Der NS-Staat - Ian Kershaw - E-Book

Der NS-Staat E-Book

Ian Kershaw

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Beschreibung

Die Literatur zum Nationalsozialismus und zum Holocaust füllt ganze Bibliotheken, und selbst Fachleuten fällt es schwer, einen Überblick zu wahren. Diese unübersichtliche Situation stellt sich dank der Arbeit des britischen Sozialhistorikers und Hitler-Biographen Ian Kershaw verändert dar. Sein Buch, das nun in einer erweiterten und überarbeiteten Fassung vorliegt, ist ein Wegweiser durch das Bücherdickicht zum Ursprung und Wesen des Nationalsozialismus. Der Autor informiert über die unterschiedlichen Erklärungsmodelle, kommentiert einsichtig die großen Kontroversen und Debatten, die sie begleiten, und zeigt dabei den aktuellen Forschungsstand.

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Seitenzahl: 654

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Ian Kershaw

Der NS-Staat

Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick

 

 

Aus dem Englischen von Jürgen Peter Krause

 

Über dieses Buch

Die Literatur zum Nationalsozialismus und zum Holocaust füllt ganze Bibliotheken, und selbst Fachleuten fällt es schwer, einen Überblick zu wahren. Diese unübersichtliche Situation stellt sich dank der Arbeit des britischen Sozialhistorikers und Hitler-Biographen Ian Kershaw verändert dar. Sein Buch, das nun in einer erweiterten und überarbeiteten Fassung vorliegt, ist ein Wegweiser durch das Bücherdickicht zum Ursprung und Wesen des Nationalsozialismus. Der Autor informiert über die unterschiedlichen Erklärungsmodelle, kommentiert einsichtig die großen Kontroversen und Debatten, die sie begleiten, und zeigt dabei den aktuellen Forschungsstand.

Vita

Dr. phil. Ian Kershaw, geboren 1943, studierte in Liverpool und Oxford. Er lehrte von 1968 bis 1989 an den Universitäten Manchester und Nottingham. Seit 1989 ist er Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Historischen Instituts der Universität Sheffield.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1985 unter dem Titel «The Nazi Dictatorship: Problems and Perspectives of Interpretation» bei Edward Arnold Ltd., London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 1988, 1994 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «The Nazi Dictatorship: Problems and Perspectives of Interpretation» Copyright © 1985, 1989, 1993, 2000 by Ian Kershaw

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Cover-Konzept anyway, Hamburg, Barbara Hanke/Heidi Sorg/Cordula Schmidt

Coverabbildung (ohne)

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01059-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

Hinweis zur E-Book-Ausgabe

Vorwort zur dritten deutschen Auflage

Abkürzungen

1 Die Historiker und das Problem, den Nationalsozialismus zu erklären

Die geschichtsphilosophische Dimension

Die politisch-ideologische Dimension

Die moralische Dimension

2 Das Wesen des Nationalsozialismus: Faschismus, Totalitarismus oder einzigartiges Phänomen?

Totalitarismus

Faschismus

Marxistische Theorien

Nichtmarxistische Interpretationen

Allgemeine Überlegungen zum «Totalitarismus»- und zum «Faschismus»-Begriff

Nationalsozialismus als Totalitarismus?

Nationalsozialismus als Faschismus oder als einzigartiges Phänomen?

3 Politik und Wirtschaft im NS-Staat

Interpretationen

Auswertung

4 Hitler: «Herr und Meister im Dritten Reich» oder «schwacher Diktator»?

Persönlichkeit, Struktur und der «Faktor Hitler»

Hitlers Macht: eine Auswertung

5 Hitler und der Holocaust

Interpretationen

Auswertung

6 Die nationalsozialistische Außenpolitik: Hitlers «Programm» oder «Expansion ohne Ziel»?

Interpretationen

Auswertung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

7 Das Dritte Reich: «Soziale Reaktion» oder «soziale Revolution»?

Interpretationen

Auswertung

8 «Widerstand ohne das Volk»?

Interpretationen

Zusammenfassung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

9 «Normalität» und Genozid: Das Problem der «Historisierung»

Der «historisierende» Ansatz

Kritik der « Historisierung»

Auswertung

10 Perspektivverschiebung: Historiographische Entwicklungstendenzen seit der deutschen Vereinigung

Nationalsozialismus und nationale Identität

Nationalsozialismus und Modernisierung

Nationalsozialismus und Stalinismus

Der Generationswechsel und die «Goldhagen-Debatte»

Überlegungen zum Perspektivwechsel in der Forschung

Weiterführende Literaturhinweise

Hinweis zur E-Book-Ausgabe

Bitte beachten Sie, dass in der E-Book-Ausgabe die internen Querverweise aus technischen Gründen keine Gültigkeit mehr haben.

Vorwort zur dritten deutschen Auflage

Bücher über komplexe Themen verfassen Historiker, so will mir scheinen, in erster Linie, um sich selbst Klarheit über bestimmte Probleme zu verschaffen. Es ist dann ein zusätzliches Plus, wenn andere Leute die angestellten Überlegungen interessant finden. Deshalb ist es mir eine besondere Freude, daß sich dieses Buch seit über zehn Jahren als hilfreicher Wegweiser durch die Vielzahl der Veröffentlichungen erwiesen hat, die sich in mehr als 50 Jahren wissenschaftlicher Beschäftigung mit äußerst schwierigen und wichtigen geschichtlichen Problemstellungen angehäuft haben.

Schon kurz nachdem ich mich intensiver mit der NS-Zeit zu befassen begann, wurde ich 1979 auf einer internationalen Tagung mit erbitterten Auseinandersetzungen, vor allem unter westdeutschen Historikern, konfrontiert. Dieses Erlebnis brachte mich Anfang der achtziger Jahre dazu, eine erste englische Fassung des vorliegendes Bandes zu schreiben. So entstand aus der damaligen Situation heraus der bis heute vorhandene inhaltliche Kern: eine Bestandsaufnahme der geschichtswissenschaftlichen Forschung über das «Dritte Reich» zum damaligen Zeitpunkt. Manche der hier angesprochenen Debatten erscheinen heute weniger kontrovers als damals. Die Forschung schreitet voran, äußere Bedingungen ändern sich, neue Probleme tauchen auf und alte verlieren an Sprengkraft. In der Geschichtswissenschaft ist das etwas ganz Normales. Weniger normal ist allerdings das Tempo, in dem sich die Dinge in den letzten Jahren geändert haben. Und entschieden anomal ist der Einfluß, den die öffentliche Meinung zum Erbe der Vergangenheit in jüngster Zeit auf die Geschichtsschreibung gewonnen hat. In der Historiographie über das «Dritte Reich» spiegeln sich weiterhin die moralischen und politischen Dimensionen (wie auch unterschiedliche methodisch-theoretische Herangehensweisen), die ich im ersten Kapitel herausgearbeitet habe. Der «Historikerstreit» der achtziger und die «Goldhagen-Debatte» der neunziger Jahre illustrieren das vielleicht am spektakulärsten. Doch ungeachtet der öffentlichen Kontroversen schreitet die Forschung im Eiltempo voran und gleicht darin eher einem reißenden Strom als einem sanft plätschernden Bach. Dadurch fällt es selbst Fachleuten schwer, sich auf dem laufenden zu halten. Aber vielleicht rechtfertigt schon allein der Versuch eine weitere Auflage dieses Buches.

Soweit erforderlich habe ich versucht, Text, Anmerkungen und Literaturhinweise auf den neuesten Stand zu bringen. Von den ursprünglich von mir behandelten Themen ist keines so intensiv erforscht und mit derart rasch sich ändernden Interpretationen bedacht worden wie «Hitler und der Holocaust». Das betreffende Kapitel habe ich schon für die zweite deutsche Auflage überarbeiten müssen. Angesichts wichtiger neuer Veröffentlichungen erwies es sich nun von neuem als erforderlich, wesentliche Teile des Kapitels umzuschreiben. Im letzten Kapitel der alten Ausgabe hatte ich über mögliche Auswirkungen der deutschen Vereinigung auf die Geschichtsschreibung spekuliert. Die Durchsicht dieses Kapitels hat mir nun deutlich gezeigt, warum man als Historiker gut daran tut, bei seinem Fach zu bleiben, statt über Zukunftstrends zu spekulieren. Auch dieser Teil des Buches mußte größtenteils neu geschrieben werden, einerseits um das «Goldhagen-Phänomen» zu berücksichtigen und andererseits um rückschauend einen Blick auf die sich wandelnden Strömungen der Nationalsozialismusforschung zu werfen – zu einem Zeitpunkt, da Hitler und sein Regime aufgrund des Generationenwechsels Geschichte werden.

Freunden und Kollegen in verschiedenen Ländern, vor allem in Deutschland und Großbritannien, bin ich nach wie vor äußerst dankbar für ihre inspirierenden Studien über ein Regime, dessen Handlungen das zu Ende gehende Jahrhundert so grundlegend und negativ geprägt haben. Einen von ihnen extra herauszustellen ist vielleicht ungerecht. Dennoch möchte ich vor allem Hans Mommsen für intensive Fachgespräche, zahlreiche Ratschläge und (selbst bei Meinungsverschiedenheiten) ermutigende Kommentare im Laufe vieler Jahre danken. Besonders dankbar bin ich auch der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für ihre anhaltende Unterstützung. Last not least gilt mein Dank Barbara Wenner für ihre hervorragende Lektoratstätigkeit und Jürgen Peter Krause für seine ausgezeichnete Übersetzungsarbeit bei inzwischen mehreren meiner Veröffentlichungen.

Ian Kershaw

Sheffield/Manchester im März 1999

Abkürzungen

AfS

Archiv für Sozialgeschichte

AHR

American Historical Review

APZ

Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung «Das Parlament»)

BAK

Bundesarchiv, Koblenz

CEH

Central European History

EcHR

Economic History Review

GG

Geschichte und Gesellschaft

GWU

Geschichte in Wissenschaft und Unterricht

HWJ

History Workshop Journal

HZ

Historische Zeitschrift

IMT

International Military Tribunal [Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (Nürnberg 1947–1949), 42 Bde.]

JCH

Journal of Contemporary History

MGM

Militärgeschichtliche Mitteilungen

NPL

Neue Politische Literatur

PVS

Politische Vierteljahresschrift

VfZ

Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

1Die Historiker und das Problem, den Nationalsozialismus zu erklären

Auch mehr als fünf Jahrzehnte nach der Zerstörung des Dritten Reiches haben führende Historiker bei einigen der grundlegendsten Erklärungs- und Interpretationsprobleme keine Einigung erzielen können. Natürlich sind in der Geschichtsschreibung seit der unmittelbaren Nachkriegszeit große Fortschritte gemacht worden. Die Historiker versuchten sich damals an einer Aufzeichnung der «Zeitgeschichte», noch bevor sich der Sturm der Entrüstung über die von Hitlers Armeen in Europa angerichtete Zerstörung etwas gelegt hatte; sie schrieben in einem politischen Klima, das von den entsetzlichen Enthüllungen der Nürnberger Prozesse und der Einsicht in das Ausmaß der Grausamkeit des Regimes geprägt war. Insofern kann es kaum überraschen, daß damals bei der Beschreibung der jüngsten Vergangenheit Anschuldigungen von seiten der Alliierten und Rechtfertigungen von seiten der Deutschen eine große Rolle spielten. Mit größerem zeitlichem Abstand haben zahlreiche, von einer neuen Historikergeneration veröffentlichte Forschungsarbeiten dazu beigetragen, unser Wissen über den Nationalsozialismus wesentlich zu erweitern – vor allem seitdem in den sechziger Jahren die von den Alliierten erbeuteten und inzwischen an die Deutschen zurückgegebenen Dokumente zugänglich gemacht worden waren. Doch sobald man versucht, an die detaillierten Monographien mit übergreifenden Fragestellungen heranzugehen, stößt man, was die Übereinstimmung bei der Interpretation des Nationalsozialismus betrifft, schnell auf Grenzen. Eine Synthese der gegensätzlichen Interpretationen, nach der so oft verlangt wird, ist nirgendwo in Sicht. Die Debatte hält unvermindert an und wird mit großem Nachdruck und häufig sogar mit einer Erbitterung geführt, die über eine herkömmliche Kontroverse zwischen Historikern weit hinausgeht. Lebhaft deutlich wurde dies an den Gefühlsausbrüchen, von denen 1986 der «Historikerstreit» begleitet war – eine öffentliche Kontroverse zwischen führenden deutschen Historikern über den historischen Ort des Dritten Reichs in der deutschen Geschichte.

Natürlich sind gerade Debatten und Kontroversen ein wesentlicher Bestandteil historischer Arbeit und eine Voraussetzung dafür, daß es bei der Geschichtsforschung überhaupt zu Fortschritten kommt. Der Nationalsozialismus wirft jedoch historische Interpretationsfragen auf, die eine eigene Brisanz haben oder ein bezeichnendes Licht auf weiterreichende historische Erklärungsprobleme werfen. Die besonderen Merkmale der grundlegenden Meinungsverschiedenheit der Historiker bei der Interpretation des Nationalsozialismus lassen sich meines Erachtens durch drei zwangsläufig eng miteinander verflochtene Bereiche umreißen: einen geschichtsphilosophischen, einen politisch-ideologischen und einen moralischen. Diese Bereiche sind untrennbar verbunden mit dem Forschungsgegenstand des Historikers und mit dem Verständnis, das er seiner heutigen Rolle und Aufgabe bei der Erforschung und Beschreibung des Nationalsozialismus entgegenbringt. Diese besonderen Merkmale, so möchte ich weiter behaupten, spiegeln ein zentrales Element im politischen Bewußtsein beider deutscher Nachkriegsstaaten: Die Rede ist von der lernbereiten Auseinandersetzung mit Deutschlands jüngster Vergangenheit.

Da die Historiker in Ost- und Westdeutschland grundverschieden an die Nazivergangenheit herangegangen sind, sind ihre schriftlichen Äußerungen über den Nationalsozialismus in bestimmter Weise gefärbt. In der Bundesrepublik ist man mit dem Problem allerdings auf eine weniger eingleisige Weise umgegangen als in der Deutschen Demokratischen Republik, und so sind die Kontroversen über die Interpretation des Nationalsozialismus vor allem westdeutsche Kontroversen. Damit soll natürlich keineswegs der bedeutende, oftmals wegweisende Beitrag unterschätzt werden, den nichtdeutsche Historiker bei der Erforschung der deutschen Geschichte geleistet haben. Häufig hat gerade der Umstand, daß ausländische Historiker frei von der Last der «Vergangenheitsbewältigung» und unabhängig von den intellektuellen Strömungen der westdeutschen Gesellschaft sind, zu frischen Impulsen und neuen Methoden geführt. Aus den folgenden Kapiteln geht hervor, wie sehr die internationale Wissenschaft diesem Bereich der Forschung ihren Stempel aufgedrückt hat. Dennoch wird im Buch im wesentlichen davon ausgegangen, daß die Konturen der Debatte im allgemeinen von deutschen Historikern herausgearbeitet wurden und in großem Maße davon geprägt sind, was westdeutsche Historiker als ihre Aufgabe bei der Bildung des «politischen Bewußtseins» und der Überwindung der Vergangenheit ansahen.

Von der Bundesrepublik heißt es, sie sei mehr noch als Israel oder Südvietnam «ein Staat der Zeitgeschichte, aus der Katastrophe hervorgegangen und zur Überwindung der Katastrophe errichtet»[1]. In einer solchen Gesellschaft kommt dem Historiker, der sich mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigt, eine viel offenkundiger politische Rolle zu als beispielsweise in Großbritannien. Man kann durchaus sagen, daß der Historiker aufgrund seiner Interpretation der jüngsten Vergangenheit in gewisser Weise als Hüter oder Kritiker der Gegenwart gesehen wird und sich auch selbst so sieht. Dadurch, daß die geschichtliche Erforschung des Nationalsozialismus und die «politische Bildung» untrennbar miteinander verbunden sind, verstärkt sich bei manchen Historikern teilweise das unterschwellige Gefühl, daß vor allem dort, wo es um das Erfassen des Wesens des NS-Systems geht, Klarheit herrschen sollte. Dieses Gefühl wurde 1978 vom damaligen Bundeskanzler, Helmut Schmidt, zum Ausdruck gebracht, als er in seiner Rede auf dem deutschen Historikertag beklagte, ein Übermaß an Theorie habe dazu geführt, daß viele heutige Deutsche ein Bild vom Nationalsozialismus hätten, dem es noch immer an einer «klaren Kontur» fehle.[2] Dasselbe Argument ist für die Stimmung – eine Mischung aus Wut und Trauer – mancher Historiker kennzeichnend, deren Interpretationen in den fünfziger und sechziger Jahren tonangebend gewesen sind und die sich jetzt einer «revisionistischen» Herausforderung gegenübersehen, die so weit geht, «grundlegende Erkenntnisse, die man für völlig gesichert, ja unbestritten gehalten hat, radikal in Frage» zu stellen.[3]

Sowohl «Traditionalisten» als auch «Revisionisten» gehen ausdrücklich davon aus, daß zwischen dem Perspektivwandel in der Geschichtsforschung und der aktuellen politischen Bewußtseinsbildung ein Zusammenhang besteht.[4] Durch den «Historikerstreit» ist wieder einmal deutlich geworden, daß gegensätzliche Interpretationen des Nationalsozialismus Teil der fortlaufenden Neueinschätzung der politischen Identität und politischen Zukunft der Bundesrepublik sind. Heutzutage sind der Historiker und sein Werk öffentliches Eigentum. Damit ist der grundlegende Rahmen abgesteckt und angedeutet, wie sehr die Geschichtskontroverse, die wir im folgenden beurteilen wollen, politisch gefärbt ist.

Zum Nationalsozialismus gibt es eine solche Fülle von Literatur, daß es selbst Fachleuten schwerfällt, den Überblick zu behalten. Und es ist nicht zu übersehen, daß Studentinnen und Studenten, die sich auf die neueste deutsche Geschichte spezialisieren, häufig nicht in der Lage sind, sich die komplexe Literatur zum Nationalsozialismus anzueignen und Interpretationskontroversen zu folgen, die sich zum größten Teil auf den Seiten deutscher wissenschaftlicher Zeitschriften oder in wissenschaftlichen Monographien abspielen. Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Es enthält keine Beschreibung der Entwicklung der Geschichtsschreibung – oder, anders ausgedrückt, keine Geschichte der Geschichte des Nationalsozialismus.[5] Es versucht vielmehr, das Wesen einiger zentraler Interpretationsprobleme zu untersuchen, die sich speziell auf den Zeitraum der Diktatur selbst beziehen und mit denen der heutige Historiker konfrontiert ist, sobald er sich mit ihr befaßt.[6]

Die Struktur des Buches ist großteils durch die – ineinandergreifenden und zusammenhängenden – Themen vorgegeben, die den Kontroversen zugrunde liegen. Im nächsten Kapitel sollen die weitreichenden und stark gegensätzlichen Interpretationen des Wesens des Nationalsozialismus analysiert werden: ob er am einleuchtendsten als eine Form des Faschismus, eine Art Totalitarismus oder als ein politisches Phänomen «eigener Art» anzusehen ist. Mit der Faschismusdebatte unmittelbar verbunden ist die hitzige Kontroverse über den Zusammenhang von Nationalsozialismus und Kapitalismus, vor allem über die Rolle der deutschen Industrie; diese Kontroverse bildet das Thema des übernächsten Kapitels. Als Schlüsselthema hat sich die Frage nach der Interpretation der Stellung, Rolle und Bedeutung Hitlers innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems herauskristallisiert – ein komplexes Problem, das im folgenden in drei verschiedenen Kapiteln zur Machtstruktur des Dritten Reiches und zur Entwicklung der antijüdischen Politik und der Außenpolitik untersucht wird. Nachdem wir uns mit der Regierung des Dritten Reiches beschäftigt haben, gilt unser Augenmerk der Gesellschaft unter der Naziherrschaft: Es soll untersucht werden, in welchem Maße der Nationalsozialismus die deutsche Gesellschaft verändert oder sogar revolutioniert hat, und versucht werden, die komplexe Frage des deutschen Widerstands gegen Hitler zu behandeln. Darauf folgt eine Analyse der wichtigen Debatte um die «Historisierung» des Dritten Reichs – also der Frage, ob die NS-Zeit überhaupt so wie andere vergangene Epochen als «Geschichte» behandelt werden kann. Schließlich wird der Versuch unternommen, neue historiographische Entwicklungstendenzen seit der deutschen Vereinigung zu untersuchen.

In jedem der genannten Kapitel versuche ich, die unterschiedlichen Interpretationen und den derzeitigen Forschungsstand angemessen zusammenzufassen und anschließend eine Einschätzung anzubieten. Ich habe es nicht als meine Aufgabe angesehen, mich bei der Betrachtung der Kontroversen um eine neutrale Haltung zu bemühen – das wäre auch gar nicht möglich. Ich hoffe, daß ich die Ansichten, die ich hier zusammenfasse, so fair wie möglich darstelle, aber ich möchte mich auch an der Debatte beteiligen – nicht ihr unparteiischer «Schiedsrichter» sein – und in jedem einzelnen Fall meine eigene Position vortragen.

So verschieden die in diesem Buch referierten Interpretationsansätze die Geschichte des Dritten Reiches auch angehen – ein Ziel ist ihnen gemeinsam: Sie wollen eine angemessene Erklärung des Nationalsozialismus bieten. Grundsätzlich stehen alle Historikerinnen und Historiker vor der Aufgabe, die Vergangenheit zu erklären, doch wie beängstigend und komplex diese Aufgabe im Fall des Nationalsozialismus ist, wird auf den folgenden Seiten ersichtlich werden. Eine angemessene Erklärung des Nationalsozialismus dürfte in der Tat intellektuell wohl nicht zu leisten sein. Im Nationalsozialismus haben wir ein Phänomen, das sich anscheinend kaum einer rationalen Analyse unterziehen läßt. Unter der Leitung eines Führers, der in apokalyptischen Tönen von Weltmacht oder Zerstörung redete, und eines Regimes, das sich auf eine äußerst widerwärtige Ideologie des Rassenhasses gründete, plante und entfesselte eines der kulturell und wirtschaftlich am weitesten fortgeschrittenen Länder Europas einen Weltkrieg, dem rund 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen, und es verübte Greueltaten, die in dem mechanisierten Massenmord an Juden, Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und anderen gipfelten und von ihrer Art und ihrem Ausmaß her jede Vorstellungskraft übersteigen. Angesichts von Auschwitz erscheint die Erklärungsfähigkeit des Historikers in der Tat kläglich. Wie kann er hoffen, angemessen und «objektiv» über ein Regierungssystem zu schreiben, das in einem solch riesigen Ausmaß Schrecken und Entsetzen verbreitet hat? Wie soll er mit seiner Aufgabe beginnen? Er kann sich kaum – um ein Wort Rankes zu benutzen – darauf beschränken, anhand der Quellen zu zeigen, «wie es eigentlich gewesen». Und kann er hoffen, ein derart kriminelles Regime und dessen unmenschlichen Führer in historistischer Tradition zu «verstehen»? Oder besteht seine Aufgabe darin, das Übel des Nationalsozialismus bloßzustellen – der Gegenwart zum Zeugnis und der Zukunft zur Warnung? Wenn ja, wie hat das zu geschehen? Kann oder sollte der Historiker danach trachten, «Abstand» zu seinem Forschungsgegenstand zu wahren? (Eine solche innere Distanz gilt ja allgemein als für eine «objektive» Geschichtsschreibung unabdingbar.) Allein schon diese Fragen deuten einige der Gründe dafür an, warum keine Erklärung des Nationalsozialismus intellektuell ganz zufriedenstellend sein kann. Letztlich muß jedoch das Verdienst jedes Interpretationsansatzes daran gemessen werden, inwieweit er einen Beitrag zu einer genaueren Erklärung des Nationalsozialismus leistet. Dieses Buch hat seinen Zweck erfüllt, wenn sich aus der hier gegebenen Einschätzung verschiedener Interpretationen der Nazidiktatur entnehmen läßt, welche Ansätze sich besser dazu eignen (oder, anders ausgedrückt, weniger unzureichend sind als andere), eine Erklärung für den dynamischen Radikalisierungsprozeß im Dritten Reich zu liefern, der zu einem Krieg und Völkermord von beispiellosem Ausmaß geführt hat.

Bevor wir die geschichtsphilosophischen, die politisch-ideologischen und die moralischen Dimensionen betrachten, die den von uns zu untersuchenden Kontroversen zugrunde liegen, muß ein letzter einleitender Punkt klargestellt werden. Gemeint ist die Unzulänglichkeit des Quellenmaterials. Denn trotz der gewaltigen Menge an archivalischen Materialien, die aus der Zeit des Dritten Reiches erhalten geblieben sind, ist die Dokumentation extrem lückenhaft, und ernste Interpretationsprobleme hängen teilweise mit grundlegenden, in der Natur der Quellen begründeten Mängeln zusammen. Viele äußerst wichtige Dokumente sind natürlich von den Nazis gegen Kriegsende vernichtet worden, viele sind auch den Bombenangriffen zum Opfer gefallen. Aber das Problem geht über den rein materiellen Verlust des Aktenmaterials hinaus und umfaßt auch die riesigen Lücken, die sich bei den Dokumentarquellen an äußerst kritischen und sensiblen Punkten auftun und ein unvermeidliches Produkt der Funktionsweise des nationalsozialistischen Regierungssystems sind. Nirgendwo sind diese Lücken offensichtlicher und frustrierender als dort, wo es um Hitler selbst und seine Rolle in der Regierung des Dritten Reiches geht. Wenn wir uns etwa den Bereich der zentralen Entscheidungsfindung ansehen, dann hat das zunehmende Versagen der formalisierten zentralen Regierungsmaschinerie im Dritten Reich und Hitlers außerordentlich unbürokratischer Herrschaftsstil, bei dem Entscheidungen selten formell registriert wurden, zu einer riesigen Dokumentationslücke geführt. Die immensen bürokratischen Überreste des Dritten Reiches sagen daher kaum etwas über Hitler aus. Es läßt sich schwer sagen, welche von der Regierung kommenden Akten Hitler überhaupt zu Gesicht bekam – ganz zu schweigen davon, ob er sie dann auch las und wie er auf sie reagierte. Als Diktator von Deutschland bleibt Hitler für den Historiker größtenteils in unerreichbarer Ferne, da die Quellen schweigen. Und aus ebendiesem Grund lassen sich zentrale, Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem betreffende Interpretationskonflikte weder vermeiden noch auf der Grundlage des verfügbaren Quellenmaterials überzeugend lösen.

Bei der Interpretation des Nationalsozialismus machen die Unzulänglichkeiten der Quellen jedoch nur einen relativ unbedeutenden Teil des Problems aus. Eine für die Art der Kontroverse über die Nazidiktatur entscheidendere Rolle spielen die divergierenden, miteinander häufig nicht recht zu vereinbarenden Konzeptionen und Methoden der Historiker, die in diesem Fall zur Untersuchung des Nationalsozialismus angewandt werden.

Die geschichtsphilosophische Dimension

Zu Beginn sollen zwei Punkte betont werden. Zum einen treten die Unterschiede in der fachlichen Herangehensweise, Methode und Philosophie keineswegs nur bei der Untersuchung des Nationalsozialismus auf, wenn auch die mit der Interpretation des Nationalsozialismus verbundenen Probleme die Fragestellungen der Geschichtsphilosophie auf besonders eindringliche Weise deutlich werden lassen. Zum anderen rührt die Heftigkeit und Rigorosität, mit der die Debatte über die Geschichtsmethoden ausgetragen wird, daher, daß die spezifisch deutsche Tradition der Geschichtsschreibung (hier auf das Dritte Reich angewandt) unter Beschuß geraten ist. Obwohl nichtdeutsche Historiker häufig bedeutende Beiträge geliefert haben, ist die methodologische Auseinandersetzung größtenteils und bezeichnenderweise eine westdeutsche Angelegenheit. Im folgenden müssen wir deshalb unser Augenmerk auf die Vorgehensweise und das Wesen der deutschen Geschichtsschreibung richten und auf die radikal gegensätzlichen Ansichten, die von derzeit führenden bundesdeutschen Historikern in bezug auf Form und Zweck der Geschichtsschreibung vorgetragen werden.

Die Konturen der deutschen Geschichtsschreibung sind in der Nachkriegszeit durch eine Anzahl spezifischer Faktoren geprägt worden, durch die sich Deutschland von der historiographischen Entwicklung anderer Länder unterscheidet. Dem ganzen Prozeß liegt das Bedürfnis zugrunde, die Nazivergangenheit zu «bewältigen». Dies hat maßgeblich dazu beigetragen, daß in der deutschen Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit Interpretationsprobleme, die sich auf den Verlauf und das Wesen der jüngeren deutschen Geschichte beziehen, besonders eng mit weitreichenden, die Methode und Einstellung des Historikers betreffenden Fragen verknüpft wurden. Ganz allgemein gesprochen läßt sich die Entwicklung, die die Geschichtsforschung in Westdeutschland – die DDR muß hier ausgenommen werden – seit dem Krieg genommen hat, in vier Phasen einteilen: den Zeitraum bis Anfang der sechziger Jahre, in dem der Historismus fortgesetzt und teilweise noch einmal aufpoliert wurde; eine Übergangsphase der Veränderung, die sich bis in die Mitte der siebziger Jahre erstreckte; eine Phase, die trotz harter Angriffe und gewisser regressiver Tendenzen bis in die späten achtziger Jahre andauerte und in der sich neue Formen einer strukturell begründeten «Sozialgeschichte» durchsetzten, die sich an den Sozialwissenschaften ausrichten und eng mit parallelen internationalen wissenschaftlichen Entwicklungen verknüpft sind; und eine Phase, die mit den fundamentalen Veränderungen der Jahre 1989/90 einsetzte und deren Ausgang noch immer nicht abzuschätzen ist.[7] Die historistische Tradition hat in Deutschland seit der Zeit Rankes auf die Geschichtsphilosophie und die Geschichtsschreibung einen maßgeblichen Einfluß ausgeübt, der ungleich größer war als sonst der Einfluß irgendeiner Geschichtsauffassung in irgendeinem anderen Land.[8]

Diese Tradition beruhte auf einer – im philosophischen Sinne – idealistischen Vorstellung von Geschichte als einer kulturellen, von menschlichen «Ideen» geformten Entwicklung. Die Ideen, so die Grundüberlegung, kämen in den Handlungen der Menschen zum Ausdruck, und von diesen lasse sich wiederum auf ihre Absichten, Beweggründe und Überlegungen schließen. Die Geschichtsschreibung sah insofern ihre Aufgabe im wesentlichen darin, Handlungen mit Hilfe eines intuitiven «Verständnisses» der dahinterliegenden Absichten zu erklären zu suchen. In der Praxis führte das dazu, daß die Einzigartigkeit geschichtlicher Ereignisse und Persönlichkeiten herausgestellt und die große Bedeutung unterstrichen wurde, die des Menschen Wille und Absicht für den Lauf der Geschichte hätten. Außerdem wurde die Macht des Staates als Ziel an sich betont (und dementsprechend auch die Erhabenheit des preußisch-deutschen Nationalstaats).

Für eine Historikerschaft, die sich stark auf das Wesen und die Rolle des Staates als «positiver» Faktor in der Geschichte konzentriert hatte, bedeutete es nach 1945 einen starken Schock, nicht nur mit einem «Staatszerbrechen» zu tun zu haben, sondern mit einem «Staatszerbrechen beladen mit Staatsverbrechen in unvorstellbarem Ausmaße»[9]. Dennoch führte der Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht zu einem grundlegenden Wandel innerhalb der historistischen Tradition und deren Dominanz in der Geschichtsschreibung. Genau wie 1918 und 1933 war die (west-)deutsche Historiographie auch jetzt im wesentlichen durch Kontinuität gekennzeichnet. Die zwei führenden Historiker der Nachkriegszeit, Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter, waren beide in der historistischen Tradition aufgewachsen, hatten dieser Tradition entsprechend geschrieben, und ihre Ideen waren tief in der deutschen idealistischen Tradition des geschichtlichen und politischen Denkens verwurzelt. Keiner von beiden war Nazi gewesen. Vielmehr waren beide bei den Nazis angeeckt: Meinecke war 1935 von seinem Posten als Herausgeber der Historischen Zeitschrift entfernt worden, und Ritter wurde nach dem Attentat auf Hitler 1944 als «Komplize» Carl Goerdelers ins Gefängnis gesteckt. Meineckes einflußreiches Buch Die deutsche Katastrophe, das 1946 erschien, und Ritters stärker apologetisches Europa und die deutsche Frage, das 1948 veröffentlicht wurde, stellten im wesentlichen den Versuch dar, den deutschen Idealismus und die nationalpolitische Tradition zu rechtfertigen. Ihrer Ansicht zufolge war der Nationalsozialismus aus einer Art untergründigem parasitärem Wachstum hervorgegangen, das sich bis zu den negativen Kräften zurückverfolgen lasse, die zum erstenmal in der Französischen Revolution ins Blickfeld geraten seien und parallel zu der im allgemeinen gesunden und positiven Entwicklung des deutschen Staats existiert hätten. Obwohl es im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert schon bedrohliche Anzeichen gegeben habe, sei es doch vor allem eine durch den Ersten Weltkrieg ausgelöste katastrophale Serie von Ereignissen gewesen, die in ganz Europa und nicht nur in Deutschland zu einem Zusammenbruch moralischer und religiöser Werte, zur Vorherrschaft des Materialismus, zum Anwachsen der Barbarei und zur Korrumpierung der Politik hin zu Machiavellismus und Demagogie geführt haben. Wenn wir einer solchen Interpretation folgen, dann ist der Nationalsozialismus das schreckliche Resultat einer europäischen – und nicht spezifisch deutschen – Entwicklungstendenz; er kennzeichnet dann einen entscheidenden Bruch mit der «gesunden» deutschen Vergangenheit, statt als ihr Produkt angesehen zu werden. Meinecke sprach von der «Geschichte der Entartung deutschen Menschentums»[10]. Ritter empfand den Gedanken «fast unerträglich», daß «der Wille eines Einzelnen, eines Wahnwitzigen» Deutschland in den Zweiten Weltkrieg getrieben habe.[11] Der Nationalsozialismus sei insofern mehr oder weniger ein Unfall in einer ansonsten lobenswerten Entwicklung. Und die Katastrophe, die über Deutschland hereingebrochen sei, lasse sich in nicht geringem Maße auf den «Dämon» Hitler zurückführen. (Solche defensiven Versuche, den Nationalsozialismus als Teil einer europäischen Krankheit zu interpretieren, entstanden natürlich als direkte Antwort auf die nach dem Krieg von anglo-amerikanischen Autoren geäußerte grobschlächtige Interpretation, der Nationalsozialismus könne nur als Höhepunkt einer jahrhundertelangen deutschen kulturellen und politischen Fehlentwicklung angesehen werden, die bis Luther und noch weiter zurückreiche.)[12]

Die «Fischer-Kontroverse» leitete Anfang der sechziger Jahre eine Entwicklung ein, die dazu führte, daß der Historismus rasch an Einfluß verlor und sich das Geschichtsdenken wandelte. Mit Hilfe völlig traditioneller Forschungsmethoden zeigte Fritz Fischer in seinem 1961 veröffentlichten Buch Griff nach der Weltmacht die aggressiven, expansionistischen Kriegsziele von Deutschlands Eliten im Ersten Weltkrieg auf und widerlegte dadurch gründlich das Argument, eine bis dahin im Grunde genommen gesunde Entwicklung sei nach dem Krieg irgendwie «entgleist». Unbeabsichtigt hatte Fischer damit außerdem der Geschichtsforschung neue Interessengebiete erschlossen – erwähnt sei hier insbesondere die Rolle der «traditionellen» Eliten und die Kontinuität, die die Kaiser- mit der Nazizeit verband und die sich in den Gesellschaftsstrukturen und in der Innen- ebenso wie in der Außenpolitik feststellen ließ. In dem Aufsehen, das Fischers Arbeit erregte, spiegelt sich deutlich das Ausmaß des Kulturschocks, den die ältere, etablierte Historikergeneration erlebte.[13] Der Wandlungsprozeß, der teilweise durch die «Fischer-Kontroverse» ausgelöst worden war, wurde stark dadurch gefördert, daß erstens alte, starre Strukturen durch den Ausbau des Universitätssystems aufgeweicht wurden, daß zweitens die Historikerzunft sich durch die von den Sozialwissenschaften erzielten Fortschritte herausgefordert sah und daß sich drittens mit dem Ende einer langen Periode konservativer Herrschaft und dem Einsetzen der «Studentenbewegung» Ende der sechziger Jahre das politische und intellektuelle Klima veränderte.[14]

Nun war die deutsche Geschichtswissenschaft ihrer historischen Isolation ledig und unternahm angesichts eines politischen Umfelds, in dem enge kulturelle Beziehungen mit anderen europäischen Ländern und den USA aktiv und intensiv gefördert wurden, einen Schritt nach außen. Strukturelle Geschichtskonzepte, die vor allem aus der französischen Annales-Schule stammten, und der Einfluß der nordamerikanischen Politik- und Sozialwissenschaften begannen in Westdeutschland für eine Veränderung der Geschichtsmethoden zu sorgen.

Neue, in stärkerem Maße theoretische geschichtswissenschaftliche Ansätze, die sich stark an nordamerikanische Entwicklungen in den Sozial- und Politikwissenschaften anlehnten, rangen darum, sich zum ersten Mal an deutschen Universitäten zu etablieren. Durch den «neuen sozialgeschichtlichen» oder «geschichtlich-sozialwissenschaftlichen» Ansatz, der sich dafür aussprach, daß eine theoretisch begründete, integrative Disziplin eine strukturelle Analyse der «Gesellschaftsgeschichte» erstellen solle, wurde der traditionelle Schwerpunkt in der deutschen Geschichtswissenschaft umgedreht: Jetzt hieß es, das Konzept der «Politik» müsse dem Konzept der «Gesellschaft» untergeordnet werden, und die «politische Geschichte» – so wichtig sie auch sei – könne für sich allein nicht den Schlüssel zum Geschichtsverständnis liefern, sondern müsse in einen weiteren (und theoretischen) Kontext gestellt werden.[15] In der 1975 und 1976 erfolgten Gründung zweier neuer Zeitschriften – Geschichte und Gesellschaft beziehungsweise Geschichtsdidaktik –, die die Methodik dieser neuen Ansätze darstellten und deren Forschungsergebnisse veröffentlichten, spiegelte sich, so könnte man sagen, der Umstand, daß sich die «Geschichte als Gesellschaftswissenschaft», die Mitte der sechziger Jahre noch innovativ gewesen war, ein Jahrzehnt später etabliert und institutionalisiert hatte.

Diese Weiterentwicklung verlief natürlich nicht unangefochten. Führende Historiker, die sich zwar vom klassischen Historismus gelöst hatten, aber noch an konventionellen Geschichtsmethoden und Interessenbereichen festhielten, nahmen die von den Verfechtern des «neuen gesellschaftsgeschichtlichen» Ansatzes an sie ergangene Herausforderung an. Vertreter der beiden – scheinbar unversöhnlichen – Seiten debattierten zuweilen recht hitzig über geschichtsmethodische Fragen. Und diese Debatten sind für die Art und Weise, in der über den Nationalsozialismus gestritten wird und wurde, von unmittelbarer Relevanz.

Der führende Protagonist des «gesellschaftsgeschichtlichen» Ansatzes, Hans-Ulrich Wehler, galt im allgemeinen nicht als Spezialist in Sachen Nationalsozialismus, auch wenn er in seinen Untersuchungen zum Kaiserreich ausdrücklich der Frage nach einer Kontinuität in den Strukturen der deutschen Gesellschaft zwischen 1870 und 1945 nachging.[16] Zu den führenden Gegnern der «neuen Gesellschaftsgeschichte» und Verteidigern der Verdienste der herkömmlichen politischen Geschichte gehörten der verstorbene Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand, die beide als namhafte Experten der nationalsozialistischen Außenpolitik gelten.[17] Mit Nachdruck betonten sie die Wichtigkeit außenpolitischer und diplomatischer Zusammenhänge, die Bedeutung des einzelnen Menschen, seines Willens und seiner Absichten – im Gegensatz zu strukturellen Determinanten – und den Wert der traditionellen empirischen Methode in der Geschichtsforschung.

In einem programmatischen Artikel sprach Hillgruber sich 1973 dafür aus, daß der modernen politischen Geschichte wieder eine zentralere Bedeutung zukommen müsse.[18] Scharfe Kritik übte er an den in seinen Augen übertriebenen und modischen Ansprüchen der «Sozialgeschichte», in der konkrete Belege durch Modelle ersetzt würden. Er hielt die neuen gesellschaftsgeschichtlichen Ansätze für ungeeignet, Licht auf das internationale System und den für die internationalen Beziehungen immer noch entscheidenden Faktor des «Gleichgewichts der Kräfte» zu werfen. Er lehnte die seines Erachtens übertrieben vereinfachende Darstellungsweise der «Imperialismus-» und «Faschismustheorien» ab, widersprach gegen Ende seines Artikels heftig der Ansicht, daß es eine «wertfreie Wissenschaft» nicht gebe, und brachte noch einmal seine Überzeugung zum Ausdruck, daß in der Arbeit des Wissenschaftlers nicht sein politisches Engagement zum Ausdruck kommen dürfe. Hildebrand argumentierte ähnlich, drückte sich dabei aber noch unverblümter aus.[19] Er wandte sich gegen die Anwendung von Theorien [«die im Gefolge der ‹wahren Theorie› von Karl Marx allgemeine Gültigkeit beanspruchen möchten» – d. Übers.], da politisches Handeln aus den Quellen und einer Kritik der Quellen, aus der Bewertung der «jeweiligen besonderen Situation, [. . .] einzelmenschlichen Wunschvorstellungen und Entscheidungen» sowie «überraschenden, ‹zufälligen› Ereignissen» verstanden werden müsse. Er bestritt, daß sich die «Internationalen Beziehungen» aus gesellschaftlichen Entwicklungen ableiten ließen, und argumentierte, daß – verglichen mit dem «Prinzip der Hegemonie» und der «Vorstellung vom Gleichgewicht» der Kräfte – die Konzepte der «neuen Gesellschaftsgeschichte» nur von begrenztem Wert seien. Der Historiker könne bei seiner Arbeit legitimerweise nur vom Besonderen zum Allgemeinen vorgehen, nicht umgekehrt. Die Anwendung von Theorien fand Hildebrand methodisch höchst bedenklich, da dabei unter Umständen ein Großteil der vielfältigen Realität außer acht gelassen werde, und er schloß seinen Artikel mit der Feststellung, die Vergangenheit sei etwas Eigenständiges und nicht dazu da, die Mitwelt zu informieren oder zu belehren.

Wehler erwiderte darauf, auch Hillgrubers Ansatz bedürfe einer theoretischen und begrifflichen Untermauerung. Da Hillgruber sich bei seiner Bewertung auf Zielvorstellungen von Führungsgruppen und auf politische Ideen und Absichten stütze, steuere er fast zwangsläufig auf eine politische Ideengeschichte zu, die keine neuen Perspektiven eröffne. Wehler unterstrich, daß eine ausschließliche Konzentration auf Archivquellen nur beschränkte Möglichkeiten für die Analyse außenpolitischer Entscheidungen biete.[20] Seine Reaktion auf Hildebrand war schroffer formuliert.[21] Ihm warf er rhetorische Übertreibungen und Scheingefechte vor und deutete an einer Stelle sogar an, Hildebrand habe absichtlich falsch zitiert. Daß Hildebrand darauf beharrte, vom Besonderen zum Allgemeinen vorzugehen, hielt Wehler selbst in bezug auf Hildebrands eigene Nationalsozialismusforschung für unzulänglich. In einem späteren Beitrag bezeichnete er die Art, in der Leute wie Hildebrand sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus befaßten, als «schmächtigen, ja verstümmelten Historismus»[22]. Hildebrand stellte seinerseits die Behauptung auf, Wehlers Kommentare zeigten deutlich, wie die Zusammenhänge zwischen Gesellschaft und Hitler, Struktur und Persönlichkeit im Dritten Reich «aufgrund von Voreingenommenheit und mangelhafter Sachkenntnis verzerrt und simplifiziert beschrieben werden können», und meinte, Wehlers Artikel bewege sich nicht mehr im Argumentationsrahmen seriöser Wissenschaft, reihe nur politische Meinungsäußerungen und persönliche Verunglimpfungen aneinander und sei für den Zusammenhang ernsthafter wissenschaftlicher Diskussion unbrauchbar.[23]

Dieser kompromißlos ausgetragene Disput um theoretische Ansätze und methodische Fragen steht exemplarisch für die Art, in der um einige Schlüsselfragen zum Nationalsozialismus gestritten wird. An diesem Wortwechsel läßt sich ablesen, wie schwierig es vom Theoretischen her ist, bei der Erforschung des Nationalsozialismus einen «strukturellen» Ansatz mit einem personalistischen zu versöhnen – und gerade das ist bei der Interpretation der Rolle und der Stellung Hitlers im NS-Regierungssystem ein Schlüsselproblem. Zweitens weist der Streit auf einige der Schwierigkeiten hin, denen sich der Historiker im Zusammenhang mit seinen Quellen gegenübersieht: Wie soll er an sie herangehen, wie sie lesen? Drittens wirft der Streit die komplexe Frage nach der politischen Einstellung des Historikers auf: Wie steht er zu den politischen Verhältnissen, in denen er lebt und arbeitet, und welche Beziehung besteht zwischen theoretisch-methodischen und politisch-ideologischen Positionen?

 

Beim ersten Punkt führte Wehlers theoretischer, konzeptioneller Ansatz zu einer methodischen Vorliebe und Sympathie für die Arbeit von sogenannten «revisionistischen» Historikern des Nationalsozialismus, etwa von Hans Mommsen, dem verstorbenen Martin Broszat und Wolfgang Schieder. Diese Historiker sind mit komplexen Problemen – wie etwa der Wechselbeziehung von Innen- und Außenpolitik im NS-Staat, der Struktur der Staatsmaschinerie und des Entscheidungsprozesses und nicht zuletzt der Stellung und Funktion Hitlers im NS-System – auf eine, grob gesagt, «strukturell-funktionalistische» Weise umgegangen. Entsprechend wurde mit Nachdruck darauf hingewiesen, wie begrenzt Erklärungsmodelle sind, die sich stark auf Hitlers bewußte Absichten und seine persönliche Rolle bei der Gestaltung der NS-Politik stützen.[24]

In bezug auf den zweiten Punkt, die Quellen, hat der Disput um die geschichtswissenschaftlichen Methoden erhellt, wie der Historiker seine Erklärungen von den Quellen her entwickelt. Ganz abgesehen von den bereits erwähnten Unzulänglichkeiten des Quellenmaterials über den Nationalsozialismus lassen Quellen sich häufig (wie der verstorbene Tim Mason unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Hitlers Absichten und Ziele gezeigt hat) «auf sehr verschiedene Art und Weise lesen, und zwar abhängig davon, mit welchen unterschiedlichen sonstigen Geschichtskenntnissen man an diese Texte herangeht»; und sie sollten nicht unbedingt nur wörtlich und so, wie es vom «gesunden Menschenverstand» her einleuchtend erscheint, verstanden werden.[25] Insofern spielen sich manche der Kontroversen (vor allem solche, bei denen es um Hitler geht) zwischen Historikern ab, die genau dieselben dokumentarischen Quellen benutzen, dabei aber – nicht nur in bezug auf das Dritte Reich, sondern auch in bezug auf die Aufgaben der Geschichtsschreibung an sich – von unterschiedlichen Prämissen und Vorstellungen ausgehen und die Quellen auf völlig unterschiedliche Weise lesen.

Der dritte Punkt – welchen Einfluß politisch-ideologische Überlegungen auf die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus haben – wirft ein gesondertes, wichtiges Problem auf, dem ich mich im folgenden zuwenden möchte.

Die politisch-ideologische Dimension

Zwei eigenständige Bereiche, die allerdings miteinander zusammenhängen, bedürfen einer näheren Betrachtung: Erstens, wie hat sich die Teilung Deutschlands auf die politisch-ideologischen Prämissen, unter denen man auf beiden Seiten der Mauer den Nationalsozialismus interpretierte, ausgewirkt, und zweitens, wie haben politisch-ideologische Differenzen die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus innerhalb der Bundesrepublik selbst beeinflußt und verändert? [26]

In der Deutschen Demokratischen Republik bildete der fest in marxistisch-leninistischen Grundsätzen verankerte Antifaschismus von Anfang an einen unentbehrlichen Eckpfeiler der Ideologie und Existenzberechtigung des Staates. Geschichtswissenschaftliche Arbeiten über den «Hitlerfaschismus» hatten deshalb eine direkte politische Relevanz. Da der Faschismus als immanentes Produkt des Kapitalismus begriffen wurde und der benachbarte westdeutsche Staat auf der Grundlage der kapitalistischen Grundsätze der westlichen Alliierten gegründet wurde, hatte die Faschismusforschung die Aufgabe, die ostdeutsche Bevölkerung nicht nur darüber zu unterrichten, welche entsetzlichen und schlimmen Dinge in der Vergangenheit geschehen sind, sondern ihr auch zu vermitteln, welche drohenden Gefahren in der Gegenwart und Zukunft lauern – Gefahren, die den potentiellen Faschismus betreffen, der dem kapitalistischen Imperialismus der westlichen Länder, vor allem der Bundesrepublik, zu eigen sei.

In der Deutschen Demokratischen Republik beruhte die Interpretation des Nationalsozialismus auf der langen Tradition der in der Kommunistischen Internationale in den zwanziger und dreißiger Jahren geführten Auseinandersetzung mit dem Faschismusproblem, die in Georgi Dimitroffs berühmter Formulierung gipfelte, Faschismus sei «die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals»[27]. Die «unbewältigte Vergangenheit» des westdeutschen Staates – nicht zuletzt der Umstand, daß sich in der Wirtschaft und im politischen Leben Personen an herausragender Stelle halten konnten, die gerade erst eine mehr als zweifelhafte Vergangenheit im Dritten Reich hinter sich hatten – unterstrich für ostdeutsche Wissenschaftler nur die Relevanz und den politischen Zweck der eigenen Geschichtswissenschaft. In der Einleitung zu einer Aufsatzsammlung, die die Ergebnisse der DDR-Geschichtsforschung zusammenfaßt, heißt es kategorisch: «Dem Anspruch und Anliegen des Bandes ist Genüge getan, wenn er als ein erster Schritt auf dem Wege zu einer umfassenden Erforschung der historischen und aktuell-politischen Probleme des Faschismus wissenschaftliches Material liefert für den heutigen Kampf gegen Faschismus und Imperialismus.»[28] Und ein Autor desselben Bandes hebt weiter hervor, der Umstand, daß Kapitalisten versuchten, ihre Macht mit neuen – eben faschistischen – Methoden zu festigen, sei eine Wahrheit, die «die marxistischen Historiker [beherzigen], die mit der Erforschung der Geschichte des Faschismus einen Beitrag zur Niederringung der immer wieder in neuem Gewande auftretenden Reaktion leisten wollen und aufgrund der historischen Erfahrungen davon ausgehen, daß der antifaschistische Kampf nur durch die völlige Entmachtung und Überwindung des Monopolkapitals zum Siege geführt werden kann»[29]. Einer der führenden DDR-Historiker brachte das Ganze auf folgenden Nenner: «Für uns [bedeutet] die Faschismusforschung Teilnahme am gegenwärtig geführten Klassenkampf.»[30]

Der ideologische Rahmen, in dem sich die Geschichtsforschung in Westdeutschland abspielte und zum Teil immer noch abspielt, wurde weniger offen benannt, war aber deshalb nicht weniger offensichtlich.[31] Bei der Formulierung der westdeutschen Verfassung (dem «Grundgesetz») war das Hauptziel, die Schaffung eines «totalitären» Systems unmöglich zu machen, und zwar nicht nur eines solchen Systems, wie es im Dritten Reich existiert hatte, sondern auch eines solchen, wie es nach wie vor in der Sowjetunion und nun auch in der damaligen Sowjetzone in Deutschland bestand. Die Verfassung bekam absichtlich eine sowohl antifaschistische als auch antikommunistische Ausrichtung. Und so ist bereits darauf hingewiesen worden, daß «die Totalitarismustheorie, die den Faschismus mit dem Kommunismus vergleicht und beide sogar gleichsetzt, [. . .] daher als der das Grundgesetz prägende beherrschende Gedanke und sogar gewissermaßen als die offizielle Ideologie der Bundesrepublik angesehen werden [kann]»[32]. Die Totalitarismusprämisse war also in Westdeutschland in weiten Kreisen (sogar unter Sozialdemokraten) schon stillschweigend akzeptiert, noch bevor durch wissenschaftliche Veröffentlichungen von deutschen Emigranten in den USA – vor allem von Hannah Arendt und Carl Friedrich – der Totalitarismus als zentrales Konzept bei der Interpretation des Nationalsozialismus eingeführt wurde.[33] Dieser «Totalitarismus»-Ansatz beherrschte in den fünfziger und sechziger Jahren die «Zeitgeschichtsforschung» in der Bundesrepublik. Die ertragreichen Arbeiten von Karl Dietrich Bracher über das Ende der Weimarer Republik und über die «Machtergreifung» der Nazis zählen zu den bekanntesten Beispielen.[34] Auch die zentrale Zeitschrift zur «Zeitgeschichte», die seit 1953 bestehenden Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, sah ihre Aufgabe nicht allein in der Erforschung des Nationalsozialismus, sondern auch in der Untersuchung totalitärer Bewegungen im allgemeinen, natürlich einschließlich des Kommunismus.[35]

Auf zwei Ebenen wurden in den sechziger Jahren in Westdeutschland die herrschende Totalitarismustheorie in Frage gestellt und die Faschismustheorien wieder aufgegriffen, nämlich auf der der akademischen Wissenschaft und auf der der ideologisch-politischen Polemik. Wie immer waren die beiden Ebenen jedoch immanent miteinander verbunden und ließen sich nicht völlig voneinander trennen. Die akademische Faschismusdiskussion und die wissenschaftliche Rehabilitierung der in den Jahren zwischen den Kriegen entwickelten Faschismustheorien paßte zu den Zeitumständen Mitte bis Ende der sechziger Jahre, die davon geprägt waren, daß zum erstenmal in größerem Maße die herrschenden Werte des christdemokratisch regierten konservativen Staats in Frage gestellt wurden und sich in den westdeutschen Universitäten eine Krise anbahnte, die 1968 offen ausbrach. Im Nu wurde diese akademische Diskussion von Teilen der Linken in politische Slogans umgemünzt, während die schockierte liberale und konservative Rechte durch ihre Überreaktion dafür sorgte, daß die Faschismus/Totalitarismus-Debatte einen festen Platz in der tagespolitischen Auseinandersetzung erhielt. Den Theorien und ihrer Kritik werden wir uns im nächsten Kapitel zuwenden. Hier soll es nur darum gehen, anschaulich darzulegen, welche deutlichen politischen Untertöne in den akademischen Kontroversen mitschwingen. Im übrigen hat sich nicht nur der politische Aufruhr des Jahres 1968, sondern auch die nun viel offenere Politisierung ganzer Fakultäten an westdeutschen Universitäten auf den Debattenverlauf ausgewirkt. Und während in den sechziger und frühen siebziger Jahren der Ausbau der Universitäten im großen und ganzen dafür sorgte, daß orthodoxe und etablierte Positionen in Frage gestellt wurden, trugen die anschließenden Wachstumsbeschränkungen im Bereich der höheren Bildung sowie die Berufsverbote zu einem Klimawechsel bei.[36] Die – durch sehr produktive und äußerst einflußreiche Publikationen gestützte – Vorherrschaft des konservativ-liberalen Establishments innerhalb der Historikerschaft wurde von neuem bekräftigt. Der Ton, in dem der Konflikt ausgetragen wurde, läßt sich gut an den Kommentaren zweier führender «liberal-konservativer» Historiker ablesen: Karl Dietrich Bracher und Andreas Hillgruber.

In einem Mitte der siebziger Jahre erschienenen, knappgefaßten und viel gelesenen Lehrbuch zur deutschen Nachkriegsgeschichte[37] spricht Andreas Hillgruber davon, daß die von den Studenten geäußerte radikale Gesellschaftskritik in zunehmende Abhängigkeit von den «Kräften des doktrinären Marxismus-Leninismus» geraten sei, die sich am Vorbild der Deutschen Demokratischen Republik orientierten. Und er meint, in der «Neuen Linken» breite sich eine Sucht nach Ideologie und Indoktrination aus (die er als «Theoriebedürfnis» etikettiert und dadurch implizit mit der «progressiven» Seite der innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Disziplin geführten theoretisch-methodischen Debatten in Zusammenhang bringt). Er war der Ansicht, die Hypothese vom «Primat der Innenpolitik» – die Wehler und andere aus dem Werk von Eckart Kehr abgeleitet und hauptsächlich als heuristisches Instrument eingesetzt hatten – liefere der «Neuen Linken» eine «wissenschaftliche Scheinlegitimation» für ihre (angebliche) Überzeugung, daß ein radikaler sozialer Wandel bis hin zu einer Revolution das einzige Anliegen der Gegenwart sei.

Unter den westdeutschen Historikern, die sich mit dem Dritten Reich befassen, hat Karl Dietrich Bracher als einer ihrer angesehensten ebenfalls unmißverständlich klargestellt, was er über den Wandel in der wissenschaftlichen Behandlung der «Zeitgeschichte» denkt.[38] Die erregten Diskussionen der sechziger Jahre, so schreibt er, seien von der Politisierung und den institutionellen Umwälzungen im deutschen Bildungs- und Hochschulwesen «stimuliert, aber auch überschattet und oft bedenklich verzerrt worden». Dabei hätten Forschungstendenzen mitgewirkt, die auf interdisziplinäre und komparatistische Ansätze abzielten: vor allem die Erweiterung der geschichtswissenschaftlichen Methode und die Forderung nach einer sozialwissenschaftlichen Fundierung der Geschichtsschreibung. Eine «Marxismus-Renaissance» der «Neuen Linken» habe die Komplizierung und Verwirrung der Begriffe noch gesteigert und sich vor allem in «vehement vorgetragenen Theorieforderungen » und einer «radikalen Anfechtung der bisherigen Interpretationsmuster» niedergeschlagen, die «wesentlich aus dem Bemühen um eine Bewältigung der Vergangenheit nach den Katastrophen von 1933 und 1945 hervorgegangen» seien. In dem Maße, in dem die von der Erfahrung des Dritten Reiches geprägten Ansätze verblaßten, seien sie durch gesellschaftskritische Ansätze und Konzepte ersetzt worden, die die bis dahin vorherrschenden Interpretationen, häufig «mit grobem Geschütz», unter Beschuß genommen hätten. Bis dahin erzielte Forschungsleistungen seien übergangen oder verzerrt worden und man habe sein Heil in politischer Agitation gesucht, wobei «der ideologische Kampf auf dem Rücken und im Namen der Wissenschaft ausgetragen» worden sei. Bei der Forderung nach Theorie und Revision seien bislang gültige wissenschaftliche Maßstäbe ebenfalls verzerrt worden. Am offensichtlichsten habe sich die Kampfansage an liberaldemokratische Wertmaßstäbe in den erbitterten Angriffen auf den Totalitarismusbegriff und in der uferlosen Ausweitung der allgemeinen Faschismustheorie artikuliert, die rasch von neuen wissenschaftlichen Ansätzen (wie denen von Ernst Nolte) zu marxistisch-kommunistischen Agitationsformeln verkommen seien, wie es sie in den zwanziger und dreißiger Jahren schon einmal in ähnlicher Form gegeben habe. Dabei sei der westliche Demokratiebegriff als «spätbürgerlich» und «spätkapitalistisch» und der westdeutsche liberaldemokratisch-parlamentarische Staat als schlicht «restaurativ» attackiert worden. Ideologische monokausale Erklärungen seien an die Stelle der früheren Offenheit der Geschichts- und Politikwissenschaft getreten. Auch nichtmarxistische Autoren hätten unter dem Impetus sozioökonomischer Methoden und der «Soziologisierung der Zeitgeschichte» ihren Teil zu einem Wandel der Sprache und des Stils zeitgeschichtlicher Interpretationen beigetragen. Alles in allem sei durch die Erschließung neuer Quellen und die Intensivierung empirischer Untersuchungen allerdings auch eine erweiterte Basis für eine solide Spezialforschung geschaffen worden. Dies stehe jedoch «in bezeichnender Spannung zu der Tendenz, durch theoretisierende und ideologisierende Verfremdung der Personen- und Ereignisgeschichte die Kapitalismus- und Demokratiekritik der Gegenwart als beherrschendes Leitthema für die gesamte Zeitgeschichte zu erweisen und durchzusetzen».

Die Kontroversen, die wir im folgenden untersuchen wollen, sind in diesem Klima entstanden und von politischen und ideologischen Erwägungen geprägt. Da es in der alten Bundesrepublik keine dominierende marxistische geschichtswissenschaftliche Schule gab, sind die meisten der Debatten, die wir näher betrachten werden, Auseinandersetzungen zwischen Historikern mit unterschiedlichen liberaldemokratischen Ansichten. Die Politisierung der Debatte ist hier eher latent als offen vorhanden. Soweit sie sich überhaupt direkt zeigt, spiegelt sie sich dunkel in philosophischen Disputen darüber, welche Relevanz heutige soziale und politische Wertmaßstäbe für die Geschichtsschreibung hätten und ob sie im Interesse einer «wertfreien» und «objektiven» Geschichtswissenschaft nicht besser aus der Diskussion zu verbannen seien.[39] Es besteht allgemein Übereinstimmung darüber, daß es die Aufgabe des Historikers sei, über den Wert der Vernunft, der Freiheit und der «Emanzipation» «aufzuklären». Doch diese sehr vage Verpflichtung gegenüber dem Guten läßt natürlich Raum für eine Vielzahl von oft nur halbverdeckten ideologischen Positionen. Und wie die oben wiedergegebenen Kommentare zeigen, ist dadurch nicht verhindert, daß die wissenschaftliche Kontroverse von Beleidigungen und Verunglimpfungen begleitet wird. Erst kürzlich hat sich das wieder an der Behauptung gezeigt, verschiedene Historiker würden bei ihrem Versuch, anerkannte Interpretationen des Nationalsozialismus einer «Revision» zu unterziehen, die bösartige Natur des Naziregimes «verharmlosen». Daran läßt sich eindrucksvoll die auffällige Rolle ablesen, die in diesem Zusammenhang gerade die moralische Dimension spielt. Um sie kommt man, wenn man über den Nationalsozialismus schreibt, nicht herum.

Die moralische Dimension

In den ersten Nachkriegsjahren wurde in den Publikationen über den Nationalsozialismus deutlich moralisch argumentiert. Historiker der Siegermächte waren eifrig darum bemüht aufzuzeigen, daß der Nationalsozialismus die schlimmsten Charakterzüge bestätige, die bei Deutschen durch die Jahrhunderte hindurch zu finden seien. Von der offensichtlich massenhaften Anhängerschaft Hitlers in den dreißiger Jahren schlossen sie auf eine eigentümlich «deutsche Krankheit», und es fiel ihnen nicht schwer, Deutsche mit Nazis gleichzusetzen. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß Meinecke und Ritter sich gegen diese grobschlächtige Behauptung mit moralischem Unterton zu Wehr setzten; in ihren Veröffentlichungen spiegelt sich der verständlicherweise apologetische Charakter der deutschen Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit. Auch an der Hervorhebung des «anderen Deutschlands» und des 20. Juli 1944 – etwa in Gerhard Ritters Goerdeler-Biographie – läßt sich ablesen, daß in deutschen Publikationen zum Dritten Reich, die in den ersten Nachkriegsjahren verfaßt wurden, die moralische Dimension dominierte.[40]

Obwohl Historiker in letzter Zeit keineswegs mehr mit der für die Nachkriegszeit charakteristischen Entrüstung, Abneigung, Verurteilung und Rechtfertigung ans Werk gehen, bleibt unterschwellig doch ein starkes moralisches Element vorhanden. Alle seriösen Wissenschaftler (deutsche ganz besonders) zeigen schon allein durch ihren Sprachgebrauch – etwa durch die häufige Verwendung von Ausdrücken wie «verbrecherisch» oder «Barbarei» in Verbindung mit dem Naziregime –, daß sie den Nationalsozialismus moralisch verabscheuen. Das bringt uns auf einen Punkt, der schon in zahlreichen Kommentaren als Schwierigkeit bei der Interpretation des Nationalsozialismus vermerkt worden ist. Während Historiker traditionellerweise – wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg – versuchen, ihren Forschungsgegenstand zwar einfühlsam zu «verstehen», dabei aber kein moralisches Urteil abzugeben, ist das im Fall des Nationalsozialismus und Hitlers eindeutig unmöglich. Wolfgang Sauer hat das Dilemma in die Worte gefaßt: «Beim Nationalsozialismus sieht der Historiker sich einem Phänomen gegenüber, das er nur ablehnen kann, was immer auch seine individuelle Position sein mag. Es gibt buchstäblich keine bedenkenswerte Stellungnahme, die in diesem Punkt eine andere Meinung verträte. [. . .] Deutet eine so grundsätzliche Ablehnung nicht auf ein grundlegend mangelndes Verstehen hin? Und wenn wir nicht verstehen, wie können wir dann Geschichtsschreibung betreiben? Der Begriff ‹Verstehen› hat zweifellos eine ambivalente Bedeutung: Wir können etwas ablehnen und dennoch ‹verstehen›. Und doch stoßen unsere intellektuellen und psychischen Fähigkeiten im Fall des Nationalsozialismus an eine Grenze, die für Wilhelm Dilthey unvorstellbar gewesen wäre. Wir können erklärende Theorien erarbeiten, doch wenn wir uns direkt den Fakten stellen, erweisen sich alle Erklärungen als schwach.» [41] Es mag sein, daß das Problem in der Praxis weniger ernst ist, als es Sauer erscheint. Schließlich ergibt sich auch für viele Historiker, die sich mit anderen politischen Regimen und ihren Führern befassen, selten genug die Möglichkeit, ein «einfühlsames Verständnis» für ihren Forschungsgegenstand zu zeigen.

Dennoch läßt sich das Problem nirgendwo klarer als am Fall Hitler-Deutschlands aufzeigen, wenn es auch angesichts der allgemeinen moralischen Verurteilung des Nationalsozialismus um so überraschender ist, daß in neueren geschichtswissenschaftlichen Veröffentlichungen die Frage nach einer impliziten moralischen Verharmlosung des Nationalsozialismus überhaupt aufgeworfen wurde. Sie scheint von Karl Dietrich Bracher ausgegangen zu sein, und an seinen Äußerungen zeigt sich, daß dieser Vorwurf durchaus auch mit der Frage nach der geschichtswissenschaftlichen Methode und den politisch-ideologischen Untertönen zusammenhängt, die wir bereits erörtert haben. Bracher behauptete, manche neueren Ansätze der marxistischen und «Neuen Linken» – aber auch die einiger wohletablierter «bürgerlich»-liberaler (oder, wie er sagt, «relativistischer»)Historiker – liefen auf eine krasse Unterschätzung der nationalsozialistischen Realität hinaus. Entsprechend schrumpfe «die ideologische und totalitäre Dimension des Nationalsozialismus so zusammen, daß die Barbarei von 1933–45 als moralisches Phänomen verschwindet». «Es könnte [daher] fast scheinen, als bahne sich eine neue Welle der Verharmlosung oder gar Apologetik an.»[42] In ähnlicher Weise kritisierte Klaus Hildebrand diejenigen, die, «theoretisch fixiert, [. . .] sich vergeblich darum [bemühen], das Eigenmächtige in der Geschichte funktional zu erklären, und [. . .] dadurch nicht selten dazu bei[tragen], es zu verharmlosen»[43]. Im Rahmen der Nationalsozialismusdebatte wies Tim Mason derartige Behauptungen am offensten zurück: «Die Debatte wird nun mit einer solchen Heftigkeit geführt, daß manche Historiker inzwischen andere Historiker beschuldigen, sie würden in ihren Publikationen den Nationalsozialismus ‹verharmlosen› und dem Naziregime stillschweigend und unbewußt eine Rechtfertigung liefern. Dies ist vielleicht die ernsteste Anschuldigung, die gegen seriöse Historiker dieses Fachgebiets erhoben werden kann»; sie werfe «grundlegende Fragen nach der moralischen und politischen Verantwortung des Historikers» auf.[44]

Die Interpretationen, die zum Vorwurf der Verharmlosung geführt haben, werden uns im Buch an späterer Stelle beschäftigen. An dieser Stelle ist diese Anschuldigung zitiert worden, um zu veranschaulichen, mit welchen moralischen Untertönen jede Diskussion – vor allem unter deutschen Historikern – zwangsläufig verbunden ist. Zwar hatte Bracher, geht es um die banaleren Produkte der «Neuen Linken», die keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Faschismus und anderen Formen «bürgerlicher Herrschaft» sahen, einigen Grund für seinen Vorwurf, doch wenn er ihn auch auf Historiker bezog, die sich ernsthaft mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten, erscheint mir diese Anschuldigung als völlig unnötige und ungerechtfertigte Verunglimpfung.

Allerdings wirft der Vorwurf der «Verharmlosung» in zugespitzter Form die Frage auf, ob der Historiker einen moralischen Zweck verfolgt, wenn er über den Nationalsozialismus schreibt. Tut er es mit dem Ziel, das Übel des Nationalsozialismus «verstehen» zu lernen? Geht es ihm darum, ein Regime und seine Taten zu verurteilen, das sich aufgrund seiner Einzigartigkeit niemals wiederholen kann und ein für allemal vorbei ist? Soll dabei aus den Schrecken der Vergangenheit die Lehre gezogen werden, daß die heutige Demokratie labil ist und man ständig auf der Hut vor Angriffen auf die liberale Demokratie von links und rechts sein muß? Sollen auf diese Weise Strategien entwickelt werden, um erneut auftretende faschistische Verhältnisse erkennen und verhindern zu können? Geht es darum, durch Haß und Wut hindurch zu erinnern und zu warnen? Letzteres war offenbar die Position der inzwischen verstorbenen Lucy Dawidowicz – zumindest in einem ihrer Bücher, das ausschließlich von der moralischen Seite der Geschichtsschreibung über den Holocaust handelt.[45] Sie spricht dort vom Nationalsozialismus als «dem Bösen schlechthin, dem in der Gesellschaft wütenden Dämon, Kain in kollektiver Gestalt». Sie ist der Meinung, daß «nur eine ganz klare Kenntnis der entsetzlichen Dinge, die geschehen sind, helfen kann, derartiges in Zukunft zu vermeiden». Und sie stimmt Karl Jaspers zu, der gesagt hat: «Was geschah, ist eine Warnung. Sie zu vergessen, ist Schuld. Man soll ständig an sie erinnern. Es war möglich, daß dies geschah, und es bleibt jederzeit möglich. Nur im Wissen kann es verhindert werden.»[46] Gleichzeitig wirft jedoch ihr Widerwille gegen die von marxistischen und strukturalistischen Historikern angewandten Methoden (wieder einmal wird ihnen vorgeworfen, sie setzten sich über ihre berufliche Verantwortung hinweg) sowie ihre Vorliebe für Personengeschichte – für die Vorstellung, daß «für das Auftreten historischer Ereignisse» die Menschen verantwortlich seien, «die diese Ereignisse herbeigeführt haben»[47] – erneut in bemerkenswerter Weise das Problem auf, wie die von ihr bevorzugte geschichtswissenschaftliche Methode zu den von ihr gewünschten Resultaten führen soll.

Damit sind wir wieder bei der Wechselbeziehung zwischen der Methode des Historikers, der moralischen Seite seiner beruflichen Pflicht und dem politisch-ideologischen Rahmen, in dem er dieser Pflicht nachkommt.

2Das Wesen des Nationalsozialismus: Faschismus, Totalitarismus oder einzigartiges Phänomen?

Über Art und Charakter beziehungsweise über das Wesen des Nationalsozialismus wird seit den zwanziger Jahren debattiert: Wie läßt er sich in den Kontext der auffallend neuen politischen Bewegungen einordnen, die im Anschluß an die russische Revolution von 1917 und an Mussolinis fünf Jahre später erfolgenden «Marsch auf Rom» die Ordnung in Europa veränderten? Während Theoretiker der Kommunistischen Internationale bereits in den zwanziger Jahren den Nationalsozialismus als eine Form des Faschismus betrachteten, die durch den krisengeschüttelten Kapitalismus erzeugt worden sei, begannen bürgerliche Autoren nur wenig später, in der Rechten und der Linken die gemeinsamen totalitären Feinde der Demokratie zu sehen. In den Jahren der Naziherrschaft weiteten sich die Debatten dann natürlich wesentlich aus und stützten sich dabei einerseits auf die 1935 endgültig festgelegte Faschismusdefinition der Komintern sowie die Faschismusanalysen linksgerichteter Theoretiker, die in den Westen emigriert waren, und andererseits auf die in den westlichen Demokratien und den USA verbreitete wachsende Bereitschaft, im Nationalsozialismus und im Sowjetkommunismus zwei Seiten derselben totalitären Medaille zu sehen – eine Sichtweise, die durch den nationalsozialistisch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 scheinbar bestätigt wurde. Ab 1941 wurde diese Argumentationslinie zwar verständlicherweise heruntergespielt, um dann aber mit Beginn des Kalten Krieges Ende der vierziger Jahre um so stärker wiederaufzutauchen. In der Zeit des Kalten Krieges verloren linksgerichtete Interpretationen, die im Nationalsozialismus eine Form des Faschismus sahen, an Einfluß. Totalitarismustheorien erlebten damals hingegen eine Blütezeit und gerieten erst Ende der sechziger Jahre unter Beschuß – und unter dem Gewicht der von der Forschung angehäuften detaillierten Fakten dann auch ins Wanken –, als eine neue Phase einsetzte, die von einer stärkeren Entspannung, einer zunehmenden Innenschau und einer wachsenden Kritik an der westlichen Gesellschaft und an westlichen Regierungen, von Unruhen an den Universitäten und von neuen intellektuellen Strömungen geprägt war. Das wiedererwachte Interesse am Faschismus als Gattungsproblem spiegelte sich in einer Fülle von Untersuchungen, die nicht nur von linken, sondern auch von liberalen Autoren veröffentlicht wurden. Die «Totalitarismus»-Theoretiker wurden dadurch in die Defensive gedrängt, auch wenn man dann in den siebziger Jahren einige Einschränkungen machen mußte, als manche Schwächen des vergleichenden Faschismusansatzes zunehmend sichtbar wurden.

Die Debatte über das Faschismus/Totalitarismus-Problem wurde außerdem auch durch einen dritten Interpretationsstrang in Gang gehalten, der sich als äußerst einflußreich erwies und besagte, der Nationalsozialismus lasse sich nur als Produkt der besonderen preußisch-deutschen Entwicklung in den vorangegangenen hundert Jahren erklären. Diese Interpretation wurde jedoch in zwei recht unterschiedlichen und gegensätzlichen Formen vorgetragen.

Sozialhistoriker, die sich auf die Ursachen des Nationalsozialismus konzentrierten, betonten, Deutschland habe einen speziellen Weg der Modernisierung eingeschlagen, bei dem – in weit größerem Maße als in anderen westlichen Gesellschaften – vorindustrielle, vorkapitalistische und vorbürgerliche autoritäre und feudale Traditionen überdauert hätten, und das in einer Gesellschaft, die niemals wirklich bürgerlich gewesen sei. Zwischen diesen Traditionen und der modernen, dynamischen kapitalistischen Wirtschaft habe ein Spannungsverhältnis bestanden, das letztlich zum Ausbruch gewalttätiger Proteste geführt habe, als diese Wirtschaft in der Krise zusammengebrochen sei. Daß die Nazis 1933 einen Sieg davontragen konnten, habe weniger am Wesen des deutschen Kapitalismus als an der Stärke der prämodernen Kräfte in der deutschen Gesellschaft gelegen. Obgleich die Vertreter dieser Interpretationsrichtung die Besonderheiten der deutschen Entwicklung hervorhoben, wiesen sie doch auf offensichtliche Parallelen zu anderen Gesellschaften (zum Beispiel Italien) hin und betrachteten trotz aller Sondermerkmale den Nationalsozialismus von seinen sozioökonomischen Ursprüngen und seiner Entwicklung her als eine Form des Faschismus. Allerdings konnten diese Historiker in bezug auf bestimmte Herrschaftselemente auch keine zwingende Unvereinbarkeit ihrer Ansichten mit bestimmten Teilen der Totalitarismustheorie erkennen.[48]

Die Historiker, die von einem deutschen «Sonderweg» ausgingen und bei ihrer Erklärung die Betonung auf die «gescheiterte bürgerliche Revolution» und das Dominieren vorindustrieller, neofeudaler Strukturen legten, wurden allerdings heftig angegriffen.[49] Im Unterschied zu ihnen wurde von der Gegenposition der bürgerliche Charakter der deutschen Gesellschaft und Politik im ausgehenden 19. Jahrhundert hervorgehoben und – allerdings eher implizit als explizit – gesagt, der Nationalsozialismus dürfe nicht mit «deutschen Besonderheiten», sondern müsse mit der besonderen Instabilität der in Deutschland bestehenden Form des Kapitalismus und kapitalistischen Staates erklärt werden. Diese Argumentationslinie mag zwar ihre Vorzüge haben, aber es drängt sich in diesem Fall doch der Gedanke auf, daß sie einen nicht viel weitergebracht hat. Nach wie vor steht man – wenn auch mit einem leicht veränderten Fragenkomplex – vor dem offensichtlichen Problem, daß von den hochentwickelten kapitalistischen Industriestaaten allein Deutschland eine regelrechte «faschistische» Diktatur hervorgebracht hat. (Italien machte vor dem Krieg bei der Industrialisierung zwar große Fortschritte, kann aber nicht zu den damals bedeutenden Industrieländern gezählt werden.) Bei der hitzigen (wenn auch etwas künstlichen) Auseinandersetzung über den «Sonderweg» der deutschen Entwicklung ging es mehr um eine Interpretation der Kaiserzeit als der des Dritten Reiches. Doch obgleich diese Debatte für das Verständnis der Ursprünge des Nationalsozialismus offensichtlich von Bedeutung ist, braucht sie uns hier nicht weiter zu beschäftigen – nicht zuletzt deshalb, weil Historiker beider Seiten voll und ganz akzeptieren, daß der Nationalsozialismus trotz aller Sondermerkmale zu einer größeren Kategorie von politischen Bewegungen gehört, die wir «faschistisch» nennen. Die deutschen «Besonderheiten», um die es bei dieser Kontroverse geht, sind Wesenszüge, durch die sich Deutschland von den westlichen parlamentarischen Demokratien abhebt und nicht von Italien oder anderen Erscheinungsformen des Faschismus.

Bei einigen der führenden deutschen Historiker, die den Nationalsozialismus als Produkt der jüngsten preußisch-deutschen Geschichte analysierten, fiel die Betonung der Einzigartigkeit des Nationalsozialismus anders und ausschließlicher aus. Ihrer Interpretation zufolge war der Nationalsozialismus – sui generis – ein ganz und gar einzigartiges Phänomen, das aus dem eigenartigen Erbe des autoritären preußisch-deutschen Staates und der ideologischen Entwicklung in Deutschland hervorging, dabei aber seine Einzigartigkeit vor allem der Person Hitlers verdankte. Und dieser Faktor sei in der Geschichte des Nationalsozialismus von überragender Bedeutung und lasse sich nicht ignorieren, herunterspielen oder austauschen. Hitler habe zur Ausprägung und Richtung der Nazibewegung und des NS-Staates einen derart einzigartigen ideologischen und politischen Beitrag geleistet, daß jeder Versuch, den Nationalsozialismus als «Faschismus» zu klassifizieren und ihn auf diese Weise mit anderen «ähnlichen» Bewegungen vergleichen zu wollen, sinnlos sei und darüber hinaus auf eine «Verharmlosung» Hitlers und des Nationalsozialismus hinauslaufe. Vielmehr sei der Nationalsozialismus so vollständig mit dem Aufstieg und Fall, den politischen Zielen und der zerstörerischen Ideologie dieser einzigartigen Persönlichkeit verknüpft, daß man vom Nationalsozialismus berechtigterweise als «Hitlerismus» sprechen könne. Zwar widersprachen Vertreter dieser Interpretationsrichtung heftig, wenn der «Hitlerismus» als Typ des Faschismus angesprochen wurde – eine solche Möglichkeit hielten sie für ausgeschlossen; doch ein wichtiger Vergleich war bei ihnen trotzdem damit verknüpft: Sie argumentierten, Form und Wesen der Naziherrschaft machten es erforderlich, den Nationalsozialismus als eine Erscheinungsform des Totalitarismus zu betrachten; eine andere sei der Sowjetkommunismus (insbesondere der Stalinismus).[50]

In diesem Kapitel werde ich zuerst kurz zusammenfassen, wie sich innerhalb des «Totalitarismus»- und des «Faschismus»-Ansatzes die Interpretation entwickelt und welche Hauptvarianten sie ausgebildet hat. Mittlerweile gibt es eine umfangreiche Literatur, die diese Ansätze im einzelnen untersucht und beschreibt, so daß ich hier zu Orientierungszwecken nur einen möglichst kurzen Abriß zu geben brauche. Zweitens werde ich versuchen, die Stärken und Schwächen zu beurteilen, die bei der Anwendung der verschiedenen Konzepte auf den Nationalsozialismus zutage treten. Mit den bei der Diskussion des Totalitarismus und des Faschismus gewonnenen Erkenntnissen werde ich als letztes schließlich zum Argument der Einzigartigkeit des Nationalsozialismus zurückkehren und es im Kontext der «Besonderheit» der deutschen Entwicklung einer näheren Betrachtung unterziehen.

Totalitarismus

Es ist falsch, im Totalitarismusbegriff einfach ein Produkt des Kalten Krieges zu sehen, auch wenn er in der Tat in dieser Zeit seine Blüte hatte. In Wirklichkeit ist dieser Begriff schon beinah so lang in Gebrauch wie der des Faschismus; er läßt sich bis in die späten zwanziger Jahre zurückverfolgen. Und obwohl der Totalitarismusansatz erst etwas später publik wurde als verschiedene Faschismustheoreme, wurde ihm doch früher eine allgemeine Anerkennung als «etablierte» und «Establishment»-Theorie zuteil, ehe er dann in den sechziger Jahren nachhaltig in Frage gestellt wurde. Ich werde mich hier deshalb zuerst mit dem Totalitarismus befassen.