Der neue Landdoktor 2 – Arztroman - Tessa Hofreiter - E-Book

Der neue Landdoktor 2 – Arztroman E-Book

Tessa Hofreiter

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Beschreibung

"Der neue Landdoktor" zeichnet sich gegenüber dem Vorgänger durch ein völlig neues Konzept aus. Es wird noch größerer Wert auf Romantik, Spannung und sich weiterdichtende, zum Leben erwachende Romanfiguren, Charaktere und Typen gelegt. Eines darf verraten werden: Betörend schöne Frauen machen dem attraktiven Landdoktor schon bald den Hof. Und eine wirkliche Romanze beginnt... "… bye …", der englische Abschiedsgruß wurde mehr genuschelt als ausgesprochen. Emilias verschlossenes Gesicht verschwand fast ganz hinter dem Vorhang ihrer seidigen Haare. Das sehr junge Mädchen gönnte den beiden Erwachsenen am Tisch in der gemütlichen Küche des Doktorhauses nur einen flüchtigen Blick. Mit knappen Bewegungen setzte sie die Kopfhörer ihres iPhones auf, griff nach dem Rucksack mit ihren Schulsachen und verließ den Raum. Alles an ihrem Benehmen signalisierte: Lasst mich bloß in Ruhe! Mit einem Seufzer stellte die Haushälterin Traudel Bruckner ihren Kaffeebecher zurück auf den Tisch. "Sie ist halt noch ein rechtes Kind", sagte sie ein wenig hilflos. "Wir müssen Geduld mit ihr haben." Doktor Benedikt Seefeld nickte ernst. "Das weiß ich, und dennoch wird mir das Herz schwer, wenn ich meine Enkelin so verschlossen und abwehrend erlebe. Traudel, manchmal frage ich mich …" Er verstummte und schaute gedankenverloren durch die weit geöffnete Tür in den herrlichen Sommermorgen hinaus. "Du fragst dich manchmal, ob es richtig war, deinen Sohn und deine Enkeltochter zu bitten, wieder heim zu kommen?" Behutsam streckte die Frau ihre Hand aus und legte sie auf den Arm des älteren Mannes. Es war eine kleine Geste des Trostes, ein Zeichen langer Verbundenheit. "Wir müssen ihnen nur Zeit geben. Uns allen, Benedikt. So ein Neubeginn ist niemals einfach; schon gar nicht einer, der vorher so viel Schmerz und Abschied bedeutete. Aber mit der Zeit gewöhnt das Kind sich hier ein und findet sein Zuhause, wirst schon sehen!" Voller Zuversicht und Wärme schauten ihre dunklen Augen den Doktor an.

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Der neue Landdoktor -2-

Des einen Glück, des anderen Leid

Lisa wollte Ben für sich haben

Roman von Tessa Hofreiter

»… bye …«, der englische Abschiedsgruß wurde mehr genuschelt als ausgesprochen. Emilias verschlossenes Gesicht verschwand fast ganz hinter dem Vorhang ihrer seidigen Haare. Das sehr junge Mädchen gönnte den beiden Erwachsenen am Tisch in der gemütlichen Küche des Doktorhauses nur einen flüchtigen Blick. Mit knappen Bewegungen setzte sie die Kopfhörer ihres iPhones auf, griff nach dem Rucksack mit ihren Schulsachen und verließ den Raum. Alles an ihrem Benehmen signalisierte: Lasst mich bloß in Ruhe!
Mit einem Seufzer stellte die Haushälterin Traudel Bruckner ihren Kaffeebecher zurück auf den Tisch. »Sie ist halt noch ein rechtes Kind«, sagte sie ein wenig hilflos. »Wir müssen Geduld mit ihr haben.«
Doktor Benedikt Seefeld nickte ernst. »Das weiß ich, und dennoch wird mir das Herz schwer, wenn ich meine Enkelin so verschlossen und abwehrend erlebe. Traudel, manchmal frage ich mich …« Er verstummte und schaute gedankenverloren durch die weit geöffnete Tür in den herrlichen Sommermorgen hinaus.
»Du fragst dich manchmal, ob es richtig war, deinen Sohn und deine Enkeltochter zu bitten, wieder heim zu kommen?« Behutsam streckte die Frau ihre Hand aus und legte sie auf den Arm des älteren Mannes. Es war eine kleine Geste des Trostes, ein Zeichen langer Verbundenheit. »Wir müssen ihnen nur Zeit geben. Uns allen, Benedikt. So ein Neubeginn ist niemals einfach; schon gar nicht einer, der vorher so viel Schmerz und Abschied bedeutete. Aber mit der Zeit gewöhnt das Kind sich hier ein und findet sein Zuhause, wirst schon sehen!« Voller Zuversicht und Wärme schauten ihre dunklen Augen den Doktor an.
Traudel Bruckner war mehr als nur die Haushälterin in der Familie Seefeld, sie war die Seele des Hauses. Auch jetzt verfehlte ihre zuversichtliche, warmherzige Art nicht die Wirkung auf den älteren Mann. Es fühlte sich an, als Wäre ein wenig der Schwere, die auf seinem Herzen lastete, angehoben worden. Er lächelte. »Was wäre ich nur ohne dich, Traudel!« Seine Hand legte sich kurz über die der älteren Frau.
»Ein Mannsbild, das mit seinem Terminkalender zu kämpfen hat!«, antwortete Traudel munter. »Drüben in der Praxis bereitet die Sprechstundenhilfe schon die Unterlagen für die ersten Patienten vor, ich höre den Lieferwagen der Wäscherei im Hof, und wenn mich nicht alles täuscht, höre ich auch den Husten des alten Ederer, der schon mal auf der Bank vorm Praxiseingang Stellung bezieht. Also höchste Zeit für die Sprechstunde, die du heute in Vertretung für deinen Sohn übernimmst, mein lieber Doktor Seefeld. Von Ruhestand kann hier keine Rede sein!«
Der alte Landarzt lachte. »Wenn du es sagst …«, meinte er augenzwinkernd. Er erhob sich und ging sichtlich guter Stimmung hinüber in die Praxisräume, in denen sich bis vor kurzem sein Berufsleben abgespielt hatte. Ja, dachte er voller Zuversicht, es ist richtig gewesen, sich aus dem täglichen Geschehen zurückzuziehen und dem Sohn als Nachfolger die Praxis zu übergeben! Nur in bestimmten Situationen werde ich wieder in den weißen Kittel schlüpfen.
Freundlich grüßend betrat der Landarzt die altvertrauten Räume und wandte sich seinem ersten Patienten zu. »Grüß Gott, Ederer, wie geht’s denn heute Morgen?«
»Ja, mei, der Husten, der wird ja schon besser. Der Saft, den die Schwiegertochter aus der Apotheke geholt hat, hilft. Aber das Rheuma in den Knien, da musst du noch was tun, Doktor, das wird immer schlimmer!« Streng schaute der alte Mann unter gerunzelten Augenbrauen zu dem Arzt hinüber. »Da muss eine andere Salbe her.«
Der Landarzt behielt seine Freundlichkeit bei, obwohl er einen kleinen, innerlichen Seufzer unterdrücken musste. Auch eine neue Salbe würde die Beschwerde des alten Mannes nicht beheben. Es war kein Rheuma, das den Greis in seinen Knien plagte, es war eine Verschleißerscheinung, wie sie im Laufe eines langen Lebens leider häufig auftritt. Benedikt Seefeld zögerte mit der Antwort. Er hatte durchaus Respekt vor bewährten Hausmitteln und altem Wissen. Und wenn den Ederer eine neue Salbe zufrieden stellte – des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Nachdem sich der Arzt vergewissert hatte, dass bei seinem Patienten keine Allergie vorlag, legte er eine Probe des Medikaments auf den Schreibtisch. »Du kannst es mal mit dieser Salbe probieren. Aber ich sag dir gleich: erwarte nicht zuviel davon! Es ist kein Wundermittel, und was dir wirklich helfen kann, das weißt du. Wir haben oft davon gesprochen!«
»Keine Ersatzteile!«, konterte Gotthilf Ederer störrisch. »Bei mir wechselst du nichts aus!«
»Aber abhorchen und mich um deine Bronchien kümmern, das darf ich schon!«, brachte ihn der Arzt freundlich, aber bestimmt wieder auf Kurs und griff zu seinem Stethoskop.
»Ja, freilich, deswegen bin ich doch hier«, schnaufte der alte Mann. Bereitwillig ließ er sich vom Doktor aus dem Janker helfen und knöpfte sein Hemd auf. Seine buschigen Augenbrauen waren jetzt nicht mehr missbilligend gerunzelt, Gotthilf Ederer war zufrieden, er hatte eine neue Salbe bekommen. Man musste die Menschen halt zu nehmen wissen.

*

Im großen Klinikum, das gleichzeitig das Lehrkrankenhaus der nächst gelegenen Unistadt war, neigte sich der Gastvortrag Sebastian Seefelds dem Ende entgegen. Man hatte ihn gebeten, vor Medizinstudenten, die bald ihr Examen ablegen würden, über den Beruf des Landarztes zu sprechen.
Doktor Sebastian Seefeld, Anfang Vierzig, war groß und schlank, mit dunklen Haaren und bemerkenswerten grauen Augen. Sein Blick war beim Sprechen auf die Gruppe angehender Mediziner gerichtet, er wirkte hoch konzentriert und gleichzeitig freundlich.
»Sollten Sie sich entscheiden, als klassischer Landarzt zu arbeiten, so wird Ihnen vielleicht die Frage gestellt: ist das nicht langweilig? Ein langes, hartes Studium über sechs Jahre, anschließend noch die fünfjährige Ausbildung zum Facharzt – und wofür? Um Erkältungen zu kurieren, eine Nagelbettentzündung zu heilen und Kompressionsstrümpfe gegen Krampfadern zu verschreiben? Stundenlang über abgelegene Straßen zu kurven, um Hausbesuche zu machen? Und das alles auf dem Land, ohne die attraktiven Freizeitangebote und Ablenkungen einer städtischen Umgebung!«
»Genau das frage ich mich auch!«, raunte einer der jungen Studenten seiner Nachbarin zu.
Diese zuckte mit den Achseln. »Es wird schon was dran sein«, flüsterte sie zurück, leicht genervt von der Ablenkung. »Oder glaubst du, jemand, der an diesem berühmten Klinikum in Toronto gearbeitet hat, gibt das auf für nichts und wieder nichts?«
»Keine Ahnung; für mich ist das jedenfalls nichts!«, kam die geflüsterte Antwort. Es klang ein wenig geringschätzig.
Die junge Frau warf ihm einen kurzen Blick zu. Funkelte da eine Prise Spott in ihren klaren grau-grünen Augen? »Das glaube ich dir gern!«, sagte sie trocken und richtete dann wieder ihre volle Aufmerksamkeit auf Doktor Seefeld.
»Unser Beruf hat so viele unterschiedliche Seiten«, sagte er gerade. »Und bitte, glauben Sie mir: das, was davon in diesen amerikanischen Arztserien gezeigt wird, entspricht in den seltensten Fällen der Wirklichkeit. Obwohl es schon Spaß macht, sich anzuschauen, wie Ärzte die Wohnung eines Patienten, der mit unklaren Symptomen im Krankenhaus liegt, stürmen, alles auf den Kopf stellen und unter den Füßen des Bettes genau den Erreger nachweisen, der eigentlich gar nicht existieren dürfte.«
Die Studenten grinsten. Sie wussten genau, wovon der Doktor sprach.
Freundlicher Applaus der Studenten begleitete Sebastians Abgang aus dem Seminarraum. Neben ihm ging Susanna, eine leitende Oberärztin hier im Haus, die ihn zu diesem Vortrag eingeladen hatten. Als kleine Kinder hatten Sebastian und Susanna gemeinsam die Schule in Bergmoosbach besucht.
»Hast du Lust, noch auf einen Kaffee mit in mein Büro zu kommen?«, lud Susanna ihn ein. Im Stillen fragte auch sie sich, weshalb ein so erfahrener und vielseitiger Mediziner (und nebenbei bemerkt, ein äußerst charmanter Mann) wie Sebastian Seefeld diesen Weg einschlug. Susanna hatte sich für den Vortrag ein wenig freie Zeit organisiert, und es wäre doch nett, das mit einem kleinen privaten Zusammentreffen abzuschließen.
»Tut mir leid, Susanna, danke für die Einladung, aber ich habe jetzt keine Zeit mehr. Ich muss gleich zurück nach Bergmoosbach fahren«, antwortete Sebastian.
Susanna bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. »So schnell schon? Ich dachte, dein Vater übernimmt am Donnerstag die Praxis für dich.«
»Das schon«, erwiderte der Mann, schon halb auf dem Absprung. »Aber da ist vieles, worum ich mich kümmern muss. Bye, Susanna.« Der fremdsprachige Abschiedsgruß war herausgerutscht, ehe Sebastian es verhindern konnte. Entschuldigend zuckte er die Achseln. »Macht der Gewohnheit! Ich wollte natürlich sagen: pfiat di, Sannerl.« Er verabschiedete sich mit einem Augenzwinkern und verschwand um die Biegung des Ganges.
Aha, er musste sich also kümmern, der Sebastian … Am liebsten hätte Susanna jetzt ein Gesicht gezogen, aber sie besann sich gerade noch rechtzeitig darauf, wo sie war und wer sie war. Auf gar keinen Fall das kleine Schulmädel, das zornig wurde und Sebastians Ranzen aus dem Fenster pfefferte, weil der Bub nicht mit ihr zum Schwimmen an die Sternwolkenseen gehen wollte!
Und was das betraf, worum er sich in seinem neuen Leben kümmern wollte – nun, das ließe sich herausfinden. Susanna beschloss, Bergmoosbach beizeiten einen Besuch abzustatten und das Leben im Doktorhaus ein wenig unter die Lupe zu nehmen.

*

Die Heimfahrt konnte Sebastian trotz der sorgenvollen Gedanken, die um seine Tochter Emilia kreisten, genießen. Er liebte den Anblick der sattgrünen Wiesen und Weiden, die Berge im Hintergrund, welche wie blau verschleiert wirkten, und die Ruhe, welche über der Landschaft lag. Er fuhr bewusst langsam, mit geöffnetem Fenster, um den unvergleichlichen Duft der Heumahd tief in sich aufzunehmen. Glockenblumen leuchteten blau neben dem Gelb von Arnika und Gämswurz, Kamille und leuchtender Klatschmohn wiegten sich im Sommerwind. Hinter den Zäunen jenseits des Weges weideten Milchkühe oder lagen dösend in der Sonne. Von den Hügeln grüßten vereinzelt alte Höfe zu ihm herab, er konnte den tiefroten Geranienschmuck an den hölzernen Balkonen erkennen. Obwohl Sebastian gut zwei Jahrzehnte lang im Ausland gelebt hatte, spürte er, dass seine Wurzeln hier lagen. Zwar liebte er nach wie vor die Großartigkeit der kanadischen Natur und auch das pulsierende Leben in der Millionenstadt Toronto am Ontariosee, aber hier war er geboren und aufgewachsen. Die Landschaft, das Brauchtum, die Wesensart der Menschen hier lagen ihm im Blut. All das begrüßte ihn wie ein alter Freund.
Aber Emilia kann es nicht so empfinden, dachte der besorgte Vater, für sie ist Kanada die Heimat. Das Einleben hier fällt ihr sichtlich schwer; was ist nur aus dem fröhlichen, strahlenden Mädchen geworden! Und nun schmeckte auch das Essen nicht mehr.
American Pancakes, das ist es! Diese kleinen amerikanischen Pfannkuchen mit Blaubeeren und Ahornsirup, dazu hauchdünn geschnittenen und kross gebratenen Speck, überlegte Sebastian. Wann hat sie das zum letzten Mal gegessen? Bis auf den Ahornsirup hat Traudel die Zutaten bestimmt im Haus, und um den Rest kümmere ich mich.
Voller Vorfreude auf das Essen hielt Sebastian vor einem kleinen Supermarkt, griff sich einen der Einkaufskörbe und machte sich schwungvoll auf die Suche nach dem Ahornsirup.
Vielleicht ein wenig zu schwungvoll, denn als er um das Regal mit dem Zwieback und anderen Backwaren bog, rannte er eine Frau buchstäblich um! Und weil Sebastian Seefeld ziemlich groß und breitschultrig war und die Frau klein und zart, verlor sie das Gleichgewicht und landete unsanft auf einem Podest mit gestapelten Konservendosen, welche mit beachtlichem Getöse zu Boden gingen und durch den Laden kullerten.
»Um Himmels willen, haben Sie sich verletzt?« Besorgt kniete Sebastian sich vor die junge Frau.
Sie saß leicht benommen auf dem Podest, auf dem sich eben noch jede Menge Ananas- und Pfirsichdosen befunden hatten, und schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht«, murmelte sie. »Das mag ein paar blaue Flecken geben, die Ränder der Konservendosen sind nicht gerade weich, aber das ist nicht wirklich schlimm.«
»Und ob!«, widersprach Sebastian. »Es können Prellungen dabei sein, die sehr unangenehm sind. Lassen Sie sich vorsichtshalber untersuchen. Ich bin Arzt, meine Praxis ist gleich die Straße hinauf.«
»Kommt nicht infrage!«, antwortete die junge Frau energisch. Das Aufsehen, das sie mit dem lauten Gepolter erregt hatte, war ihr schon mehr als peinlich. Wie neugierig schon wieder alle herschauten! »Wer wird denn wegen einiger blauer Flecken zum Arzt gehen.« Sie war schon wieder auf den Beinen und sammelte ihre Lebensmittel ein, die aus dem Einkaufskorb gefallen waren. »Ich möchte jetzt nur nach Hause!«
»Bitte, nehmen Sie diesen Zusammenstoß nicht auf die leichte Schulter!«, warnte Sebastian. »Vielleicht sind …«
»Marie? Marie Legrand? Bist du das wirklich?« Eine hohe und etwas atemlose Klein-Mädchen-Stimme unterbrach den Satz des Arztes. Die Stimme gehörte zu einer jungen Frau mit langen superblonden Haaren, unter denen goldene Creolen schaukelten. Himmelblaue Augen, die von unnatürlich langen und tiefschwarzen Wimpern umrahmt waren, schauten mit einer Mischung aus Dramatik und überraschter Wiedersehensfreude auf die andere Frau. »Ja, da schau her! Die Marie Legrand ist wieder daheim!«
»Grüß dich, Lisa!«, konnte sie gerade noch antworten, ehe sie in einer heftigen Umarmung der Blondine verschwand. Unter allerhand Gekreisch und Begeisterungsrufen wurde sie von ihrer aufgeregten Freundin willkommen geheißen.
»Ja, grüß dich auch, Marie, grüß dich! Ja, ist das eine Überraschung, dich hier zu sehen, damit hab ich gar nicht gerechnet! Wir dachten alle, du bleibst in Frankreich mit deinem Fabian. Und schon bist du wieder hier, so kurz nach der Beerdigung vom Vater. Es ist doch wohl nicht schon wieder ein trauriger Anlass, der dich herführt, gell? So ein Kummer, erst stirbt die Mutter und kein Jahr später der Vater, und du bist so weit weg in Frankreich. Aber sag, was führt dich her? Bist du zu Besuch, willst du bleiben, was machst denn du mit dem Ebereschenhof?«
Die Fragen prasselten nur so auf die junge Frau ein, die von Minute zu Minute erschöpfter aussah. Endlich gelang es ihr, auch zu Wort zu kommen. »Lisa, ich freu mich auch, dich zu sehen, aber lass uns ein anderes Mal weiterreden. Ich bin gerade erst angekommen und will jetzt zum Hof hinauf. Ich ruf dich an, ja?«
»Sehr vernünftig!«, mischte sich jetzt Sebastian ins Gespräch. »Wenn Sie schon keine ärztliche Untersuchung wünschen, dann werde ich wenigstens dafür sorgen, dass Sie sicher nach Hause kommen und sich ausruhen. Ich fahre Sie, und ich untersage Ihnen jegliche Widerrede! Das ist eine ärztliche Anordnung!«
»Und sogar rezeptfrei«, antwortete Marie. Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen und auch ihren Humor, aber trotzdem wollte sie jetzt nichts wie weg hier. Die Ankunft in ihrem Heimatort hatte sie sich wesentlich ruhiger und unauffälliger vorgestellt! So schnell wie möglich bezahlte sie ihre Einkäufe und verließ in Begleitung des Doktors das Geschäft.
Lisa schaute ihr mit einem seltsamen Gesichtsausdruck hinterher. Das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden, und auch der Ausdruck ihrer blauen Strahleaugen hatte sich merklich verändert.
So, so, die Marie Höfer, verheiratete Madame Legrand, war also wieder im Ort.
Und auffallend allein, ohne ihren Ehemann, einen gewissen Franzosen namens Fabian Legrand. Und wenn man’s recht bedachte, war Marie auch schon zu den Beerdigungen ihrer Eltern ohne Begleitung erschienen. Tat man so etwas, wenn man glücklich verheiratet war? Mit einem hinreißenden Mann, charmant, reich, großzügig … der es zwar mit der Treue nicht so genau nahm, aber schließlich konnte man nicht alles haben, nicht wahr?
»Marie, du schaust so aus, als ob deine glücklichen Tage ziemlich rar geworden sind«, murmelte Lisa, und endlich kehrte das Lächeln auf ihre roten Lippen zurück. Es war ein Lächeln, das einem aufmerksamen Beobachter einen Schauer über den Rücken hätte rieseln lassen.
»Hast was gesagt?« Eine weitere junge Frau tauchte neben der Blondine auf. Es war Fanny Lechner, die Besitzerin des Lebensmittelgeschäfts. Sie, Marie und Lisa waren gemeinsam hier zur Schule gegangen, und Fanny war Kundin in Lisas Schönheits- und Friseursalon Glamour. »Anstatt herumzustehen und Löcher in die Luft zu starren, könntest du schon helfen, die Dosen wieder einzusammeln!«, meinte sie resolut.
Ungläubig schaute Lisa zu ihr hinunter, die bereits am Boden kniete. »Etwa mit diesen Fingernägeln?«, fragte sie. Ihre Hände mit den sorgsam geformten Gelnägeln und den glitzernden Verzierungen wedelten vor Fannys Gesicht herum. »Wohl eher nicht! Tschau, tschau, Fanny.« Damit stöckelte Lisa aus dem Laden.
»Pfiat di, Lisa«, grummelte Fanny und widmete sich dem Wiederaufbau ihrer Konservendosen.

*

Inzwischen hatten Sebastian Seefeld und die junge Frau den Ebereschenhof erreicht. Er lag außerhalb des Ortes auf einem sanften Hügel und bot einen herrlichen Ausblick auf die Sternwolkenseen. Seinen Namen hatte der Hof von zwei mächtigen Ebereschen, die sich rechts und links des Wohnhauses in den Himmel reckten. Im Herbst, wenn die roten Beeren reiften, musste es ein beindruckendes Bild sein. Der Hof selbst war ein kleineres Anwesen, nicht modern, aber gut in Schuss gehalten. Nur vereinzelt zeigten sich Spuren davon, dass hier in den letzten Jahren Menschen gelebt hatten, die nicht mehr zu anstrengender körperlicher Arbeit in der Lage gewesen waren.
Sebastian hatte auf der kurzen Autofahrt geschwiegen, um der jungen Frau Gelegenheit zu geben, etwas zur Ruhe zu kommen. Als er den Korb mit den Lebensmitteln auf die alte Hausbank gestellt hatte, meinte er entschuldigend: »Ich glaube, inmitten des Durcheinanders habe ich mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Sebastian Seefeld.«
»Und Sie sind Arzt. Dann müssen Sie der Sohn vom alten Doktor sein«, antwortete Marie. »Ich habe schon gehört, dass er seine Praxis abgegeben hat. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits«, lächelte Sebastian, »obwohl mir eine weniger schmerzhafte Art besser gefallen hätte. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als ob ich so für neue Patienten sorgen wolle!«
»Kein Problem, das denke ich nicht von Ihnen«, entgegnete Marie. »Und nun vergessen Sie’s endlich, es sind nur ein paar blaue Flecken.«
»Nun gut, dann bin ich fürs erste beruhigt. Aber wenn noch irgendetwas sein sollte, dann melden Sie sich sofort, versprochen, Frau Legrand?«
Marie nickte zerstreut. Sie nestelte ein Schlüsselbund aus ihrer Tasche und öffnete umständlich die Haustür, die alt und verzogen war.