Der Mensch Marco - Willy Schwartz - E-Book

Der Mensch Marco E-Book

Willy Schwartz

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Beschreibung

Was denkt ein ganz normaler Mensch über KI, Liebe und das Leben? Marco, ein Alltagsmensch mit wachem Blick und klarem Verstand, nimmt uns mit auf eine humorvoll-tiefsinnige Reise durch die großen Fragen des Lebens. In kurzen, pointierten Kapiteln reflektiert er über Beziehungsmodelle, spirituelle Weltbilder, künstliche Intelligenz und das Wesen des Bewusstseins - stets getragen von einem Spagat zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und spiritueller Offenheit. Dabei bleibt Marco authentisch: Er ist kein Guru, kein Philosoph und kein Fachmann - sondern jemand, der das Leben beobachtet, kritisch hinterfragt und mit einem Augenzwinkern kommentiert. Seine Gedanken sind leicht zugänglich, doch voller Tiefe; seine Sichtweisen überraschend, aber nachvollziehbar. Dieses Buch ist für alle, die Sinnfragen stellen, ohne dogmatische Antworten zu suchen. Für Menschen, die sich zwischen Wissenschaft und Spiritualität bewegen und ihren eigenen Weg der Erkenntnis gehen möchten - mit Neugier, Reflexion und einem Schuss Selbstironie. „Der Mensch Marco“ – ein Buch für Kopf, Herz und Humor.

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Seitenzahl: 198

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Leben ist alltäglich. Ist es aber nicht gerade der Alltag, der die Substanz und die Elixiere liefert, aus denen das einzigartig individuelle Weltbild eines Menschen gebaut wird?

Marco

Inhaltsverzeichnis

Präambel

Marco

Milan – ein Zimmergenosse im Spital

Lukas – ein Geist als Sparringpartner

Judith, Exfrau

Christof –unbeirrbar engagiert

Vera und Aldo – auf der Suche

Tonya – Seelenmutter

Eric – ein Freigeist und Synthetiker

Die Begegnung

Präambel

Was denkt Marco, ein Mensch ohne besonderen Begabungen über Beziehung und Beziehungsformen? Sind Männer konfliktaffiner als Frauen? Sind Frauen ebenso wenig monogam wie Männer?

Warum könnenRoboter nicht träumen?Weshalb glauben viele Wissenschaftler nicht an Reinkarnation? Könnten sich Wissenschaft und Spiritualität nicht treffen, ohne Abstriche an den eigenen Wertvorstellungen zu machen?

"Mensch Marco" ist eine Kollektion von Ansichten eines Alltagsmenschen, verpackt in eine lockere Rahmenhandlung, mit Augenzwinkern formuliert, leicht zu lesen, aber trotzdem voll bedenkenswertem Inhalt! Mit einem Schuss Humor bringt uns der Autor Willy Schwartz die Lebensphilosophie Marcos fragmentarisch näher.

Marco

Sag mal Marco, wie gross sind deine Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn?

Die Frage kam von Silvia, Fachfrau Pflege im Spital Wetzikon, wo Marco als Unfallpatient gerade lag. Er versuchte, seine Befindlichkeit einzuordnen, und sagte:

Es geht schon, besser als gestern jedenfalls.

Obwohl er für sich den Schmerz bei fünf oder sechs einschätzte, gab er Silvia keine konkrete Zahl an. Das war schon wieder fast erträglich, verglichen mit den Schmerzen, die er noch vor wenigen Tagen verspürt hatte.

Sein Unfall, - es war April. Vor ihm fuhr ein randvoll mit grobem Kies beladener Kipplaster, hinten zweiachsig mit Zwillingsrädern. In einer engen Links-kurve verlor der Kipper einen Teil seiner Ladung. Auf einem mit Kugeln übersäten Untergrund gibt es fast keine Haftung mehr, das weiss man von Comics. Marcos Auto machte es nicht anders, verlor auf dem Geröll den Kontakt zur Strasse und flog über die Kurve hinaus. Die Sanität brachte Marco erheblich verletzt ins Spital Wetzikon.

Da lag er nun und fühlte sich betreut und aufgehoben. Die Spitalatmosphäre kannte er vorher nur als Besucher. Jetzt spürte er die Verunsicherung nicht, die ihn sonst im Spital beschlich, wegen des eigenartigen, sterilen Geruchs, der ihn nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass ein Spital eine Brutstätte für antibiotikaresistente Bakterien war.

Ein Morgen im Mai. Marco war gerade aufgestanden, nicht allzu früh und schlürfte seinen ersten Morgenkaffee.Er wunderte sich, weshalb er gerade jetzt an diese viele Jahre zurückliegende Situation im Spital denken musste, fand keine Erklärung dafür. Und was hiess schon, viele Jahre zurückliegend? Sein Unfall vor mehr als zwanzig Jahren und dessen Folgen warenheute noch immer zeitloser Bestandteil seines Lebens, seines Ichs. Er schloss die Augen unddachte nach, wer er sei. Ein einzelner Vertreter von vielen Milliarden Menschen, weniger als eine Ameise in einem grossen Ameisenvolk. Das war eine unspektakuläre Aussensicht. Aus seiner Innensicht aber war er ein Zentrum, ein Zentrum des Universums. Das empfand Marco nicht als Anmassung, sondern als Folge seines Bewusstseins, eine Folge, die auch für jeden anderen Menschenaus der Milliardenmenge zutreffen müsste.

Sein gelebtes Bewusstsein war sein Ich im Jetzt, synthetisiert aus allen seinen Ausprägungen, seinen bisherigen Erfahrungen und seinen entwickelten Meinungen. Alles, was ihm im Leben passiert war, war präsent und Bestandteil seines gegenwärtigen Ichs. Es kam ihm wie eine aufgeklappte Seite einesWimmelbuchs vor, das alle seine Erlebnisse im Direktzugriff zeigte. Diese Wimmelbuchseite ohne Chronologie der Ereignisse reichte bis in die Zeit zurück, als er elf oder zwölf war. Was er vorher als kleineres Kind erlebt und jetzt noch im Gedächtnis hatte, erschien ihm nicht als Bestandteil seiner selbst, seines Ichs, sondern war wie der Blick in ein Fotoalbum oder in einen Videoclip. Er wusste zum Beispiel aus seiner Erinnerung, dass er mit vier Jahren das erste Mal am Meergewesen war. Sein Vater setzte ihn damals auf eine Luftmatratze, deren Geruch er noch heute in der Nase hatte, und schob ihn ins Wasser. Er bekam Angst vor den in sein Gesicht spritzenden Wellen und schluckte Salzwasser. Das war diesem Kind – also ihm ‒ geschehen, aber es lebte in ihm eben als Erinnerung, wie ein Filmausschnitt, ohne dass sein erwachsenes Ich mit dieser Szene verknüpft war.

In seinen jungen Jahren erhoffte sich Marco, etwas Aussergewöhnliches zu schaffen, aus der anonymen Masse herauszustechen. Solche Wünsche hatte er später abgelegt. Es war nicht das Aufgeben von Hoffnungen, sondern die Einsicht, dass Herausragendes nur eine Folge des Gesichtspunktes sei. Der vermeintlich schönste Berg der Welt, das Matterhorn, kann seine Schönheit nur aus einer bestimmten Blickrichtung zeigen, ganz abgesehen davon, dass er weltweit nicht so einzigartig aussieht, wie es die ebenso imposanten BergeShivling in Indien, der Mount Assiniboine in Kanada und der Stetind in Norwegen bezeugen.

Marco nahm den letzten Schluck und räumte die leere Kaffeetasse in den Geschirrspüler, der mit dem Geschirr vom Vorabend beinahe gefüllt war. Er startete die Maschine mit dem Ecoprogramm und ertappte sich beim Gedanken, dass er ein unaufgeregtes Leben führte, wie Tausende andere auch, als ein Normalo, ein Westeuropäer, der das Glück hatte, in ein privilegiertes Umfeld geboren worden zu sein. Dabei spürte er den ausgleichenden Reiz des gewöhnlichen, simplen Alltags.

Marco weiter in seine Gedanken versunken:

Der simple Alltag ist wesentlich, weil er milliardenfach gelebt wird und gerade deshalb besonders globale Erfahrungsweisheit verstärkt beinhaltet. Nicht nur die von Individuen erlebten und empfundenen Alltagsereignisse sind wesentlich. Dasselbe gilt für alles Gedachte; jeder Gedanke eines Menschen ist dessen eigener Gedanke. Selbst jene Gedanken, die andere vor ihm schon ge-äussert haben, die er aufgenommen, integriert und allenfalls weiterentwickelt hat, sind dadurch zu seinen ihm eigenen Gedanken geworden.

Marco nahm den Putzlappen, roch daran und holte einen frischen, um in der Küche noch da und dort sichtbar gewordene Flecken wegzuputzen. Er war, obwohl Mann, multitaskingfähig, konnte gleichzeitig, ohne seine Hausarbeit zu unterbrechen, weiterdenken:

Gedanken sind am Gestaltenund Entwickeln des eigenen Lebens wesentlich mitbeteiligt. Auch das ist ein Grund, weshalb mein Leben unterschiedlich zum Leben anderer verläuft. Das trifft für alle Menschen zu: Jeder führt ein individuelles Leben in einziger Art und Weise. Auch dann, wenn Gene und Umfeld stark übereinstimmen, wie es bei Geschwistern, insbesondere bei eineiigen Zwillingen der Fall ist, können Lebenspläne sehr unterschiedlich ausfallen. Anderssein finde ich interessant. Lebenswelten anderer Menschen wecken meine Neugier.

Darum schaute Marco auch beim Spazieren durch Wohnquartiere gerne in die Küche oder ins Wohnzimmer anderer Leute in ihrer Alltagsumgebung. Ob dasein voyeuristischer Zug von ihm war?Er wusste aber, dass er damit nicht allein war. Viele andere verhielten sich ebenso neugierig. War das eine Erklärung dafür, dass so viele Biografien nicht nur geschrieben, sondern auch gelesen wurden?

Marco hatte Kommunikationswissenschaften und Informatik studiert. Kommunikation war seiner Ansicht nach eine der fundamentalsten Grundlagen aller menschlichen Lebensbereiche. Er befasste sich auch eingehend mit Naturwissenschaften. Zu Beginn seines Studiums war er sich seiner Fachwahl noch nicht sicher gewesen und hatte deswegen einige Physikvorlesungen mit Übungen besucht. In allen Fachrichtungen wurden Modelle erarbeitet und es wurde ihm bewusst, dass Vorstellungswelten ausschliesslich modellierte Konstruktionen im Kopf waren und die Wirklichkeitnur annähernd wiedergebenkonnten. Beim Studium des OSI-Schichtenmodell für Informationsaustausch zwischen IT-Systemen, welches Standardisierungen von Sende- und Empfangskomponenten festlegt, fand er eine bemerkenswerte Analogie von Schichtung zur Bedürfnispyramide nach Maslow. In beiden Modellen spielt die Hierarchie eine bedeutende Rolle, insofern dass eine obere Schicht die Existenz der unteren voraussetzt. Im OSI-Schichtenmodell bilden die Naturgesetze die unterste Schicht. Darauf basieren die Eigenschaften der physischen Träger und der Übermittler der Informationen. Höhere Schichten legen Datenformate fest. Auf jeder Schichtebene werden Input- und Output Standards vorgeschrieben. Beim Sprechen zwischen Menschen kann mananalog zumOSI-Modell ebenfalls eine standardisierende Schichtstruktur erkennen. Die Physik der Schallwellen bilden die unterste Schicht. Darauf basieren die Eigenschaften des Sprechapparates (Stimmbänder, Zunge, Lippen), die die Laute bilden. Diese gelangen als Schallwellen ins Ohr des Empfängers und regen das Trommelfell an, welches den Ton ans Nervensystem weiterleitet. Höhere Schichten regeln die Syntax der Wortbildung, dann folgt die Sprachgrammatik. Darauf basiert die Semantik und darüber liegt die Bewusstwerdung des Inhalts. Diese oberste Schicht ist Wesen mit Bewusstsein vorbehalten. Verbale Unterhaltungen zwischen einem Menschen und einem Chatbot findet auf der Chatbotseite ohne oberste Bewusstseinsschicht statt. Ein Chatbot versteht ein Gespräch inhaltlich nicht, weil ihm eine bewusste Bedeutung für Sprachinhalt fehlt. Bewusstsein ist Voraussetzungfür das inhaltliche Verstehen. Die Antworten des Chatbots sind Resultate einer statistischen Auswertung. Aus einer riesigen Anzahl von Erfahrungsantworten wird eine Antwort mit grosser Wahrscheinlichkeit erstellt. Der Dialog ist seitens des KI-Systems reine Simulation von Verstehen. Solange Chatbots und andere KI-Systeme ausschliesslich von digitalen Computern ausgeführt werden, wird dies auch so bleiben, denn Bewusstsein ist nicht digitalisierbar, genau so wenig übrigens wie Gefühle es auch nicht sind.

Schichtungen gab es im Weltbild von Marco auch in anderen Bereichen, ein Thema, mit dem sich Marco immer wieder beschäftigte.

Man konnte Marco nicht gerade als Grübler bezeichnen. Neugierig war zutreffender. Oft, wenn er sich seine Gedanken zu einem Thema machte, hoffte er, diese nicht schon bald wieder zu vergessen. Er machte dann aber die Erfahrung, dass vermeintlich interessante Gedanken etwas später einer ernsthaften Nachprüfung nicht standhielten und dass andererseits ihn selbst überzeugende Gedanken wiederholt erschienen und sich dadurch festigten. So nahm seine Gedankenwelt mit der Zeit immer konkretere Konturen an, wie ein Lehmblock, den manüber lange Zeit bearbeitete, bis er eine erkennbare Figur darstellte. Nur härtete dieser Lehm nie aus und die Figur konnte stets verändert werden, wenn neue Erkenntnisse dies erforderten.

Oft erfassten ihn Zweifel, ob er sich in seinen Überlegungen auf einem Holzweg befände und ob seine Folgerungen genügend durchdacht seien. Er sei gegen Informationsdefizite und gegen Fehleinschätzungen nicht gefeit. Dannwiederum ertappte er sich, das Gefühl zu haben, «es» schon zu wissen. Er fand, er sage sich zu oft: «Ich weiss». Aber eigentlich wusste er gar nichts. Alles, was er meinte zu wissen, waren nur Vorstellungen in seinem Kopf, in Modelle gepackte, reduzierte Wirklichkeit. Nichtsdestotrotz sagte er sich bei vielem: «Ich weiss!».

Marco war klar, dass er mit Modellen, wie auch mit Thesen keinen Anspruch auf Wahrheit erheben konnte. Aber sie bildeten gute Stützen beimWeiterbauen seiner Vorstellungswelt. Wiederholt führten ihn einige Aspekte in seinem Weltbild zu Schichten, aber auch zu Bifurkationen und wurden zu Pfeilern seines Gedankengebäudes.

Bifurkation steht für Option, für eine Wahl aus verschiedenen Möglichkeiten. Seine Entscheidung, sich in sein Auto zu setzen und loszufahren, war eine solche. Wenn Marco an seinen Unfall zurückdachte, stellte er sich die Frage, wie sich sein Leben, sein Lebensplan ohne Ausfahrt mit nachfolgendem Unfall, ohne die Begegnungen im Spital entwickelt hätte. In welche andere Richtung hätte er sich bewegt und wäre er derselbe Mensch, wie er jetzt war, geworden? Das würde er niemals erfahren. Es war ihm bewusst,dass er nur einen winzigen Ausschnitt aus all seinen Erlebnismöglichkeiten tatsächlich erlebt hatte und noch erleben würde. Denn genau genommen, ist beinahe jeder Augenblick im Leben eines Menschen eine passive oder selbst bewirkte Bifurkation. Sich für eine aus mehreren alternativen Möglichkeiten zu entscheiden, verunmöglicht das Erleben aller anderen, endgültig für alle Zeiten. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um bedeutende oder kleine Ereignisse und Entscheidungen handelt, die einem Lebenslauf eine Richtungsänderung verordnen. Soll ich Medizin oder doch eher Soziologie studieren? Oder soll ich heute oder morgen einkaufen gehen?Man weiss ja, der Flügelschlag eines Schmetterlings kann anderswo einen Orkan auslösen. Die getroffene Entscheidung nach solchen Fragen wird zum Lebensweg, zu dem der Person eigens gehörenden Werdegang. Es wäre falsch, in einem Rückblick zu sagen: Damals habe ich michvon einem besserenLebensweg abgewendet.

Marco musste unwillkürlich an eine seiner vermeintlich unbedeutenden Entscheidungen denken. Er war gerade zwanzig Jahre alt geworden und verbrachte seine Ferien in Spanien. An einem lauschigen Abend sass er im Garten einer Bodega in Valencia vor einem Teller Tapas und kam miteinem amerikanischen Paar am Nebentisch ins Plaudern. Rosemary und Travis hatten ein paar Wochen in Marokko verbracht und wollten vor ihrer Rückreise nach Hause in die USA noch einige Metropolen Europas besuchen. Rosemary, um die dreissig, hatte langes, fülliges Haar von heller, aber unbestimmbarer Farbe. Ihre Haarpracht passte zu ihren weichen Konturen, die Marco unter ihrem weitgeschnittenen Kleid vermuten konnte. Sie machte Marco unverblümt Avancen. Er reagierte unsicher, immerhin war sie in Begleitung ihres Freundes Travis, der die Postur eines Wrestling-Kämpfers hatte. Bei der Verabschiedung tauschten sie sich noch ferienbegegnungskonformdie Wohnadressen aus. Nur zwei Wochen nachseiner Rückkehr nach Zürich erhielt er einen Brief von Rosemary. Sie sei nun allein auf der Heimreise zurück in die USA, wolle noch für ein paar Tage in die Schweiz kommen, ob er sie beherbergen könne.

Dann war sie da und abends gingen sie miteinander aus: - er, Rosemary und Conny, Marcos damalige Freundin. Natürlich passierte im Ausgangnichts, was nicht hätte sein dürfen, aber Marco spürte erneut Rosemarys knisterndes Verlangen. Zurück in seiner Wohnung legten sie sich schlafen, er in seinemSchlafzimmer, Rosemary im Gästezimmer. Sie kam sehr bald und schlüpfte zu ihm unter die Decke. Marco hatte den ganzen Abend die schlecht verhüllte Eifersucht Connys bemerkt. Er spürte kurz Rosemarys weichen, warmen Körper, nahm ihren Duft wahr, was ihm sehr gefiel. Aber er blieb standhaft, erklärte Rosemary, dass sie in ihr Bett zurückkehren solle, sie hätte doch gesehen, dass er eine feste Freundin hätte.

Etwas wehmütig und zugleich über sich selbst schmunzelnd, stellte Marco rückblickend fest, dass aus der gemeinsamen Zeit mit Freundin Conny nur diese «verpasste Chance» in seiner Erinnerung haften geblieben war. Hatte er zwar nicht Conny, sich selbst aber betrogen? Er hatte damals diese Entscheidung getroffen, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob es sein Leben verändern würde. Ob sie richtungsweisend für sein Leben gewesen war? Er konnte es nicht wissen.

To hospitalize or not to hospitalize, that is the bifurcation

Milan – ein Zimmergenosse im Spital

Marcos Autounfall war, anders als die Luftmatratzenepisode, fester Bestandteil seines permanenten Bewusstseins geworden, auch wenn er nur sporadisch konkret daran dachte. Sein Lebensweg erhielt eine andere Richtung, als er damals erwarten konnte, es war ein Knick. Der Unfall war schicksalshaft, er passierte, ohne dass Marco selbst viel dazu beitrug, ausser dem Umstand, dass er überhaupt am Steuer seines Wagens sass. An den Folgen seiner Verletzungen laborierte er noch immer herum.

Im Spital hatten sie ihn in einem Zweier-Zimmer der allgemeinen Abteilung untergebracht. Sein Bett stand am Fenster, mit Blick in einen grünenden Park. Er war vorerst allein im Zimmer. Die Ärzte erklärten ihm, dass er operiert werden müsse, dass sie aber damit warten müssten, bis die Schwellungen um die Knochenbrüche etwas abgeklungen seien. So lag er stundenlang allein, oft unter Schmerzmitteleinfluss dösend, zu Untätigkeit gezwungen. Er machte sich Gedanken, warum und wozu er jetzt hier lag. Seine Gedanken kreisten zunehmend und zwanghaft um seinen Zustand, um seine Verletzungen und die damit verbundenen Schmerzen. Er spürte die Anteilnahme der Pflegekräfte und bekam das Gefühl, irgendwie im Mittelpunkt zu stehen. Diese egozentrierte Haltung wurde ihm bewusst und er versuchte, sie zurückzubinden. Das gelang ihm nichtwirklich, die Schmerzen dominierten zu sehr.

Marco lag nun schon fast eine Woche im Bezirksspital Wetzikon. Die Operation war kompliziert, aber gut verlaufen. Er würde noch einige Zeit im Spital verbleiben müssen, meinte sein Chirurg namens Schlachter. Welch ein Name für einen Chirurgen!

Es war am Nachmittag eines sonnigen Tages. Die Bäume vor dem Fenster begannen sachte Grün zu zeigen. Ein Patient wurde in sein Zimmer gebracht, athletischer Körper, braungebrannt. Seine lichtblauen Augen kontrastierten mit seinen mittellangen schwarzen, etwas wilden Locken. Milan, ungefähr 30-jährig, war ihm auf Anhieb sympathisch. Er war gelernter Zimmermann, wieMarco bald erfuhr. Die Vorstellung dieses Berufs löste bei Marco jeweils eine seltsam sehnsüchtige Stimmung aus. Warum, wusste er nicht. Menschen mit diesem Beruf strahlten etwas nicht Alltägliches aus, Unabhängigkeit, Macher, nützliches Naturhandwerk oder was auch immer.

Einen Dachstuhl zu zimmern, unter dem dann Andere lebten, hat etwas Erhabenes, meinte er.

Einen Tag nach Milans Ektomie eines gutartigen Tumors tauschten sie sich zum ersten Mal etwas vertiefter aus. Im Radio lief eine Klaviersonate von Beethoven. Marco wusste, Komponisten konnte man erkennen, auch ohne das konkrete Werk je gehört zu haben. Milan aber hörte aus der Spielweise auch den Pianisten namentlich heraus, nicht zufällig, darin war er sehr treffsicher, was sich in den nächsten Tagen des gemeinsamen Spitalaufenthalts immer wieder bestätigte.

Auf dem Korpus neben seinem Bett hatte Milan ein paar Bücher gestapelt. Darunter eines von Hans Küng, dem ethno-philosophischen, ökumenischen Theologen. Marco fragte Milan:

Warum liest du Hans Küng? Bist du religiös?

Milan zögerte mit der Antwort.

Ja, Nein. Ich denke, ich bin agnostisch. Und ich frage mich, ob Küng nicht auch Agnostiker war, ohne sich öffentlich dazu zu bekennen.

Wie kommst du darauf?, wollte Marco wissen.

Er differenziert zwischen Physik, Philosophie und Religion, teilt diesen Bereichen Rollen zu, um dann Schnittstellen und Möglichkeiten von Synthesen zu finden. Dabei stimmt er dem Weltbild der Physiker zu, zweifelt nicht an deren Theorien und Erkenntnissen im Grundsatz. Er anerkennt das Vorgehen in der Forschung mittels Mathematik. Das spricht doch gegen die Schöpfungsgeschichte der Bibel und der Kirche.

Und das Thema Glaube beschäftigt dich besonders?, fragte Marco.

Das Wort Glaube ist mit Emotionen und mit Missverständnissen behaftet. Ich möchte jetzt dem Allgemeinplatz«glauben heisst nicht wissen» keine Plattform geben, aber Küng eröffnet in seinen Schriften bedenkenswerte Ansätze zu mir wesentlichen Fragen von Weltanschauung.

Gilt nicht vielleicht eine Umkehrung? In der Art: Dank Wissen braucht es keinen Glauben?

Denkst du das?, fragte Milan.

Marco hörte vom Himmel ein leises Miauen und schaute zum Fenster hinaus. Für ein paar Augenblicke folgten seine Augen dem Kreisen eines Bussards.

Ich weiss nicht, ob es Wissen überhaupt gibt, ob Wissen im Grundegenommen nur kollektiver Glaube ist.

Und nach einer weiteren kurzen Gedankenpauseantwortete Marcomehr zu sich selbst:

Ja, doch es gibt Wissen, das Universum weiss, aber wir Menschen glauben.

Scheint mir ein bisschen drastisch deine Einschätzung! Es gibt gleichwohl recht Vieles, was wir wissen. Alle unsere technischen Errungenschaften basieren doch auf Wissen. Es ist so, dass …

Milan wollte noch etwas ergänzen, aber er wurde unterbrochen, weil er von Silvia für eine Nachkontrolle abgeholt wurde.

Neben dem Buch von Küng las Milan oft in einem dünnen und abgewetzten Einband mit schwarzem Umschlag. Manchmal schrieb er auch kurz etwas auf einen Post-it-Zettel und klebte diesen dann ein. Respekt hinderte Marco daran, in Milans Abwesenheit einen raschen Blick hineinzuwerfen. Nachdem Milan zurückgebracht wurde, fragte er ihn, ob sein schwarzes Notizheft ein Tagebuch sei.

Es ist eine Art Traktat von Eric, einem Freund von mir.

Traktat? Ist er Schriftsteller?

Nur Freund. Er hat mit mir die Zimmermannslehre begonnen und nach zwei Jahren wieder abgebrochen. Er meinte, ihn interessiere immer nur das Wesentliche, das Fundament einer Sache. Details seien zwar auch wichtig, aber er könne sich nicht auf einen einzigen Bereich menschlichen Wissensund auf eine einseitige Erfahrungswelt beschränken. Nur einen einzigen Beruf zu erlernen hiesse, auf Erkenntnisse aus unzähligen anderen Berufen zu verzichten. Aber das könne er nicht und wolle er auch nicht. So hätte er in diesen beiden Lehrjahren genug über die Berufswelt des Zimmermanns erfahren.

Marco hakte nach:

Hat er dann einen anderen Beruf gelernt?

Nein, zumindest vorerst nicht. Es war damals eine Zeit des Aufbruchs,Nachwirkungen der Hippie-Bewegung. Es zog viele Jugendliche in die Welt des Buddhismus und des Hinduismus. Manche suchten auf spirituellen Wegen weiterzukommen. So wurde Eric zuerst Anhänger der Hare-Krishna-Sekte. Aber die verliess er auch bald und ging, wie viele andere auch auf einen Trip nach Indien. Nach seiner Rückkehr trat er der Longo Maï-Gemeinschaft in den französischen Alpen an der Côte d’Azur bei.

Aha, da sehe ich den Prototypen eines Mainstreamers, bemerkte Marco leicht spöttisch.

Da tust du ihm unrecht. Ich würde sein Verhalten nicht so werten. Es herrschte damals eine hoffnungsvolle und ansteckende Aufbruchstimmung. Viele Jugendliche entdeckten ihr eigenes politisches Bewusstsein. War man bei den Pionieren einer Bewegung, konnte man kaum den Vorwurf des Mainstreamers erheben. Eigentlich auch in anschliessenden Phasen nicht. Warum soll das Verwirklichen einer momentanen Überzeugung negativ bewertet werden?

Natürlich, da hast du recht…

Milan führte mit Nachdruck weiter aus:

Ich halte Wertungen einer Lebenshaltung ohnehin für problematisch und ausserdem für ein Anzeichen von Überheblichkeit. Gerade wir, als Privilegierte in Westeuropa, in die Schweiz hineingeboren, neigen manchmal dazu, uns besser zu finden als die aus dem Ausland. Dabei sind Schweizer auch Ausländer,für die allermeisten Menschen dieser Erde. Ich selbst habe slawische Wurzeln und weiss deshalb, wovon ich spreche.

Marco stichelte trotzdem weiter:

Sicherlich hat Eric umfassende Drogenerfahrungen gemacht.

Und wer meinst du, hat aus dieser Zeit keine Drogenerfahrung? Vor allem dann, wenn Alkohol und Nikotin auch zu den Drogen gezählt werden, was man eigentlich tun müsste.

Lass gut sein. Aber wie kamst du zu seinem Traktat?

Vor ein paar Jahren besuchte Eric seine Eltern in Zürich. Er erkundigte sich nach meiner Adresse und schrieb mir kurz, dass er mich sehen möchte. Wir trafen uns für ein Abendessen am See. Mir fiel auf, dass er jeweils vor allem von sich erzählte und wenig Interesse an meiner Person hatte. Er hat eben auch eine narzisstische Seite.

Milan schenkte sich Mineralwasser ein und fuhr fort:

Einmal fragte ich Eric, ob ihn Spiritualität und Philosophie immer noch gleich wie einst beschäftigen. Er antwortete mir,dass er irgendwann ein grosses Chaos in seinem Kopfverspürt hatte und oft nicht mehr wusste, was er sich am Vortag intensiv überlegt hatte. Er beschloss deshalb, stets ein Notizheft bei sich zu tragen, um spontan auftauchende Gedanken niederzuschreiben, bevor sie wie aus dem Nichts geboren wieder ins Nirwana des Vergessens versanken.

Ja das kenne ich nur zu gut, pflichtete Marco ihm bei.

Milan fuhr weiter:

Ein paar Tage nach seiner Abreise nach Papua-Neuguinea …

Marco unterbrach:

Er ging nach Papua-Neuguinea? Was wollte er dort?

Warte doch, ich sag’s dir gleich. Also, der Postbote brachte mir einen dicken Brief. Es enthielt ein dünnes Buch in schwarzen Halbkartondeckeln gebunden, eng in Handschrift beschrieben. Es kam von Eric. Er schrieb dazu, dass dieseSchrift eine Zusammenführung all seiner bisherigen Notizen enthalte. Er wollte es nicht nach Papua-Neuguineamitnehmen, um gedanklichbefreit in sein neues Leben treten zu können. Gerne überlasse er es mir.

Und warum ging er dorthin?, fragte Marco.

Er verfolge, wie er selbst sagte, seinen Seelentrip noch weiter. Dazu müsse er einen Schnitt hinter sein bisheriges Leben machen. Mehr als ein Jahr lang hörte ich nichts von ihm. Dann kam ein Brief. Er schrieb mir, er sei in die Gemeinschaft eines Naturvolkes im Urwald von Papua-Neuguinea aufgenommen worden, habe deren Sprache gelernt, lebe nach ihren Traditionen und habe mit einer Frau des Stammes eine Familie gegründet. Handwerklich könne er leidlich mithelfen, aber es mangle ihm an Geschick.

Einmal mehr unterbrach ihn Marco:

Zuwenig Geschick, obwohl er einst angehender Zimmermann war?

Ich denke, er meinte nicht den Bau von Häusern, sondern die Alltagsverrichtungen in einem Urwald, die nach anders gearteten Fertigkeiten verlangten. Na ja, er berichtete, den Kindern im Dorf bringe er Englisch bei, so habe er doch Anerkennung gewonnen.

Und du liest jetzt sein Vermächtnis? Worüber hat er denn geschrieben?

Ich habe noch nicht viel darin gelesen. Wenn es dich interessiert, gebe ich es dir weiter, sobald ich damit fertig bin.

Dabei zeigte Milan auf das schwarze Buch und lehnte sich mit stillem Lächeln in seine Kissen. Marco wurde klar, Milan benötigte jetzt eine Ruhepause.

Marcos Trip über die Zeit

Sie lagen nun schon eine knappe Woche gemeinsam im Spital. Milans Austritt war absehbar; bald würde er wieder in die «Freiheit» entlassen. Nicht soMarco. Die Aussicht, den Spitalalltagmit seinem spezifischen Geruch,mit seiner strengen Tagesstruktur und mit dem Kommen und Gehen von Patienten und Besuchern noch viele Tage weiter geniessen zu dürfen, erhöhten seine Stimmung nicht gerade. Marcos schwere Knochenbrüche bereiteten ihm auch nach den Operationen dumpfe und anhaltende Schmerzen. Alle vier Stunden bekam er ein auf Morphin basierendes Mittel gespritzt. Vor allem die Nächtewaren kaum auszuhalten. So war er um die bereichernden Gespräche mit Milan vor dem Einschlafen sehr dankbar. Silvia hatte Spätdienst und sie beide bereits für die Nacht vorbereitet. Die Zeit verging zähflüssig. Beide waren in Gedanken versunken. Milan spürte die Langsamkeit der Zeit offenbar auch und meinte: