Augen, die sie nicht vergessen kann - Tessa Hofreiter - E-Book

Augen, die sie nicht vergessen kann E-Book

Tessa Hofreiter

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Beschreibung

Dr. Brunner bewohnt mit seiner geliebten Frau Ulrike und einem Jagdhund namens Lump ein typisches Schwarzwaldhaus, in dem er auch seine Praxis betreibt. Ein Arzt für Leib und Seele. Die Serie zeichnet sich gegenüber dem Vorgänger durch ein völlig neues Konzept aus. Es wird noch größerer Wert auf Romantik, Spannung und sich weiterdichtende, zum Leben erwachende Romanfiguren, Charaktere und Typen gelegt. Eines darf verraten werden: Betörend schöne Frauen machen dem attraktiven Landdoktor schon bald den Hof. Und eine wirkliche Romanze beginnt... Am Morgen waren graue Wolken über die Gipfel der Berge herangezogen. Sie brachten dem Tal den ersten Schnee des Jahres. Am Nachmittag gaben sie den Himmel wieder frei. Bergmoosbach, am Fuß der Allgäuer Alpen gelegen, hatte sich in eine Märchenlandschaft verwandelt. Der pulvrige Schnee auf den Straßen und Hausdächern glitzerte in der Sonne. Der vergoldete Wetterhahn auf dem Rathausturm trug ein duftiges Schneehäubchen, und von den roten Holzdächern der Weihnachtsbuden auf dem Marktplatz waren nur noch die mit Lichterketten geschmückten Ränder zu sehen. Neben den Eingängen der Geschäfte mit ihren weihnachtlich dekorierten Schaufenstern standen schneebedeckte Tannenbäume mit goldfarbenen Kerzen. Ein Räumfahrzeug der Gemeinde fuhr im Schritttempo durch die Straßen und schob den Schnee behutsam beiseite, während sich die Kinder auf den Bürgersteigen mit Schneebällen bewarfen. Auch das Dach des Seefeldhauses auf dem Hügel am Ortsrand lag unter einer Schneedecke. An den Fenstern mit den lindgrünen Holzläden standen blaue Kerzen, und in dem Weihnachtskranz an der Haustür steckten blaue Blüten. Die Wiese vor dem Haus, die Pflanzen des Steingartens auf der einen Seite und die Zweige der immergrünen Hecke auf der anderen Seite waren unter dem Schnee verschwunden. Die prächtige alte Ulme im Hof breitete ihre weiß bedeckten Äste wie ein Schneedach aus, so als müsste sie den Eingang zum Haus und den zur Praxis, die in einem Anbau untergebracht war, beschützen. Eine Amsel auf Futtersuche hüpfte von Ast zu Ast, bis sie schließlich das Vogelhäuschen fand, das am Stamm befestigt war. »Nolan, wir wollen los!«, rief das Mädchen, das in einem rosa Steppmantel aus dem Haus kam, dem Berner Sennenhund zu, der auf der Wiese im Schnee tollte. Das lange rotbraune Haar quoll unter der weißen Wollmütze hervor, und die schwarzen Stiefel, die es über seinen Jeans trug, reichten ihm bis zu den Knien. »Du kleines Schneemonster, hast du mich nicht gehört?« Emilia Seefeld schaute über die Hecke hinweg und musste laut auflachen, als Nolan seine Nase kurz in die Höhe reckte und sich danach erneut wohlig im Schnee rekelte. »Mei, es ist sein erster Winter, Kind«, stellte die rundliche kleine Frau in dem blauen Wintermantel fest, die nach Emilia aus dem Haus kam.

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Der neue Landdoktor – 85–

Augen, die sie nicht vergessen kann

Und Weihnachten ist das Fest der Lieb

Tessa Hofreiter

Am Morgen waren graue Wolken über die Gipfel der Berge herangezogen. Sie brachten dem Tal den ersten Schnee des Jahres. Am Nachmittag gaben sie den Himmel wieder frei. Bergmoosbach, am Fuß der Allgäuer Alpen gelegen, hatte sich in eine Märchenlandschaft verwandelt.

Der pulvrige Schnee auf den Straßen und Hausdächern glitzerte in der Sonne. Der vergoldete Wetterhahn auf dem Rathausturm trug ein duftiges Schneehäubchen, und von den roten Holzdächern der Weihnachtsbuden auf dem Marktplatz waren nur noch die mit Lichterketten geschmückten Ränder zu sehen. Neben den Eingängen der Geschäfte mit ihren weihnachtlich dekorierten Schaufenstern standen schneebedeckte Tannenbäume mit goldfarbenen Kerzen. Ein Räumfahrzeug der Gemeinde fuhr im Schritttempo durch die Straßen und schob den Schnee behutsam beiseite, während sich die Kinder auf den Bürgersteigen mit Schneebällen bewarfen.

Auch das Dach des Seefeldhauses auf dem Hügel am Ortsrand lag unter einer Schneedecke. An den Fenstern mit den lindgrünen Holzläden standen blaue Kerzen, und in dem Weihnachtskranz an der Haustür steckten blaue Blüten. Die Wiese vor dem Haus, die Pflanzen des Steingartens auf der einen Seite und die Zweige der immergrünen Hecke auf der anderen Seite waren unter dem Schnee verschwunden.

Die prächtige alte Ulme im Hof breitete ihre weiß bedeckten Äste wie ein Schneedach aus, so als müsste sie den Eingang zum Haus und den zur Praxis, die in einem Anbau untergebracht war, beschützen. Eine Amsel auf Futtersuche hüpfte von Ast zu Ast, bis sie schließlich das Vogelhäuschen fand, das am Stamm befestigt war.

»Nolan, wir wollen los!«, rief das Mädchen, das in einem rosa Steppmantel aus dem Haus kam, dem Berner Sennenhund zu, der auf der Wiese im Schnee tollte. Das lange rotbraune Haar quoll unter der weißen Wollmütze hervor, und die schwarzen Stiefel, die es über seinen Jeans trug, reichten ihm bis zu den Knien. »Du kleines Schneemonster, hast du mich nicht gehört?« Emilia Seefeld schaute über die Hecke hinweg und musste laut auflachen, als Nolan seine Nase kurz in die Höhe reckte und sich danach erneut wohlig im Schnee rekelte.

»Mei, es ist sein erster Winter, Kind«, stellte die rundliche kleine Frau in dem blauen Wintermantel fest, die nach Emilia aus dem Haus kam.

»Wuff, wuff«, machte Nolan, der sich erhoben hatte, sein Fell schüttelte und über die Terrasse in den Hof gelaufen kam.

»Du hast eine solch eine große Freude, Buberl.« Traudel, die gute Seele im Haus des Bergmoosbacher Landarztes, streichelte über den wuscheligen Kopf des Hundes mit dem braunweißen Fell.

»Dann wollen wir hoffen, dass uns der Schnee noch eine Zeit lang erhalten bleibt«, sagte die junge Frau in dem weißen Mantel, die aus der Praxis kam. Sie hatte die Kapuze des weich fallenden Stoffes über ihr dunkles Haar gezogen und einen roten Wollschal locker um ihren Hals geschlungen.

»Wuff«, machte Nolan und schmiegte sich an Anna, die ihn mit ihren strahlend grünen Augen ansah.

»Papa und Opa wissen Bescheid, dass wir zu Gunhild gehen?«, wollte Emilia von Anna wissen.

»Ich habe sie gerade daran erinnert. Sie wünschen uns viel Spaß.« Anna, die vor fast vier Jahren aus München nach Bergmoosbach gezogen war, um ihre eigene Hebammenpraxis zu eröffnen, war seit einigen Monaten mit Sebastian Seefeld, Emilias Vater, zusammen. Emilia und sie waren gute Freudinnen geworden, und da Anna dem Mädchen versichert hatte, dass sie nicht darauf aus war, ihm die verstorbene Mutter zu ersetzen, kamen sie wunderbar miteinander aus.

»Also dann, meine Damen, freuen wir uns auf einen mystischen Nachmittag«, sagte Traudel und hakte sich bei Emilia und Anna unter, als sie die von Schnee und Eis geräumte Auffahrt zur Straße hinuntergingen.

Nolan lief voraus, kugelte sich in der Einfahrt zum Grundstück der Seefelds fröhlich bellend im Schnee und sprang erst auf, als die drei bei ihm waren. Mit wachen Augen folgte er ihnen und schien seine Freude daran zu haben, wenn er mit seinen dicken Pfoten im Schnee versank.

»Gunhild lädt wirklich jedes Jahr am 21. Dezember die Landfrauen zu sich ein?«, wollte Emilia wissen, als sie an der Bushaltestelle vorbei waren, die nur ein paar Meter vom Seefeldhaus entfernt lag.

»Heute beginnen die sogenannten Raunächte. Für Gunhild sind die kommenden zwölf Nächte voller Geheimisse. Wer die Zeichen richtig deuten kann, wird erkennen, was das nächste Jahr für ihn bereithält. Zumindest ist Gunhild davon überzeugt«, klärte Traudel das Mädchen auf.

»Und diese Überzeugung sollen alle mit ihr teilen?«

»Geh, Gunhild will niemanden überzeugen. Sie teilt einfach nur ihre Geschichten mit uns. Es bleibt jedem selbst überlassen, daran zu glauben oder eben auch nicht.«

»Für die meisten ist es nur ein gemütliches Zusammensein bei heißer Schokolade und Keksen«, sagte Anna und deutete auf den Korb, in den sie die Nuss- und Schokoladenkekse gepackt hatte, die sie und Traudel für dieses Treffen gebacken hatten.

»Ich lasse mich überraschen. Die Orakelstunde damals in ihrer Scheune, nachdem die Rathausuhr stehen geblieben war, war schon spannend«, gab Emilia zu.

»Zumal uns das Hochwasser, das Gunhild prophezeit hatte, tatsächlich heimsuchte«, erinnerte Traudel sie und Anna an das Ereignis im letzten Sommer.

»Aber nur, weil eine eifersüchtige Frau das halbe Sägewerk in den Bach gekippt hatte und es dem Mann, den sie nicht haben konnte, anhängen wollte«, entgegnete Emilia lachend.

»Das halbe Sägewerk ist wohl ein bissel übertrieben, Spatzl. Es waren nur einige Baumstämme, die am Bachufer lagerten, die sie ins Wasser befördert hat.«

»Wie auch immer, auf jeden Fall ist der Bach über die Ufer getreten. Somit hat sich die Prophezeiung, dass ein Unglück passiert, sobald die Rathausuhr stehen bleibt, erfüllt.«

»Ich denke, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es war nur ein Zufall«, sagte Anna.

»Wer weiß«, flüsterte Traudel.

»Ja, wer weiß«, wiederholte Emilia Traudels Worte, während sie in sich hineinlächelte, weil sie nicht wirklich an derartige Prophezeiungen glaubte.

»Wunderschön hier draußen, nicht wahr?«, sagte Anna und ließ ihren Blick über die verschneiten Felder und Wiesen schweifen, die sich bis zu den Bergen hin ausbreiteten.

»Stellt euch vor, über Nacht würde die Menschheit aussterben, nur Bergmoosbach wäre noch da, die letzte menschliche Ansiedlung auf diesem Planeten. Hätte niemand in den darauffolgenden Tagen etwas außerhalb des Dorfes zu tun, dann würden wir hier in unserem Tal erst einmal gar nicht bemerken, dass wir ganz allein wären.«

»Mei, Spatzl, was du dir schon wieder so vorstellst«, seufzte Traudel und sah Emilia liebevoll an.

»Mal angenommen, es wäre so. Wir könnten uns doch sicher selbst versorgen. Ich meine, wir haben den Wald, den Bach, Felder und mehrere Brunnen. Das müsste doch funktionieren oder?«, fragte Emilia und sah zuerst Anna und danach Traudel an.

»Solange der Strom nicht ausfällt, würde es gehen. Danach wäre es sicher eine große Herausforderung. Die Wasserpumpen würden ausfallen, es gäbe keine Maschinen mehr, die uns den Alltag erleichtern, wir hätten kein Licht mehr«, sagte Anna.

»Dann sollten wir schnellstens dafür sorgen, dass wir uns mit Sonnenkollektoren ausstatten.«

»Geh, Spatzl, uns steht doch keine Katastrophe bevor«, entgegnete Traudel.

»Es kommt darauf an, was Gunhild uns gleich prophezeit.«

»Jetzt ist es aber gut«, sagte Traudel und schüttelte lachend den Kopf.

Den Rest des Weges liefen sie gut gelaunt nebeneinander her und atmeten die kühle frische Luft, während der Schnee unter ihren Schuhen knirschte.

*

Der Blissinghof mit seinen Stallungen und der Scheune stand im Osten des Tales am Ende eines Feldweges vor einer kahlen Felswand. Die Sonne, die bereits hinter den Gipfeln im Westen versank, färbte den Himmel rotviolette und ließ die glatte Felswand blutrot schimmern. Es war ein aufregender Kontrast zu den schneebedeckten Dächern und Wegen.

In der Scheune war kaum noch ein Platz frei, als Emilia, Traudel und Anna hineingingen. Die Blissings hatten vor einigen Jahren die Viehwirtschaft aufgegeben, um alte Obstsorten und Gemüse anzubauen. Die Stallungen wurden zu Lagerräumen umgebaut, und Gunhild konnte allein über die alte Scheune verfügen.

Der Dielenboden war erneuert worden, und sie hatte einen Kaminofen einbauen lassen, der in der Mitte des Raumes stand und mit Holz befeuert wurde. Auch an diesem Nachmittag brannte ein Feuer und verbreitete wohlige Wärme. Die Landfrauen saßen auf gemütlichen Sofas und Sesseln, die sie im Laufe der Zeit selbst zusammengetragen hatten. Auf runden Tischchen standen die Kannen mit heißer Schokolade, Tassen, Schüsseln mit Keksen und Kerzen in hohen Gläsern.

Gunhild hatte auf dem grünen Ledersessel Platz genommen, der direkt neben dem Ofen stand. Sie trug ein schwarzes Dirndl mit gelbem Sternenmuster, und ihr graues Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihr seitlich über die Schulter fiel. Ludmilla, eine Katze mit weißem Fell und tiefgrünen Augen, lag in ihrem Schoss und schlief. Nolan marschierte auf Ludmilla zu und beschnupperte sie ausgiebig, was sie aber nicht weiter störte. Sie öffnete nur kurz die Augen und schloss sie gleich wieder.

Nachdem Anna, Emilia und Traudel ihre Mäntel auf die Holzbänke, die als Garderobe dienten, abgelegt und die Damen freundlich begrüßt hatten, verteilte Traudel die mitgebrachten Kekse in die bereitstehenden Schüsseln.

»Hier ist noch Platz.«

»Danke, Miriam«, sagte Anna und setzte sich neben die attraktive junge Frau mit den langen blonden Locken, die allein auf einem blauen Sofa in der Nähe des Ofens saß.

»Hallo, Emilia, du interessierst dich auch für alte Sagen«, wunderte sich Miriam Holzer, die Erbin des örtlichen Sägewerks.

»Vielleicht bewahrheitet sich wieder etwas von Gunhilds Ahnungen, das wäre dann schon spannend«, entgegnete Emilia lächelnd und setzte sich neben Anna.

»Dann will ich hoffen, dass sie nicht auf die Idee kommt, irgendetwas zu erzählen, was auch nur im Entferntesten mit dem Sägewerk zusammenhängt. Ich habe echt keine Lust, noch einmal die Arbeit mehrerer Tage aus dem Bach zu fischen«, stöhnte Miriam.

»Irgendwie hatte das Ganze auch etwas Romantisches. Jeder, der dazu in der Lage war, hat damals mitangepackt. Eine Dorfgemeinschaft wie aus dem Bilderbuch.«

»Das stimmt, aber Hilfsbereitschaft sollte nicht überstrapaziert werden, auch nicht bei uns.«

»Heut geht’s nicht um Katastrophen, die Gundi schaut heut nicht in ihre Glaskugel. Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Heut geht’s nur um alte Sagen und Gebräuche«, mischte sich eine hagere Frau im grauen Dirndl ein, die einen dicken grauen Schal um ihren Hals geschlungen hatte.

»Danke, Draxlerin«, sagte Traudel, die sich neben Emilia auf das große Sofa setzte, während Nolan sich vor ihnen auf dem Boden ausstreckte.

»Schon recht, man hilft, wo man kann«, antwortete Elvira Draxler, die zweite Vorsitzende des Landfrauenvereins, die zwischen Therese Kornhuber, der ersten Vorsitzenden, einer stattlichen Frau im blauen Dirndl, und Helga Talhuber, der Frau des Bürgermeisters, einer hübschen Frau im hellen Trachtenkostüm, saß.

Neben ihnen auf dem Sofa saßen Simone Windfang, die Kosmetikerin aus dem Hotel Sonnenblick, Lydia Draxler, Elviras Nichte, die für den Tourismus zuständig war, und Eleonore Kastner, die mit dem Bergmoosbacher Zahnarzt verlobt war. Auch Sabine Mittner, die trotz ihrer vier Kinder und der Hofarbeit noch Zeit zum Keksebacken gefunden hatte, war gekommen und teilte sich ein Sofa mit Corinna von Meiring, der Frau des Gutsbesitzers, und den Lohmeier Zwillingen, zwei älteren Damen in blauen Strickkleidern und roten Lodenhütchen auf ihren grauen Haaren.

Gerti Fechner, Sebastians Sprechstundenhilfe, und ihre Schwester Sieglinde, eine pensionierte Studienrätin, und die anderen Landfrauen hatten auf den Sesseln Platz genommen.

»Meine Damen, ich denke, es ist soweit«, sagte Gunhild, als sie zu dem runden Fenster hinaufschaute, das die Blissings in das Dach der Scheune hatten einbauen lassen. Inzwischen war es dunkel geworden und der Abendstern schien genau über der Scheune zu stehen. »Octavia, mein Herz, schalte bitte die Lampe ein«, wandte sie sich an ihre Tochter, eine hübsche junge Frau mit blonden Zöpfen und blauen Augen, die ein leuchtendblaues Kleid mit Sternenmuster trug.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Octavia hier mitmacht«, raunte Emilia Anna zu. Octavia arbeitete als Texterin in einer Werbeagentur in Garmisch und wohnte auch in der Stadt. Sie hatte sie im Sommer ein paar Mal mit ihren Freunden aus Garmisch am Sternwolkensee gesehen. Weder Octavia noch ihre Freunde hatten auf sie den Eindruck gemacht, als wären sie an Sagen und Mythen interessiert.

»Du bist doch auch hier«, entgegnete Anna lächelnd, weil sie ahnte, was Emilia gerade durch den Kopf ging.

»Ich sehe nur zu. Sie macht mit.«

»Das tut sie nur ihrer Mutter zuliebe.«

»Okay, dann habe ich mich also doch nicht in ihrer Einstellung zu diesem Hokuspokus getäuscht.« Emilia schaute zu, wie Octavia die Stehlampe mit dem grünen Lampenschirm anschaltete, ihrer Mutter ein in grünes Leder gebundenes Buch reichte, das sie aus einer alten Holztruhe holte, und sich danach neben den Sessel, auf dem ihre Mutter thronte, auf den Boden setzte.

»Willkommen, meine Lieben«, sagte Gunhild und schaute in die Runde. »Die nächsten zwölf Nächte werden voller Magie sein. Jede Nacht repräsentiert einen Monat des kommenden Jahres. Die heutige Nacht, die Thomasnacht, wird die Nächte, die wir Raunächte nennen, eröffnen. Seht genau hin, meine lieben Schwestern, seid offen für alles, dann werdet ihr die Wahrheit erkennen. Hört den Vögeln zu, die zu euch sprechen, wenn ihr unter einem Baum hindurchgeht. Achtet auf den prächtigen Schlitten, der von der Jungfrau Maria gelenkt in der Nacht über die Felder gleitet und Kindersegen verspricht. Lasst euch von der Musik der Dämonen, die euch in der Nacht nach draußen locken wollen, nicht verführen. Geht den Schatten, die euch Böses wollen, aus dem Weg.«

»Das ist jetzt aber echt gruselig«, sagte Emilia so laut, dass es auch Gunhild hören konnte. Emilia bedauerte, dass ihre Freundin Doro nicht da war. Doro war gut darin, jedes gruselige Gefühl mit einem Witz aufzulösen. Aber Doro war mit ihren Eltern zu Verwandten nach Hannover gefahren und kam erst zu Silvester wieder zurück nach Bergmoosbach.

»Dann wollen wir wieder von etwas Schönem sprechen«, schwenkte Gunhild sofort um. Sie wusste zwar, dass die meisten, die zu diesem alljährlichen Treffen zu ihr kamen, diese gruseligen Geschichten hören wollten, aber natürlich gab es auch noch anderes zu erzählen. »Es gibt da etwas, was die unverheirateten Frauen unter uns angeht. Sie sollten nun ganz genau zuhören«, sagte sie. »Wenn eine Frau, die noch auf der Suche nach ihrem Liebsten ist, in der Thomasnacht den Kamin mit einem Reisigbesen fegt, dann kann es passieren, dass ihr bei dieser Arbeit das Gesicht ihres Zukünftigen erscheint.«

»Diese Geschichte habe ich auch schon gehört«, meldete sich Simone zu Wort, »allerdings hörte ich, dass die Frau während des Fegens noch eine bestimmte Litanei aufsagen muss.«

»Es genügt, eine hübsche Melodie zu summen«, antwortete Gunhild.

»Willst du es versuchen? Du hast doch einen Kamin in deiner Wohnung«, sagte Therese Kornhuber und sah Simone schmunzelnd an.

»Erstens bin ich nicht abergläubisch, und zweitens besitze ich keinen Reisigbesen.«

»Ich könnte dir einen aus unserer Scheune holen«, entgegnete Therese schmunzelnd.

»Danke schön, aber den brauche ich nicht. Ich werde den Mann meines Lebens schon noch finden, auch ohne Reisigbesen«, erklärte Simone.