Der Liebe zuliebe - Konstantin Wecker - E-Book

Der Liebe zuliebe E-Book

Konstantin Wecker

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Beschreibung

Das bewegte Leben des Poeten und Liedermachers Konstantin Wecker "Der Liebe zuliebe« – ein Buch über eine lebenslange Suche: nach Sinn, nach dem »mehr als alles«, nach dem großen Geheimnis, nach Liebe, nach Wegen zum inneren und äußeren Frieden. Die Liebe ist für Konstantin Wecker der Schlüssel dafür, dass das Leben gelingen kann. Und dass die Welt eine andere, eine bessere wird. Mal streitbar, mal besinnlich, mal sanft – immer leidenschaftlich: So kennt und liebt das Publikum den Poeten und Musiker Konstantin Wecker. Er ist nicht nur ein begnadeter Liedermacher, sondern auch eine wichtige Stimme einer ganzen Generation. Ein unbeugsamer Mahner und Kämpfer gegen Krieg und Faschismus. Mit seinen Liedern und Texten tritt er seit vielen Jahrzehnten ein für Gerechtigkeit und Frieden und ein achtsameres, liebevolleres Miteinander. Auf der Terrasse seines Hauses in Ambra – mit Blick in die Weite der toskanischen Hügellandschaft – zieht Konstantin Wecker Bilanz seines Lebens. Dabei klammert auch die düsteren Zeiten nicht aus: Depression, Schwermut, Alkoholsucht, Drogenrausch, zahlreiche Abstürze, Wahnvorstellungen, Wut, Traurigkeit. Er schreibt über eine jahrzehntelange Suche und eine Wende am Abgrund. Ein bewegendes Buch aus der Feder eines der größten Songpoeten unserer Zeit, der zehntausenden von Fans immer wieder Mut macht, an das Gute zu glauben und für das Gute einzutreten. »Ich wollte endlich der werden, den ich in meinen Liedern besinge: der Zärtliche, der Friedfertige, der Liebende, der Hörende. Einer, der weiß, was wesentlich ist. Das tägliche Meditieren, die Menschen, die mich unterstützt haben, die vielen guten Gespräche, die Musik, wunderbare Texte alter Mystiker – sie haben mir gut getan. Ohne die Rückbesinnung auf die Kraft der Spiritualität hätte ich es vermutlich nicht geschafft, einen neuen Weg einzuschlagen. Dieses Buch habe ich geschrieben, um alle, die mit ähnlichen Problemen und der Frage nach dem Sinn unseres Daseins ringen, einzuladen, sich selbst auf den Weg zu einem erfüllteren Leben zu machen. Vielleicht ist dieses Buch im fortgeschrittenen Alter meines irdischen Lebens auch so eine Art erstes Vermächtnis geworden … Nüchtern schaue ich auf den Grund des Seins und habe dabei selbstverständlich Lust und Freude auf Neues und noch so viel mehr. Dankbar habe ich zu Beginn meinem schon lange verstorbenen Vater einen Brief geschrieben.« Konstantin Wecker auf großer "Der Liebe zuliebe" LIVE-Tour Deutschlandpremiere im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals am 15. Oktober 2025 in Hamburg. Im Jahr 2026 beginnt die große "Der Liebe zuliebe" LIVE-Tour – ein Abend mit vielen Texten aus dem neuen, gleichnamigen Buch und sehr vielen Liedern aus 60 Jahren Leben, vorgetragen von Konstantin Wecker und musikalisch in Szene gesetzt vom Konstantin Wecker Trio. Tickets online und an allen bekannten VVK-Stellen. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 263

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Konstantin Wecker

Der Liebe zuliebe

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

»Ich wollte endlich der werden, den ich in meinen Liedern besinge: der Zärtliche, der Friedfertige, der Liebende, der Hörende. Einer, der weiß, was wesentlich ist. Das tägliche Meditieren, die Menschen, die mich unterstützt haben, die vielen guten Gespräche, die Musik, wunderbare Texte alter Mystiker – sie haben mir gut getan. Ohne die Rückbesinnung auf die Kraft der Spiritualität hätte ich es vermutlich nicht geschafft, einen neuen Weg einzuschlagen. Dieses Buch habe ich geschrieben, um alle, die mit ähnlichen Problemen und der Frage nach dem Sinn unseres Daseins ringen, einzuladen, sich selbst auf den Weg zu einem erfüllteren Leben zu machen.

 

Vielleicht ist dieses Buch im fortgeschrittenen Alter meines irdischen Lebens auch so eine Art erstes Vermächtnis geworden ... Nüchtern schaue ich auf den Grund des Seins und habe dabei selbstverständlich Lust und Freude auf Neues und noch so viel mehr.«

Konstantin Wecker

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.bene-verlag.de

Inhaltsübersicht

Der bedeutendste Mensch ist [...]

Loreley

Wenn du stirbst, stirbt nur dein Werden

Die letzte Stunde

Die Kunst des Scheiterns

Zersplitterndes Glas

Ob mich die Götter noch lieb haben?

Chiang Mai

Tagebuch, 5. Januar 2022

Tagebuch, 6. Januar 2022

Tagebuch, 7. Januar 2022

Tagebuch, 8. Januar 2022

Tagebuch, 9. Januar 2022

Tagebuch, 10. Januar 2022

Tagebuch, 11. Januar 2022

Tagebuch, 13. Januar 2022

Absturz

Schutzengel

Suche und Sucht

Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?

Momente, in denen der Zweifel weniger wird

Gefrorenes Licht

Was ist Wirklichkeit?

Drei Dimensionen des Seins

Träume

Andere Welten

Das Göttliche

In uns und durch uns

Von Kindern lernen

»Heilige Narren«

Mit dem Leben abgeschlossen?

Manchmal weine ich sehr

»Noch einmal vorm Vergängnis blühn…«

Abschied auf Raten

Liebe und Leid

Die Dunkelheit der Seele

Was uns am Leben hält

Brief an meine Freunde

Verwandlung

Tagebuch, St. Lukas, 10. Mai 2023

Tagebuch, 21. Juni 2023

Tagebuch, 15. Juli 2023

Tagebuch, November 2023

Tagebuch, 20. November 2023

Durchkreuzte Pläne

Ausgebremst

Unter dem Maulbeerbaum

Beschenkt mit Versen

Wie ich endlich der wurde, von dem ich singe

Nüchterne Trunkenheit

Enden will ich als Gesang

Übergänge

Lebensbegleiter

Erinnerung

Ein Stück des Weges teilen

Religion und Mystik

Die Gretchenfrage und die Wette

»Die ersten drei Gläser sind schön«

Kreative Höhenflüge und Bruchlandungen

»Ach, trink doch noch eine Halbe…«

Lieder meines Lebens

Der Liebe zuliebe

Wir werden weiter träumen…

Warum nur?

Woher das Sanfte und das Gute kommt

Wir sind weit davon entfernt…

Eine Revolution des Geistes

Wird die Welt von gestern wieder zur Welt von morgen?

Die Kraft von Utopia – Visionen einer besseren Welt

Zäune töten

Wie schrecklich flüchtig alles ist

Hoffnung?

Epilog

Der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gegenübersteht.Und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.

Meister Eckhart

 

Ich glaube, dass unbewaffnete Wahrheit und bedingungslose Liebe das letzte Wort in der Wirklichkeit haben werden. Deshalb ist selbst das vorübergehend besiegte Rechtstärker als das triumphierende Böse.

Martin Luther King1

 

Ist denn nicht allein die Liebe Grund und Sinn von allem Sein?

Konstantin Wecker

 

Für meine Frau Annik

und unsere Söhne

Valentin und Tamino

Loreley

Das Konzert beginnt an einem strahlenden Sommerabend auf einer Bühne hoch über dem Rhein. Der Blick schweift über Wiesen und Wälder in die Weite. Tief unter uns ziehen Schiffe ihre Bahn auf dem breiten Strom, der sich um den Felsvorsprung windet, den man Loreley nennt. Jo, mein treuer Begleiter seit so vielen Jahren, lässt seine Finger über die Tasten fliegen; ich lehne mich beim Singen zuweilen irgendwo an, wenn ich merke, dass ich nicht stabil stehe. Vor den Konzerten habe ich manchmal keine Ahnung, wie ich den Abend überstehen soll, auch heute, weil mich unglaublich starke Rückenschmerzen plagen. Aber es geht dann irgendwie doch. Wenn ich erst einmal auf der Bühne stehe und singe, vergesse ich alles, was mich ausbremsen will – weil ich mich ganz dem Augenblick und der Musik hineingebe. Dieses Sich-ganz-in-etwas-Hineinbegeben, in etwas Größerem Aufgehen, das ist immer auch eine wunderbare mystische Erfahrung. Auch während ich zwischen den einzelnen Liedern Gedichte lese, bin ich ganz im Moment, da ist nichts anderes, was mich ablenkt: »Jeder Augenblick ist ewig, wenn du ihn zu nehmen weißt.«

Die Menschen gehen mit, viele kennen die Texte, die ich singe oder in Form von Gedichten vortrage, einige sogar auswendig.

 

In der beginnenden Dämmerung spiele ich, zur Erinnerung an meinen Vater, eine Tonaufnahme vor, die vor mehr als sechs Jahrzehnten entstanden ist. Knistern und Knacken gehören dazu. Und ich lausche selbst ganz gebannt, als die ersten Töne erklingen. Ein heller Knabensopran – das bin ich, kaum zu fassen –, dann die tiefere, wohlklingende Tenorstimme meines Vaters, wir singen im Duett. Und es harmoniert im Zusammenklang ganz wunderbar.

Es ist immer wieder einer der emotionalsten stillen Momente auf meinen Konzerten, auch heute Abend. Manchem kommen die Tränen, während ich, nachdem der letzte Ton verklungen ist, darüber spreche, wie sehr ich meinem Vater dankbar bin für all das, was er für mich getan hat. Nicht jeder hat so ein Glück.

 

Für meinen Vater

 

Niemals Applaus, kein Baden in der Menge,und Lob, das nur vom kleinsten Kreise kam.Und das bei einer Stimme, die die Engedes Raumes sprengte, uns den Atem nahm.

 

Dein »Nessun dorma« war von einer Reinheit,die nur den Allergrößten so gelang.Du blühtest nur für uns. Der Allgemeinheitentzog das Schicksal dich ein Leben lang.

 

Und trotzdem nie verbittert, keine Klage,du sagtest einfach, deine Sterne steh’n nicht gut.Doch gaben dir dieselben Sterne ohne Fragedie Kraft zur Weisheit und unendlich Mut.

 

Mir flog das zu, was dir verwehrt geblieben,du hattest Größe und ich hatte Glück.Du hast gemalt, gesungen, hast ein Buch geschriebenund zogst dich in dich selbst zurück.

 

Du hast die Liebe zur Musik in mir gewecktund ohne dich wär ich unendlich arm geblieben.Du bliebst verkannt und hast dich still entdeckt,ich war umjubelt und ich hab mich aufgerieben.

 

Das, was ich heute andern geben kann,wäre nicht denkbar ohne dich.Es ist dein unbeachteter Gesang,der in mir klingt und nie mehr von mir wich.

 

Und meistens sagt man erst zum Schluss,was man verdeckt in tausend Varianten schrieb:Wenn ich an meinen Vater denken muss,dann denk ich stets – ach Gott, hab ich ihn lieb.

 

 

Vater,

längst wollte ich Dir schreiben. Wie gerne würde ich jetzt mit Dir an einem Tisch sitzen oder zusammen spazieren gehen und reden. Dir von all dem erzählen, was mich in den letzten Wochen, Monaten, Jahren beschäftigt hat. Was mich heute, gerade jetzt, umtreibt. Dankbar blicke ich auf das zurück, was wir gemeinsam erlebt haben. Die wunderbare Kinder- und Jugendzeit am Mariannenplatz im Lehel, das gemeinsame Musizieren. Du hast mir so viele Türen geöffnet, auch die zur Musik. Es klingt mir in den Ohren, wie wir gemeinsam – Du im Wohnzimmer am Klavier neben mir stehend – eine Arie von Puccini intonieren. »Nessun dorma! – Keiner schlafe!«

Deine Art zu singen, Deine Begeisterung für klassische Musik, sie wirken in mir nach.

Immer wieder habe ich die Aufnahmen gehört, die wir damals von unseren gemeinsamen Duetten gemacht haben.

Noch heute sehe ich Dich und mich auf dem Weg ins Münchner Opernhaus, wie Du mich liebevoll an der Hand hältst. Und ich denke auch an Mutter, die mir die Welt der Poesie eröffnet hat. Den Zauber klingender Zeilen, die Sprache als Brücke, um auch das eigentlich Unsagbare in Worte zu fassen. Was wäre ich ohne Euch?

 

Wenn ich daran denke, wie Du als junger Mann mutig den Dienst an der Waffe verweigert hast, als Dich die Wehrmacht für den Krieg ausbilden wollte, dann wird mir immer wieder deutlich, weshalb auch ich Pazifist werden musste. Die ganze Sinnlosigkeit des Tötens, um einer Ideologie willen, war Dir bewusst – deshalb hast Du mehrfach klar und deutlich »Nein« gesagt, als man Dir als jungem Mann eine Waffe in die Hand drücken wollte. Das war so unglaublich, so dreist-mutig, dass der Offizier, der das für Dich Unmögliche von Dir verlangte, annehmen musste, dass Du geistesgestört, verrückt bist. So bist Du um den »Dienst mit der Waffe« herumgekommen. Das hat Dir vermutlich das Leben gerettet.

In Kriegszeiten haben es diejenigen besonders schwer, die »Nein« sagen. Du bist dabei geblieben und hast auch mich zum Widerspruch und in gewisser Weise zum Ungehorsam erzogen.

Leider hast Du mir nie erzählt, was in Deiner Kindheit passiert ist, warum Du so anders warst als all die anderen Väter deiner Generation, so bedingungslos antifaschistisch, so antiautoritär und so bedingungslos gewaltfrei.

Du hast Deine Sehnsucht gelebt und Dir andere Wege gesucht.

Jetzt bist Du schon mehr als zwei Jahrzehnte tot. Ich vermisse die Gespräche mit Dir. So schreibe ich Dir diesen Brief, um Danke zu sagen und Dir von dem zu erzählen, was mich gerade beschäftigt. Hoffentlich erreicht Dich meine Post, wo immer Du gerade bist. Vielleicht sehen wir uns ja eines Tages wieder, wenn ich meine Reise auf der Erde beende und in einer neuen Dimension lebe. Ich hoffe es so sehr!

Im Rückblick stelle ich fest, dass die großen Krisen meines Lebens mich immer auch ein Stück weiter vorangebracht haben auf dem Weg zu einem tieferen Verständnis des Seins. Dass mir gerade die dunklen Stunden Türen geöffnet haben. Ich denke an die Zeiten im Gefängnis, den tiefen Absturz durch meine Kokainabhängigkeit. Und an den Moment, in dem mir endlich bewusst wurde, dass ich durch den jahrelangen Alkoholkonsum die Kontrolle über mein Leben verloren hatte – dass ich sofort damit aufhören musste. Das ist erst wenige Jahre her.

Im Nachhinein wünschte ich, dieser Moment wäre früher gekommen, weil ich gerade die Menschen, die ich besonders liebe, all diejenigen, die unter meiner Sucht und deren Folgen gelitten haben, immer wieder enttäuscht und verletzt habe.

Seit einiger Zeit beschäftigt mich ein Zitat des Kirchenlehrers Augustinus. Er schreibt über die »nüchterne Trunkenheit«, einen Zustand zwischen rauschhafter Begeisterung und Besinnung auf das Wesentliche. Und darum geht es mir, seitdem mein Leben eine Wende genommen hat. Ich wollte endlich der werden, den ich in meinen Liedern besinge: der Zärtliche, der Friedfertige, der Liebende, der Hörende. Einer, der weiß, was wesentlich ist.

Nüchtern schaue ich auf den Grund des Seins und habe dabei selbstverständlich Lust und Freude auf Neues und noch so viel mehr.

Ohne die Rückbesinnung auf die Kraft der Spiritualität hätte ich es vermutlich nicht geschafft, einen neuen Weg einzuschlagen. Dass ausgerechnet ich in der christlichen Mystik Trost finde und dort vieles entdeckt habe, was mir hilft, meinen Weg auf der Suche nach Erkenntnis weiterzugehen, ist wirklich erstaunlich, findest Du nicht, Vater?

Das, was in unserem Innersten gegenwärtig ist, die Kraft der Liebe, wird hoffentlich auch helfen, liebevoll auf andere Menschen zuzugehen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Egal ob wir Muslime oder Juden, Christen oder Atheisten sind. Es kann auch nicht darum gehen, eine Religion gegen die andere auszuspielen. Sondern wir müssen immer wieder das Verbindende suchen. Spiritualität und politisches Engagement gehören dabei für mich unabdingbar zusammen. Ich träume weiter von einer herrschaftsfreien Gesellschaft ohne Gewalt und Hass. In Zeiten, in denen Tech-Milliardäre offen Faschisten, Rassisten und Sexisten unterstützen und der reichste Mann der Welt eine rechtsextreme Partei in Deutschland für seine eigenen Profitinteressen stark machen will, werde ich weiterhin meine Stimme erheben und mich einmischen. Denn »Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen«. Darin waren wir uns immer einig, Vater.

 

Dein Konstantin

Wenn du stirbst, stirbt nur dein Werden

Jeder Augenblick ist ewig,wenn du ihn zu nehmen weißt –ist ein Vers, der unaufhörlichLeben, Welt und Dasein preist.

 

Alles wendet sich und endetund verliert sich in der Zeit.Nur der Augenblick ist immer.Gib dich hin und sei bereit!

 

Wenn du stirbst, stirbt nur dein Werden.Gönn’ ihm keinen Blick zurück.In der Zeit muss alles sterben –aber nichts im Augenblick.

Die letzte Stunde

Wir stecken die Köpfe zusammen, schweigen und lauschen gemeinsam den schönsten Klängen, die sich so großartig anhören, als ob sich alle Komponisten, die mein Vater sein Leben lang verehrt und nie verraten hat, zusammengetan hätten, um ihm jetzt ein Ständchen zu bringen. Was für ein Zusammenklang von Liebe, was für ein wehes und leidendes und doch gleich darauf wieder jubilierendes Tönen!

Ich höre Vater noch einmal singen, ganz klar und erhaben, als sei sein Gesang schon mit den Stimmen der Engel verwoben, als winke ihm Verdi von weit oben mit dem Taktstock zu und führe eigens für ihn noch einmal sein himmlisches »Lacrimosa« auf. Was für ein Gesang!

Die Nähe unserer schwärmerischen Seelen genieße ich in vollen Zügen, dann geleite ich meinen spitzbübisch lächelnden Vater geradewegs auf den Tönen seines eigenen Gesanges nach Hause – und wache auf. Es war nur ein wunderbarer Traum.

Ein Jahr nach seinem Tod bin ich meinem Vater ein zweites Mal im Traum begegnet. Dieser Traum, so real, bildhaft und farbintensiv, wie ich noch nie zuvor geträumt hatte, beendete die lange Zeit der Trauer mit einem Schlag. Alles ist mir bis heute präsent, ich sehe die Szene auch jetzt vor meinem inneren Auge.

 

Vater kommt auf mich zu, so wie ich ihn aus meiner Kinderzeit in Erinnerung habe. So kenne ich ihn, diesen immer etwas ironischen Philosophen mit seinem unvergleichlichen Lächeln. Jemand, der sich selbst so wunderbar auf den Arm nehmen konnte. Ein Lächeln, das um die Nutzlosigkeit jeglicher Verbissenheit weiß. Dann treten zwei Engelwesen an seine Seite. Sie sind nicht unfreundlich, aber sie wirken entschlossen, vielleicht sogar etwas streng.

»Vater«, rufe ich, »ist das schön, dich zu sehen! Du siehst toll aus! Wie jung du bist! Wie geht es dir?«

»Ausgezeichnet, wie du siehst. Und du?«

In diesem Moment weiß ich ganz genau, dass er tot ist. Umso glücklicher bin ich natürlich, ihn so offensichtlich gut gelaunt und wohlbehalten in einer anderen Welt zu sehen. Und ich frage ihn neugierig: »Du weißt doch jetzt sicher alles, Vater; alles, was wir hier auf Erden so gerne wissen würden. Kannst du mir ein paar Tipps geben? Bitte sag mir doch, warum wir hier sind. Was ist denn der Sinn dieser anstrengenden Mission?«

Er lächelt. Und ich habe den Eindruck, dass mein Vater mir gerade eine Antwort auf meine Fragen geben will, als seine beiden Begleiter jeweils die Finger auf ihre Münder legen – »pst«, bedeuten sie ihm und drängen meinen Vater ein Stück weit zurück. Offensichtlich ist es ihm verboten, himmlische Weisheit auszuplaudern.

Vater dreht sich noch einmal lächelnd zu mir um. Ich habe den Eindruck, dass er mir Mut machen, dass er mir etwas sagen will – etwas wie: »Das wird schon.« So deute ich seine Geste, seine Mimik, sein Lächeln.

Es ist ernüchternd: Gerade in dem Moment, in dem ich dabei bin, das Geheimnis des Daseins zu erfahren, sind die drei einfach verschwunden. Es bleibt das Nichtwissen. Aber dennoch war es schön, ein sehr angenehmer Traum, ein wunderbares Wiedersehen. Mir ist von Anfang an irgendwie klar, dass es eine wirkliche Begegnung war.

Mein Vater hat mir oft gesagt, er habe keine Angst vor dem Tod. Ich habe ihm nie geglaubt. Bis es ans Sterben ging. Da wusste ich, dass es wahr war. Er hat sich gefreut auf den Tod und ging davon. Ja, das Lächeln meines Vaters hat mein Leben geprägt und macht mir heute noch vieles Schwere etwas leichter.

Ans Sterben habe ich lange Zeit nicht gedacht, ich habe das Leben gefeiert, die Freundschaft, die Musik, die Poesie. Und ich habe damit gerungen, wie es gelingen kann, die Welt ein wenig besser zu machen, als sie es ist. Gerechter, friedfertiger, barmherziger, zärtlicher. Eine Welt ohne Hass und Gewalt. Dafür habe ich mich eingesetzt. Davon zeugen auch viele meiner Lieder.

Die Kunst des Scheiterns

Anlässlich meines bevorstehenden 60. Geburtstages im Jahr 2007 war ich von einem Verlag gefragt worden, ob ich nicht eine Autobiografie schreiben möchte. »Sie machen den Eindruck, als seien Sie angekommen«, sagte mir der Verleger, nachdem wir lange über Bücher und Musik, über Gott und Politik geplaudert hatten, und fragte: »Wollen Sie nicht ein Buch über Ihren Weg zum Glück schreiben?«

Ich war verwirrt. »Was habe ich falsch gemacht in diesem Gespräch?«, fragte ich zurück. »Manchmal, ja, da denke ich, dass ich angekommen bin; da fühle ich mich aufgehoben im schönen Sinn des Wortes, aber meistens bin ich doch auf der Suche. Ist es denn das Glück oder nicht eher diese Suche, die das Leben lebendig macht, das Schwanken, der Wandel, das Infragestellen, das Scheitern? Und gibt es überhaupt einen Weg? Sind es denn nicht eher tausend unmögliche Wege zum Glück?«

»Dann schreiben Sie eben über Ihre Erfahrung auf der Suche nach dem Weg.«

»Wenn Erfahrung die Summe aller Misserfolge ist, dann hab ich viel Erfahrung gesammelt in meinem Leben«, sagte ich lachend.

»Es sieht nicht so aus, als hätten Sie so viele Misserfolge erlebt.«

»Das ist ausschließlich eine Frage der Interpretation.«

 

Eine Woche später meldete ich mich nach einer Zeit des Nachdenkens, und vor allem weil mir plötzlich der Titel des Buchs bildhaft vor Augen stand, nochmals beim Verlag und sagte zu, ein Buch mit dem Titel Die Kunst des Scheiterns zu schreiben – mit dem Untertitel Tausend unmögliche Wege, das Glück zu finden. Einige Gedanken greife ich in diesem Buch, achtzehn Jahre später, wieder auf.

Als ich Dieter Hildebrandt damals vom Thema meines Buchs erzählte, meinte der: »Der Titel Die Kunst des Scheiterns ist gefährlich. Ein gefundenes Fressen für jeden nicht wirklich wohlwollenden Kritiker. Das Wortspiel liegt auf der Hand. Und vor allem: Du wirst doch nicht den Fehler machen wie Günter Grass und irgendetwas beichten, was du besser weiter für dich behalten hättest?«

Diese Frage stellt sich natürlich auch jetzt. Und die Antwort ist eindeutig: Es ist mir ein Herzensanliegen, über das zu schreiben, was mich im Innersten bewegt.

Interessiert blättere ich mal wieder in meinem Buch Die Kunst des Scheiterns und bleibe direkt im Vorwort an einigen Sätzen hängen: »Auf einer Leiter, deren Sprossen aus Niederlagen bestehen, kann man auch nach oben klettern! (…) oft sind die Niederlagen ja auch, in einem größeren Zeitrahmen betrachtet, der Beginn einer längst fälligen Verwandlung, die einzige Chance zur Einsicht und zum Innehalten in einem Prozess der Entfremdung. Was für eine Chance kann manchmal eine Krankheit sein, ein Misserfolg zur rechten Zeit, eine Trennung von einem geliebten Menschen – denn meistens kommt der Anstoß für eine Kurskorrektur im eigenen Leben doch durch einen unvorhergesehenen Schicksalsschlag.«2

Bin ich seitdem klüger geworden? Leider nein. Aber vielleicht wird es ja noch. Die Krisen, die ich in den letzten Jahrzehnten durchgemacht habe, waren meistens in irgendeiner Weise selbst verschuldet. Und sie hörten nicht auf.

Zersplitterndes Glas

Klirrend fallen die Bruchstücke der Scheibe zu Boden. Mit bloßer Faust habe ich in einem Anfall von Wut und geistiger Umnachtung ein Fenster unseres Hauses in Italien eingeschlagen und stehe nun im wahrsten Sinne des Wortes vor einem Scherbenhaufen.

Wie durch einen Nebel klingen die Worte eines Freundes, der Arzt ist, zu mir: »Konstantin, du hast die Kontrolle über dich verloren. Das erinnert mich alles sehr an meine Mutter. Die mussten wir dann irgendwann von anderen Menschen fernhalten.«

Sätze wie Paukenschläge, die mich endlich, endlich wachrütteln. So vieles ist in den letzten Jahren in irgendeiner Form zu Bruch gegangen – nicht nur Glas. Im Rausch habe ich manche Dummheit begangen und bin immer tiefer in einen Strudel von Abhängigkeit und Schwermut hineingeraten. Abend für Abend habe ich auf meinen Tourneen nach den Konzerten an der Hotelbar viele Flaschen Wein geleert und dabei immer gedacht, ich könnte jederzeit mit dem Trinken aufhören. Was für ein Unsinn!

Es ist ein Moment der Verlorenheit – einer jener Augenblicke, in denen wir uns fragen, warum bin ich überhaupt hier? Oder: Das kann doch nicht wahr sein, dass so etwas mir passiert … Aber was wäre, wenn jede Grenze, an die wir stoßen, zugleich auch eine Einladung zu einem Neuanfang ist?

Ende 2021 ist mir jedenfalls klar: So kann es nicht weitergehen. Ich muss mir eingestehen, dass ich alkoholabhängig bin. Mir ist bewusst, dass ich an einem Punkt angekommen bin, an dem eine Entscheidung ansteht. Und jetzt beschließe ich endlich, einen Schlussstrich zu ziehen.

Immer wieder hatte ich mir in den letzten Monaten in schwermütigen Augenblicken vorgestellt, dass ich mich mit anderen Alkoholikern unter irgendeiner Straßenbrücke, wo ich meine letzten Tage verbringe, zu Tode saufe. Es gab einfach keine andere Perspektive.

Sich zu berauschen, weil es Spaß macht, ist das eine. Es löst Glücksgefühle aus. Aber Alkohol zu trinken, um dich zu betäuben, damit du mit dem, was dich belastet, klarkommst, ist ein riesiger Fehler. Es ist eine Endlosschleife aus Scham und Rausch, Trauer und Wut. Ein Höllenritt.

Ob mich die Götter noch lieb haben?

Während die Wunde an meiner Hand heilt – der Glaser hat längst eine neue Scheibe eingesetzt –, stellen sich in meinen Träumen, in meinen Gedanken immer wieder die »Hungergeister« ein. Nach buddhistischer Lehre sind dies seltsame Wesen, die in diesem Leben etwas nicht zu Ende gebracht haben. Sie irren ohne Körper als verlorene Seelen im Jenseits umher und können sich auch nicht mehr weiterentwickeln. So bleiben sie in ihren Problemen, in ihren Süchten gefangen. Das spiegelt sich in einem Bild: Die Hungergeister hängen an Zapfhähnen und versuchen auf diese Weise ihre Sucht zu befriedigen – was nicht gelingt. Was auch überhaupt nicht gelingen kann, weil sie ja keinen Körper haben! Dieses Bild, der Gedanke daran, selbst bald einer von diesen Hungergeistern sein zu müssen, lässt mich nicht mehr los. Es hat sich in meiner Seele eingebrannt. Und ich habe mich entschieden: Ich will mein Leben keinesfalls in einem derart erbärmlichen Zustand beenden!

 

Wie viele Tage und Nächte habe ich mit Freunden und Fremden dem Alkohol und Drogen zugesprochen? Die rauschenden Feste, die ich in meinem Leben gefeiert habe, sie sind nicht zu zählen. Ich habe die Zeiten genossen, den Moment ausgekostet, das fröhliche Miteinander – als gäbe es kein Morgen.

Mir ist klar: Ich muss mich endlich der Sucht stellen und aufhören, so viel zu trinken. Und das mit einer großen Wahrhaftigkeit. Es wäre auch fahrlässig, den Gedanken, wie es eigentlich mit mir weitergehen soll, fortwährend zu verdrängen. Das bin ich nicht nur mir selbst, sondern auch meiner Familie, den Menschen, die ich liebe und denen ich im Suff immer wieder so lieblos begegne, schuldig. Und auch meinem Publikum.

 

Wir leben in einer Gesellschaft, die, von panischer Angst getrieben, der Vergänglichkeit ins Auge blicken zu müssen, nichts unversucht lässt, den Tod aus dem Leben auszuklammern. Aber wir müssen ihn beizeiten ins Auge fassen, begreifen, dass unser Dasein auf Erden endlich ist. Damit wir das Leben bewusst leben. So, als könnte jeder Tag unser letzter sein. In meinen Liedern kommt die Vergänglichkeit eigentlich fast immer vor – es gibt kaum ein Gedicht, in dem das Sterben keine Rolle spielt. Aber mit meiner Ratio habe ich mich nie wirklich mit dem Tod beschäftigt.

 

Dass wir eines Tages sterben müssen, wissen wir schon – aber wir schieben den Gedanken zur Seite, wollen uns lieber nicht damit beschäftigen. Natürlich ist dies anders, wenn wir schwer krank oder im nahen Umfeld mit einem Todesfall konfrontiert werden.

Den Tod anderer Menschen zu betrauern, ist das eine. Aber stell dir vor, du selbst stirbst – und du bist nicht dabei. Dieser Gedanke, dass ich im Rausch meinen eigenen Tod verpassen könnte, weil ich so berauscht und zugedröhnt bin, dass ich nichts und niemanden mehr wahrnehme, hat sich in mir festgesetzt. Und er setzt mir zu: In einem derart desolaten Zustand will ich an meinem letzten Tag auf dieser Erde die Schwelle ins Reich des Todes nicht überschreiten. Am Ende will ich aufrecht gehen. Und ich will keinesfalls als Hungergeist enden!

Vor vielen Jahren, 1981, in meiner Sturm-und-Drang-Zeit, bin ich einmal ganz bewusst mit einem Jeep auf einem Waldweg in der Toskana an einen Baum gefahren – und ich war dabei noch nicht einmal angeschnallt. In einem Anflug von Selbstüberschätzung wollte ich einfach einmal ausprobieren, ob mich die Götter noch lieben. Und auch damals war ich berauscht, sonst wäre ich vermutlich nicht auf die Idee gekommen, so etwas zu tun … Entschlossen habe ich den Wagen vom Weg herunter gelenkt und direkt auf einen großen Baum zugehalten. Es hat unheimlich gekracht, ich wurde gegen das Lenkrad geschleudert, der Jeep war hin. Doch ich stieg unversehrt aus und hatte das beglückende Gefühl: Ja, die Götter stehen mir bei, sie lieben mich noch.

Nach dem Unfall bin ich ziemlich weit gelaufen, bis ich wieder zu Hause war. Vermutlich hatte ich nicht allzu viel Alkohol oder Drogen intus, sonst hätte ich den langen Rückweg nicht geschafft.

In der darauffolgenden Nacht habe ich dann wohl meine Elegien geschrieben, eine Reihe besonderer Texte. Genau weiß ich das aber nicht. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich am nächsten Morgen aufwachte und sah, dass auf dem Tisch einige beschriebene Blätter lagen. Interessiert nahm ich die Bögen in die Hand und las voller Erstaunen, was ich geschrieben hatte. Wie die Zeilen aufs Papier gekommen sind, kann ich nicht sagen. Aber es war meine Handschrift, es musste also von mir sein. Wenn der Text ordentlich gesetzt in einem Buch gestanden hätte, hätte ich gedacht, er stamme von Rainer Maria Rilke. Aber nie und nimmer von mir.

 

Die erste Elegie

 

Anstatt sie zu betreten,

treten wir die Welt.

Wie eine Silbe doch entscheidend scheiden kann!

Wie erst ein Wort!

 

Als wir noch schliefen;

war’n die Wörter schon gemacht,

und alles, was wir heute niedrig sehen,

war immer groß genug;

uns aufzunehmen ins Geschehen.

 

Wie sich die Luft noch niemals wünschte,

Mensch zu sein;

sieht alles, was sich selbstlos gibt,

sanft lächelnd auf uns nieder.

 

Ach, würden wir an solcher Größe uns gestalten,

die es ertragen kann;

von uns geschändet und zerstört zu werden.

 

Uns birst die Lunge,

wir vergehen vor Schmerz und Wut,

wenn wir die letzten Bäume fällen.

 

Und wie bedauert uns das Tier!

Mit welchem warmen Mitleid

wacht die Erde über uns,

wenn wir sie quälen.

 

Armselig sind die Herrschenden,

denn sie genügen nicht sich selbst.

Und was wir uns auch immer neu zu schaffen glauben,

verkleinert nur, was längst geschaffen war.

 

Die Welt hält stand.

Selbst wenn wir sie in Stücke jagen –

wir gehen nur an dem zu Grund,

was wir verstehen.

 

Nichts ist erklärbar.

Nur im Unsichtbaren

lernen wir zu sehen.

 

Die siebte Elegie

 

Doch seht: Die Nacht erlahmt schon,

sorgsam behütet ein Morgen die Welt

und ich will hinaustreten

und freuen.

 

Dass wir so schwanken – es sei!

Liebend erfasst,

trägt mich auf einmal ein fremder Atem

über mich fort.

 

Nicht nur um die Leiden zu lindern,

wird wieder Freude.

Leben ist zwischendrin.

VOr allem: heute.

 

Einmal vielleicht

werden die Nächte brennen.

Übergangslos auftaut die Erde.

Gibt uns frei.

 

Schon scheint der Himmel

ein wenig runder

und die Wiesen

wenden sich hin.

 

Wer könnte sonst noch

aufrecht stehen und bestehen,

folgten nicht immer auf Weh und Klagen

Stürme voll Glück.

 

Dies nur kann uns nach Hause führen:

Liebe

und eines Größren Barmherzigkeit.

 

Die achte Elegie

 

Nur den aufrichtig Liebenden

wird es gelingen zu hören, zu schauen,

drüber hinaus mit dem Herzen zu greifen.

 

Seht doch;

wie die Wirklichkeit fern ist

von all dem Getön und Getue,

wie wir sie neiden.

 

Weil sie uns fremd sind, haben wir Angst.

Schelten wir sie einfältig oder verblendet,

ach, weil wir alles viel besser verstehen

und in Büchern belegenund in Kriegen beweisen.

 

Aber die aufrichtig Liebenden

wandeln den Menschen voran.

Ihnen allein

muss nicht der Menschheit Blut

Wahrheit und Dasein bezeugen.

Sie allein

müssen sich nicht übersehn,

um gesehn zu werden.

 

Die neunte Elegie

 

Uns ist kein Einzelnes bestimmt.

Ein jeder ist die Menschheit,

geht mit ihr unter

oder wendet sie zum Guten hin.

 

Da mein Haus im italienischen Ambra zu dieser Zeit umgebaut wurde, habe ich damals im Nachbardorf gewohnt. Eine Nachbarin, die Schriftstellerin Claretta Cerio, der ich von meinem Erlebnis erzählte, sagte zu mir: »Ach, Konstantin, wenn dich die Götter geliebt hätten, dann hätten sie dich geholt.« Dieser Satz hat mir lange zu denken gegeben. Claretta ist übrigens 92 Jahre alt geworden.

 

In der dritten Elegie schreibe ich: »Dichtung ist Abglanz von anderswo und strömt als Gleiches durch ungleiche Herzen.« Und die letzte Strophe der »fünften Elegie« lautet: Werden heißt:immer mehr von sich und der Welt verlieren.

Aus heutiger Sicht betrachtet, ist dies eine geradezu prophetische Vorhersage …

Chiang Mai

Annik und ich sind seit einigen Tagen in Thailand, in Chiang Mai, einer traditionsreichen, vor über 700 Jahren gegründeten Stadt im bergigen Norden des Landes. Die ersten Tage haben wir gemeinsam im Hotel verbracht, vorgestern hat meine Frau mich dann zur Klinik begleitet, in der ich jetzt einen Alkoholentzug mache. Der Schritt ist mir schwergefallen.

Tagebuch, 5. Januar 2022

Nun also wird es höchste Zeit, wieder Tagebuch zu schreiben. Bin isoliert, für ein paar Tage in Quarantäne, immerhin in herrlicher Umgebung, habe meinen ersten trockenen Tag hinter mir und bin unendlich traurig. Keine Spur von einem Hochgefühl, weil ich nicht verkatert aufwachte – endlich mal –, sondern mich umgibt eine tiefe Leere, innerlich und äußerlich. Vielleicht war es leichter, vom Koks zu entziehen als jetzt, im Alter, vom Alkohol.

Ich bin so unendlich allein und hoffe so sehr, meine Spiritualität wiederzufinden. In den letzten Jahren habe ich mich nichts als zugedröhnt und einzig auf der Bühne war ich ich selbst.

Annik ist einfach nur zauberhaft. Ein Wesen von einem anderen Stern. Was für ein Glück, dass ich diese wunderbare Frau an meiner Seite habe.

Kann ich das Göttliche in mir wiederfinden?

Dazu muss ich mich wohl erst selbst wiederentdecken.

Ich muss den Gedanken zulassen, wie unsäglich gleichgültig ich mir und anderen gegenüber im Laufe der Jahre wurde.

Wie konnte es so weit kommen?

Auch als Jugendlicher hab ich kräftig gesoffen. Aber nie war so eine Leere in mir. Liegt es am Alter?

Was für ein Glück, dass ich im letzten Jahr genug verdient habe, um mir das alles jetzt im Moment leisten zu können.

Wie geht es weiter? Ich habe Angst vor heute Abend und träume von einer Flasche Wein. Die würde mich auch nicht glücklicher machen, aber sie würde die Leere meiner Gedankenwelt etwas füllen, wenn auch nur mit banalen Oberflächlichkeiten.

Ich bin wirklich verzweifelt und habe dabei doch so viele Menschen um mich, die mir diesen großen Schritt zutrauen.

Nie hätte ich gedacht, dass es so weit kommen könnte. Ich hab den Alkohol als zwar ständigen Begleiter, aber nicht als Beherrscher meiner Seele und meines Körpers gesehen. Ich muss mir endlich bewusst werden, was ich alles in mir und an anderen zerstört habe. Und ich muss mir die Chance geben, es wiedergutzumachen. Mögen mir meine Engel noch einmal schützend zur Seite stehen.

Tagebuch, 6. Januar 2022

Irgendetwas in mir sagt mir, dass mein Vorhaben aussichtsreich ist. Natürlich weiß ich nicht, ob ich das alles wirklich durchhalten werde, aber den Entzug möchte ich jetzt unbedingt machen.

Gerade hatte ich ein Gespräch mit meinem Therapeuten und mein mangelhaftes Englisch macht mir schon schwer zu schaffen. Aber der Mann ist geduldig und sehr nett.

Hoffnung statt Depression, wenn es nur so bleiben könnte. Zwei Sätze aus dem Buch Nüchtern