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Leben für Allah Fromme Muslime, so steht es in einem Koranvers, sind "Gott näher als der eigenen Halsschlagader". Sie widmen sich in besonderem Maß ihrer Religion, verstehen das Diesseits nur als Übergangsstadium zum ewigen Leben im Paradies und versuchen die Gebote Gottes im Alltag einzuhalten. Über dieses konservative Segment des deutschen Islams, das oft als fundamentalistisch eingestuft wird, existiert nahezu kein verlässliches Wissen. Susanne Schröter hat drei Jahre lang in Wiesbadener Moscheegemeinschaften geforscht und gibt in diesem Buch einen einmaligen Einblick in das Leben und die Gedankenwelten streng gläubiger Muslime. Darüber hinaus zeigt sie, mit welchen Programmen eine ganznormale deutsche Stadt sich seit Jahrzehnten um Integration bemüht.
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Seitenzahl: 695
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Susanne Schröter
»Gott näher als der eigenen Halsschlagader«
Fromme Muslime in Deutschland
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Fromme Muslime, so steht es in einem Koranvers, sind »Gott näher als der eigenen Halsschlagader«. Sie leben die Gebote Gottes, um ins Paradies zu kommen. Das macht vielen Nicht-Muslimen Angst: Denn wo kippt Frömmigkeit in Fundamentalismus um und wird gefährlich für die ganze Gesellschaft? Susanne Schröter gibt in ihrem Buch erstmals einen konkreten Einblick in Leben, Gemeinschaft und Wertvorstellungen gläubiger Muslime in Deutschland. Dabei wird klar: die frommen Gemeinden befinden sich auf einer Gratwanderung zwischen moderaten und fundamentalistischen Positionen. Am Schauplatz Wiesbaden zeigt Schröter, mit welchen Programmen eine ganz normale deutsche Stadt sich um Integration bemüht hat. Die Wirkkraft ihres Buches über islamisches Leben, die öffentliche Debatte und Probleme multikultureller Gesellschaften, reicht weit über die Stadt hinaus.
Vita
Prof. Dr. Susanne Schröter ist Direktorin des Instituts für Ethnologie der GoetheUniversität Frankfurt/Main und Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI). Darüber hinaus ist sie Direktorin im Cornelia Goethe Centrum für Geschlechterforschung und Vorstandsmitglied des Deutschen Orient-Instituts.
Vorwort
Dank
Teil I Muslime in Deutschland: Zwischen Stigmatisierung und Anerkennung
1.Gehört der Islam zu Deutschland?
2.Orientschwärmereien
3.Orientwissenschaft und deutsche Geheimdienstmissionen
4.Migranten und Postmigranten
5.Islamkritik oder Islamophobie?
6.Auf Reformkurs
Teil II Muslime in Wiesbaden: Vielfältig, hybrid, transkulturell
1.Religiöse Heimat unter wilhelminischen Dekors: Die Süleymaniye-Moschee
Vom Hinterhof zur Gründerzeitvilla
Türkische Kultur in der Stadt
Traumberuf Moscheelehrerin
Lahmacun zum Freitagsgebet
Kino und Koranrezitationen
Über Mädchen nachdenken
Yusuf, der Erfolgreiche
2.Mitgliederstark und dennoch am Rande: DITIB
Muslimischer Verband zwischen der Türkei und Deutschland
Eine Moscheegemeinde im Abseits?
Ein bescheidenes Anwesen
Tanzgruppen, Gesprächskreise und Fußball
Jugend zwischen frommer Selbstinszenierung und traditionellem Pragmatismus
3.Tulpen zum Freitagsgebet: Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs
Das Erbe Necmettin Erbakans
Unter Extremismusverdacht
Islamismus oder Postislamismus?
Tulpen für die Ehefrauen
4.Süßer Tee und Herzensbildung: Sufistische Bruderschaften
Entrückte Sucher Gottes
»Was Gott am meisten liebt, ist das pünktliche Gebet«
Husamuddin, der Gottesfürchtige
Das nafs
Zikhr in einer Mietwohnung
Geschlechtertrennung wider Willen
Grüne Kopftücher, »damit die Engel uns sehen«
»Das letzte Hemd hat keine Taschen«
5.Ein Ort zum Weinen: Die Imam-Hossein-Moschee
Steine aus Kerbela
»Ein Mann ohne Bart ist wie Spaghetti ohne Soße«
Um Fatima trauern
Fastenbrechen
Hamideh, die Aufgeschlossene
Die Schülerin Samira findet Halt in der Religion
Zohra klagt über Diskriminierung
6.100 Moscheen bauen: Die Ahmadiyya Muslim Jamaat
»Strebe nach Wissen, selbst wenn du zu diesem Zweck bis nach China gehen müsstest«
Eine effiziente Organisation
Familienbande
Nicht »faul rumhocken«
Die Jalsa Salana
Das Ideal der gebildeten Mutter
7.Kulturell und mental europäisch: Die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken
Die Entstehung eines europäischen Islam
Säkularisierung und Revitalisierung des Islam
In der Diaspora
Respekt vor den Lehrern
8.Der Scharia folgen: Der Islamische Kulturverein Masjid Ali
Ein konfliktloser Moscheebau
Wann ist der jihad gerechtfertigt?
Frauen wie Blumen behandeln
Verbindendes und Trennendes
»Wenn du was erreichen willst, erreichst du auch etwas«
9.Im Paradies die Gewinner: Die Tauhid-Moschee
Das endlose Moscheebauvorhaben
Eine aktive Frauengruppe
Die Prinzessin
Amina, die Unkonventionelle
»Ich hab gedacht, alle Männer sind wie mein Papa«
Diese Liebe zu Gott
Der Weg zum Glück
Darf man Frauen schlagen?
Al-Qaida, Salafismus und der Westen
Liebe und Furcht vor Allah
Der innere Frieden und eine keusche Frau
10.Männer mit Bärten: Der Weg der Mitte
Eine schwierige Annäherung
Frauen unter dem Schutz des Islam
Das Gesetz Gottes
Die Kampagne des Abou Nagie
11.Engel, Geister und die Schönheit des Gebets: Die Omar-Ibnulkatab-Moschee
Die schönste Moschee der Stadt
»Man geht zum Imam und beschwert sich«
Der Kosmopolit
Iftar unter Männern
Auf der Frauenempore
Engel, gute Taten und die Liebe eines Bäckers
Bedeckte Schönheiten und Jungfrauen mit schwellenden Brüsten
Der Prophet und die Hausarbeit
Im Diesseits eine Moschee, im Jenseits ein Palast
Verschwundene Gebetsteppiche, die jin und der Teufel
Duldsamkeit als Ideal
»Bei uns haben die Frauen die Hosen an«
Die Nacht des Schicksals
12.Durch Heiratsbeziehungen mit Marokko verbunden: Die Badr Moschee
Ein Sportzentrum wird Moschee
Freiheit und Pünktlichkeit
Das Wunder der Konversion
»Vier Frauen sind nicht möglich«
Eine enge Gemeinschaft
13Ohne Kopftuch in die Hölle: Der Afghanische Kulturverein
Der schönste Ort am Siedlungsrand
Fußball für die Jungen, Koranlesen für die Mädchen
Vom Love-Parade-Besucher zum Gemeindeaktivisten
Hinter dem gelben Vorhang
Eine Frau ist wie eine Perle
Die Befehle Allahs befolgen
Teil III Debatten, Programme, Positionen
1.Kommunale Interventionen
Marginalisierte Quartiere und kommunale Programme
Die Arbeitsgemeinschaft Islamischer Gemeinden Wiesbadens
Muslimische Seelsorge
Die Wiesbadener Integrationsvereinbarung
Die Wiesbadener Salafismus-Debatte
Wie funktioniert interreligiöser Dialog?
Fazit
2.Jugend zwischen Kicker und Gebetsraum
Kein Kind zurücklassen
Schule ohne Rassismus
In der Schule Machos, in der Moschee brave Jungs
Brennpunktschulen
Kultur der Ehre
»Immer die Keule des Gottes …«
Peergruppenleiter in den Moscheen
Muslimische Pfadfinder
Fazit
3.Verbotenes Begehren und arrangierte Ehen
Säkulares Recht, Grundgesetz und Koran
Islamischer Feminismus
Kopftuchdebatten
Kleidungsstück der Sehnsucht?
Unsittlichkeit vermeiden
Fashion-Islam, ethnische Traditionen und die Demonstration von Frömmigkeit
Unerlaubtes Begehren
Einen Ehepartner finden
Gewalt gegen Frauen: Fiktion oder Realität?
»Du bist wie eine Deutsche«
Fazit
Schlussbetrachtung
Anmerkungen
Vorwort
Teil I Muslime in Deutschland: Zwischen Stigmatisierung und Anerkennung
Teil II Muslime in Wiesbaden: Vielfältig, hybrid, transkulturell
Teil III Debatten, Programme, Positionen
Schlussbetrachtung
Glossar
Literatur
»Wir schufen einst den Menschen und wissen ganz genau, was seine Seele ihm einzuflüstern sucht: Denn wir sind ihm viel näher noch als seine Halsschlagader.«
Koran (Sure 50, Vers 16)
»Ihr Menschen!
Siehe, wir […] machten euch zu Völkern und Stämmen, damit ihr einander kennenlernt.«
Koran (Sure 49 Vers 13)
Dieses Buch handelt von frommen Muslimen in einer deutschen Mittelstadt, von Menschen, denen »Gott näher ist als ihre eigene Halsschlagader«, wie es im Koran heißt. Seine Fertigstellung fällt in eine Zeit, in der zahllose Menschen vor der Gewalt islamischer Extremisten aus ihrer Heimat fliehen, vor den »Gotteskriegern«, die unter der Flagge des »Islamischen Staats« entsetzliche Gräueltaten vor allem in Syrien, Afghanistan und dem Irak verüben und auch Europa mit Terror konfrontieren. Angesichts dieser Entwicklung wird der Islam von vielen Nichtmuslimen mit Gewalt und Rechtlosigkeit assoziiert. Vorbehalte gegenüber dem Islam und den Muslimen oder gar Islamfeindlichkeit waren in Deutschland allerdings schon vor dem Auftreten des »IS« und der Berichterstattung darüber weit verbreitet und muss als eines von vielen Hindernissen beim Aufbau einer multikulturellen Gesellschaft bezeichnet werden.
Islamfeindlichkeit resultiert unter anderem aus einem Mangel an Wissen. Zwar sprechen Viele über den Islam, aber Wenige mit einem substanziellen Hintergrund. 67 Prozent der von der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan im Jahr 2013 befragten deutschen Bürger schätzten die eigenen diesbezüglichen Kenntnisse als gering ein.1 So verwundert es nicht, dass die obskure Gruppe PEGIDA (»Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«) sich ausgerechnet in Dresden zusammenfand, einer Stadt, in der man sich schon Mühe geben muss, um überhaupt auf einen Muslim zu treffen.
Mit diesem Buch hoffe ich, Wissenslücken zu schließen und dadurch verzerrten Vorstellungen über »den« Islam entgegenzuwirken. Ich zeige verschiedene Varianten eines gelebten Islam in einer gewöhnlichen deutschen Stadt und stelle Muslime in der Vielfalt ihrer Identitäten, Wertvorstellungen und Lebensstile vor. Die Forschung wurde in Wiesbaden durchgeführt, einer unspektakulären Kommune, in der Muslime seit mehr als fünfzig Jahren zu Hause sind und den Alltag mitprägen. Die frommen unter ihnen, diejenigen, die ihre Zeit in besonderem Maß der Religion widmen, organisieren sich in 15 Moscheegemeinschaften und sufistischen Orden.2 Diese Menschen stehen im Mittelpunkt meines Buches. Ich schreibe nicht über sogenannte »Kulturmuslime«, über Menschen, die zwar an Gott und seinen Propheten glauben, es aber mit den islamischen Pflichten nicht so genau nehmen. Mich interessieren hier ausschließlich die »religiösen Muslime«, diejenigen, die die Religion ins Zentrum ihres Daseins rücken und versuchen, ihr Leben in Einklang mit den Gesetzen Gottes zu bringen oder eine besondere spirituelle Beziehung zu Allah anstreben. Über dieses konservativ-fromme Segment des deutschen Islam ist nur wenig bekannt. Es gibt zwar unzählige Studien, in denen mithilfe sozialwissenschaftlicher Verfahren Einstellungen, Bildungsgrad und ökonomische Potenz abgefragt wurden, doch hinter diesen Daten werden Menschen selten sichtbar. So bringen herkömmliche quantitative Methoden und standardisierte Fragebögen zwar verallgemeinerbare Daten hervor, diese Daten sind aber zwangsläufig unterkomplex und simplifizierend. Kurz gesagt: Die Gefahr besteht, dass Stereotype abgefragt werden.
Als Ethnologin gewinne ich Daten dagegen nicht aus dem Studium von Texten oder mithilfe von vorgefertigten Fragebögen, sondern durch »teilnehmende Beobachtung«3 von Ereignissen und verschiedene Gesprächtechniken. Ich will verstehen, wie der oder die Andere denkt und fühlt, in welche Kategorien er oder sie die Welt einteilt und nach welchen Prämissen er oder sie handelt. Ethnologen versuchen sich in ihr Gegenüber hineinzuversezen und seinen Standpunkt gewissermaßen von Innen zu sehen. Dieses Herangehen braucht Zeit. Man baut Beziehungen auf, folgt Ereignissen und entdeckt unentwegt Neues. Je länger man in einem Projekt forscht, desto tiefer wird das Verständnis, was es nicht selten schwer macht, einen Schlussstrich zu ziehen.
Die Wiesbadener Forschung war ursprünglich auf zwei Jahre angelegt, erstreckte sich dann aber auf einen Zeitraum von Oktober 2011 bis September 2014; einzelne Interviews folgten sogar noch bis Juli 2015. Ich habe, meist in Begleitung meines Mitarbeiters Oliver Bertrand, formelle und informelle Gespräche mit 137 Personen aus muslimischen Gemeinschaften geführt. Wir haben mit unseren Dialogpartnern- und partnerinnen zusammen gegessen und getrunken, über Religion und Politik diskutiert, alltägliche Probleme erörtert und Lebensgeschichten ausgetauscht. Wir wurden zu Festen, Gebeten und Aktivitäten im Rahmen des Ramadan eingeladen, haben an Diskussionsveranstaltungen, Treffen des »Arbeitskreises Islamischer Gemeinden in Wiesbaden« sowie Sitzungen städtischer Einrichtungen teilgenommen und haben uns zu zweit, zu dritt oder in kleinen Gruppen privat getroffen. Dazu kamen Interviews mit Angehörigen des Amtes für Integration, der Polizei und des Verfassungsschutzes, mit Schulleiterinnen und Lehrern, Pfarrern sowie der Leiterin der Justizvollzugsanstalt.
Die Mitglieder der Wiesbadener Gemeinden hatten es selbst in der Hand zu bestimmen, welchen Part sie in dem Projekt spielen würden, ob die Gespräche eher förmlich oder offen verlaufen sollten, ob sich engere, vielleicht sogar freundschaftliche Beziehungen ergeben würden oder es nur bei einer einzigen Begegnung bleiben sollte. Wo die Kontakte unkompliziert waren, wo wir Gesprächspartner fanden, die Lust hatten, über dieses und jenes zu plaudern, kamen schnell Informationen zusammen, die ich in diesem Buch festgehalten habe. Wo die äußeren Umstände gerade ungünstig waren oder man uns reserviert gegenüberstand, ist dies nicht geschehen. Deshalb werden einige Gemeinschaften ausführlicher erwähnt als andere. Ich habe große Herzlichkeit und Offenheit erlebt, aber auch Misstrauen und Ablehnung. Einige meiner Gesprächspartner hatten Angst, ich könnte das Gehörte missbrauchen, um Muslime zu diskreditieren, andere hofften, ich würde die herrschenden Vorurteile widerlegen.
Alle Personen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind fromm und verstehen sich im religiösen Sinne als konservativ. Dennoch kommen sie in den tagtäglichen Auseinandersetzungen mit ihrer Religion zu unterschiedlichen Schlüssen, praktizieren einen unterschiedlichen Alltag und entwickeln unterschiedliche Vorstellungen für ihre Zukunft. Einige von ihnen träumen von einer Gesellschaft, die dem idealisierten Vorbild Medinas im 7. Jahrhundert ähnlich ist, andere sind glühende Verfechter des deutschen Rechtsstaates, manche versuchen, beides miteinander zu vereinbaren.
Das Buch beginnt einleitend (Teil I) mit der öffentlichen Debatte über den Islam in Deutschland, die bereits zur Zeit Goethes von widerstreitenden Projektionen geprägt war und einerseits zu schwärmerischer Orientbegeisterung, andererseits zu rassistischer Abwehr führte. Diese Polarisierung ist auch heute noch virulent, wenngleich sie von vielen kritisch reflektiert wird. Der zentrale zwei Teil (II) führt die Vielfalt muslimischen Lebens in Wiesbaden vor Augen, unterteilt nach Gemeinschaften, in denen jeweils eigene Vorstellungen von Islam entwickelt werden, und nach Personen, die mir ihre Geschichte, ihre Erfahrungen und ihre Perspektive auf Religion erzählten. Ich habe den narrativen Charakter der Gespräche beibehalten und erzähle Begebenheiten, die mir selbst bedeutsam erscheinen. Es geht darin unter anderem um die Überwindung des eigenen Egos, das man wie einen Esel bändigen und als Reittier verwenden kann, um zu Gott zu gelangen; um die Erwartung junger Männer, im Paradies die Gewinner zu sein, wenn sie im Diesseits den Befehlen Allahs gehorchen: um das alltägliche Wirken von Geistern und dem Teufel; um Frauen, die den Propheten Mohammed als ersten Feministen der Weltgeschichte zeichnen, um ihren Ehemännern die Hausarbeit schmackhaft zu machen; und um Gründe für arrangierte Ehen unter Verwandten. Da ich nicht nur Gespräche geführt, sondern auch an religiösen Aktivitäten teilgenommen habe, kommt auch die Poesie islamischer Rituale in den Blick. Das Dabeisein in den Moscheen oder an anderen Orten, an denen gebetet wurde, hat mir eine Dimension des muslimischen Glaubens erschlossen, die mich sehr berührt und zum Verständnis ebenso beigetragen hat wie die intellektuelle Reflexion über islamische Normen und Werte.
In Teil III diskutiere ich schließlich Probleme der multikulturellen Stadtgesellschaft, die Muslime in besonderer Weise betreffen, sowie Ansätze von Problemlösungen. Dazu zählen die Bildungs- und Jugendarbeit, Fragen der Geschlechterordnung und das Verhältnis von frommen Muslimen zu radikalen Ideologien und Gewalt. Es geht in diesem Teil auch um die Schwierigkeiten der Extremismusprävention und um Initiativen, mit Hilfe derer Mitglieder von Moscheegemeinden, muslimische Aktivisten und andere Akteure der Zivilgesellschaft das Zusammenleben innerhalb der Kommune konstruktiv zu gestalten versuchen. Wiesbaden steht dabei exemplarisch für viele andere Städte der Bundesrepublik Deutschland, in denen die gleichen Herausforderungen bewältigt werden müssen.
Ethnologische Forschung findet nicht am heimischen Schreibtisch oder im universitären Elfenbeinturm statt. Sie basiert auf Gesprächen und Erlebnissen mit Menschen, die sich bereit erklären, Einblicke in ihr Leben zu gewähren und ihre Gedanken mit der Forscherin zu teilen. Ich hatte das große Glück, dass viele Wiesbadener und Wiesbadenerinnen mein Projekt unterstützten, mir als Interviewpartner zur Verfügung standen, mich an ihrem Alltag teilhaben ließen oder mir Kontakte vermittelten. Dies betrifft an erster Stelle die Vorstände und Mitglieder der Moscheegemeinschaften und sufistischen Orden, die mir ihre Zeit gewidmet haben. Um ihre Identität zu schützen, habe ich sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, anonymisiert. Wenn Personen ausschließlich in ihrer Eigenschaft als Funktionsträger, Amtsinhaber oder Experten sprechen, habe ich ihre tatsächlichen Namen beibehalten. Ihnen allen gebührt mein herzlicher Dank. Ich danke außerdem den Fachleuten aus kommunalen Einrichtungen, den Mitarbeitern des Verfassungsschutzes und der Leiterin der JVA, die mir mit ihrem Wissen neue Perspektiven und mit ihren Kontakten neue Möglichkeiten eröffneten. Namentlich möchte ich an dieser Stelle nur zwei Personen erwähnen, die für das Gelingen meines Projektes von besonderer Bedeutung waren. An erster Stelle ist dies Rose-Lore Scholz, die Dezernentin für Kultur, Bildung und Integration, die mir Türen und Tore in den städtischen Einrichtungen geöffnet und mein Projekt in jeder Hinsicht gefördert hat. Mein Dank gebührt außerdem Janine Rudolph, der Leiterin des Integrationsamtes, die mich in viele ihrer Aktivitäten einbezog und mir eine wertvolle Lotsin durch den kommunalen Integrationsdschungel war. Ganz besonders möchte ich auch meinem Mitarbeiter Oliver Bertrand danken, der mich bei etlichen Interviews begleitet hat, bereit war, zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten schwierige Fragen zu diskutieren und immer den Überblick behielt. Ohne ihn wäre diese Forschung nicht möglich gewesen.
Institutionell ist das Projekt »Fromme Muslime in Wiesbaden« im Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt verortet; die Lektoratsarbeiten wurden von Dr. Sabine Lang durchgeführt. Auch ihnen sei ganz herzlich gedankt.
»Wer sich selbst und andre kennt,
wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.«
Goethe, West-östlicher Divan
Muslime stellen in Wiesbaden wie auch in anderen deutschen Städten eine Bevölkerungsgruppe dar, die in der Öffentlichkeit konträre und zum Teil sehr heftige Reaktionen auslöst. Für die einen sind sie ungeliebte Fremde und Anhänger einer in vielfacher Hinsicht unter Verdacht stehenden Religion, für die anderen eine diskriminierte Minderheit, deren Leben durch Vorurteile und islamophobe Ausgrenzungen schwer gemacht wird. Beide Positionen werden gewöhnlich generalisiert, verabsolutiert und zum Indikator für den Zustand der Einwanderungsgesellschaft gemacht. Der jeweiligen Positionierung entsprechend ist diese dann entweder in einem Zustand multikultureller Selbstzerstörung begriffen oder in einem ungebrochenen, auf den Nationalsozialismus zurückgehenden Rassismus gefangen. In diesem einleitenden Kapitel soll die Debatte schlaglichtartig nachgezeichnet, aber auch darauf hingewiesen werden, dass es vielfältige Ansätze gab und gibt, welche die simplen Dichotomien überschreiten und einem alltagstauglichen und weniger symbolgeladenen Verhältnis zwischen Muslimen und Nichtmuslimen den Weg weisen.
Wie das Christentum und das Judentum, erklärte der ehemalige deutsche Bundespräsident Christian Wulff im Oktober 2010 in seiner Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, gehöre mittlerweile auch der Islam zu Deutschland. Wohl wissend, dass ein solches Bekenntnis in seiner eigenen Partei nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen würde, fügte er hinzu, dass zweihundert Jahre zuvor bereits Johann Wolfgang von Goethe auf dem Höhepunkt seines Ruhmes eine ähnliche Auffassung vertreten habe. In seinem West-östlichen Divan, so Wulff, habe der Dichter geschrieben: »Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.« Sich selbst auf die Schultern eines Riesen zu stellen ist ein probates Mittel für diejenigen, die bei waghalsigem Vorpreschen mächtige Unterstützung suchen. Die Reminiszenz an Goethe sollte Wulff allerdings wenig nützen, denn schon wurden im konservativ-christlichen Lager der deutschen Politik die Messer gewetzt, und man holte zum Gegenschlag gegen den kühnen Dissidenten aus. Im März 2011 war es so weit, und der neu gekürte deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich, pikanterweise von Amts wegen auch Schirmherr der Deutschen Islamkonferenz, polterte: »Dass der Islam Teil unserer Kultur ist, unterschreibe ich nicht. Um das klar zu sagen: Die Leitkultur in Deutschland ist die christlich-jüdisch-abendländische Kultur. Sie ist nicht die islamische und wird es auch nicht in Zukunft sein.«1
Ähnlich sah dies im April 2012 Volker Kauder, damals Fraktionsvorsitzender der CDU. Der Passauer Neuen Presse gegenüber ließ er verlautbaren: »Der Islam ist nicht Teil unserer Tradition und Identität in Deutschland und gehört somit nicht zu Deutschland. Muslime gehören aber sehr wohl zu Deutschland. Sie genießen selbstverständlich als Staatsbürger die vollen Rechte.«2 Wer jetzt vorschnell glaubte, in den gebetsmühlenhaften Bekundungen zu einer jüdisch-christlichen Kollektividentität eine typische konservative Position ausmachen zu können, musste sich enttäuscht sehen, als sich auch Wulffs Nachfolger Joachim Gauck, ein ehemaliger protestantischer Pfarrer, der sich in der Bürgerbewegung der DDR große Verdienste erworben hatte und von der SPD und den Grünen für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen worden war, vom Vorstoß seines Vorgängers distanzierte. »Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland«,3 sagte er gegenüber der Presse und vollzog damit einen unbeabsichtigten Schulterschluss mit Kauder.
Drei Jahre später wurde die Debatte noch einmal durch eine Wiederholung der Wulffschen Aussage durch die Bundeskanzlerin befeuert. Sie hatte sich nach dem verheerenden Anschlag auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo demonstrativ vor die deutschen Muslime gestellt und anlässlich des Besuchs des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu bekundet: »Von meiner Seite möchte ich sagen, dass unser früherer Bundespräsident Christian Wulff gesagt hat, der Islam gehört zu Deutschland. Und das ist so, dieser Meinung bin ich auch.«4 Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich konterte prompt: »Ich teile diese Auffassung nicht. Muslime sind in Deutschland willkommen und können ihre Religion ausüben. Das bedeutet aber nicht, dass der Islam zu Sachsen gehört.«5 Auch die Junge Union machte Front gegen die Kanzlerin. Ihr Vorsitzender Paul Ziemiak ließ der Presse gegenüber verlautbaren: »Die Wurzeln unseres Landes sind von der christlich-jüdischen Tradition geprägt, nicht durch den Islam.«6
Die Äußerungen dieser Repräsentanten der Bundesrepublik machen deutlich, dass sich deutsche Politiker mit ihren muslimischen Mitbürgern schwertun. Während die einen sich zu einer demonstrativen Geste des Handreichens gegenüber der seit mehr als fünfzig Jahre in Deutschland lebenden religiösen Minderheit herausgefordert sehen und sich darin gefallen, starke Bekenntnisse zu Pluralität und Diversität abzugeben, sind andere offensichtlich nach wie vor befremdet von der neuen öffentlichen Präsenz der Muslime.
Dabei war der Islam in der jüngeren deutschen Geschichte keinesfalls eindeutig negativ konnotiert. Zwar lässt sich die lange Geschichte von Kriegen zwischen Muslimen und Christen – die Kreuzzüge vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, die Eroberungen und Wiedereroberungen Spaniens vom 8. bis zum 15. Jahrhundert und die Kriege des Osmanischen Reiches mit einer Allianz europäischer Machte im 16. und 17. Jahrhundert – nicht leugnen, doch nach der erfolglosen zweiten Belagerung Wiens im Jahr 1683 entspannte sich die Situation. Der für seine Toleranz bekannte Preußenkönig Friedrich II. verkündete, auch Muslime seien als Neuansiedler in seinem Land willkommen, und versprach, ihnen Moscheen zu bauen wie den Christen Kirchen. Seit 1741 dienten polnische und bosniakische Muslime in der preußischen Armee,7 und für das Jahr 1760 ist sogar ein deutscher Heeres-Imam verbürgt.8 Die muslimisch geprägten Kulturen des sogenannten Morgenlandes faszinierten viele christlichen Europäer, und ab dem 18. Jahrhundert lässt sich eine regelrechte Orientschwärmerei beobachten, die, wie der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze treffend formulierte, »von einem allgemeinen exotischen Verlangen des Bürgertums und der Fürstenhöfe getragen wurde« (Schulze 2005: 756). Für das neue positive Orientbild sorgte nicht zuletzt der von Wulff in seiner Rede erwähnte Johann Wolfgang von Goethe, der sich in seinen späten Jahren für orientalische Poesie, den Koran und insbesondere für die Schriften des persischen Dichters Hafis begeisterte, den er als seinen Bruder im Geiste bezeichnete. Im Jahr 1814 begann Goethe Hafis zu lesen, und aus dieser Inspiration heraus entstand ein Zyklus von lyrischen Versen und wissenschaftlichen Betrachtungen, der 1819 als der West-östliche Divan publiziert wurde und bis auf den heutigen Tag Gerüchte nährt, der große deutsche Dichter sei am Ende seines Lebens zum Islam konvertiert.9
Wenngleich Goethes Divan sicherlich eine Zäsur der Beziehungen deutscher Denker zum Orient darstellte, war das Interesse an arabischer, türkischer und persischer Literatur, an den Quelltexten des Islam und auch an orientalischer Kultur weitaus älter als Goethes Gedichtsammlung. Einer der Pioniere, die sich in Deutschland wissenschaftlich damit befassten, war der in klassischer Philologie gebildete württembergische Theologe Salomon Schweigger (1551–1622), der 1576 als Teil der österreichischen Gesandtschaft nach Konstantinopel übersiedelte, dort mehrere Jahre lebte und im Jahr 1581 eine Reise nach Jerusalem und Bagdad unternahm. Seine Beobachtungen und theologischen Auseinandersetzungen mit der fremden Kultur und Religion publizierte er in mehreren Schriften. 1608 erschien seine Newe Reyßbeschreibung auß Teutschland nach Constantinopel und 1616 Der Türken Alcoran. Religion und Aberglauben, die erste Übersetzung des Koran ins Deutsche, allerdings aus dem Italienischen. Eine deutsche Koranübersetzung aus dem Arabischen wurde im Jahr 1772 von David Friedrich Megerlin (1699–1778) unter dem Titel »Die türkische Bibel, oder des Korans allererste teutsche Üebersetzung« vorgelegt. Goethe kannte den Text von Megerlin, lehnte ihn jedoch als »elendige Produktion« ab und schrieb: »Wir wünschten, daß einmal eine andere unter morgenländischem Himmel von einem Deutschen verfertiget würde, der mit allem Dichter- und Prophetengefühl in seinem Zelt den Koran läse und Ahndungsgeist genug hätte, das ganze [sic!] zu umfassen« (Bobzin 2010: 16–17). Von zeitgenössischen Fachkollegen besser aufgenommen wurde eine Übersetzung von Eberhard Boysen von 1773, die der sprachlichen Struktur des Originals eine gesonderte Beachtung schenkte. In den folgenden Jahren versuchten sich weitere deutsche Übersetzer, unter anderem Friedrich Rückert (1788–1866), an dem Werk und setzten sich besonders mit der Herausforderung auseinander, seinen poetischen Charakter treffend wiederzugeben. »Der Koran ist nicht nur des Islam’s Gesetzbuch, sondern auch Meisterwerk arabischer Dichtkunst« (Bobzin 2010: 17), schrieb Josef von Hammer-Purgstall (1774–1856), der damals das Amt des Präsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bekleidete. Hammer-Purgstalls bewundernde Äußerung ist symptomatisch für eine signifikante Wende im Verhältnis deutscher Gelehrter zum Orient. Die christlich geprägte Islamverunglimpfung, die im 18. Jahrhundert noch in weiten Teilen der gebildeten Kreise vorherrschte, wich einer populären Leidenschaft für orientalische Poesie, die zwar einerseits durch den Koran inspiriert war, aber auch andere literarische Werke muslimischer Autoren einbezog. Der wichtigste orientalische Dichter, der im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland rezipiert wurde, war zweifellos der bereits genannte Hafis, ein sufistischer Poet, der im 14. Jahrhundert in Schiraz gelebt hatte und mit vollem Namen Hage Sams ad-Din Mohammad Hafis-e Schirasi hieß. Da er, so die Überlieferung, bereits in jungen Jahren in der Lage gewesen sein soll, den Koran auswendig zu rezitieren, erhielt er den Beinamen Hafis, der Personen bezeichnet, die sich durch genau diese Fähigkeit vor anderen Gläubigen auszeichnen. Sein wichtigstes Werk ist der Gedichtzyklus Diwan. Hammer-Purgstall las Hafis genauso begeistert wie Goethe und veröffentlichte seine wichtigsten Gedichte im Jahr 1812 unter dem Titel »Diwan des Hafis«. Auch Rückert wurde von Hafis in den Bann geschlagen und publizierte 1822 den von ihm inspirierten Gedichtband Oestliche Rosen.
Diese verzückten Annäherungen an den Orient wurden auch an den deutschen Fürstenhöfen geteilt, dort allerdings in einer weniger intellektuellen Ausprägung. August der Starke (1670–1733), Kurfürst von Sachsen und später auch König von Polen, war ein besonders exzessiver Nachahmer orientalischer Folklore und orientalischen Prunks. Er scheute weder Geld noch Mittel, um seinen Regierungssitz aufs Prächtigste mit östlichem Dekor auszustaffieren. Anders als seine Vorgänger, die sich mit gelegentlichen Diplomatengeschenken der »Hohen Pforte«10 zufriedengaben, schickte August seinen Kammerdiener auf regelrechte Einkaufstouren nach Konstantinopel. Bei festlichen Anlässen inszenierte er sich als Sultan und ließ orientalische Reiterspiele aufführen, für die er eigens Kamele und Araberpferde importierte. Als Maria Josepha, die Braut seines Sohnes, im Jahre 1719 in Dresden eintraf, wurde sie mit einer türkischen Zeltstadt und orientalisch kostümierten Garden konfrontiert.11 Um die junge Frau zu beeindrucken, ließ der Kurfürst ein »türkisches Fest« veranstalten, für das sich seine Soldaten eigens einen »türkischen Bart« stehen lassen mussten.12 Heute kann man die zahlreichen gesammelten Waffen, Stoffe, Schmuckarbeiten und Pferdegeschirre in der »türckischen Cammer« des Residenzschlosses bewundern.
Abgesehen von den feinsinnigen Adaptionen des Orientalischen in der deutschen Dichtkunst und der groben Inszenierung osmanischer Gelage durch den Adel wurde der Orient in Kunst und Architektur populär. Leopold Carl Müller (1834–1892), der sich auf seinen Reisen insbesondere von Ägypten begeistern ließ, gehörte ebenso zu den deutschen »Orientmalern« wie Gustav Bauernfeind (1848–1904), den es nach Syrien, dem Libanon und nach Palästina zog, wohin er im Jahr 1898 vollständig übersiedelte. Jenseits dieses exotistischen Bedürfnisses wurde der Orient aber auch Gegenstand aufklärerischer Texte, die das Volk zu Toleranz erziehen sollten. Gotthold Ephraim Lessings Drama Nathan der Weise, 1779 veröffentlicht und 1783 in Berlin uraufgeführt, ist wohl das bekannteste Beispiel.
Nicht verwunderlich ist der Umstand, dass im Zeitalter solcher Orientbegeisterung auch die Universitäten entsprechend reagierten. Bereits 1728 wurde in Leipzig mit Johann Christian Clodius der erste Professor für arabische Sprache an einer deutschen Universität ernannt und damit die Entwicklung einer deutschen Orientalistik mit den Schwerpunkten Islam-, Sprach- und Geschichtswissenschaften initiiert. 1819 erhielt der Philologe Georg Wilhelm Freytag (1788–1861) eine Position als Universitätslehrer in Bonn, Friedrich Rückert wurde 1826 Professor für orientalische Sprachen in Erlangen, und Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888) nahm 1836 einen Ruf auf einen Lehrstuhl für »Morgenländische Sprachen« an der Universität Leipzig an. Fleischer machte seine Universität zu einem internationalen Zentrum für die Erforschung des Orients und widmete dieser Aufgabe seine ganze Kraft. In seiner Privatwohnung wurde 1845 der Plan in die Tat umgesetzt, eine eigenständige wissenschaftliche Vereinigung der deutschen Orientforscher zu gründen, und es entstand die Deutsche Morgenländische Gesellschaft mit dem Ziel einer Förderung der akademischen Beschäftigung mit orientalischen Sprachen und Kulturen.13 Die Vereinigung ist noch heute aktiv. 1887 wurde an der Berliner Wilhelms-Universität ein Seminar für Orientalische Sprachen und zwei Jahre später die Deutsche Orient-Gesellschaft gegründet. Anders als bei europäischen Nachbarn, so die Historikerin Sabine Mangold, hätten kolonialistische Zielsetzungen bei der deutschen Orientalistik nur eine untergeordnete Rolle gespielt; vielmehr habe das Streben nach Wissen und Aufklärung im Vordergrund gestanden.14
Im Verlauf ihrer Etablierung in Deutschland hat die Orientwissenschaft mehrere entscheidende Paradigmenwechsel durchlaufen. Von einer Hilfswissenschaft der Theologie im 17. und auch noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde sie im 18. und 19. Jahrhundert zu einem Teil der Philologien und entwickelte sich im 20. und 21. Jahrhundert zu einer kritischen Religions- und Kulturwissenschaft. In Bezug auf die religiösen Quelltexte des Islam bedeutet dies eine Verschiebung von einer tendenziell abwertenden Betrachtung des Islam als Konkurrenzideologie zum Christentum über eine romantische Überhöhung orientalischer Poesie zu einer distanzierten historischen Textanalyse. In neuerer Zeit ist durch die Etablierung islamischer Theologien an deutschen Universitäten außerdem eine progressive islamisch-theologische Hermeneutik im Entstehen begriffen.
Abgesehen von der literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Orient und Islam und den teilweise recht kruden folkloristischen Aneignungen orientalischer Kultur spielte auch die politische Auseinandersetzung mit Ländern des Orients eine gewisse Rolle für das deutsche Orientbild. Politische Expansionen Deutschlands nach Nordafrika und in den vorderen Teil Asiens waren zwar, verglichen mit denen Englands und Frankreichs, von geringerem Umfang, doch lassen sich auch hier Ambitionen auf Einflussnahme nachweisen, die nicht zuletzt im Kontext innereuropäischer Machtkämpfe verstanden werden müssen. Bereits 1898 versicherte Kaiser Wilhelm II. dem osmanischen Sultan die ewige Freundschaft der Deutschen mit den Muslimen, und während des Ersten Weltkriegs befand sich der Archäologe Max von Oppenheim, der mit Ausgrabungen im syrischen Tel Halaf befasst war, auf einer geheimdienstlichen Stelle in Konstantinopel, von der aus er versuchte, einen Aufstand der Muslime gegen England zu inszenieren. Das Auswärtige Amt gab in dieser Zeit ein Magazin mit dem Titel »el-Jihad« heraus, in dem die geplante antibritische Erhebung als »Heiliger Krieg« beworben wurde.15 Dieses Vorhaben fand zunächst Unterstützung in Führungskreisen des Osmanischen Reiches, und in einem vom osmanischen Kriegsminister Enver Pascha in Auftrag gegebenen Text hieß es: »Der osmanische Sultan-Kalif führt diesen Kleinen Dschihad mit Bundesgenossen, vor allem Deutschen, gegen die Feinde des Islam, die Briten, Franzosen und Russen« (Schwanitz 2004: 27). Allerdings versuchten auch die anderen europäischen Mächte, Muslime für ihre Interessen einzusetzen, und rekrutierten muslimische Soldaten für ihre Armeen. 1914 wurde in Wünstorf bei Berlin ein Lager für muslimische Kriegsgefangene aus der britischen und französischen Armee errichtet, das auch eine provisorische Moschee enthielt. Seit dieser Zeit existieren in Deutschland muslimische Vereine wie die Islamische Gemeinde Berlin e.V., die 1928 im Stadtteil Wilmersdorf die erste Moschee Deutschlands einweihte. Auch von den Nationalsozialisten wurde das Konzept des heiligen Krieges gegen nichtmuslimische Feinde in den Dienst der deutschen Politik gestellt. Ihr wichtigster Bundesgenosse war damals Amin al-Husaini, der berüchtigte Großmufti von Jerusalem, der gleichermaßen gegen Briten und jüdische Migranten eiferte. Die Wilmersdorfer Moschee wurde in dieser Zeit für kriegerische Propagandaauftritte missbraucht.16
Zu gewöhnlichen Deutschen drangen diese vielfältigen Auseinandersetzungen mit dem Orient allerdings nicht durch. Weder lasen sie persische Poesie, noch nahmen sie an Geheimdienstoperationen teil. Sie kannten allenfalls Märchen und Nacherzählungen fantastischer Geschichten wie die von Sindbad dem Seefahrer und andere Episoden aus Tausendundeine Nacht oder später die orientalistischen Scheinautobiografien des Romanciers Karl May (1842–1912), der weite Kreise der deutschen Bevölkerung mit den Abenteuern seines Helden Kara Ben Nemsi bekannt machte. Für reale Begegnungen mit Menschen aus den Ländern des Orients waren sie dadurch natürlich nicht gerüstet. Das galt im Übrigen auch für die Mehrheit der Bildungselite, die durchaus ihren Goethe oder Lessing kannte, die fernen Welten aber, wie die Dichter selbst, ausschließlich als fantastische Landschaften imaginierte, auf die sich verdrängte Wünsche und Ängste projizieren ließen.17
So ist es nicht verwunderlich, dass zunächst keine Übertragungen dieser Vorstellungswelten auf reale Muslime erfolgten, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland migrierten. Die »Gastarbeiter« aus der Türkei oder aus Nordafrika hatten so gar nichts mit den Bildern gemein, welche die Lektüre von Abenteuerromanen oder Gedichtbänden evozierte. Die Nachfrage nach Arbeitskräften boomte, und im Jahr 1961 schloss die Regierung der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei ein Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte.18 Es folgten ähnliche Verträge mit Marokko im Jahr 1963 und mit Tunesien im Jahr 1965.19 1971 wurden Regelungen erlassen, die die Migration verstetigten. Ausländer, die bereits fünf Jahre im Lande lebten, konnten eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung unabhängig vom jeweiligen Arbeitsverhältnis erhalten. Solchermaßen abgesichert ließen Tausende von bis dahin fast ausschließlich männlichen Migranten ihre Frauen und Kinder nach Deutschland kommen.20 Ab Mitte der 1970er Jahre erfolgte dann eine verstärkte Einwanderung muslimischer Flüchtlinge aus Krisen- und Kriegsgebieten; später kamen auch Studenten. Die muslimischen Migranten schlossen sich in Kulturvereinen und Moscheegemeinschaften zusammen und lebten streng separiert von der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Diese sah darin kein Problem, da sich alle Beteiligten einig waren, dass der Aufenthalt sowohl der Flüchtlinge und Studierenden, als auch der »Gastarbeiter« in Deutschland temporär bleiben würde.21 Es gab, wie Klaus Bade schreibt, »eine Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland« (Bade 2007: 39).
Heute, mehr als fünfzig Jahre nach Unterzeichnung der Abkommen, versteht sich Deutschland als Einwanderungsland,22 hat das Bekenntnis zu Vielfalt und Pluralismus die alte homogenisierende Leitkultur ersetzt, wird von Wirtschaft und Politik in diversity management investiert. Einer von der Deutschen Islamkonferenz in Auftrag gegebenen Erhebung zufolge23 leben zurzeit in Deutschland zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslime, und 45 Prozent von ihnen besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit. Die größte Gruppe ist diejenige der Türkischstämmigen mit 63 Prozent, gefolgt von 8 Prozent Muslimen, die oder deren Familien aus dem Nahen Osten stammen, sowie 7 Prozent aus Nordafrika, vor allem aus Marokko. 74 Prozent aller in Deutschland lebenden Muslime sind Sunniten, 13 Prozent Alewiten24 und 7 Prozent Schiiten. Andere Gruppen wie die Ahmadiyya oder Mitglieder sufistischer Orden sind zwar in verschiedenen Kontexten durchaus präsent, spielen numerisch aber keine Rolle.25
Muslime sind eine Minderheit, die vor allem in den Städten rasch wächst und für politische und gesellschaftliche Teilhabe kämpft. Wie diese Partizipation aussehen soll, ist allerdings sowohl unter Muslimen, als auch unter Nichtmuslimen umstritten. Dabei spielt die Frage, wie die in der Verfassung verankerte Religionsfreiheit ausgelegt und praktiziert werden darf und soll, eine entscheidende Rolle. Debattiert wird unter anderem darüber, ob muslimische Frauen als Lehrerinnen ein Kopftuch tragen dürfen, ob die Beschneidung von Jungen eine Körperverletzung oder ein religiöses Recht darstellt und ob beleidigende Darstellungen des Propheten durch die Meinungsfreiheit geschützt sind. Auch Moscheebauvorhaben sorgen immer wieder für gesellschaftliche Auseinandersetzungen.26 Von Beginn der Migration an, so der Soziologe Rauf Ceylan, »spielte der Islam in seiner Orientierungs- und Schutzfunktion eine zentrale Rolle« (Ceylan 2013: 72), waren Moscheen für die Selbstorganisation der Muslime wichtig. Zunächst seien sie in erster Linie sakrale Orte gewesen, später aber zu sozialen und kulturellen Zentren gewachsen.
Muslime sind zunehmend im öffentlichen Raum sichtbar,27 und allein der Umstand, dass sie als religiöse Akteure präsent sind, löst bei vielen nichtreligiösen Bürgern Irritationen aus. Wie der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas konstatierte, geht Westeuropa hinsichtlich der Säkularisierung der Gesellschaft einen Sonderweg,28 und dieser Sonderweg ist in starkem Maß mit persönlichen und kollektiven Identitätskonzepten verknüpft. Vielen Deutschen ist ein klares Bekenntnis zu einer Religion grundsätzlich suspekt, andere möchten die besondere Stellung des Christentums gewahrt sehen und setzen der Anerkennung gleicher Rechte, die Muslime fordern, entschiedenen Widerstand entgegen. Einer von Detlef Pollack geleiteten Erhebung zufolge nahmen 73 Prozent der Westdeutschen und 75 Prozent der Ostdeutschen an, dass zunehmende religiöse Vielfalt Konflikte produziere.29 Einige Deutsche, darunter auch liberale Muslime30 oder ehemalige Muslime,31 sind der Ansicht, dass der Islam grundsätzlich oder zumindest in der von den muslimischen Verbänden definierten Form nicht zur säkularen deutschen Demokratie passt, andere hingegen sehen ihn längst als integrativen Bestandteil der deutschen Gegenwart und werfen den Bedenkenträgern Vorurteile oder gar antimuslimischen Rassismus vor.32
Die eingangs bereits angesprochene Existenz islamfeindlicher Einstellungen ist unumstritten. Befragungen im Rahmen des von 2002 bis 2012 dauernden Langzeitprojektes »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« unter Leitung des Bielefelder Erziehungswissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer zeigten eine signifikante Ablehnung von Muslimen in breiten Teilen der nichtmuslimischen Bevölkerung. Fast drei Viertel der Befragten lehnten die Aussage ab, die islamische Kultur passe in die westliche Welt, und ein Viertel war sogar der Ansicht, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden solle.33 Heiner Bielefeldt, der ehemalige Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, stellte bereits im Jahr 2008 fest, dass nichtmuslimische Deutsche mit dem Islam vorwiegend Intoleranz, Fanatismus, Rückwärtsgewandtheit und Frauenunterdrückung assoziierten,34 und Naika Foroutan, die Leiterin des Projektes »Deutschland postmigrantisch«, bescheinigte einem knappen Drittel aller deutschen Nichtmuslime eine eher negative Einstellung gegenüber Muslimen.35 Katastrophenszenarien, die um gescheiterte Integration von Muslimen kreisen, haben Konjunktur. Deutlich wurde dies unter anderem am Erfolg des Buches Deutschland schafft sich ab, in dem der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin, ein ehemaliger Finanzsenator in Berlin und zum Zeitpunkt der Publikation Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, Muslime als Integrationsverweigerer und als Ursache einer angenommenen Degenerierung der deutschen Nation darstellte. Gegen Sarrazin formierte sich 2010 ein breiter politischer und gesellschaftlicher Protest, der zum Verlust seines Postens in der Bundesbank führte und Diskussionen um ein Ausschlussverfahren aus der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) nach sich zog. Politisch wurde er eine persona non grata, ein öffentliches Hassobjekt – sein geschmähtes Buch jedoch konnte Verkaufsrekorde verbuchen. Bis Anfang 2012 wurden allein von der Hardcoverversion 1,5 Millionen Exemplare verkauft. Solche Diskrepanzen zwischen einer öffentlichen und einer verborgenen Reaktion lassen erahnen, dass die Situation kompliziert ist und die Thematik möglicherweise im Privaten anders diskutiert wird als in den Feuilletons. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Deutschland schafft sich ab publizierte ein anderer bekannter Berliner eine Schrift, die in vielerlei Hinsicht zu ähnlichen Befunden kam. Es handelte sich um Heinz Buschkowsky, den Bürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln, der seit vielen Jahren als Beispiel missglückter Einwanderungspolitik gilt.36 Auch bei Buschkowsky tauchten Muslime in erster Linie als Problemgruppe auf.37 Religiöse Selbsterhöhung, Machokultur, mangelnde Bildung, notorischer Geldmangel und Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen verursachten, so Buschkowsky, eine fatale Mischung aus Selbstausgrenzung und Ausgegrenztwerden. Anders als Sarrazin konnte Buschkowsky damit punkten, die Verhältnisse vor Ort gut zu kennen und zu wissen, wovon er schreibt. Außerdem hatte er sich persönlich für die Integration von Muslimen engagiert und wird von jugendlichen Migranten in seinem Bezirk akzeptiert. Wie eine andere einflussreiche und ebenfalls von Migranten sehr respektierte Autorin, die verstorbene Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig,38 kritisiert er den laxen Umgang der Behörden mit jugendlichen Straftätern und fordert die Durchsetzung von Gesetz und Ordnung. Darin kann er sich auch der Unterstützung vieler engagierter Muslime sicher sein.
Eine von ihnen ist die Anwältin Seyran Ates; sie setzt sich seit vielen Jahren für Musliminnen ein, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind, und war dafür selbst wiederholt gewalttätigen Angriffen und Morddrohungen ausgesetzt. Ates prangert in ihren Veröffentlichungen die patriarchalische Sexualmoral der deutschen Muslime an und fordert eine sexuelle Revolution innerhalb des Islam.39 Eine ähnliche Position vertritt die türkischstämmige Soziologin Necla Kelek, die sich in ihren Schriften gegen Zwangsheiraten und eine gewalttätige Machokultur ausspricht und behauptet, dass mehr als die Hälfte aller Ehen, die türkische Migranten in Deutschland schließen, auf Zwangsverheiratungen basieren.40 Junge Frauen, so Kelek, würden gegen ein entsprechendes Entgelt von ihren Schwiegermüttern oder anderen Verwandten eines Mannes erworben und nach Deutschland importiert, um dort rechtlos, ohne die Sprache zu beherrschen oder die Gepflogenheiten des neuen Landes zu kennen, in vollkommener Abhängigkeit ein tristes Dasein zu führen, das primär aus häuslicher Arbeit sowie dem Gebären und der Aufzucht von Nachwuchs bestehe.41 Diese Misere sei nicht nur kulturell bedingt, sondern habe ganz entscheidend mit dem Islam zu tun, der das Kollektiv religiös legitimiere und die Rechte des Einzelnen negiere. Der Soziologe Ahmet Toprak, der zu Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund forscht, bestätigt die von den Genannten vorgetragene Tendenz ebenfalls und sieht religiöse Vorstellungen in Verbindung mit kulturellen Traditionen, Bildungsdefiziten und ökonomischer Marginalisierung als Ursachen einer missglückten Integration von Muslimen.42 Auch viele sozialwissenschaftliche Untersuchungen untermauern solche Befunde. Bereits 1997 haben Wilhelm Heitmeyer und Helmut Schröder bei der Hälfte der von ihnen untersuchten muslimischen Jugendlichen Tendenzen zu islamzentrierten Überlegenheitsansprüchen, fundamentalistischen Ideologien und der Bereitschaft zu Gewaltanwendung festgestellt. Auch eine vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegebene quantitative Studie von Katrin Brettfeld und Peter Wetzels43 kommt zum Ergebnis, dass 40 Prozent aller Muslime für fundamentalistische Einstellungen offen sind. Eine Distanz zu Demokratie und Rechtsstaat, so die Autoren, gehe damit jedoch nicht zwangsläufig einher. Diese wurde nur bei 10 Prozent der befragten Muslime festgestellt.
Von diesen pessimistischen Analysen distanzieren sich an deutschen Universitäten Wissenschaftler, die sich in der Tradition des sogenannten »Postkolonialismus« begreifen oder eine verfehlte deutsche Migrationspolitik für Missstände verantwortlich machen.44
Gegen die Publikation von Keleks Buch Die fremde Braut, in der diese die Praxis der Zwangsheiraten thematisiert hatte, mobilisierten die Pädagogen Yasemin Karakasoglu und Mark Terkessidis im Jahr 2006 sechzig Migrationsforscher, um eine Petition zu unterzeichnen, die den Titel »Gerechtigkeit für die Muslime« trug und im Februar 2006 in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht wurde. »Zwangsheiraten«, so bemerkten die Unterzeichnenden, seien das »Ergebnis der Abschottungspolitik Europas gegenüber geregelter Einwanderung«, also ein Problem der deutschen Politik und nicht der internen Struktur muslimischer Gemeinschaften. Wenn es keine Möglichkeiten zu legaler Einwanderung gebe, würden die Auswanderungswilligen eben solche Heiratspolitiken nutzen, um Migration zu ermöglichen. Islamkritische Veröffentlichungen wie die von Kelek, Ates und anderen werden in der Petition als »reißerische Pamphlete« bezeichnet, »in denen eigene Erlebnisse und Einzelfälle zu einem gesellschaftlichen Problem aufgepumpt werden«. Der Tenor der Kritik richtet sich hier gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die von Rassismen geprägt sei und Muslime stigmatisiere. »Islamophobie«, eine rational nicht begründbare Angst vor dem Islam, sehen auch Cengiz Barskanmaz, Maria dos Castro Varela, Nikita Dhawan, Birgit Rommelspacher, Naime Cakir, Kai Hafez, Erol Yildiz und Iman Attia hinter der Kritik am Islam am Werk,45 gepaart mit antiislamischem Rassismus.46 Die neue Vielfalt erschrecke den deutschen Bürger, meint der Ethnologe Wolfgang Kaschuba und sieht hinter Islam- und Fremdenfeindlichkeit eine »übersteigerte, fast neurotisch zu nennende Sehnsucht nach kultureller Einheitlichkeit« (Kaschuba 2007a: 7), während der ehemalige Feuilletonchef der FAZ, Patrick Bahners, schlicht Panikmache diagnostiziert.47
Der Migrationsforscher Klaus Bade interpretiert die Stigmatisierung von Muslimen als Teil einer Strategie der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft, die sich mit Konstruktionen eines devianten und bedrohlichen Anderen der eigenen Überlegenheit vergewissert.48 Verantwortlich für die Überdauerung dieser Stereotypen seien, so Kaschuba und andere, vor allem die Medien.49 Die Berliner Sozialwissenschaftlerin Iman Attia spricht von einer unheilvollen Verbindung von Ausländerfeindlichkeit und Islamophobie: »Es geht auch um Einwanderung und Flucht. Der Bildungsmisserfolg von muslimischen Kindern mit Migrationshintergrund muss dann gelesen werden als Bildungsmisserfolg von Kindern, deren (Groß-)Eltern ausgewählt wurden, um die neue Unterschicht der bundesdeutschen Gesellschaft zu bilden« (Attia 2010: 13). Die Diskriminierung der Migranten, die für die schlechten Chancen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt verantwortlich sei, werde durch das Reden über den Islam kulturalisiert, das Feindbild »Islam« für die Legitimierung gesellschaftlicher Asymmetrien instrumentalisiert. Ähnlich argumentieren auch Klaus Ronneberger und Vassilis Tsianos in einem Aufsatz über die diskursiven Figuren »Parallelgesellschaften« und »Ghettos«, deren Beschwörung lediglich dazu dienten »die sozialräumlichen Spaltungen in den Metropolen zu skandalisieren« (Ronneberger/Tsianos 2009: 145). Der Begriff der Parallelgesellschaft wird von vielen Migrationsforschern als stigmatisierendes Fantasma kritisiert.50 Forschungen zu prekären Stadtvierteln kommen allerdings zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen, die nicht zuletzt mit den jeweils spezifischen Blickrichtungen zusammenhängen. Während eine von Wilhelm Heitmeyer und Helmut Thome geleitete vergleichende Untersuchung in Duisburg-Marxloh, Frankfurt-Gallus und Halle-Silberhöhe explizit auf Devianz und Gewalt fokussierte und Marwan Abou-Taam Parallelgesellschaften nicht nur als Realität, sondern auch als Indikatoren einer gescheiterten Integrationspolitik begreift,51 betonen andere Forscher die Kreativität, mit der muslimische Postmigranten kulturelle Vielfalt in urbanen Räumen schaffen und damit essentiell zu neuen Lebensstilen beitragen, die paradigmatisch in die Zukunft weisen.52 Das Bedürfnis, den Blick der Mehrheitsgesellschaft umzukehren, wird in etlichen Arbeiten deutlich. Dezidiert, so Claudia Nikodem, Erika Schulz und Erol Yildiz, hätten sie die Perspektive auf einen als Problemviertel stigmatisierten Kölner Stadtteil gewechselt und »nach funktionierenden und positiven Zusammenhängen gefragt« (2001: 211).53 Migranten sind nach Auffassung dieser Forscher und Forscherinnen Prototypen des postmodernen Menschen, der als hybrider Wanderer zwischen den Welten gedacht wird und Urbanität und Transnationalität gleichermaßen verkörpern soll.54 Die Angst vor unbekannten Lebensstilen und letztendlich auch vor dem Islam erscheinen in dieser Argumentation als hinterwäldlerische Beharrungsattitüde.
Andere Forscher haben versucht, Parallelen zwischen dem Antisemitismus des Nationalsozialismus und der gegenwärtigen Ablehnung von Muslimen herzustellen und Kontinuitäten aufzuzeigen. Im Dezember 2008 veranstaltete der Historiker Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung eine Konferenz zum Thema »Feindbild Moslem – Feindbild Jude«, die für Furore sorgte. Bereits im Vorfeld der Tagung kam es zu harschen Kritiken an der Gleichsetzung der beiden Phänomene und schließlich zu einer erbitterten und sehr persönlich geführten Debatte unter Kultur- und Antisemitismusforschern. Während Benz zusammen mit Micha Brumlik, dem ehemaligen Leiter des Frankfurter Fritz Bauer Instituts, die von ihm behauptete Parallelität zwischen heutiger Islamfeindlichkeit und der Judenfeindlichkeit um die Wende zum 20. Jahrhundert verteidigte,55 wies der jüdische Autor Henrik M. Broder Analogien zwischen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit entschieden zurück. »Basiert der Antisemitismus also auf hysterischen Ängsten, Erfindungen, Projektionen und Neidgefühlen«, so Broder, »hat die ›Islamophobie‹ eine reale Basis. Es sind die Terroranschläge islamischer Terroristen, die sich auf ihren Glauben berufen, es sind die in der Tradition verwurzelten Ehrenmorde, die mit den üblichen ›Familiendramen‹ nicht zu vergleichen sind, es ist das Wüten der Taliban in Afghanistan, es sind die von Muslimen begangenen Anschläge in Pakistan und im Irak, denen vor allem Muslime zum Opfer fallen, es sind die Kinderehen, die in Saudi-Arabien geschlossen werden, und die ›Ehen auf Zeit‹, die im Iran die Prostitution ersetzen; es sind die Steinigungen von Ehebrecherinnen, und es ist das Aufhängen von Homosexuellen; es ist das Beharren darauf, dass Islam ›Frieden‹ bedeutet, entgegen allem Augenschein; es ist die Mischung aus Barbarei und Hightech, der sich Geiselnehmer bedienen, wenn sie die Hinrichtungen ihrer Geiseln als Video ins Netz stellen« (Broder 2010). Auch etwas nüchternere Autoren wie Armin Pfahl-Traughber, Luzie Kahlweiß und Samuel Salzborn sehen durchaus einen realen Kern – wenngleich keine Berechtigung für generalisierende Stereotypenbildung – in der Furcht vor dem Islam und halten eine Gleichsetzung von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit für inadäquat und haltlos.56
Zugespitzt lässt sich die deutsche Debatte um die muslimische Minderheit in vielen Fällen auf zwei Positionen reduzieren. Die einen sehen einen bis auf den nationalsozialistischen Antisemitismus zurückgehenden antiislamischen Rassismus der Mehrheitsgesellschaft als Verursacher der meisten Integrationsprobleme von Muslimen; die anderen glauben, dass die Muslime für ihre Misere selbst verantwortlich sind und sich aktiv der Integration verweigern. Dieser Polarisierung folgt auch die Bezugnahme auf den Islam als mögliche Ursache von misslungener Integration. Während Kelek und Ates der Ansicht sind, dass der Islam Machismo und Gewalt fördere, lehnen andere diese Verknüpfung entschieden ab. Das kulturell Andere werde durch rassistische und orientalistische Konstruktionen diskursiv geschaffen, um sich in Angrenzung davon selbst als kulturelle Gemeinschaft zu formieren, meint Barskanmaz,57 und Attia schreibt, der Islam eigne sich als Feindbild besonders gut, da schon »vor der politischen Funktionalisierung des Islam […] in Alltagsdiskursen Orient- und Islambilder zur hierarchischen Grenzziehung zwischen uns und den Anderen selbstverständlich« gewesen seien (Attia 2010: 13). Birgit Rommelspacher, Christina von Braun und Bettina Mathes verweisen darauf, dass vor allem Frauen für solche Konstruktionen instrumentalisiert werden.58 Die orientalische Frau werde als hilflos und ausgebeutet erdacht, um eigene imaginierte oder reale »Rettungspläne« zu legitimieren. Trotz einer unübersehbaren Dichotomisierung der Kontroverse gibt es auch moderate Stimmen. Bielefeldt beispielsweise lehnt den Begriff der Islamophobie nicht grundsätzlich ab, gibt aber zu bedenken, dass er nicht selten missbraucht werde, um Zensur auszuüben.59 Ob der Begriff überhaupt sinnvoll ist, bezweifeln mittlerweile viele Wissenschaftler und bemängeln eine fehlende Trennschärfe und Eindeutigkeit. Zudem vermenge er die Religion mit den diskriminierten Menschen. Einen Vorschlag zur Güte präsentierte Torsten G. Schneiders (2009) in einem von ihm mit dem bezeichnenden Untertitel »Der schwere Weg zu einer vernünftigen Islamkritik« herausgegebenen Sammelband und unterteilte die gegenwärtige Islamkritik in Islamfeindlichkeit und »vernünftige Islamkritik«, wobei die Frage offen bleibt, ob der Begriff der Vernunft in einem primär durch politische Vorannahmen charakterisierten Feld überhaupt zu sinnvoller Differenzierung beitragen kann.
Ein Ende der polarisierten Debatte schien während der Zeit meiner Forschung nicht abzusehen, was auch daran lag, dass beide Seiten sich auf tatsächliche gesellschaftliche Missstände berufen können. Michael Kiefer konstatiert mit Recht auf beiden Seiten eine »Schützengrabenmentalität« (Kiefer 2008: 171). Unzweifelhaft leiden Muslime unter Rassismus, Ausgrenzung und Vorurteilen, andererseits lässt sich nicht leugnen, dass im Namen des Islam Gewalt, Totalitarismus und Frauenunterdrückung gerechtfertigt werden. Die Frage ist allerdings, ob Missstände wie diejenigen, die Broder in seiner Entgegnung auf Brumlik zitierte, für den Islam symptomatisch sind oder ob sie lediglich Einzelphänomene darstellen, die durch eine Vielzahl nicht religiös begründeter Faktoren zustande kommen. Die Reduzierung des Islam auf die negativen Seiten seiner Praxen stört die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime. »Was haben wir mit Attentätern zu tun?«, fragten sie mich, »warum wirft man uns mit extremistischen Gewalttätern in einem Topf?« Der Islam sei in Wahrheit ganz anders, nämlich friedfertig, tolerant und keineswegs frauenfeindlich.
Im Jahr 2014, kurz vor der Fertigstellung dieses Buches, verschärfte sich die Situation dramatisch, so dass man von einer regelrechten Zäsur sprechen kann. Ursache war der militärische Erfolg einer jihadistischen Gruppe namens »Islamischer Staat im Irak und Syrien«, deren Führer Abu Bakr al-Baghdadi sich im Juni 2014 zum Kalifen eines »Islamischen Staats« (IS) ernannte. Die Gruppe erregt durch extreme Grausamkeiten und eine vollständige Negierung der Menschenrechte Aufsehen und propagiert ihre gesellschaftliche Ordnung als islamische, auf den Koran und den Propheten Mohammed zurückgehende politische und soziale Utopie. Trotzdem gelingt es ihr, weltweit und auch in Deutschland Anhänger zu rekrutieren, die sich der »Karawane des Heiligen Krieges« als Kämpfer, Unterstützer oder Ehefrauen von Kämpfern anschließen. In den Medien wird seitdem darüber diskutiert, warum Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund die Ideologie und Lebensweise des IS attraktiver finden als die einer freiheitlichen Demokratie, und Experten erörtern, ob der Islam lediglich von IS missbraucht werde oder vielmehr gar die Quelle des Übels darstelle.
Erwartungsgemäß bleiben die Polarisierungen, die schon die ältere Debatte prägten, auch in der aktuellen Auseinandersetzung bestehen, allerdings mit einer deutlichen Verschärfung der Kritik am islamischen Extremismus. Dazu kommt, dass seit 2013 einige grundsätzliche Kritiken des Islam publiziert worden waren, die man nicht vorschnell unter Islamophobie-Verdacht stellen konnte. Dazu zählten eine Schrift des algerischen Schriftstellers Boualem Sansals, der 2011 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde,60 eine Monografie des ägyptischstämmigen Islamkritikers Hamid Abdel-Samad,61 der wegen seiner Publikation Morddrohungen erhielt und unter Polizeischutz gestellt werden musste, und das Buch Reformiert euch!, in dem die somalischstämmige Autorin Ayaan Hirsi Ali für eine muslimische Reformation wirbt. Der Ton wurde rauer. Als der Kabarettist und Grimme-Preisträger Dieter Nuhr im Oktober 2014 von dem Osnabrücker Muslim Erhat Toka wegen »Beschimpfung von Religionsgemeinschaften« angezeigt wurde, erhob sich eine Welle öffentlichen Spotts über die sattsam bekannte Haltung des muslimischen Beleidigtseins, und selbst der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mayzek, distanzierte sich von der Beschuldigung. Der Rückzug auf die Opferrolle, die in der Islamophobie-Debatte argumentativ stets untermauert wurde, geriet zunehmend in Bedrängnis. Unter dem Titel »Die Opferrolle der Muslime in Deutschland nervt« forderte Sineb El Masrar am 23. September 2014 in Die Welt Muslime auf, endlich Verantwortung zu übernehmen und sich mit problematischen Positionen kritisch auseinanderzusetzen. Das beginne nicht erst bei den Gewalttätern des IS. »Weil ich meinen Freunden zu Weihnachten gratuliere und das Kopftuch nicht trage, werde ich zur Abtrünnigen erklärt«, kritisierte El Masrar in ihrem Artikel und zeigte damit, dass religiöse Intoleranz im gewöhnlichen Alltag unter Muslimen durchaus präsent ist. Deutlicher noch als El Masrar positioniert sich der Psychologe Ahmad Mansour, der in einem Artikel die These aufstellte, die Gefährlichkeit der Salafisten62 basiere nicht so sehr auf »der Differenz zum ›normalen‹ Islam als vielmehr der Ähnlichkeit« (Mansour 2014). Die Ablehnung des Westens, der Demokratie und all derer, die nicht der eigenen Meinung sind, werde auch von moderaten Imamen gepredigt. Gegen diese Haltung sowie gegen »Opferrolle und Diskriminierungsfurcht« setzt er »muslimische Selbsterkenntnis« und »Selbstkritik«.
Sineb El Masrar und Ahmad Mansour gehören zu einer wachsenden Zahl junger Muslime und Musliminnen, die für Reformen und neues Denken innerhalb der muslimischen Gemeinschaften eintreten. Sie haben es allerdings schwer, sich durchzusetzen. Eine aktuelle Debatte um die Publikationen des Münsteraner Professors Mouhanad Khorchide zeigt die Konflikte zwischen den konservativen Vorstellungen muslimischer Verbandsvertreter und der progressiven Theologie, die sich zurzeit an deutschen Universitäten herausbildet. Khorchide war im Jahr 2012 mit der Monografie Islam ist Barmherzigkeit an die Öffentlichkeit getreten und hatte sich die erbitterte Opposition des Koordinierungsrates der Muslime (KRM) zugezogen, in dem sich die großen türkischen Verbände zusammengeschlossen haben. In seiner Schrift entwickelte er die Idee eines barmherzigen und liebenden Gottes, der den Menschen allein deshalb geschaffen habe, weil er seine Liebe teilen möchte und »Mitliebende sucht« (Khorchide 2012: 29). »Er will die Beziehung zu uns Menschen nicht als Herr-Knecht-Beziehung gestalten, sondern als Freundschaftsbeziehung, ja als Liebesbeziehung« (ebd.). Das schließe alle Menschen ein, nicht nur Muslime. »Gott aber interessiert sich nicht für Überschriften wie ›Muslim‹, ›Christ‹, ›Jude‹, ›gläubig‹, ›ungläubig‹ usw.« (ebd.: 58), führte er aus. Es gehe Gott um den Einzelnen, den er dazu gewinnen möchte, seine Liebe und Barmherzigkeit anzunehmen. Teufel und Hölle sind für Khorchide metaphorische Figuren, keineswegs Realitäten, die auf Nichtmuslime oder auf diejenigen warten, die sich rigiden Vorstellungen von Unterwerfung verweigern. »Die Hölle ist nichts weiter als der Zustand«, schrieb er, »in dem sich derjenige befindet, der Nein zur Liebe und Barmherzigkeit sagt« (ebd.). Die »schwarze Pädagogik« der Angst, die mit einem ewigen Höllenfeuer droht, lehne er auch deshalb ab, weil sie den Menschen zu Kritikunfähigkeit verdammt und eigenständiges Denken verhindere. Der Koran hingegen motiviere zum Hinterfragen. Khorchides Ideen basieren auf einer hermeneutischen Methode, mit deren Hilfe die nicht leicht verständlichen und teilweise auch widersprüchlichen Verse des Koran eingeordnet und interpretiert werden. Dabei werden die Verse auch historisch, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Zustände zur Zeit Mohammeds, kontextualisiert. Als Beispiel führt er Vers elf der vierten Sure an, in dem männlichen Kindern doppelt so viel Erbe zugesagt wird wie weiblichen. Dieser Vers sei ausschließlich in der Verfasstheit der damaligen politischen Ordnung begründet, einer Ordnung, in der Frauen gar nicht erbten, weil sie permanent in Gefahr waren, von anderen Stämmen als Kriegsbeute angeeignet zu werden. Durch den Ausschluss vom Erbe wollte man verhindern, so Khorchide, dass der Besitz in fremde Hände gerate. Mohammed habe diese Zustände zu ändern versucht, konnte dies aber nur in kleinen Schritten tun. Die koranische Erbschaftsregelung sei ein wichtiger Schritt in Richtung der Anerkennung der Frauen gewesen, nicht jedoch die vollständige Umsetzung dieses Ideals. Daher sei dieser Vers nicht zeitunabhängig gültig. Letztendlich intendiere Gott die Gleichheit der Geschlechter, und der Mensch habe die Aufgabe, diese nach Kräften umzusetzen.
Die Vorstellung eines primär liebenden Gottes, die Ablehnung bestimmter Vorstellungen wie der Hölle sowie die Historisierung und damit auch Relativierung der normativen Grundlagen des Koran und der islamischen Überlieferungen wurden von den Verbandsvertretern als häretische Verirrungen verurteilt. Mit einem mehr als zweifelhaften »Gutachten«, in dem sich mangels ausgewiesener eigener Theologen »angehende Islamwissenschaftler« und andere Laien aufgefordert sahen, Khorchide wegen Abweichungen vom vermeintlich rechten Weg zu verurteilen, machte der Koordinierungsrat der Muslime gegen den unliebsamen Erneuerer mobil und forderte am 17. Dezember 2013 gar die Absetzung des Professors, weil er ihrer Ansicht nach kein echter Muslim mehr sei. Auch eine Gruppe von Studierenden am Münsteraner Zentrum für islamische Theologie distanzierte sich, weil sie berufliche Nachteile gegenüber Absolventen konformerer Einrichtungen befürchtete.63 Die Debatte, die bis zum heutigen Tag andauert, ist für Außenstehende schwer durchschaubar, da sie weniger mit nachvollziehbaren Argumenten als mit Unterstellungen gespickt ist. Unstrittig ist nur, dass es um theologische und politische Deutungshoheit geht und darum, wer autorisiert ist, für »den« Islam zu sprechen.
Khorchide ist der prominenteste deutsche muslimische Reformtheologe, doch auch an anderen Standorten islamischer Theologie entsteht zurzeit Neues. Weltweit betrachtet sind die hermeneutische Methode, die historische Kontextualisierung und andere Verfahren zeitgemäßer Interpretation der heiligen Texte des Islam keineswegs originell. Theologisch beruhen die reformorientierten Interpretationen der schriftlichen Quellen des Islam auf dem Prinzip des ijtihad, des logischen Schlussfolgerns nach einem Prozess des Nachdenkens, das im Gegensatz zum taqlid, der Nachahmung des Bestehenden, steht. Zu den Gründungsvätern des Reformislam zählen Gelehrte wie Mohammed Abduh (1849–1905), Jamal al-Din al-Afghani (1838–1897), Mohammed Iqbal (1877–1936) oder Raschid Rida (1865–1935), zu den bedeutendsten jüngeren Vertretern Khaled Abou el-Fadl und Abdullahi Ahmed An-Na’im, die beide an amerikanischen Universitäten lehren, Mohammed Talbi aus Tunesien, der 1938 in Syrien geborene Mohammed Shahrur, der in Paris lebende Iraner Abdolkarim Soroush und der inzwischen verstorbene Algerier Mohammed Arkoun (1928–2010). Die jüngeren Reformisten bemühen sich insbesondere um eine historische Einordnung des Koran, differenzieren zwischen Text und Kontext und berufen sich auf den freien Willen sowie die menschliche Vernunft. Der Koran, meint der ägyptische Islamwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (1943–2010), sei so geschrieben, dass die Araber ihn im 7. Jahrhundert verstehen konnten. Wenn heutige Muslime aber diese historischen Aspekte des Koran als universell gültig interpretierten, dann verdrehten sie die göttliche Botschaft, die jenseits historischer Kontexte angesiedelt sei.64
Viele der bekannten muslimischen Reformtheologen, progressiven Philosophen und Sozialwissenschaftler arbeiten und lehren in westlichen Ländern, da die muslimischen Autoritäten und die autoritären Herrscher ihrer Heimatländer mit Repression auf die unerwünschten Neuerungen reagierten. Ein Beispiel für prominente Opfer dieser religiös-politischen Gewalt ist der sudanesische Gelehrte Mahmud Mohammed Taha (1909–1985), dessen Reformschrift Die zweite Botschaft des Islam die Gleichheit zwischen Männern und Frauen als Ziel islamischer Gerechtigkeit betonte. Mohammed Taha wurde 1985 in seiner Heimat wegen des Vorwurfs der Apostasie zum Tode verurteilt und hingerichtet. Er war zu diesem Zeitpunkt 76 Jahre alt. Apostasie wurde auch dem Ägypter Abu Zaid vorgeworfen, da seine kritische Koranexegese nicht mit konservativen Auslegungen übereinstimmte. Man erklärte ihn gerichtlich zu einem Nichtmuslim und annullierte die Ehe zu seiner Frau, da eine Muslimin nach herrschendem Familienrecht nicht mit einem Nichtmuslim verheiratet sein durfte. Die Repression und viele Morddrohungen veranlassten Abu Zaid, in die Niederlande zu migrieren, wo er bis zu seinem Tod den Ibn-Rushd-Lehrstuhl für Humanismus und Islam an der Universität Utrecht innehatte.
In Deutschland sind solche Repressionen nicht zu befürchten, und man kann gespannt sein, in welcher Weise sich der Islam sowohl innerhalb als auch außerhalb der Hochschulen entwickeln wird. Reformvorhaben resultieren meist aus empfundenen Missständen, reagieren auf gesellschaftlichen Wandel oder versuchen, Lösungen für drängende Probleme der Gegenwart zu finden. Das gilt auch für die Erneuerer der islamischen Theologie. Die Denker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts setzten sich mit dem europäischen Kolonialismus und den Herausforderungen der Moderne auseinander, spätere Gelehrte dagegen mit postkolonialen Formen von Repression, mit politischem Autoritarismus, islamischem Fundamentalismus und der Rolle der Frauen. Auf lokaler Ebene, in den Dörfern und Stadtteilen wurden die Gedanken der Reformer nur dann rezipiert, wenn sie von örtlichen Imamen oder effektiv arbeitenden Organisationen aufgegriffen oder wenn sie in staatliche Programme eingespeist wurden. Das geschah zum Beispiel mit Ideen zur Reform des Familienrechts (moudawana) in Marokko. Dort war es Frauenrechtlerinnen gelungen, den König, der neben anderen Ämtern auch das des Führers der Gläubigen (amir al-muminin) innehat, zur Veränderungen von Passagen zu überzeugen, die Frauen gegenüber Männern diskriminieren. Im Jahr 2004 wurde die moudawana grundlegend reformiert und gilt jetzt als vorbildlich für die islamische Welt.
Bei unserer Forschung in Wiesbaden interessierte mich natürlich, ob und in welcher Form neue Gedanken, seien sie progressiv-liberal oder auch fundamentalistisch-totalitär inspiriert, von Muslimen aufgegriffen werden. Inputs von den neu gegründeten Professuren an deutschen Universitäten waren nicht zu erwarten – allein schon deshalb, weil diese teilweise erst im Verlauf der Forschung besetzt wurden und die Entwicklung einer deutschen islamischen Theologie noch in den Kinderschuhen steckt. Andere Einflüsse waren manifester, vermittelt über große muslimische Verbände, die eigenes Schulungs- und Lehrmaterial an die örtlichen Moscheegemeinschaften schicken, oder über charismatische Prediger, die der salafistischen Szene zuzuordnen sind. Auch war offensichtlich, dass Einflüsse der deutschen Gesellschaft in den Gemeinschaften reflektiert wurden – sei es die Rolle der Frauen, seien es Fragen nationaler Identität oder das Verhältnis zum deutschen Rechtsstaat. In Wiesbaden zu leben, hier zu arbeiten, in die Schule oder Hochschule zu gehen, nichtmuslimische Nachbarn oder auch Freunde zu haben – all das prägt Muslime auch dann, wenn ihren sozialen Mittelpunkt eine Moschee oder muslimische Organisation darstellt. Diese persönlichen Ergebnisse des Nachdenkens über den Islam, die deutsche Gesellschaft und die eigenen Werte werden mit anderen diskutiert, durch das Lesen des Koran oder mittels islamischer Medien überprüft. Die Schlussfolgerungen der Einzelnen können dabei ganz unterschiedlich sein, selbst wenn diese ein und derselben Gemeinschaft angehören. In diesem Sinne ist das vorliegende Buch nicht nur ein Zeugnis für die Vielfalt frommem muslimischen Lebens in der hessischen Landeshauptstadt, sondern auch eines, das zeigt, wie zwischen Orthodoxie und individuellen Überzeugungen verhandelt wird, warum man sich für oder gegen bestimmte Praktiken entscheidet und auf welcher Grundlage theologische Positionen angenommen oder abgelehnt werden.
»Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers.
Lobpreis sei Gott, dem Herrn der Weltbewohner,
dem Erbarmer, dem Barmherzigen,
dem Herrscher am Tage des Gerichts!
Dir dienen wir, dich rufen wir um Hilfe an.
Leite uns den rechten Weg,
den Weg derer, denen du gnädig bist,
nicht derer, denen gezürnt wird,
noch derer, welche irregehn!«
Koran (Sure 1)
Muslime sind keine homogene Gruppe, obgleich es Bestrebungen gibt, sich auf Grundlage der Religion als solche zu konstituieren – vor allem gegenüber einer nichtmuslimischen Außenwelt. Die Idee der einen ummah