Der Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte - James R. Doty - E-Book

Der Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte E-Book

James R. Doty

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Beschreibung

»Möchtest du wissen, was wahre Magie ist?« Als der 12-jährige James Doty den kuriosen Laden für Zauberbedarf betritt, ahnt er nicht, welche Wendung sein Leben nehmen wird. Was die liebenswürdige Ruth den schüchternen Jungen aus ärmlichen Verhältnissen lehrt, ermöglicht ihm, seine kühnsten Träume zu verwirklichen: Durch vier einfache Übungen befreit er sich von dem Gefühl, Opfer seiner Lebensumstände zu sein. Er wird Chirurg, dringt in die Tiefen der Gehirnforschung vor und hat als Unternehmer immensen Erfolg. Ruths letzte Lektion ignoriert er jedoch, nämlich sein Herz für andere zu öffnen. Und so steuert er auf eine Katastrophe zu. Die bewegende Lebensgeschichte von James Doty stand Wochen auf der New-York-Times-Bestsellerliste. In einer faszinierenden Mischung aus inspirierendem Memoir, aktueller Gehirnforschung und konkreter Anleitung zeigt Doty, wie jeder von uns sein Leben verändern kann, indem wir unser Gehirn und unser Herz wandeln.

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James R. Doty

DerNEUROCHIRURG,der seinHERZvergessenhatte

Eine wahre Geschichte

Aus dem Amerikanischen vonMatthias D. Borgmann

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Into the Magic Shop« bei Avery, Penguin Publishing Group, einem Imprint von Penguin Random House LLC.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

1. eBook-Ausgabe 2022

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe 2017 Scorpio Verlag, ein Imprint der Europa Verlage GmbH, München

© 2016 James R. Doty

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Sämtliche, auch auszugsweise Verwertungen bleiben vorbehalten.

Umschlaggestaltung und Layout: Guter Punkt, München

Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: BookwireePub-ISBN: 978-3-95803-243-9

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.www.scorpio-verlag.de

Für Ruth und all jene, die ihre Einsichten undihre Weisheit selbstlos weitergeben.

Für Seine Heiligkeit, den Dalai-Lama,der mich weiterhin die Bedeutung des Mitgefühls lehrt.

Für meine Frau Mashaund meine KinderJennifer, Sebastian und Alexander,die mich jeden Tag aufs Neue inspirieren.

Inhalt

Einleitung: Die schönen Dinge

TEIL 1Im Zauberladen

1. Wahre Magie

2. Der entspannte Körper

3. Über das Denken nachdenken

4. Wachsen ist schmerzhaft!

5. Drei Wünsche

TEIL 2Die Rätsel des Gehirns

6. Eifriges Bemühen

7. Was ich nicht akzeptieren konnte

8. Und dann war es doch Hirnchirurgie

9. Der besitzlose Sultan

TEIL 3Die Geheimnisse des Herzens

10. Der Verzicht

11. Das Alphabet des Herzens

12. Mitgefühl zeigen

13. Das Antlitz Gottes

Dank

Einleitung:Die schönen Dinge

Die Kopfhaut macht ein charakteristisches Geräusch, wenn man sie vom Schädel abzieht – ähnlich einem langen Klettverschluss. Das Geräusch ist laut und wütend und auch ein wenig traurig. Im Medizinstudium gibt es kein Fach, in dem man etwas über die Geräusche und Gerüche der Hirnchirurgie erfährt. Man sollte es einführen. Das Brummen des schweren Bohrers beim Durchbohren des Schädels. Der Duft nach sommerlichem Sägemehl, der den Operationssaal erfüllt, sobald die Knochensäge eine Linie vom einen Bohrloch zum anderen schneidet. Das zögerliche Knacken der Hirnschale, wenn sie von der Dura mater entfernt wird, jener dicken Schicht, die unser Gehirn umgibt und seine letzte Schutzbastion gegenüber der Außenwelt bildet. Das sanfte Aufschneiden der Dura mater mit der Schere. Liegt das Gehirn frei, sieht man es im Rhythmus mit jedem Herzschlag pulsieren, und manchmal glaubt man es aus Protest gegen seine eigene Nacktheit und Verletzbarkeit aufseufzen zu hören – sind doch seine Geheimnisse vor den Augen aller zur Schau gestellt im grellen Scheinwerferlicht des Operationssaals.

Der Junge wirkt winzig in seinem OP-Hemd. Er wird fast verschluckt von seinem Bett, während er darauf wartet, dass man ihn in den Operationssaal schiebt.

»Meine Oma hat für mich gebetet. Und für dich hat sie auch gebetet.«

Als er das sagt, höre ich, wie seine Mutter laut ein- und ausatmet, und ich weiß, sie versucht, tapfer zu bleiben. Ihrem Sohn zuliebe. Sich zuliebe. Womöglich sogar mir zuliebe. Ich lasse meine Hand durch sein Haar gleiten. Er hat braunes, langes, feines Haar; mehr wie ein Baby als ein Kleinkind. Er erzählt mir, dass er gerade Geburtstag gehabt habe.

»Möchtest du, dass ich dir noch einmal erkläre, was wir heute machen, Champion? Oder bist du startklar?« Er mag es, wenn ich ihn Champion oder Kumpel nenne.

»Ich schlafe ein. Du nimmst das eklige Ding aus meinem Kopf, damit es mir nicht mehr wehtut. Dann sehe ich meine Mama und meine Oma wieder.«

Das »eklige Ding« ist ein Medulloblastom, der häufigste bösartige Hirntumor bei Kindern. Es sitzt in der hinteren Schädelgrube (einem Teil der inneren Schädelbasis). »Medulloblastom« ist selbst für einen Erwachsenen ein schwer auszusprechendes Wort, erst recht für einen Vierjährigen, wie frühreif er auch sein mag. Hirntumore bei Kleinkindern sind in der Tat eklige Dinger, also bin ich mit seiner Bezeichnung einverstanden. Medulloblastome sind unförmige und oft grotesk wirkende Eindringlinge in die fein gestaltete Symmetrie des Gehirns. Sie entwickeln sich zwischen den beiden Kleinhirnlappen und wachsen weiter, bis sie nicht nur auf das Kleinhirn, sondern auch auf den Hirnstamm drücken und schließlich die Bahnen blockieren, in denen die Hirnflüssigkeit zirkuliert. Das Gehirn ist eines der schönsten Dinge, die ich je in meinem Leben gesehen habe; seine Geheimnisse zu erforschen und Wege zu seiner Heilung zu finden ist ein Privileg, das ich nie als selbstverständlich erachtet habe.

»Wie ich sehe, bist du startklar. Ich werde mir jetzt meine Superhelden-Maske aufsetzen, und wir treffen uns im Raum mit den Scheinwerfern, okay?«

Er lächelt mich an. OP-Masken und Operationssäle können furchteinflößend sein. Heute nenne ich sie »Superhelden-Maske« und »Raum mit den Scheinwerfern«, damit der Junge nicht so große Angst hat. Der menschliche Geist ist ein kurioses Ding, aber einem Vierjährigen werde ich darüber jetzt keinen Vortrag halten. Manche der weisesten Patienten, ja überhaupt Menschen, die ich in meinem Leben getroffen habe, waren Kinder. Ein Kinderherz ist ganz offen. Kinder erzählen einem, wovor sie Angst haben, was sie glücklich macht, was sie an einem mögen und was nicht. Sie sind wie ein offenes Buch, und man muss nicht erst mühsam herausfinden, was sie wirklich denken.

Ich wende mich seiner Mutter und seiner Großmutter zu: »Jemand aus meinem Team wird Sie über den Verlauf der Operation informieren. Ich erwarte eine vollständige Resektion. Ich rechne nicht mit Komplikationen.« Was ich sage, ist nicht bloß das Fachsimpeln eines Chirurgen, der den beiden erzählt, was sie hören wollen – meine Absicht ist es, einen sauberen und effizienten chirurgischen Eingriff vorzunehmen, den Tumor vollständig zu entfernen und eine Gewebeprobe ins Labor zu schicken, um zu sehen, wie eklig das »eklige Ding« tatsächlich ist.

Ich weiß, die Mutter und die Großmutter des Jungen fürchten sich. Nacheinander halte ich beiden die Hände, versuche sie zu beruhigen und zu trösten. Es ist niemals leicht. Die morgendlichen Kopfschmerzen eines kleinen Jungen haben sich für seine Eltern zum schlimmsten Albtraum entwickelt. Die Mutter vertraut mir. Die Großmutter vertraut auf Gott. Ich vertraue meinem Team.

Zusammen werden wir alle versuchen, das Leben dieses Jungen zu retten.

Nachdem der Anästhesist den Jungen in Narkose versetzt hat, fixiere ich seinen Kopf in einem Kopfrahmen und bringe seinen Körper in Bauchlage. Ich greife zum Haarschneider. Obwohl diese Dinge normalerweise die OP-Schwester erledigt, ziehe ich es vor, die Haare des Jungen selbst zu rasieren. Das ist für mich ein Ritual. Und während ich langsam seine Haare abrasiere, denke ich über diesen wunderbaren kleinen Jungen nach, gehe im Geist noch einmal jedes Detail der Operation durch. Ich schneide die erste Strähne ab und reiche sie dem operationstechnischen Assistenten, damit er sie in einem kleinen Plastikbeutel für die Mutter aufbewahrt. Es ist sein erster Haarschnitt, und obwohl seine Mutter in diesem Moment andere Sorgen hat, weiß ich, dass es später eine Bedeutung für sie haben wird. Ein besonderes Ereignis im Leben, an das man sich erinnern möchte. Der erste Haarschnitt. Der erste ausgefallene Zahn. Der erste Schultag. Zum ersten Mal Fahrrad fahren. Die erste Gehirnoperation steht niemals auf dieser Liste.

Behutsam schneide ich seine dünnen hellbraunen Strähnen ab und hoffe, dass mein junger Patient all diese ersten Male erleben wird. Ich stelle mir vor, wie er lacht, und an der Stelle, wo vorher seine Vorderzähne waren, klafft eine große Lücke. Ich sehe ihn auf dem Weg in den Kindergarten, mit seinem Rucksack über der Schulter, der fast so groß ist wie er selbst. Ich sehe, wie er zum ersten Mal Fahrrad fährt – dieses erste aufregende Gefühl von Freiheit, er tritt fieberhaft in die Pedale, der Wind bläst ihm durchs Haar. Mir kommen meine eigenen Kinder in den Sinn, während ich ihm die Haare abrasiere. All diese Bilder und Szenen seiner ersten Male sehe ich so deutlich vor mir, dass ich mir gar keinen anderen Ausgang für die Operation vorstellen kann. Ich will nicht, dass ihn eine Zukunft mit Krankenhausbesuchen, Nachbehandlungen und zusätzlichen Operationen erwartet. Als Überlebender eines Hirntumors im Kindesalter wird er sich sowieso immer Kontrollchecks unterziehen müssen. Aber ich weigere mich ganz einfach, eine Zukunft in Betracht zu ziehen, die wie seine Vergangenheit ist. Die Übelkeit und das Erbrechen. Das ständige Hinfallen. Das Aufwachen in den frühen Morgenstunden und sein Rufen nach der Mutter, weil das eklige Ding auf sein Hirn drückt und ihm Schmerzen bereitet. Im Leben gibt es schon genug Leid, da braucht man das nicht noch zusätzlich.

Sacht rasiere ich sein Haar weiter ab, gerade so viel, dass ich meine Arbeit verrichten kann. Ich markiere zwei Punkte auf seiner Schädelbasis, wo wir den Schnitt machen werden, und verbinde die Punkte mit einer geraden Linie.

Hirnchirurgie ist eine diffizile Angelegenheit. Aber ein chirurgischer Eingriff in der hinteren Schädelgrube ist es umso mehr, und bei einem Kleinkind wird er vollends zur Qual. Der Tumor ist ausgedehnt, die Operation erfolgt extrem langsam und gewissenhaft. Das Auge blickt stundenlang konzentriert durchs Mikroskop. Als Chirurgen haben wir gelernt, unsere körperlichen Bedürfnisse während der Operation auf null herunterzufahren. Wir gehen nicht auf die Toilette. Wir essen nichts. Wir haben gelernt, Rückenschmerzen und Muskelkrämpfe zu ignorieren. Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal im OP-Saal stand. Ich assistierte einem berühmten Chirurgen, der nicht nur als Koryphäe galt, sondern auch dafür bekannt war, dass er beim Operieren gern stritt und sich wie eine überkandidelte Primadonna aufführte. Ich fühlte mich eingeschüchtert und nervös, und als ich neben ihm im Operationssaal stand, begann mir der Schweiß übers Gesicht zu laufen. Ich atmete schwer in meine Maske, meine Brille beschlug. Ich konnte kaum mehr das Besteck erkennen, geschweige denn das Operationsfeld. Da hatte ich mich so angestrengt, so viele Schwierigkeiten überwunden, jetzt stand ich hier und operierte, wie ich es mir immer gewünscht hatte, und konnte absolut nichts erkennen. Dann geschah das Undenkbare. Ein dicker Schweißtropfen lief mir am Gesicht herab und fiel direkt in den sterilen Bereich. Der Chirurg schäumte vor Wut. Dies sollte nun einer der bedeutendsten Augenblicke meines Lebens werden: zum ersten Mal in einem OP. Stattdessen hatte ich den sterilen Bereich verunreinigt. Ich wurde ohne weitere Erklärungen aus dem OP-Saal geschmissen. Diese Erfahrung habe ich nie vergessen.

Heute ist meine Stirn kühl, mein Blick ist klar. Mein Puls schlägt langsam und stetig. Erfahrung macht den Unterschied. In meinem Operationssaal bin ich nicht der Diktator und auch keine streitsüchtige Primadonna. In meinem Team kommt es auf jeden Einzelnen an, und jeder von uns ist konzentriert bei der Sache. Der Anästhesist überwacht den Blutdruck und den Blutsauerstoffgehalt des Jungen, seine Hirnfunktion und seinen Herzrhythmus. Die OP-Schwester hat das Operationsbesteck im Blick und achtet darauf, dass alles griffbereit liegt, was ich für den Eingriff brauche. In einem großen Plastikbeutel unterhalb des Kinderkopfes sammelt sich Blut und Spülflüssigkeit. Der Beutel ist über einen Schlauch mit einer Absaugpumpe verbunden, die ständig die Flüssigkeiten misst, sodass wir jederzeit wissen, wie hoch der Blutverlust ist.

Der Assistenzarzt an meiner Seite ist neu im Team, er ist noch in der fachärztlichen Ausbildung, aber er blickt genauso konzentriert wie ich auf die Blutgefäße, das Gehirngewebe und jede Kleinigkeit, die mit der Entfernung des Tumors zu tun hat. Wir können nicht über unsere Pläne für den nächsten Tag nachdenken oder über Krankenhaus-Interna oder über unsere Kinder oder unsere Beziehungsprobleme zu Hause. Es ist ein Zustand erhöhter Wachsamkeit, eine ganz auf die Sache gerichtete Konzentration, fast wie Meditation. Wir trainieren den Geist, und der Geist trainiert den Körper. In einem guten Team kann sich ein erstaunlicher Rhythmus entwickeln, die Dinge kommen in Fluss – alle Beteiligten arbeiten in völliger Übereinstimmung. Geist und Körper jedes Einzelnen wirken zusammen als eine größere Einheit.

Ich entferne den letzten Teil des Tumors, der an einer der größeren Drainage-Venen der tieferen Hirnregion haftet. Das Venensystem der hinteren Schädelgrube ist hochkomplex. Mein Assistenzarzt saugt gerade Flüssigkeit ab, als ich mit äußerster Vorsicht das restliche Stück des Tumors entferne. Für eine Sekunde schweifen seine Gedanken ab, und genau in dieser Sekunde verletzt er mit dem Absauggerät die Vene. Für einen ganz kurzen Moment steht die Zeit still.

Und dann bricht die Hölle los.

Das Blut der verletzten Vene füllt den Hohlraum, wo vorher der Tumor saß, und Blut beginnt aus der offenen Wunde im Kopf dieses wunderbaren kleinen Jungen zu strömen. Der Anästhesist ruft mir zu, der Blutdruck des Kindes sinke rapide ab, der Blutverlust sei enorm. Ich muss die Vene abklemmen und die Blutung stoppen, aber sie ist in einer Blutlache verschwunden, ich kann sie nicht sehen. Mit meinem Absauggerät allein bekomme ich die Blutung nicht unter Kontrolle, und die Hand meines Assistenten zittert zu sehr, um mir eine Hilfe zu sein.

»Herz-Kreislauf-Stillstand!«, schreit der Anästhesist. Er muss unter den Tisch kriechen, denn der Kopf des Jungen steckt ja in einem Kopfrahmen, er liegt mit geöffnetem Hinterkopf auf dem Bauch. Der Anästhesist beginnt die Brust des Jungen zu massieren, stützt zur gleichen Zeit mit der anderen Hand dessen Rücken und bemüht sich fieberhaft, sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Flüssigkeit strömt in die langen Infusionsschläuche. Die erste und wichtigste Aufgabe unseres Herzens besteht darin, Blut durch den Körper zu pumpen. Und jene magische Pumpe, die alles im Körper möglich macht, steht jetzt still. Dieser vierjährige Junge verblutet vor mir auf dem Operationstisch. Als der Anästhesist die Brust massiert, füllt sich die Wunde erneut mit Blut. Wir müssen die Blutung stoppen, oder der Junge wird sterben.

Das Gehirn verbraucht rund fünfzehn Prozent der Blutversorgung aus dem Herzen und kann nach einem Herzstillstand nur noch wenige Minuten überleben. Es ist auf die Blutversorgung angewiesen, vor allem auf den im Blut enthaltenen Sauerstoff. Uns bleibt kaum noch Zeit, bis der Hirntod eintritt. Sie brauchen einander – das Hirn und das Herz!

Verzweifelt versuche ich, die Vene abzuklemmen, aber ich kann das Gefäß in der Blutlache nicht sehen. Obwohl der Kopf des Jungen fixiert ist, bewegt er sich durch die Reanimationsversuche ganz leicht auf und ab. Mein Team und ich wissen, dass uns kaum noch Zeit bleibt. Der Anästhesist sieht mich an, in seinen Augen sehe ich Angst … Wir könnten den Jungen verlieren. Eine Herz-Lungen-Wiederbelebung wäre wie ein Autostart im zweiten Gang – eine äußerst unsichere Methode, zumal der Junge ständig weiter Blut verliert. Ich arbeite blind, also erlaube ich meinem Herzen eine Möglichkeit fern aller Logik, fern aller medizinischen Kunst, und beginne zu tun, was ich vor Jahrzehnten gelernt habe – nicht in meiner Ausbildung zum Facharzt oder im Studium, sondern im Hinterzimmer eines kleinen Zauberladens in der kalifornischen Wüste.

Ich beruhige meinen Geist.

Ich entspanne meinen Körper.

Ich stelle mir vor, wo das Blutgefäß sitzt. Ich sehe es vor meinem geistigen Auge als Teil jenes Systems von Gefäßnerven im Gehirn dieses kleinen Jungen. Ich arbeite blind, aber im Bewusstsein, dass es in diesem Leben mehr gibt als das, was wir mit bloßem Auge erkennen können. Jeder von uns ist in der Lage, erstaunliche Dinge zu leisten, die weit über das hinausgehen, was wir normalerweise für möglich halten. Wir können unser Schicksal beeinflussen, und ich werde nicht hinnehmen, dass dieser Vierjährige vom Schicksal dazu bestimmt sein soll, heute auf dem OP-Tisch zu sterben.

Ich greife mit der geöffneten Klammer in die Blutlache, schließe die Klammer und ziehe meine Hand langsam zurück.

Die Blutung stoppt, und dann, wie aus weiter Ferne, höre ich das leise Fiepen des Herzüberwachungsmonitors. Zuerst noch ganz schwach und unregelmäßig. Aber schon bald wird es stärker und regelmäßiger, wie Herzen es tun, wenn sie wieder zu schlagen beginnen.

Ich spüre, wie mein eigenes Herz im Rhythmus des Monitors zu schlagen beginnt.

Später, nach der Operation, werde ich der Mutter die Strähne seines ersten Haarschnitts überreichen, und mein kleiner Kumpel wird aus der Narkose erwachen – als ein Überlebender. Er wird wieder ein ganz normales Leben führen können. In achtundvierzig Stunden wird er sprechen und sogar wieder lachen können. Und ich werde ihm dann sagen, dass das »eklige Ding« aus seinem Leben verschwunden ist.

TEIL 1

Im Zauberladen

1Wahre Magie

Lancaster, Kalifornien, 1968

Der Tag, an dem ich merkte, dass mein Daumen fehlte, begann wie jeder Tag in jenem Sommer, bevor ich in die achte Klasse kam. Ich verbrachte die Zeit damit, auf meinem Fahrrad durch die Stadt zu fahren, auch wenn es manchmal so heiß wurde, dass sich das Metall meiner Lenkstange in eine glühende Herdplatte zu verwandeln schien. Ich konnte ständig Staub im Mund schmecken – körnig und krautig wie der gelbe Hasenpinsel und der Kaktus, die in der Wüstensonne und der Hitze ums Überleben kämpften. Meine Familie hatte wenig Geld, und ich war oft hungrig. Ich hasste es, hungrig zu sein. Und ich hasste es, arm zu sein.

Lancaster kannten die meisten Menschen nur deshalb, weil Chuck Yeager nahe der Edwards Air Force Base zwanzig Jahre zuvor die Schallmauer durchbrochen hatte. Den ganzen Tag flogen Flugzeuge über uns hinweg, Piloten wurden trainiert und neue Maschinen getestet. Ich fragte mich, wie sich Chuck Yeager wohl gefühlt haben mochte, als er seine Bell X-1 mit Überschallgeschwindigkeit flog, was keinem Menschen zuvor gelungen war. Wie klein und verlassen muss ihm Lancaster aus 45 000 Fuß Höhe erschienen sein, als er mit Geschwindigkeiten dahinschoss, die niemand für möglich gehalten hatte. Selbst mir erschien die Stadt klein und verlassen, und meine Füße waren gerade mal einen Fuß vom Boden entfernt, als ich auf meinem Fahrrad durch die Gegend radelte.

Am Morgen hatte ich gemerkt, dass mein Daumen fehlte. Ich hielt unter meinem Bett eine Holzkiste versteckt, in der ich meine wertvollsten Schätze aufbewahrte: ein kleines Notizbuch, in das ich meine geheimen Gedichte gekritzelt hatte, und kuriose Dinge, die ich irgendwo aufgeschnappt hatte – darunter »Täglich werden auf der Welt zwanzig Banken ausgeraubt«, »Schnecken können bis zu drei Jahre lang schlafen« oder »Wer einem Affen in Indiana eine Zigarette gibt, macht sich strafbar«. In der Kiste lag auch ein zerlesenes Exemplar von Dale Carnegies Buch Wie man Freunde gewinnt. Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden. Die Seiten, auf denen die sechs Prinzipien standen, mit denen man andere dazu bringen konnte, einen zu mögen, hatten Eselsohren. Ich konnte die sechs Punkte auswendig.

1.Interessieren Sie sich aufrichtig für andere.

2.Lächeln Sie.

3.Denken Sie daran: Für alle Menschen klingt der eigene Name am süßesten – in allen Sprachen.

4.Seien Sie ein guter Zuhörer. Ermuntern Sie andere, über sich selbst zu sprechen.

5.Sprechen Sie von Dingen, die den anderen interessieren.

6.Sorgen Sie dafür, dass der andere sich wichtig fühlt – und zwar ganz ernsthaft.

Ich versuchte, all diese Punkte zu beherzigen, wenn ich mit jemandem sprach, aber ich lächelte immer mit geschlossenem Mund, weil ich als Kleinkind hingefallen war, mir die Oberlippe am Couchtisch aufgeschlagen und dabei einen vorderen Milchzahn verloren hatte. Deshalb wuchs später mein Zahn schief nach und war dunkelbraun verfärbt. Meine Eltern hatten nicht genügend Geld, um diesen Makel zu beheben. Ich fand es peinlich, zu lächeln und dabei meinen schiefen und verfärbten Zahn zu zeigen, also hielt ich den Mund die meiste Zeit über geschlossen.

Neben dem Buch bewahrte ich in meiner Holzkiste auch all meine Zaubertricks auf – einen Stapel mit gezinkten Spielkarten, Trickmünzen, die ich von Fünf- in Zehncent-Stücke verwandeln konnte, und meinen wertvollsten Besitz: einen Plastikdaumen, in dessen Innerem ich ein Seidentuch oder eine Zigarette verstecken konnte. Das Buch und meine Zaubertricks hatten für mich große Bedeutung: Es waren Geschenke meines Vaters. Mit dem Plastikdaumen hatte ich unzählige Stunden geübt. Ich hatte gelernt, wie ich meine Hände halten musste, damit der Schwindel nicht aufflog, und wie ich ein Seidentuch oder eine Zigarette so sanft hineinstopfte, dass es aussah, als wären sie auf magische Weise verschwunden. Ich konnte meine Freunde und unsere Nachbarn im Wohnblock inzwischen geschickt täuschen. Aber heute fehlte mein Plastikdaumen. War verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Und ich nicht besonders davon begeistert.

Mein Bruder war wie meistens nicht zu Hause, aber ich vermutete, dass er es war, der meinen Plastikdaumen an sich genommen hatte, oder dass er zumindest wusste, wo ich ihn finden konnte. Ich hatte keine Ahnung, wohin er sich jeden Tag verzog, aber ich beschloss, mich auf mein Fahrrad zu setzen und ihn zu suchen. Der Plastikdaumen war mein wertvollster Besitz. Ohne ihn war ich nichts. Ich musste meinen Daumen unbedingt wiederhaben.

Ich fuhr durch ein verlassen wirkendes Einkaufszentrum an der Avenue I – eine Gegend, die normalerweise nicht zu meiner Strecke gehörte, denn außer dem Einkaufszentrum gab es dort im Umkreis von anderthalb Kilometern nichts als kahle Flächen, Gestrüpp und Maschendrahtzäune. Vor dem kleinen Supermarkt entdeckte ich eine Gruppe älterer Jungen, aber mein Bruder war nicht darunter. Ich war erleichtert, denn immer wenn ich meinen Bruder in einer Gruppe Halbstarker fand, bedeutete es, dass sie ihn provoziert hatten und ich mich in einen Streit verwickeln würde, um ihn zu verteidigen. Er war zwar anderthalb Jahre älter als ich, aber von kleinerer Statur, und Schlägertypen lieben es nun mal, sich auf diejenigen zu stürzen, die nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen.

Neben dem Supermarkt befand sich der Laden eines Optikers, und neben diesem lag ein Geschäft, das mir vorher noch nie aufgefallen war: »Cactus Rabbit Magic Shop«. Ich hielt auf dem Gehsteig vor dem Einkaufszentrum und ließ meinen Blick neugierig über den Parkplatz wandern. Die gesamte Fassade des Ladens bestand aus fünf senkrecht angeordneten Schaufenstern und einer gläsernen Eingangstür auf der linken Seite. Die Sonne spiegelte sich in den staubbedeckten Fensterscheiben, sodass ich nicht erkennen konnte, ob sich jemand im Laden aufhielt. Trotzdem schob ich mein Fahrrad zum Eingang, in der Hoffnung, dass der Laden geöffnet hatte. Ich wollte wissen, ob sie im Laden Plastikdaumen verkauften und wie teuer sie waren. Ich hatte zwar kein Geld, aber fragen kostete ja nichts. Ich lehnte mein Fahrrad an einen Pfosten vor dem Geschäft und schielte kurz zu der Gruppe der Jungen vor dem Supermarkt. Sie schienen weder mich noch mein Fahrrad bemerkt zu haben, also ließ ich es, wo es war, und drückte gegen die Ladentür. Sie schien sich zuerst nicht bewegen zu wollen, aber dann, als wäre sie von einem Zauberstab berührt worden, gab sie mir den Weg frei und öffnete sich sanft. Ein Glöckchen klingelte über meinem Kopf, als ich den Laden betrat.

Das Erste, was ich sah, war die lang gestreckte Glastheke voller Kartenspiele, Zauberstäbe, Plastikkelche und Goldmünzen. An der Wand lehnten einige große schwarze Koffer, von denen ich wusste, dass sie für Zaubervorführungen benutzt wurden, und daneben standen hohe Regale voller Bücher über Magie und Illusionskunst. In einer Ecke gab es sogar eine Mini-Guillotine und zwei grüne Boxen, mit deren Hilfe man einen Menschen in der Mitte durchsägen konnte. Eine ältere Frau mit braunen Locken las in einem Taschenbuch, die Brille vorne auf der Nase. Sie lächelte, ihren Blick immer noch auf das Buch gerichtet, dann nahm sie die Lesebrille ab, schaute auf und sah mir geradewegs in die Augen, wie mich noch nie zuvor ein Erwachsener angesehen hatte.

»Ich bin Ruth«, sagte sie. »Und wie heißt du?«

Ihr Lächeln war so ansteckend und ihre Augen waren so braun und gütig, dass ich einfach zurücklächeln musste und darüber völlig meinen schiefen Zahn vergaß.

»Ich heiße Jim.« Bis dahin hatten mich alle Bob genannt. Mein zweiter Vorname war Robert. Allerdings kann ich mich nicht mehr daran erinnern, warum alle Bob zu mir sagten. Ich weiß nicht, aus welchem Grund, aber als sie mich fragte, sagte ich ihr, mein Name sei »Jim«. Und es war der Name, den ich für den Rest meines Lebens tragen sollte.

»Also, Jim. Ich freue mich sehr, dass du reingekommen bist.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und sie starrte mir weiterhin in die Augen. Dann stieß sie einen Seufzer aus, aber er war eher fröhlich als traurig.

»Was kann ich für dich tun?«

Für ein paar Sekunden hatte ich einen totalen Blackout. Ich konnte mich nicht mehr an den Grund erinnern, weshalb ich den Laden überhaupt betreten hatte, und plötzlich überkam mich dasselbe Gefühl, wie wenn man sich zu weit in einem Stuhl zurücklehnt und an den Punkt gelangt, wo der Stuhl ins Kippen gerät. Sie wartete geduldig und lächelte mich immer noch an, bis ich meine Sprache wiederfand.

»Mein Daumen«, antwortete ich.

»Dein Daumen?«

»Ich habe meinen Plastikdaumen verloren. Haben Sie welche?«

Sie sah mich an und zuckte fragend mit den Schultern, als hätte sie keine Ahnung, wovon ich eigentlich sprach.

»Für meine Zaubervorführungen. Es ist einer von meinen Tricks. Ein Daumenaufsatz aus Plastik.«

»Ich will dir ein Geheimnis verraten«, erwiderte Ruth. »Ich habe überhaupt keine Ahnung von Zaubertricks.« Ich sah auf die unendlich vielen Zauberartikel aller Art, die im Laden ausgestellt waren, und danach blickte ich wieder zu ihr, zweifellos mit Verwunderung.

»Der Laden gehört meinem Sohn, aber der ist gerade nicht da. Ich sitze nur hier und lese und warte darauf, dass er von seinen Besorgungen zurückkommt. Ich verstehe nichts von Zauberkunst oder Tricks mit falschen Daumen, es tut mir wirklich leid.«

»Danke. Ich wollte mich sowieso nur ein bisschen im Laden umsehen.«

»Klar, mach nur. Wenn du findest, wonach du suchst, sagst du mir einfach Bescheid.« Sie lachte, und obwohl ich nicht sicher war, weshalb sie lachte, war es ein angenehmes Lachen, das mich fröhlich stimmte, ohne dass es dafür einen bestimmten Grund gab.

Ich ging durch den Laden und betrachtete die endlosen Reihen mit Kartenspielen, Zauberrequisiten und Büchern. Es gab sogar eine ganze Vitrine mit Plastikdaumen. Ich spürte, wie mich ihre Blicke verfolgten, während ich herumstöberte, und obwohl ich wusste, dass sie mich anstarrte, tat sie es nicht auf dieselbe Weise wie der Typ, der den Supermarkt neben unserer Wohnung besaß. Ich bin ziemlich sicher, er dachte, ich würde etwas stehlen, und jedes Mal, wenn ich in seinen Laden ging, fühlte ich, wie seine argwöhnischen Blicke mich auf Schritt und Tritt verfolgten.

»Wohnst du in Lancaster?«, fragte Ruth.

»Ja«, erwiderte ich. »Aber am anderen Ende der Stadt. Ich bin gerade mit dem Rad vorbeigekommen, weil ich meinen Bruder suche, da habe ich den Laden entdeckt.«

»Magst du Zaubern?«

»Ja, sehr.«

»Was genau magst du denn so sehr daran?«

Ich wollte eigentlich bloß sagen, dass ich Zaubern irgendwie toll und witzig fand, aber dann rutschte mir etwas ganz anderes heraus. »Ich mag Dinge, die ich so lange üben kann, bis ich sie wirklich gut beherrsche. Ich mag Dinge, die ich unter meine Kontrolle bringen kann. Ob ein Trick funktioniert oder nicht, soll nur von mir selbst abhängen. Egal, was andere darüber sagen, tun oder denken.«

Ruth schwieg einen Moment, und ich schämte mich sofort für meine Worte.

»Ich weiß, was du meinst«, sagte sie. »Erklär mir deinen Trick mit dem Plastikdaumen.«

»Na ja, man steckt sich den Plastikdaumen auf den Daumen, und das Publikum denkt, es wäre der echte. Am besten hält man eine Hand davor, denn wenn man genauer hinsieht, fällt schon auf, dass es ein künstlicher Daumen ist. Innen ist er hohl, und man kann ihn vom Daumen weg in die Handfläche der anderen Hand bewegen, ungefähr so … « Ich machte eine typische Magierbewegung, griff mit der einen Hand in die andere und verschränkte die Finger ineinander.

»Man bringt den Plastikdaumen unauffällig in die andere Hand, man kann ein dünnes Seidentuch oder eine Zigarette in den Daumen stopfen, dann macht man noch mal dieselbe Handbewegung und setzt sich den Daumen wieder auf. Aber jetzt steckt in seinem Innern, was man verbergen will, und es sieht so aus, als hätte man etwas auf magische Weise verschwinden lassen, oder, wenn man es umgekehrt macht, als würde man etwas aus der Luft zaubern.«

»Verstehe«, sagte Ruth. »Und wie lange übst du diesen Trick schon?«

»Seit ein paar Monaten. Ich übe jeden Tag, manchmal ein paar Minuten, manchmal eine Stunde. Aber jeden Tag. Zuerst fand ich es sogar mit dem Anleitungsheft richtig schwer. Aber mit der Zeit wird es immer leichter. Jeder kann den Trick lernen!«

»Das klingt nach einem guten Trick, und es ist super, dass du ihn übst. Aber weißt du, weshalb er funktioniert?«

»Was meinst du damit?«, fragte ich.

»Warum denkst du, fallen die Leute auf den Trick rein? Du hast ja selbst gesagt, dass der Daumen ziemlich künstlich aussieht. Also, wieso fallen die Leute trotzdem darauf herein?«

Sie wirkte plötzlich sehr ernst, so als erwarte sie wirklich, dass ich ihr etwas erklärte. Ich war es nicht gewohnt, dass mich irgendjemand, und erst recht kein Erwachsener, darum bat, ihm etwas zu erklären. Ich dachte einen Augenblick nach.

»Ich glaube, er funktioniert, weil der Magier so gut ist, dass er die Leute an der Nase herumführen kann. Sie bemerken seine Technik nicht, und man muss das Publikum während der Vorführung ablenken.«

Ruth lachte auf. »Das Publikum ablenken. Das ist genial! Du bist wirklich klug. Willst du wissen, warum ich denke, dass der Zaubertrick funktioniert?« Sie wartete darauf, dass ich ihr antwortete, und wieder fand ich es sonderbar, dass mich ein Erwachsener um Erlaubnis bat, mir etwas erklären zu dürfen.

»Ja, klar.«

»Ich glaube, der Trick funktioniert deshalb, weil die Menschen lediglich das sehen, was sie sehen wollen, anstatt zu sehen, was sie in Wirklichkeit vor sich haben. Der Trick mit dem Plastikdaumen funktioniert, weil der menschliche Geist eine verrückte Sache ist. Er sieht, was er sehen will. Er möchte einen echten Daumen sehen, also sieht er ihn auch. Das menschliche Gehirn ist, so geschäftig es zu sein scheint, in Wirklichkeit ein ziemlich träges Organ. Und, ja, der Trick funktioniert, wie du schon gesagt hast, auch deshalb, weil die Menschen sich so leicht ablenken lassen. Aber nicht die Fingerfertigkeit des Zauberers lenkt sie ab. Die meisten Zuschauer einer Zaubershow sind gar nicht in der Show. Sie sind in Gedanken bei dem, was sie gestern getan haben und jetzt bereuen, oder sie sorgen sich schon darüber, was ihnen am nächsten Tag widerfahren könnte. Mit anderen Worten: Sie sind eigentlich gar nicht anwesend. Wie sollten sie da einen künstlichen Daumen erkennen?«

Ich verstand nicht genau, wovon sie sprach, aber ich nickte sicherheitshalber. Ich würde später noch mal darüber nachdenken, mir ihre Worte ins Gedächtnis zurückrufen und herauszufinden versuchen, was sie mit alldem gemeint hatte.

»Versteh mich nicht falsch. Ich glaube an Magie. Aber nicht an die von Kunstgriffen, Kniffen und Taschenspielertricks. Kannst du dir vorstellen, welche Art von Magie ich meine?«

»Nein. Aber es hört sich spannend an«, erwiderte ich. Ich wollte unbedingt, dass sie weiterredete. Es gefiel mir, dass wir ein echtes Gespräch miteinander führten. Ich fühlte mich wichtig.

»Hast du schon einmal einen Trick mit Feuer probiert?«

»Na ja, man kann den Trick mit dem Plastikdaumen auch mit einer brennenden Zigarette machen, aber ich habe es noch nicht ausprobiert. Zum Anzünden der Zigarette braucht man Feuer.«

»Stell dir ein kleines, flackerndes Flämmchen vor, und du besitzt die Macht, es in eine gigantische Flamme zu verwandeln, groß wie ein Feuerball.«

»Das hört sich wirklich toll an. Wie macht man so was?«

»Das ist die Magie. Du kannst dieses winzige Flämmchen mit einer einzigen Sache in einen riesigen Feuerball verwandeln – deinem Geist!«

Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Aber die Vorstellung faszinierte mich. Mich begeisterten Magier, die Menschen hypnotisieren konnten. Kraft ihres Geistes Gabeln verbogen. Imstande waren, über dem Boden zu schweben.

Ruth klatschte in die Hände.

»Ich mag dich, Jim. Du bist mir wirklich sympathisch.«

»Danke, Ruth.« Ihre Worte gingen mir runter wie Öl.

»Ich bin nur sechs Wochen in der Stadt, aber wenn du einverstanden bist, mich in den kommenden sechs Wochen hier jeden Tag zu besuchen, kann ich dir etwas Magie beibringen. Jene Art von Magie, die man nicht im Laden kaufen kann und die dir dabei hilft, all das tatsächlich in dein Leben zu holen, was du dir wünschst. Wahre Magie! Keine Kunstgriffe. Keine Plastikdaumen. Keine Taschenspielertricks. Was meinst du?«

»Warum würdest du das tun?«, fragte ich.

»Weil ich weiß, wie man ein Flämmchen in eine Flamme verwandelt. Jemand hat es mir beigebracht, und jetzt glaube ich, ist es an der Zeit, dass ich es dir beibringe. Ich sehe etwas Besonderes in dir, und wenn du jeden Tag hierherkommst und nicht ein einziges Mal fehlst, wirst du es ebenfalls lernen. Das verspreche ich dir. Aber du wirst dich anstrengen müssen, und du wirst die Tricks, die du von mir lernst, noch fleißiger üben müssen als deinen Trick mit dem Plastikdaumen. Aber ich verspreche dir: Was ich dir beibringe, wird dein Leben verändern.«

Ich war sprachlos. Noch nie hatte jemand etwas Besonderes in mir gesehen. Und ich ahnte, wenn Ruth die Wahrheit über mich und meine Familie erfuhr, würde sie mich nicht mehr für so besonders halten. Ich war mir nicht sicher, ob sie mir wirklich beibringen könnte, wie man Dinge aus dem Nichts hervorzaubert, aber eigentlich hatte ich nur Lust darauf, mit ihr weitere Gespräche zu führen, so wie das von heute. Wenn ich mit ihr zusammen war, fühlte ich mich einfach gut. Ich war viel fröhlicher. Ich fühlte mich fast geliebt, wobei ich wusste, dass es absurd war, zu glauben, dass einen ein völlig Fremder lieben könnte. Ihrer äußeren Erscheinung nach wirkte Ruth wie jede x-beliebige Oma, aber ihre Augen versprachen Rätsel, Geheimnis und Abenteuer. Ich hatte diesen Sommer nichts Besonderes vor, und hier war nun plötzlich diese Frau mit ihrem Angebot, mir etwas beizubringen, was mein Leben verändern würde. Es war verrückt. Ich wusste nicht, ob das, was sie mir erzählte, auch stimmte. Aber eins war mir klar: Ich hatte absolut nichts zu verlieren. Und seit Langem fühlte ich endlich wieder so etwas wie Hoffnung in mir aufsteigen.

»Also was nun, Jim? Bist du bereit, ein Stück wahre Magie zu lernen?«

Und mit dieser schlichten Frage veränderte sich der Verlauf meines weiteren Lebens und alles, was das Schicksal ursprünglich einmal für mich vorgesehen hatte.

2Der entspannte Körper

Seit Beginn der Zivilisation ist der Ursprung der menschlichen Intelligenz und des menschlichen Bewusstseins ein tiefes Mysterium. Im 17. Jahrhundert vor Christus glaubten die Ägypter, die Intelligenz sei im Herzen beheimatet. Nach dem Tod eines Menschen bewahrte man dessen Herz und andere innere Organe auf und verehrte sie. Das Gehirn hingegen besaß einen so geringen Wert für die alten Ägypter, dass sie es vor der Mumifizierung ihrer Toten routinemäßig mittels eines Hakens aus der Nasenhöhle zogen und als Abfall entsorgten. Im 4. Jahrhundert vor Christus glaubte Aristoteles, dass das Gehirn in erster Linie ein Kühlungsmechanismus für das Blut sei, weshalb er die Menschen (mit ihren größeren Gehirnen) im Vergleich zu den »heißblütigen« Tieren für die rationaleren Wesen hielt. Erst zweitausend Jahre später konnte diese Sichtweise auf das Gehirn revidiert werden. Die zentrale Bedeutung des Gehirns für unsere Identität begann man erst zu verstehen, als bei Patienten, die durch einen Unfall oder eine Kriegsverletzung ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatten, Einschränkungen in deren Denkvermögen oder Gehirnfunktionen festgestellt wurden. Obwohl das Wissen über die Anatomie und die Funktionen des Gehirns ständig zunahm, blieb den Forschern ein wirkliches Verständnis des Organs auch weiterhin verschlossen. Tatsächlich glaubte man fast das ganze 20. Jahrhundert über, das menschliche Gehirn sei ein von vornherein festgelegtes, unveränderliches und statisches Organ. Heute wissen wir, dass es ein hohes Maß an Plastizität besitzt und in der Lage ist, sich zu verändern, anzupassen und umzugestalten. Erfahrung, Wiederholung und Absicht formen es. Dank der außergewöhnlichen Fortschritte in der Medizintechnik der vergangenen Jahrzehnte können wir heute die Fähigkeit des Gehirns beobachten, sich auf der Ebene der Zellen, der Gene, ja bis in den molekularen Bereich hinein zu verändern. Wie ich gelernt habe, besitzt jeder von uns die Fähigkeit, die Nervenzellen in seinem Gehirn neu zu verschalten.

Meine erste Begegnung mit Neuroplastizität würde ich mit Ruth erleben – im Hinterzimmer jenes Zauberladens. Mit zwölf Jahren war ich mir dessen natürlich noch nicht bewusst, aber in diesen sechs Wochen gelang es Ruth, mein Gehirn – im wahrsten Sinne des Wortes – »neu zu verdrahten«. Sie schaffte, was zum damaligen Zeitpunkt viele für unmöglich gehalten hätten.

Ich verriet niemandem etwas von meinem Vorhaben, jeden Tag in den Zauberladen zu fahren, aber mich fragte auch niemand, wohin ich ging. Der Sommer in Lancaster war wie der Aufenthalt in einem glühenden, vom Wind gepeitschten, schier endlosen Fegefeuer – ich hatte ständig das unruhige Gefühl, dass ich etwas Sinnvolles mit meiner Zeit anfangen sollte, aber was konnte ich in Lancaster schon groß tun? Um unseren Wohnblock herum gab es nichts als vertrocknete Erde und Steppenroller. Hin und wieder lag ein Autogerippe in der Landschaft herum oder ein weggeworfenes Maschinenteil. Gegenstände, die keiner mehr brauchte oder wollte – entsorgt an einem Ort, wo sie niemanden störten.

Kinder genau wie Erwachsene können sich am besten entfalten, wenn sie in einer Umgebung leben, die ihnen Stetigkeit und Verlässlichkeit bietet. Das menschliche Gehirn sehnt sich nach beidem. Bei mir zu Hause gab es weder das eine noch das andere. Es gab keine festen Essenszeiten, niemand stellte mir den Wecker, damit ich pünktlich in die Schule kam, oder kümmerte sich darum, dass ich rechtzeitig im Bett war. Ließen die Depressionen meiner Mutter so weit nach, dass sie das Bett verlassen konnte, kochte sie gelegentlich etwas für uns. Das geschah natürlich nur dann, wenn wir etwas zum Essen im Haus hatten. War das nicht der Fall, musste ich mit knurrendem Magen ins Bett, oder ich stattete einem Freund einen Besuch ab in der Hoffnung, dass er mich zum Abendessen einlud. Ich hielt mich für einen Glückspilz, weil ich, anders als die meisten meiner Freunde, nie zu einer festen Zeit zu Hause sein musste. Ich wollte auch immer erst ganz spät nach Hause gehen, denn kam ich zu früh, konnte es passieren, dass ich in einen Streit meiner Eltern oder sonstige Schwierigkeiten hineinplatzte. In solchen Momenten wünschte ich nur noch, woanders zu leben oder jemand anderes zu sein.

Manchmal braucht man nur jemanden, der mit einem redet, über irgendetwas, nur um das Gefühl zu haben, dass man ihm wichtig ist. Und manchmal liegt es nicht daran, dass man den anderen nicht wichtig ist, sondern sie sehen einen nur deshalb nicht, weil sie selbst so tief in ihrem eigenen Schmerz stecken. Ich redete mir ein, ein glücklicher Mensch zu sein, weil mich niemand behelligte – niemand sagte mir, ich solle meine Hausaufgaben machen, niemand weckte mich, damit ich zur Schule ging, oder schrieb mir vor, was ich anziehen sollte. Aber in Wahrheit war ich alles andere als glücklich. Jugendliche sehnen sich zwar nach Freiheit, aber nur, wenn sie in stabilen und sicheren Verhältnissen aufwachsen.

Ruth hatte mich gebeten, um zehn Uhr morgens in den Laden zu kommen. Ich war an jenem Tag früh aufgewacht und hatte ein Gefühl im Bauch, als würden Geburtstag und Weihnachten zusammenfallen. Nachts hatte ich vor Aufregung kein Auge zugekriegt. Ich hatte keine Ahnung, was Ruth mir beibringen wollte, und eigentlich war es mir auch egal. Ich wollte einfach nur wieder mit ihr reden. Außerdem war es ein gutes Gefühl, tagsüber etwas vorzuhaben. Ich fühlte mich dadurch wichtig.

Ich konnte Ruth schon von Weitem durch die Fensterscheiben des Zauberladens erkennen, als ich am ersten Tag auf meinem orangefarbenen Bonanzarad mit dem weißen Bananensattel angeradelt kam. An das Fahrrad erinnere ich mich deshalb so genau, weil es mein wertvollster Besitz war und ich es mir von meinem eigenen Geld gekauft hatte. Geld, das ich während langer heißer Sommertage mit dem Mähen unzähliger Rasenflächen verdient hatte.

Als ich den Laden betrat, sah ich, dass Ruth ein breites blaues Stirnband trug, mit dem sie ihr schulterlanges braunes Haar zurückgenommen hatte, ihre Brille baumelte an einem Kettchen um den Hals. Das Kleid hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen langen Kitteln, die wir in der Schule während des Malunterrichts über der Kleidung tragen mussten. Es hatte genau die gleiche Farbe wie der morgendliche Himmel über Lancaster – ein klares Hellblau mit horizontalen weißen Streifen. Jeden Morgen, wenn ich aufstand, sah ich als Allererstes aus dem Fenster. Aus irgendeinem Grund erfüllte mich der Anblick dieses blauen Himmels stets mit Hoffnung.

Ruth begrüßte mich mit ihrem allerschönsten Lächeln. Ich lächelte zurück, aber ich konnte spüren, wie mein Herz in der Brust hämmerte. Das kam zum Teil wohl daher, dass ich so schnell zum Laden geradelt war, aber auch, weil ich nicht wusste, was Ruth eigentlich mit mir vorhatte. Und ich verstand auch nicht, weshalb ich überhaupt in den Zauberladen gekommen war. Am Tag zuvor hatte ich die Idee einfach gut gefunden, am Morgen hatte ich mir gedacht, dass es allemal besser sei, in den Laden zu gehen, als einen weiteren Tag auf meinem Bonanzarad durch endlose Felder von Strauchkugeln zu kurven, immer ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen, aber stets in der Hoffnung, irgendwo anzukommen. Aber jetzt überfielen mich wieder Zweifel.

Auf was hatte ich mich da eingelassen? Was, falls ich nicht schlau genug für Ruths Magie war? Was, falls sie die Wahrheit über meine Familie herausfand? Was, wenn sie eine Geisteskranke war, die mich kidnappen und in die kalifornische Wüste verschleppen wollte, um an meinem Leichnam schwarze Magie auszuprobieren? Vor einiger Zeit hatte ich den Film »Voodoo Woman« gesehen, und jetzt fragte ich mich, ob Ruth womöglich eine verrückte Zauberin sei, die mich in ein Monster verwandeln würde, das sie mit ihrem Geist kontrollieren konnte, um anschließend die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Plötzlich wurden meine Arme weich wie Pudding. Ich hatte die Ladentür bis zur Hälfte geöffnet, aber jetzt fühlte sie sich zentnerschwer an. Sie schien mir Widerstand zu leisten. Ich sah zu meinem Rad, das auf dem Boden des fast leeren Parkplatzes lag. Was tat ich eigentlich hier? Warum hatte ich dem Ganzen überhaupt zugestimmt? Ich hätte auf mein Fahrrad springen, davonradeln und nie wieder an diesen Ort zurückkehren können.

Ruth lachte und rief meinen Namen. »Schön, dich zu sehen, Jim. Für einen Moment dachte ich schon, du würdest nicht kommen.« Sie nickte mir zu wie eine gütige Oma und bedeutete mir durch einen Wink einzutreten. Ein Gefühl der Wärme erfüllte mich. Sie wirkte doch nicht wie eine verrückt gewordene Zauberin, die es auf mich abgesehen hatte.

Ich machte die Tür ganz auf, die sich jetzt wie von selbst öffnete.

Als ich über die Ladenschwelle trat, sagte Ruth: »Also, so, wie du auf deinem Fahrrad hier angerast kamst, hätte man glauben können, der Teufel höchstpersönlich sei hinter dir her.« In der Tat hatte ich oft das Gefühl, dass mich jemand verfolgte, aber ich wusste nicht, wer es war.