durch den Kopf: Überwachte die Ordnung hier das Leben?

Das Wasserplätschern brach ab, es wurde ruhig im Bad. Die Oberkommissarin ging rasch und leise zurück in die Küche.

Geller stand an der Terrassentür und blickte hinaus.

»Traumhafte Terrasse, hier, mitten in Berlin.«

Was für ein Idiot! Ein Gedanke, der Sophie Nessbach nicht leidtat, der nur zeigte, was sie von ihrem Mitarbeiter in den nächsten Tagen erwarten durfte. Aber auch darüber wollte sie jetzt nicht weiter nachdenken. Maria Stein würde gleich wieder zurück sein. Sophie Nessbach stellte sich unauffällig neben ihren Kollegen, hatte noch immer die überwachende Ordnung vor Augen und ließ den Blick über die riesige Dachterrasse streichen. Und sie bemerkte es sofort, die Ordnung setzte sich hier fort:

Links ein runder Gartentisch, sorgsam mit einer Plastikhaube abgedeckt; daneben vier Gartenstühle, ineinander gestellt, die festgebunden auf eine neue Sommersaison warteten; unter dem Tisch ein Holzkohlegrill, kopfüber; und geradezu, an der Brüstung, sieben Terrakottakübel, unbepflanzt und exakt ausgerichtet.

Nichts stand einfach nur herum, nirgends ein verwelktes Blatt, nirgends ein verendetes Ästchen, keine vergessene Gießkanne - nirgends ein Zufall.

Was ist das hier?

5

 

Ich habe getötet. Das erste Mal.

Es war einfach, ganz einfach.

Ich will sie noch einmal hören, diese drei Worte:

Ich ... habe ... getötet.

Sie wärmen.

Was für ein erhabenes Gefühl: Töten! Eine Auseinandersetzung von unzweideutigem Ausmaß. Ein Ergebnis von sorgsamer Planung, von natürlicher Größe. Von meiner Größe.

Wie fühle ich mich?

Ich horche nach innen. Ich bin völlig ruhig.

Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wie ich mich danach fühlen würde, denn es musste einfach getan werden.

Rasch.

Und ich musste es tun.

Für mich.

Für uns.

Für alle.

 

Ich habe getötet. Kein Mord, nein, es war nur ein Töten - und es ist vollbracht.

Alles verändert sich. Alles bleibt. Endgültig. Unwiderruflich.

Mein Plan war genial. Er war einfach und ... bestechend, eben genial.

Doch, halt! Stopp!

Mach jetzt keinen Fehler. Auch das gehört zum Plan: zurück ins Leben, in mein Leben, in unser Leben, zurück in die Normalität.

Aber geht das überhaupt?

Du fragst? Wie fühlst du dich?

Gut, sehr gut.

Siehst du! Töten ist Teil unserer Normalität - es ist ... es ist menschlich. An jeder Ecke töten wir einander, ob gedanklich, durch Worte oder wahrhaftig - wir töten einander.

Und ich will dir noch etwas sagen: Es ist gut, dass es so ist.

Aber Schluss jetzt, ich gerate noch ins Schwärmen, ins Philosophieren. Und außerdem: Ich muss mich nicht erklären.

Ich habe getötet. Und das war nicht nur normal, das war gerecht.

6

 

Sophie Nessbach hörte Schritte. Maria Stein erschien und blieb in der Küchentür stehen.

»Woher wissen Sie, dass es meine Mutter ist?«

Die erste Frage.

»Ihr Personalausweis!«

»Ich möchte sie sehen.«

»Ja, natürlich. Eine Identifizierung ist sowieso unerlässlich. Aber trauen Sie sich das heute schon zu?«

Sophie Nessbach bluffte. Heute gehörte die Leiche der Gerichtsmedizinerin, heute, und vielleicht auch noch morgen.

Doch Maria Stein kam ihr zuvor. Sie schüttelte aufgeregt und heftig den Kopf. Erst jetzt schien sie die Tragweite ihrer Forderung zu begreifen, schien sie ein Szenario vor Augen zu haben, das sie vielleicht vom Hörensagen oder aus Filmen her kannte, das die Wirklichkeit aber sicher nur unzulänglich beschrieb. Die Wirklichkeit war schlimmer, sie war wahrhaftig, unumkehrbar.

»Nein, heute nicht.« Sie holte tief Luft. »Aber warum ... ich meine, warum Kriminalpolizei? Kommt bei einem Verkehrsunfall automatisch die Kriminalpolizei?«

Sophie Nessbach schwieg.

Warum sagte sie es nicht? In groben Zügen, wie es üblich war? Doch sie schwieg. Die junge Frau tat ihr leid. Sie wirkte augenblicklich so zerbrechlich.

Oder war das alles nur gespielt?

Sophie Nessbach brauchte Zeit.

»Können Sie Ihren Vater irgendwie erreichen? Oder einen Verwandten oder –«

»Wir leben allein. Meine Mutter und ich.« Maria Stein unterbrach sie heftig, schien missmutig. »Und bevor Sie jetzt noch weitere unnütze Fragen stellen: Es gibt keine Verwandten, es gibt auch keine Bekannten. Und im Übrigen haben Sie meine Frage noch nicht beantwortet: ›Warum Kriminalpolizei?‹.«

Maria Stein sah die Oberkommissarin fordernd an. Mit weit aufgerissenen Augen wartete sie.

Zerbrechlich?

Nein!, wirklich nicht.

»Nun, wir gehen davon aus, dass der Autounfall absichtlich herbeigeführt worden ist.«

Wir? Wie konnte Sophie Nessbach sich nur so versteigen, wie konnte sie den Plural benutzen. Sie! Allein sie ging davon aus. Nur sie! Nicht einmal Geller erwog diese Möglichkeit. Wie auch, er war ihr zugeteilt. Bis Freitag. Fünf Tage. Deshalb war er hier.

Stille.

Sekundenlang.

Wieder raste der Leberfleck unter Maria Steins rechtem Wangenknochen auf und ab.

»Absichtlich? Sie meinen ... Mord?«

»Ich sagte absichtlich. Mehr wissen wir zur Stunde nicht. Es tut mir leid. Gibt es vielleicht doch jemanden ...?«

Maria Stein schüttelte blicklos den Kopf, schien leidlich gefasst. Sie stützte sich am Türrahmen ab. Geller machte zwei Schritte. Maria Stein hob eine Hand, streckte sie aus und hielt sie ihm abwehrend entgegen. Geller blieb stehen und drehte sich weg. Maria Stein ließ die Hand wieder sinken.

»Und wo?«

»Was meinen Sie?«

»Wo ist es passiert? Hat es jemand gesehen?«

Das Äußere der jungen Frau schien noch immer zerbrechlich, aber ihre Stimme klang urplötzlich hart. Und nüchtern.

Und sie wartete hartnäckig auf eine Antwort.

Doch es kam eine Frage:

»Wo ist Ihre Mutter montags vormittags üblicherweise?«

»Arbeiten!«

»War heute etwas anders?«

Maria Stein schloss die Augen, sie war erregt, versuchte offenkundig, sich zu beruhigen. Es misslang:

»Wo ... ist ... es ... passiert?«

Laut und kalt. Diese Worte. Was für eine merkwürdige Veränderung, eben noch klein und unschuldig und jetzt laut und kalt.

Die Oberkommissarin zögerte, betrachtete die junge Frau, und sie blieb stumm.

Maria Steins Blick wanderte von der Oberkommissarin zu ihrem Kollegen. Doch Geller fühlte sich nicht einbezogen, stand gelangweilt neben der Oberkommissarin, die Hände in den Taschen. Er wendete sich ab und ging zurück zur Terrassentür, betrachtete wieder die riesige Außenfläche.

»Auf einem Parkplatz an der Havelchaussee.«

»Havelchaussee?«

Lautes Empören. Maria Stein schüttelte den Kopf, um deutlich zu machen, dass diese Äußerung völlig sinnlos war.

»Meine Mutter arbeitet am Ernst-Reuter-Platz. Wie soll sie zur Havelchaussee gekommen sein? Wir haben kein Auto.«

Sagen Sie es uns?, wäre die passende Erwiderung gewesen. Sophie Nessbach schluckte sie herunter. Zumindest heute.

Vielleicht hatte die junge Frau etwas mit dem Tod ihrer Mutter zutun, vielleicht sogar sehr viel, doch noch gab es keine Beweise, noch gab es nicht einmal einen Anhaltspunkt, einen Anfangsverdacht, noch war sie eine Tochter, die auf furchtbare Art und Weise die Mutter verloren hat.

»Wir wissen es noch nicht.«

Maria Stein drehte sich um, lief davon, den Flur entlang.

»Sie irren sich!«

Geller wollte ihr folgen, die Oberkommissarin gab ihm ein unmissverständliches Zeichen. Wir bleiben hier! Wir warten ab!

Maria Stein kam langsam zurück. Sie hatte ein schnurloses Telefon am Ohr.

»Maria Stein hier, könnte ich bitte meine Mutter sprechen? ... Und wo ist sie? ... Danke. Ich versuche, sie auf ihrem Handy zu erreichen.«

Maria Stein wählte eine andere Nummer. Sie stand in der Küchentür und wartete lange; schließlich ließ sie den Arm mit dem Telefon sinken.

»Die Mailbox.«

Sophie Nessbach hörte wieder Verzweiflung, und sie sah wieder Verzweiflung.

Gespielt? Vielleicht.

Maria Stein wirkte unruhig, wollte zur Terrassentür. Geller stand ihr im Weg, beanspruchte den Platz, war wirklich ein Idiot.

Maria Stein wendete sich ab, ging zum Küchenschrank, öffnete eine Tür, blickte in den Schrank, öffnete eine weitere Tür und ließ schließlich den Blick fallen. Sie schien zu überlegen.

Die Oberkommissarin wartete. Stellte keine Fragen.

Es gab niemanden, wie Maria Stein sagte. Nur Mutter und Tochter. Und doch hatte irgendjemand Elisabeth Stein gehasst, furchtbar gehasst. Die Spuren am Tatort waren eindeutig gewesen.

Maria Stein drehte sich um, sah Sophie Nessbach an. Ihr Gesicht wirkte versteinert.

»Ich habe Angst. Meine Mutter wurde ... Vielleicht bin ich die Nächste?«

Was für ein absurder Gedanke. So analytisch und kalt.

War der Zusammenbruch an der Tür echt gewesen? Oder wollte sie nur Zeit gewinnen? Nachdenken? Die richtigen Fragen stellen? Sich richtig darbieten, richtig inszenieren?

Denn ... wo war die Trauer um die tote Mutter?

Maria Stein war nicht dumm. Im Gegenteil. Offensichtlich hatte sie es von Anfang an durchschaut: Ein einfacher Verkehrsunfall passte wirklich nicht zu ›Kriminalpolizei‹.

Spielt sie mit mir?

Die Oberkommissarin wusste es nicht, noch nicht. Aber eines war augenfällig: Maria Stein wollte ablenken. Doch wovon?

Sophie Nessbach stemmte sich dagegen. Ganz leicht.

»Vielleicht können Sie mir dann jetzt doch noch ein paar Fragen beantworten?«

Maria Stein reagierte nicht, die Oberkommissarin ignorierte es.

»War heute etwas anders?

War Ihre Mutter verändert?

War in der letzten Zeit etwas anders?«

Maria Stein sah die Oberkommissarin durchdringend an.

»Verstehen Sie nicht: Ich habe Angst! Ich kann hier nicht bleiben.«

Die Oberkommissarin ließ nicht locker.

»Wurden Sie bedroht?

Wurde Ihre Mutter bedroht?

War heute etwas anders?«

»Nein, nein, nein! Es war wie immer. Wir haben gefrühstückt, meine Mutter hat dann wie immer kurz nach sieben die Wohnung verlassen. Ich bin ins Bad und anschließend an den Schreibtisch. Nichts war anders, auch nicht in den letzten Tagen.«

»Gab es anonyme Anrufe?«

Maria Stein schüttelte den Kopf, biss sich auf die Unterlippe, und sie schwieg.

»Keine merkwürdigen Anrufe?«

Wieder nur Kopfschütteln und einen fest verschlossenen Mund.

Dieses Zeichen war eindeutig. Heute würde es keine Antworten geben. Aber Sophie Nessbach hatte viel gesehen: Besonnenheit, Angst, Ungereimtheiten und ... Klugheit.

»Sie sollten sich jetzt ausruhen. Hier in der Wohnung sind Sie sicher. Aber sie sollten nicht allein bleiben. Nicht heute.«

Maria Stein zögerte. Drehte suchend den Kopf, sah das Mobiltelefon, nahm es und wählte eine Nummer.

Sekunden vergingen.

»Nadine? Ich bin‘s, Maria. Kannst du vorbeikommen? ... Meine Mutter hatte einen Verkehrsunfall! ... Nein. Sie ist tot! ... Nein. Zu Hause. Die Polizei ist gerade hier. Sie sagen, sie wurde absichtlich überfahren. ... Ja, Mord! Ich habe Angst! ... Ja! Danke. Bis gleich.«

Maria Stein legte das Telefon zurück auf den Tisch.

»Eine Freundin. Sie wird gleich hier sein.«

Sophie Nessbach war beruhigt, und sie war überrascht.

Eine Freundin?

Und Geller machte einen Fehler:

»Ich denke, es gibt niemanden?«

Die Oberkommissarin wurde ärgerlich.

Maria Stein sah Geller böse an. Doch sie sagte nichts.

Sophie Nessbach ging in den Flur.

»Ich komme morgen noch einmal wieder. Es gibt noch viele Fragen. Ach eines noch: Hatte Ihre Mutter ein eigenes Zimmer?«

Maria Stein wirkte plötzlich verwirrt.

»Ja, natürlich.«

»Lassen Sie mich nur eben einen Blick hineinwerfen.«

Die Oberkommissarin hatte keine offizielle Handhabe, durfte hier nichts verlangen. Für Polizeirat Lummer war es ein Verkehrsunfall - ohne Anfangsverdacht -, war diese Arbeit Beschäftigungstherapie für eine ungewollte Mitarbeiterin.

»Morgen!«

Morgen? Nur ein Wort. Blicklos. Und wieder diese Kälte.

»Gut. Dann morgen. Aber ich bräuchte noch Ihre Handy-Nummer.«

Maria Stein presste eine Zahlenfolge durch die Zähne. Zweimal. Exakt gleicher Tonfall. Exakt gleicher Rhythmus. Exakt gleiche Lautstärke.

Sophie Nessbach ging durch den Flur, Geller folgte ihr. Sie gingen zur Wohnungstür. Die Oberkommissarin legte die Hand auf den Türgriff und zögerte.

»Erholen Sie sich jetzt erst einmal. Wenn etwas sein sollte ...« Sie reichte der jungen Frau ein Kärtchen. »Sie können mich jederzeit anrufen.«

Maria Stein nahm blicklos das Kärtchen entgegen.

»Ach eines noch«, sagte die Oberkommissarin, »welche Tür geht zum Zimmer Ihrer Mutter?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt ...«

»Ich möchte nur wissen, welche Tür es ist!«

Maria Stein sah sie misstrauisch an.

»Hier. Hinter uns.«

Sophie Nessbach drehte sich um, holte einen grünen Papierstreifen aus der Jackentasche, zog die Folie vom rückseitigen Klebestreifen ab und drückte den Streifen zwischen Tür und Türrahmen. Geller wollte seine Stimme erheben, doch die Oberkommissarin sah ihn kurz drohend an und wendete sich wieder an Maria Stein.

»Ich möchte nicht, dass bis morgen jemand diesen Raum betritt.«

Maria Stein kam näher. Betrachtete den Klebestreifen.

»Ich gehe nicht ins Zimmer meiner Mutter. Nie!«

Worte voller Abneigung. Und eine befremdliche Beichte: Mutter und Tochter lebten allein, nebeneinander - und offensichtlich weit voneinander getrennt.

Es klingelte.

Maria Stein griff zum Hörer der Gegensprechanlage:

»Ja? Nadine? ... Endlich!«

Ruhig und bestimmt öffnete sie die Wohnungstür.

»Dann bis morgen.«

7

 

Geller wollte endlich etwas sagen. Die Oberkommissarin wusste schon was ... aber sie gab ihm ein Zeichen: Ruhe! Später!

Sie lief behänd die Stufen hinunter. Kein Fahrstuhl. Ein Glück! Sie wollte diese Nadine allein erwischen, und sie wollte sich von ihrer hässlichen Seite zeigen. Guter Bulle, böser Bulle, in einer Person. Denn sie wollte eine Botschaft übermitteln.

Auf der zweiten Etage kam ihr eine junge Frau entgegen, hübsch, nein, eher schön, ungeschminkt ... naturbelassen schön; eine dieser Frauen, der man einen Sack überziehen kann und die damit einen neuen betörenden Look erschafft. Doch jetzt interessierten nur ihre Widerstände, ihre körperlichen Reflexe ... auf Provokationen.

Wie weit würde die Oberkommissarin gehen müssen?

»Sind Sie Nadine?«

»Ja?!«

Sophie Nessbach hielt ihren Dienstausweis hoch. Immer wieder entwaffnend.

»Ich bin Kriminaloberkommissarin Nessbach. Würden Sie mir bitte Ihren Nachnamen sagen!«

»Ott, Nadine Ott. Aber wozu -?«

»Und Ihre Anschrift, bitte.«

Nadine Ott war überrascht. Blickte wieder und wieder auf den Dienstausweis und gab Auskunft.

Und es ging weiter so:

»Haben Sie Elisabeth Stein heute gesehen?«

»Eli... Sie meinen Marias -?«

»Wo waren Sie heute Vormittag?«

»Heute Vormittag ...?«

Nadine Ott stockte. Sie schien so schnell keine Worte zu finden.

»Frau Ott, beantworten Sie bitte meine Fragen? Wissen Sie nicht mehr, wie Ihr heutiger Vormittag ausgesehen hat?«

»Aber ...«

Drei, vier Fragen und Nadine Ott war überrumpelt.

Die Oberkommissarin hatte ein hässliches Register gezogen, nur ein Stück. Und schob es langsam wieder zurück.

Sie holte ein Kärtchen hervor.

»Frau Ott, seien Sie bitte morgen um zehn Uhr im Kommissariat. Ich erwarte dann Antworten. Und ich habe weitere Fragen.«

»Um zehn? ... Da muss ich arbeiten.«

»Das ist eine Vorladung, Frau Ott.«

Nadine Ott nickte. Sie schien massiv eingeschüchtert. In ihren Augen funkelte blankes Entsetzen.

Sie wird sich empören.

Gleich.

Oben.

Bei der Freundin.

Und beide werden nachdenken.

Später.

Allein.

Werden sich vielleicht Antworten zurechtlegen. Auch auf ungestellte Fragen.

Und werden Widersprüche von sich geben. Vielleicht unerhebliche, vielleicht erhebliche Widersprüche.

Morgen.

8

 

Maria Stein ging in den Treppenflur, hörte Stimmen. Die Oberkommissarin und ... Nadine.

Ich habe vielleicht eine Minute, dachte sie.

Sie ging zurück in die Wohnung, schloss leise die Wohnungstür, ging ins Bad, verriegelte die Tür und betätigte die Klospülung.

Sie drückte eine Kurzwahltaste und hielt das Mobiltelefon ans Ohr.

»Hallo?«

»Christian? Ich bin es.«

»Maria, schön dich zu ... Jetzt sag nicht, du kannst heute nicht.«

»Leider. Ich hatte völlig vergessen, dass Nadine kommen wollte.«

»Nadine?«

»Eine Freundin. Ich hab dir von ihr erzählt?«

»Hast du das?«

»Ja.«

»Wenn du meinst!«

»Ich komme morgen. Ganz bestimmt.«

»Na dann ...«

»Wie kommst du mit der Arbeit voran?«

»Geht so.«

»Komm, sei jetzt nicht sauer. Ich komme morgen. Ganz bestimmt.«

Es klingelte.

»Nadine steht an der Tür.«

»Dann viel Spaß.«

»Halt! Christian! Sag mir, dass du mich liebst!«

»Morgen.«

»Nein. Jetzt!«

Stille.

»Christian! ... Christian?«

Er hatte aufgelegt. Er war sauer. Er wusste nicht ... Maria Stein konnte es ihm nicht sagen. Es hätte alles verändert. Es hätte alles zerstört.

Sie steckte das Mobiltelefon in die Hosentasche. Betätigte erneut die Klospülung und verließ das Bad.

Nadine stand an der Wohnungstür.

»Maria, das ist ja schrecklich.«

9

 

Maria Stein saß am Küchentisch. Nadine saß ihr gegenüber, auf Elisabeths Platz.

Elisabeth war tot. Ermordet. Maria wollte es noch immer nicht glauben. Ihre Mutter würde nie wieder hier sitzen ... ihre Mutter lebte nicht mehr.

Gestern noch ... Stopp! ... Marias Gedanken wollten sich verirren ... Nicht jetzt! ...

Nadine hielt die Hände der Freundin. Seit einer halben Stunde saß sie neben Maria und hielt wortlos und gedankenverloren ihre Hände.

Nadines Hände waren eiskalt. Sie war offensichtlich bewegt. Tief bewegt. Und erschüttert. Das beruhigte Maria.

»Wer tut so etwas ... Mord? Haben sie schon eine Spur?«

Maria hob die Achseln und ließ sie fallen. Wieder stieg Angst auf ... Mord! ... Eine Wirklichkeit - so neu, so fremd, so ... endgültig.

»Genau genommen sprach sie nicht von Mord. ›Absichtlich herbeigeführt‹, waren ihre Worte. Aber was ist das schon anderes als Mord!«

Nadine drückte die Hände der Freundin, schien ihre Angst zu spüren, zu ahnen.

»Wie kann ich dir helfen?«

»Ich frage mich die ganze Zeit nach dem Warum? Ihr Tod ist so, so ... sinnlos. Außerdem ...

... Ich habe Angst. Vielleicht bin ich das nächste Opfer!«

Nadine begriff nicht.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß nicht. Ist so eine Ahnung.«

Nadine zog die Hände zurück.

»Was sagt die Polizei dazu? Oder hast du es nicht gesagt?«

»Doch, natürlich! Aber sie hat mich nur belächelt, diese Oberkommissarin.«

Nadine nickte, voller Zustimmung.

»Das sieht der ähnlich. Auf der Treppe hat sie mich überrumpelt. Und ich weiß noch immer nicht, was sie von mir gewollt hat.«

Stille.

Auf der obersten Dachkante des gegenüberliegenden Hauses zwitscherte eine Amsel, wartete einen Moment und flog davon.

Maria Stein musste etwas sagen, musste das Gespräch in Gang halten, wollte es in eine andere Richtung lenken.

»Zu mir war sie ganz zahm. Aber morgen will sie wiederkommen. Und sie will sich hier alles ansehen. Außerdem hat sie die Zimmertür versiegelt.«

Nadine nickte nachdenklich.

»Sie wird dann nicht mehr zahm sein, glaube mir. Sie wird in deinem Leben herumschnüffeln. Sie wird erst Ruhe geben, wenn sie alles von dir weiß. Von euch weiß.

Hat sie schon Fragen gestellt? Ich meine ... zu deinem Alibi?«

Maria schüttelte den Kopf und war plötzlich erregt. Nadine strich ihr über den Unterarm. Versuchte sie zu beruhigen.

»Richtig, sie war ja heute zahm! Entschuldige, aber das ist eine merkwürdige Umschreibung für diese Frau.«

Maria lächelte. Nadine gluckste.

»Ich soll morgen um zehn Uhr bei ihr sein. Ich weiß nicht einmal wozu. Vielleicht will sie mein Alibi.

Ich trau ihr das zu.«

Marias Gedanken brauchten Zustimmung, und sie sagte:

»Ich war hier. Den ganzen Morgen. Den ganzen Vormittag. Nur eben allein.«

»Ich denke nicht, dass diese Kommissarin ...«

Nadine ließ den Satz unbeendet, schien ihren Worten nicht mehr zu trauen, schien zu zweifeln.

Das Auftreten der Oberkommissarin hatte Spuren hinterlassen.

Maria Stein hob den Kopf und wechselte abrupt das Thema.

»Nadine, würdest du mir einen Gefallen tun?«

Nadine schwieg. Sie schien zu ahnen ... zu wissen ... was Maria wollte.

»Ich habe Angst ... vor der kommenden Nacht. Hier. Allein in der Wohnung. Diese Kriminaloberkommissarin wollte mich mit irgendwelchen Weisheiten beruhigen. Aber ich habe Angst. Bitte, Nadine, nur diese eine Nacht.«

Nadine schwieg.

In den letzten Monaten hatten sich die Freundinnen kaum gesehen. Elisabeth Stein hatte dafür gesorgt. ...Dieses Mädchen ist kein Umgang für dich! ... Maria hatte sich gefügt, hatte ihrer Mutter sogar recht gegeben, hatte dabei aber nur an Christian gedacht, von dem ihre Mutter nichts wissen durfte. Für ihn hatte sie den Kanon des Bösen mitgesungen. Jeden Tag.

Nadine war geopfert worden. Und es war so leicht gewesen, so einfach.

Nadine lebte anders. Sie hatte einen festen Freund. Immer wieder einen anderen. Elisabeth hatte von ›Liebschaften‹ gesprochen, alle drei, vier Monate eine neue. Nadine träumte von der großen Liebe, von dem großen Knall. Elisabeth sah nur die Zweiundzwanzigjährige, sah nur ... »DieHure, die die Beine seit fünf Jahren nicht mehr zusammenbekam.«

Der Kanon des Bösen.

Maria hatte laut mitgesungen.

Maria war eine schlechte Freundin. Bis heute, bis zu dieser Minute. Und ... sie würde eine schlechte Freundin bleiben, denn sie würde nichts erzählen, nichts von Christian, nichts von Karlsruhe, nichts von den anstehenden Veränderungen.

Nadine blickte auf.

»Und morgen?«

Maria atmete tief durch.

»Das wird sich zeigen. Morgen ist ein neuer Tag.«

Nadine dachte kurz nach, gab sich einen Ruck und nahm ihr Mobiltelefon heraus.

Sie wählte eine Kurzwahl.

Sie wurde laut. Wurde leise. Wurde liebevoll. Lächelte. Und legte auf.

»Aber nur eine Nacht.«

»Danke.«

»Hast du was zu trinken? Ich meine, was Anständiges.«

»Im Kühlschrank oder im Weinregal.«

Nadine ging zum Weinregal.

Maria trank einen Schluck Wasser. Heuchelte Interesse:

»Und, wie heißt er?«

»Claude.«

»Und?«

»Mal sehen.«

10

 

Langsam öffnete sich das Tor. Die Strahler am Weg und die Lampe vor der Villa leuchteten die lange Zufahrt aus. Ahornbäume links und rechts gaben dem Weg etwas Würdevolles.

Früher liebte Georg Weber diesen Anblick. Früher brannten Lichter in der Villa. Früher kam er nach Hause.

Heute war um diese Zeit nur Leben im Nebengebäude. Bei Isolde und Herrmann.

Er ließ die Limousine bedächtig über den Kies rollen. Der Klang eines erfolgreichen Tages ertönte unter ihm, neben ihm. Morgens hörte er das nicht, morgens hörte er Terminabsprachen, Umsatzzahlen, Preiskalkulationen - morgens fuhr er eilends.

Doch heute Vormittag hat sich der Blick auf die tägliche Hast verändert. Ein winziges Stück. Ein Anfang war getan.

Er hielt den Wagen vor dem Nebengebäude an. Er ließ den Motor laufen. Und er stieg aus.

Herrmann stand schon neben ihm.

»Sie sind heute früh dran, Herr Weber.«

»Ich weiß, Herrmann.«

Herrmann setzte sich auf den Fahrersitz. Er zog die Fahrertür zu. Georg Weber klopfte an die Scheibe. Herrmann öffnete die Fahrertür und wollte ...

»Bleiben Sie sitzen, Herrmann. Vielleicht wär Isolde so freundlich und würde mir noch etwas zubereiten. Vielleicht von der leckeren Lammkeule von gestern Mittag. Falls noch etwas davon da ist.«

»Sie ist schon dabei. In etwa dreißig Minuten wollte sie im Esszimmer servieren.«

»Sehr gut. Danke, Herrmann.«

Georg Weber ging zur Villa. Herrmann fuhr die Limousine in die Garage. Georg Weber kümmerte sich nicht weiter darum.

 

*

 

Er stand auf der Terrasse, musste sich bewegen. Nach dem herrlichen Essen.

Es war dunkel. Georg Weber blickte auf den Wannsee und hielt ein Glas Rotwein in der Hand. Barolo 1990. Gerade eben aus dem Weinkeller geholt und noch zwei, drei Grad zu kühl. Einen langen Moment wärmte er ihn in beiden Händen. Und er trank einen Schluck. Schon besser.

Er ging über die Wiese zum Wasser hinunter. Schwarz und kaum hörbar schwappte der Wannsee gegen die Uferbefestigung. Weit entfernt auf dem See bewegte sich träge ein Lastschiff, rotes Licht funkelte über das Wasser, schluckte alle anderen Farben, verlor sich im Schwarz der Nacht.

Er trank einen weiteren Schluck.

Viel besser. Die Luft ließ den Wein atmen, die Wärme seiner Hände ließ den Wein leben.

Selten trank er montags Rotwein. Barolo 1990. Doch heute ... Er blickte wieder auf den See.

Es ist ein Anfang, nur ein Anfang.

Und doch, ... es wird nicht klappen. Nie.

Still und allein stand er da. Voller Zweifel. Zu lange schon war sein Leben vergraben. Unter Pflichten. Unter Erfolg.

Er trank einen weiteren Schluck und ging zurück zur Villa. Es wurde kalt. Der Rasen wurde feucht. Das Licht im Wohnraum lockte. Ein Glas lang würde er drinnen allein diesen Tag noch genießen. Vielleicht mit Mozart.

Er lächelte ohne Gegenüber.

Er betrat die Villa und ging zum Kamin. Herrmann hatte alles vorbereitet. Er brauchte nur ein langes Streichholz.

Später würde er den Jungen noch anrufen. Sicher war er längst wieder in London.

 

11

 

Sophie Nessbach saß an ihrem Schreibtisch, betrachtete die Tatortfotos und überflog ihre Notizen. Vom Tatort. Von Maria Stein. Überflog den Bericht der Spurensicherung.

Polizeirat Lummer lief nervös und ungeduldig auf und ab.

»Irgendein Hinweis auf Vorsätzlichkeit?«

Geller stand gelangweilt neben der geschlossenen Bürotür und schüttelte unmerklich den Kopf.

Was für ein ... Sophie Nessbach dachte den Satz nicht zu Ende, warf die Fotos auf den Schreibtisch.

»Sehen Sie sich das an. Das war kein Unfall.«

Polizeirat Lummer schob die Bilder auseinander.

»Vielleicht hat jemand beim Wenden seines Fahrzeugs die Fußgängerin hinter sich übersehen und ist anschließend voller Panik geflüchtet.«

Sophie Nessbach lächelte höhnisch.

»Unsinn.«

Lummer sah sie an ... und war entsetzt! ... Unsinn? ... Kritik an seiner Äußerung zusammengefasst in einem Wort ... Unsinn? ... Er schien zu zählen: eins, zwei, drei ... Sein Kragen wollte platzen.

Er wartete.

»Aus dem Bericht geht eindeutig hervor, dass das Opfer erst von vorn im Bereich der Knie getroffen wurde, durch die Luft flog und anschließend im liegenden Zustand überrollt wurde. Genau hier, wo wir die Tote gefunden haben.« Sophie Nessbach tippte auf ein Foto und fuhr fort: »Direkt neben diesem Busch. Also nicht mitten auf dem Parkplatz. Und das ist genau das, was uns die Kollegen gestern schon am Tatort gesagt hatten.«

Geller lehnte an der Wand, betrachtete seine Schuhspitzen.

Lummer schien bei zehn angekommen zu sein.

»Wissen Sie, Frau Kollegin, in Panik reagieren Menschen sehr unterschiedlich. Manche brechen zusammen und heulen, andere erstarren und wieder andere wollen nur weg.«

Seit etwa zwei Monaten war Sophie Nessbach Teil des Kommissariats am Kaiserdamm. Kriminalrat Lummer hatte sie ›zugeteilt‹ bekommen.

---ENDE DER LESEPROBE---