Hitler 1936 – 1945 - Ian Kershaw - E-Book
SONDERANGEBOT

Hitler 1936 – 1945 E-Book

Ian Kershaw

4,8
19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein epochales Werk, ein Höhepunkt der Geschichtsschreibung

Das auf zwei Bände angelegte Werk des britischen Historikers Ian Kershaw ist beides: eine Biographie Hitlers und eine Geschichte der NS-Zeit. Es untersucht eindrucksvoll die historischen Kräfte, die einen trägen österreichischen Träumer in einen Diktator mit immenser Macht verwandelten. Kershaw vertritt den Standpunkt, dass die Ursachen für Hitlers Macht nicht nur in den Taten des Diktators gesucht werden müssen, sondern auch (und ganz besonders) in den sozialen Verhältnissen eines Staates, der es ihm erlaubte, alle institutionellen und moralischen Grenzen zu überschreiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 2479

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort1936: Hitlers TriumphVierzehntes Kapitel: Unentwegte RadikalisierungFünfzehntes Kapitel: Expansionistische DynamikSechzehntes Kapitel: Wegmarken des VölkermordsSiebzehntes Kapitel: FehlkalkulationAchtzehntes Kapitel: Va banqueNeunzehntes Kapitel: Die entfesselten BarbarenZwanzigstes Kapitel: Scheitelpunkt der MachtEinundzwanzigstes Kapitel: Planung eines VernichtungskampfsZweiundzwanzigstes Kapitel: KraftprobeDreiundzwanzigstes Kapitel: Erfüllung der »Prophezeiung«Vierundzwanzigstes Kapitel: Der letzte große WurfFünfundzwanzigstes Kapitel: UmzingeltSechsundzwanzigstes Kapitel: Hoffen auf WunderSiebenundzwanzigstes Kapitel: Ein teuflisches GlückAchtundzwanzigstes Kapitel: Kein AuswegNeunundzwanzigstes Kapitel: In den AbgrundDreißigstes Kapitel: UntergangEpilogDanksagungAnhangAnmerkungenVerzeichnis der Literatur und der gedruckten QuellenAbkürzungsverzeichnisBildnachweisePersonenregisterCopyright

Vorwort

Im ersten Teil der vorliegenden Biographie »Hitler 1889-1936« habe ich zu zeigen versucht, wie die Bevölkerung eines hochkultivierten, ökonomisch fortgeschrittenen, modernen Staates einem politischen Außenseiter ihr Schicksal anvertraut und die Macht übergeben hat. Wenn dieser Mann überhaupt Talente besaß, dann nur wenige, die sein zweifellos vorhandenes Können als Demagoge und Propagandist übertrafen.

Bis zu dem Zeitpunkt, als Hitler durch Intrigen einflußreicher Persönlichkeiten, die Reichspräsident von Hindenburg nahestanden, die Reichskanzlerschaft überantwortet wurde, hatte er nur einmal vermocht, die Stimmen von etwas mehr als einem Drittel der deutschen Wählerschaft zu erringen. Ein weiteres Drittel des Wahlvolks, die Anhänger der Linken, standen ihm als unversöhnliche Gegner gegenüber, wenn ihre Reihen auch zerstritten waren. Die übrigen Wähler verhielten sich oftmals skeptisch, abwartend, zögerlich und unsicher. Am Ende des ersten Bandes dieses Werkes haben wir die Konsolidierung von Hitlers Macht bis zu dem Punkt verfolgt, da sie beinahe absolut geworden war. Die Opposition im Inneren war zerschlagen. Die Zweifler waren durch den Umfang des inneren Wiederaufbaus und die Stärkung der außenpolitischen Position des Reiches, die fast über alles Vorstellbare hinausgingen, weitgehend gewonnen worden. Ein Großteil des verlorengegangenen Nationalstolzes war wieder aufgerichtet, und das Gefühl der Erniedrigung, das der Erste Weltkrieg zurückgelassen hatte, war überwunden. Eine autoritäre Form der Herrschaft betrachteten die meisten Deutschen als einen Segen. Die Unterdrückung derjenigen, die politisch nicht im Gleichschritt marschierten, und von unliebsamen ethnischen Minderheiten oder sozialen Außenseitern wurde als akzeptabler Preis für das hingenommen, was als eine nationale Wiedergeburt erschien. Während die Masse unter Hitler immer stärker in Ergebenheit verharrte und die Opposition zerschlagen war oder sich als wirkungslos erwiesen hatte, hatten mächtige Kräfte in der Wehrmacht, dem Junkertum, der Industrie und den höheren Rängen der Beamtenschaft sich mit ihrem ganzen Gewicht hinter das Regime gestellt. Wie schwer die negativen Aspekte auch wiegen mochten, man erkannte, daß es diesen Kreisen viel zu bieten hatte.

Die Zeit, in der der erste Band mit der militärischen Wiederbesetzung des Rheinlands im Jahre 1936 schließt, markiert eine überwältigende Unterstützung der Deutschen für Hitler, sogar derjenigen, die in den Wahlen vor der Übernahme des Kanzleramts nicht für ihn gestimmt hatten. Aus den Tiefen der nationalen Erniedrigung emporsteigend, war den meisten Deutschen die Teilhabe am neuen Nationalstolz viel wert. Das Gefühl, daß sich Deutschland auf dem richtigen Weg befinde, um die vorherrschende Macht in Europa zu werden, breitete sich allerorten aus. Hitlers in den Wiener Jahren schmerzlich empfundene Erniedrigung war seit langem durch das zunehmende Gespür überblendet, die politische Mission zu erfüllen, Deutschland vom Chaos zu befreien und die dunklen und bedrohlichen Kräfte zu vernichten, die die Existenz der Nation grundsätzlich in Frage stellten. 1936 schwoll seine narzißtische Selbstglorifizierung, befruchtet von einer gottesfürchtigen Verherrlichung seiner Anhängerschaft, ins Unermeßliche. Damals hielt er sich für unfehlbar; sein Selbstbild war endgültig von Hybris durchdrungen.

Das deutsche Volk hatte die persönliche Hybris seines Führers geformt, jetzt sollte es alle Auswirkungen davon erleben: Als größtes Hasardspiel in der Geschichte der Nation um die Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent. Alle Deutschen werden die Konsequenzen zu tragen haben. Die Größe des Spiels enthielt mittelbar die Bereitschaft, sich auf das Risiko der Selbstvernichtung einzulassen, also eine Einladung an Nemesis, die Göttin des Untergangs. Nur einige wenige Menschen sahen den Sturz in den Abgrund vorher, als unausweichliche Folge von Selbstüberhebung in einem solchen Ausmaß.

In der griechischen Mythologie ist Nemesis die Göttin der Vergeltung, die die Strafen der Götter für menschliche Laster wie anmaßende Arroganz oder eben Hybris verteilt. Das Sprichwort »Hochmut kommt vor dem Fall«, das manchen Völkern bekannt ist, verweist auf das häufige Auftauchen dieses Phänomens. In der Geschichte gibt es dafür zahlreiche Beispiele unter den Herrschern und Mächtigen, obwohl der Begriff »Nemesis« eher ein politisches als ein moralisches Werturteil ausdrückt. Auf den glänzenden aber flüchtigen Aufstieg von Herrschern, Politikern oder einflußreichen Günstlingen bei Hofe folgte oftmals eine Arroganz der Macht, die schließlich zu einem schnellen Sturz aus dem Stand der Gunst führte. Gewöhnlich trifft es eine Persönlichkeit, die wie eine Sternschnuppe blitzartig prominent wird, dann schnell in Bedeutungslosigkeit verglüht und schließlich das Firmament im wesentlichen unverändert läßt.

Die Geschichte kennt einige Beispiele, wo individuelle Hybris tieferliegende, gesellschaftliche Kräfte in der Gesellschaft spiegelt und folgenschwere Vergeltung provoziert. Napoleon, der aus einfachen Verhältnissen im Strudel revolutionärer Umbrüche aufstieg, die Macht im französischen Staat übernahm, sich selbst die Kaiserkrone aufs Haupt setzte, einen Großteil Europas eroberte und schließlich Niederlage und Exil erfuhr, während sein Reich zerlegt und entehrt war, liefert ein aufschlußreiches Beispiel. Aber Napoleon hat Frankreich nicht vernichtet, und wichtige Elemente seines Erbes haben überdauert. Die Verwaltungsstruktur der Nation, das Erziehungssystem und das bürgerliche Gesetzbuch bilden drei bedeutsame Erbstücke. Nicht zuletzt aber ist Napoleon kein moralisch schändliches Handeln zugeschrieben worden. Die Franzosen von heute können mit Stolz und Bewunderung auf ihn zurückblicken.

Hitlers Erbe trug eine andere Signatur. Einzigartig in der Neuzeit, vergleichbar vielleicht nur mit dem Hunnenkönig Attila und Dschingis Khan in der fernen Vergangenheit, hinterließ sein Vermächtnis nur Zerstörung. Keinerlei architektonische Zeugnisse, kein Kunstschaffen, keine politischen Strukturen oder wirtschaftlichen Modelle, am wenigsten die moralische Verfassung – kurz es blieb nichts für die kommenden Generationen. Große Fortschritte auf den Gebieten der Motorisierung, der Luftfahrt und der Technologie vollzogen sich, teilweise kriegsbedingt. Aber die Entwicklung ging in allen kapitalistischen Ländern, am deutlichsten in den USA, dahin, und es wäre in Deutschland auch ohne Hitler nicht anders gewesen. In diesem Betracht kommt aber der Tatsache größte Bedeutung zu, daß Hitler im Unterschied zu Napoleon ein gewaltiges, moralisches Trauma hinterließ, das es noch Jahrzehnte nach seinem Tod, von politischen Randexistenzen auf der äußersten Rechten abgesehen, unmöglich macht, auf den deutschen Diktator und sein Regime mit Zustimmung oder Bewunderung zurückzublicken, ja überhaupt mit irgend etwas anderem als mit Abscheu und Verdammung.

Urteile über andere Machthaber wie Lenin, Stalin, Mao, Mussolini oder Franco weisen nicht dieselbe Übereinstimmung im Urteil auf und sind nicht mit so großem moralischem Gewicht befrachtet. Als Hitler erkannte, daß der Krieg unwiderruflich verloren war, bewegte ihn die Frage nach seinem Platz in der Geschichte, im Pantheon der germanischen Helden. Heute steht er als die verhaßteste Gestalt des 20. Jahrhunderts da. Sein Platz in der Geschichte ist ihm sicher, doch füllt er eine Rolle aus, die nicht sein Wunsch gewesen war: die des personifizierten Bösen in der modernen Politik. Doch ist das Böse eher ein theologischer oder philosophischer als ein historischer Begriff. Wenn man Hitler mit dem Attribut böse belegt, mag dies zwar richtig und auch moralisch befriedigend sein, aber es erklärt nichts. Die Einhelligkeit, mit der er verurteilt wird, ist sogar ein Hindernis auf dem Weg zu Erklärung und Verstehen. Die folgenden Kapitel machen hoffentlich unzweifelhaft deutlich, daß ich persönlich Hitler als eine verabscheuungswürdige Gestalt empfinde und all das verachte, wofür sein Regime steht. Aber dieses negative Urteil hilft mir kaum zu begreifen, warum Millionen deutscher Bürger so vieles attraktiv fanden, was Hitler verkörperte, und bereit waren, bis zum bitteren Ende in einem schrecklichen Krieg gegen das starke Bündnis der mächtigsten Nationen der Welt zu kämpfen. Diese Deutschen waren gewöhnliche Menschen und im Kern kaum böse. Sie waren im allgemeinen an Wohlstand und Wohlergehen für sich und ihre Familie interessiert, wie es Menschen überall auf der Welt sind. Sie waren auf gar keinen Fall einer Gehirnwäsche unterzogen, durch eine faszinierende Propaganda hypnotisiert oder durch rücksichtslose Unterdrückung bis zur Unterwerfung terrorisiert worden. Meine Aufgabe ist es daher im vorliegenden Band wie schon im ersten Teil dieser Arbeit nicht, mich auf die moralische Debatte über das Problem des Bösen in einer historischen Gestalt einzulassen, ich will vielmehr den Versuch unternehmen, die Macht zu ergründen, die Hitler über die Gesellschaft besaß, die schließlich für ihre Zustimmung einen derart hohen Preis zu zahlen hatte.

Letzten Endes sollte sich Hitlers Nemesis nicht nur als persönliche Vergeltung erweisen, sondern auch als Nemesis für das Deutschland, das ihn hervorgebracht hatte. Sein Land sollte in Ruinen – wie viele Gegenden Europas – und geteilt zurückbleiben. Das, was einstmals Mitteldeutschland war, sollte 40 Jahre lang die oktroyierten Wertvorstellungen des sowjetischen Siegers kennenlernen, während die westlichen Teile des Landes unter einer »Pax americana« erfolgreich auflebten. Ein neues Österreich, das die Erfahrung des Anschlusses unter Hitler gemacht hatte, sollte sich im Rahmen seiner wiederhergestellten Unabhängigkeit als ein Land erweisen, das ein für alle Mal jede Ambition verloren hatte, ein Teil Deutschlands zu sein. Die östlichen Provinzen des Reiches waren für immer verloren und zusammen mit ihnen alle Träume von Eroberungen im Osten. Die Vertreibung der Deutschen aus jenen Landstrichen sollte, wenn auch um einen sehr hohen Preis, die irredentistischen Träume beenden, die in den Jahren zwischen den Kriegen so viel Schaden angerichtet hatten. Die großen Landgüter in jenen Gegenden, Grundlage für den Einfluß des Junkeradels, sollten ebenfalls hinweggefegt werden. Die Wehrmacht als höchste Verkörperung deutscher militärischer Macht war zutiefst in Mißkredit geraten und wurde aufgelöst. Mit ihr verschwand der Staat Preußen und mit ihm das Bollwerk der wirtschaftlichen und politischen Macht des Reiches seit Bismarcks Tagen. Die Großindustrie indes sollte hinreichend unversehrt bleiben, um mit neuer Kraft und Energie das Land wiederaufzubauen, doch wurde sie nun in wachsendem Maße in westeuropäische und von den USA geprägte ökonomische Strukturzusammenhänge integriert.

Das alles sollte zusammengenommen das Ergebnis dessen sein, was zu verstehen der zweite Teil dieser Arbeit sich bemüht: Wie konnte Hitler die absolute Macht ausüben, die zu erwerben man ihm erlaubt hatte. Wie konnte der mächtigste Mann im Staat immer stärker mit einer in höchstem Maße personalisierten Form der Herrschaft verknüpft sein. Wie konnte all dies mit der Zustimmung von Millionen geschehen, und, einzigartig in einem modernen Staat, bis zu der ausweglosen Situation, die Macht eines einzigen Mannes abzuschütteln, der sie untrüglich den Weg hinab zum Untergang führte. Und wie konnten die Bürger dieses modernen Staates zu Komplizen in einem Völkermordkrieg werden, wie ihn die Menschheit bislang nicht kannte, der zu staatlich organisiertem Massenmord führte, wie es zuvor nie erlebt worden war, der in einer den ganzen Kontinent umfassenden Verheerung endete und am Schluß die Zerstörung des eigenen Landes mit sich brachte.

Es ist die Geschichte einer Schreckenszeit, die von nationaler und persönlicher Selbstzerstörung handelt, von der Art, wie ein Volk und seine Repräsentanten die eigene Katastrophe herbeiführten. All das war Teil einer grauenvollen Zerstörung der europäischen Zivilisation. Wenn das Ergebnis all dessen auch bekannt ist, so lohnt es dennoch, sich ein weiteres Mal anzuschauen, wie es zustande kam. Wenn dieses Buch ein wenig dazu beiträgt, das Verständnis dafür zu vertiefen, will ich zufrieden sein.

Ian Kershaw

Sheffield/Manchester im April 2000

1936: Hitlers Triumph

»Daß diese neue Tat Hitlers wieder ein Meilenstein auf dem Weg zum Höllenrachen der Vernichtung ist, das schien kaum einem zum Bewußtsein zu kommen.«

Deutschlandberichte der SOPADE, April 1936

I

»Nach drei Jahren glaube ich so mit dem heutigen Tag den Kampf um die deutsche Gleichberechtigung als abgeschlossen ansehen zu können.« Diese Worte sprach Hitler vor dem Reichstag am 7. März 1936, während deutsche Truppen in das entmilitarisierte Rheinland einmarschierten und damit die westlichen Demokratien herausforderten. »Groß sind die Erfolge, die mich die Vorsehung in diesen drei Jahren für unser Vaterland erringen ließ«, fuhr Hitler fort. »Auf allen Gebieten unseres nationalen, politischen und wirtschaftlichen Lebens ist unsere Stellung gebessert worden. [...] In diesen drei Jahren hat Deutschland wieder zurückerhalten seine Ehre, wiedergefunden einen Glauben, überwunden seine größte wirtschaftliche Not und endlich einen neuen kulturellen Aufstieg eingeleitet.« In diesem Lobgesang auf seine eigenen »Leistungen« stellte Hitler außerdem fest: »Wir haben in Europa keine territorialen Forderungen zu stellen.« Er beendete seine Rede mit einem auf stürmischen Beifall stoßenden Appell, ihn bei den am 29. März bevorstehenden »Neuwahlen« zu unterstützen, für die allerdings nur eine Partei, die NSDAP, kandidierte.1 Bei dieser »Wahl« wurden 98,9 Prozent aller Stimmen für Hitler abgegeben. Mit welchen Mitteln auch immer dieses Ergebnis zustande gekommen sein mag, was auch immer an Propaganda und Zwang dem zugrunde lag, kann es doch keinem Zweifel unterliegen, daß das deutsche Volk im März 1936 fast einhellig Beifall spendete, als Hitler die volle deutsche Souveränität über das Rheinland wiederherstellte, so wie die früheren Versuche, die Fesseln des Versailler Vertrags zu lösen, begrüßt wurden. Dies war für Hitler nach außen und innen ein bedeutender Triumph, ja, es war der Höhepunkt der ersten Phase seiner Gewaltherrschaft.

Hitlers Triumph war überdies eine eindeutige Demonstration der Schwäche Frankreichs und Großbritanniens, die seit Ende des Ersten Weltkriegs die dominierenden Mächte in Europa gewesen waren. Hitler hatte die Verträge von Versailles und Locarno, die Eckpfeiler der Nachkriegsordnung, ungestraft gebrochen und Deutschlands wiedergewonnene Geltung und neue Bedeutung in den internationalen Beziehungen dokumentiert.

Innerhalb Deutschlands verfügte Hitler zu diesem Zeitpunkt über die absolute Macht. Der größte, modernste und schlagkräftigste Nationalstaat Mitteleuropas lag ihm zu Füßen, hatte sich der »charismatischen« Politik der »nationalen Rettung« verpflichtet. Hitlers Stellung als Diktator war unangefochten. Er sah sich keinem ernsthaften Widerstand ausgesetzt.

Die durch das spektakuläre Geschehen im Rheinland hochgepeitschte nationale Jubelstimmung war dennoch ihrem Wesen nach kurzlebig. Die Sorgen und Nöte des Alltagslebens kehrten bald genug zurück. Die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft wegen niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen, der Unmut der Landwirte angesichts der »Zwangswirtschaft« des »Reichsnährstandes«, das Murren der kleinen Geschäftsleute über wirtschaftliche Schwierigkeiten und die weitverbreitete Unzufriedenheit der Verbraucher über die Preisentwicklung blieben unvermindert bestehen. Die Art des Auftretens der Parteifunktionäre und die Korruption in ihren Kreisen lösten wie eh und je großen Unmut aus. Und in katholischen Gegenden, wo der »Kirchenkampf« sich zugespitzt hatte, ließen die Angriffe der Partei auf kirchliche Bräuche und Institutionen, der Kampf gegen die Konfessionsschulen und die Belästigung der Geistlichen, einschließlich in der Presse herausgestellter Prozesse gegen Ordensleute wegen angeblicher Devisenvergehen und sexuellen Fehlverhaltens, die Stimmung außerordentlich schlecht werden. Dennoch sollte man die Bedeutung dieser Unzufriedenheit nicht überschätzen. Sie führte nie zu politischem Widerstand, von dem anzunehmen war, daß er dem Regime ernsthafte Schwierigkeiten bereiten würde.

Die Kräfte des linken Widerstands, Kommunisten und Sozialisten, waren zerschmettert, eingeschüchtert und ohne Einfluß. Sie verzweifelten über die Gleichgültigkeit und Fügsamkeit der westlichen Demokratien, während Hitler die internationale Ordnung der Nachkriegszeit umstürzte. Das von der Propaganda geschaffene Image eines Staatsmanns von außerordentlicher Kühnheit und genialem politischen Können entsprach, diesen Eindruck schien die verzagte Reaktion der Westmächte nahezulegen, der Wirklichkeit. Trotz drohender drakonischer Strafen war die gefährliche illegale Arbeit des Widerstands im Untergrund fortgesetzt worden. Sie hatte sich sogar für eine kurze Zeit Ende 1935 und Anfang 1936 wiederbelebt, als Nahrungsmittelknappheit in Industriegebieten zu wachsender Beunruhigung führte. Und diese Aktivitäten hatten niemals ganz aufgehört. Doch nach einer gewaltigen Offensive der Gestapo mit dem Ziel, alle Anzeichen eines kurzlebigen Wiederaufflackerns kommunistischer Aktivitäten zu zerschlagen, war jede Gefahr eines von illegalen Organisationen durchgeführten Widerstands von unten effektiv ausgeschaltet.2 Widerstandszellen, besonders solche der Kommunisten, fielen immer wieder Gestapo-Informanten zum Opfer und wurden stets erneut unterwandert. Die Mitglieder wurden verhaftet und kamen in Gefängnisse und Konzentrationslager. Schätzungen zufolge wurde ungefähr jedes zweite der 300.000 Mitglieder der kommunistischen Partei des Jahres 1932 irgendwann während des Dritten Reichs inhaftiert, eine statistische Feststellung, die von schonungsloser, zermürbender Repression zeugt.3 Dennoch entstanden unablässig neue Zellen des Widerstands. Wer seine Freiheit und sogar sein Leben riskierte, stellte großen Mut unter Beweis, aber es mangelte diesen Regimegegnern vollkommen an Macht und Einfluß. Sie verfügten über keinerlei Kontakte zu höheren Stellen, und es fehlte ihnen folglich jegliche Chance, das Regime zu stürzen. Zu dieser Zeit konnten sie keine ernsthafte Bedrohung für Hitler darstellen. Ein Widerstand, der eine Gefahr für die Diktatur bedeutet hätte, konnte jetzt praktisch, wenn man einmal von den unvorhersehbaren Taten eines Außenseiters, der auf eigene Faust handelt, absieht, nur aus dem Inneren des Regimes selbst kommen.4

Währenddessen verhielten sich die Säulen der Hitler-Diktatur, Streitkräfte, Partei, Industrie und Beamtenschaft, loyal und unterstützten das Regime.

Die national-konservativen Eliten, die Hitler 1933 in dem Glauben zur Macht verhalfen, sie würden imstande sein, ihn zu kontrollieren und zu manipulieren, hatten Meinungsverschiedenheiten weitgehend geschluckt. Besonders während der sich zusammenbrauenden internen Krise im Frühjahr und Sommer 1934, die durch das Massaker an der SA-Führung und die Liquidierung zahlreicher anderer echter oder vermeintlicher Opponenten in der »Nacht der langen Messer« am 30. Juni 1934 beendet wurde, war in diesen Kreisen deutlich Unruhe zu bemerken gewesen. Aber wie auch immer die fortbestehenden Befürchtungen der konservativen Elite hinsichtlich der antikapitalistischen Tendenzen in der Partei, angesichts des anmaßenden Verhaltens der Parteibonzen, wegen der Angriffe auf christliche Kirchen und wegen der Zügellosigkeit der Parteiformationen und anderer beunruhigender Aspekte des Regimes aussehen mochten, so hatten sie sich doch Anfang 1936 in keiner Weise ernsthaft von Hitler distanziert.

Obwohl das Offizierskorps oftmals über die vulgären Emporkömmlinge, die nun das Land regierten, die Nase rümpfte, hatten die Streitkräfte weniger Gründe zur Unzufriedenheit als die meisten anderen Gruppierungen. Das Spannungsverhältnis zur SA, das die militärische Führung während der ersten Monate des Regimes stark beschäftigt hatte, gehörte der Vergangenheit an. Der politische Mord an zwei Generälen, dem früheren Reichskanzler Kurt von Schleicher und Generalmajor Ferdinand von Bredow, in der »Nacht der langen Messer« erschien als angemessener Preis für die Beseitigung der Heimsuchung, die der SA-Führer Ernst Röhm und seine Spießgesellen waren. Inzwischen hatten die führenden Militärs erlebt, wie ihre Intention, wieder eine starke Wehrmacht aufzubauen, ein Ziel, das sogar in den »finsteren« Zeiten der zwanziger Jahre verfolgt worden war, von höchster Stelle voll unterstützt wurde.5 Im Militär herrschte Freude, als trotz des Verbots durch den Versailler Vertrag im März 1935 die allgemeine Wehrpflicht als Grundlage eines stark vergrößerten Friedensheeres von 36 Divisionen wieder eingeführt wurde. In Übereinstimmung mit Hitlers Versprechen vom Februar 1933, »daß für die nächsten 4-5 Jahre der oberste Grundsatz lauten müsse: alles für die Wehrmacht«,6 nahm die Aufrüstung jetzt schnell an Tempo zu. Die Existenz der Luftwaffe, ein weiterer Verstoß gegen »Versailles«, war im März 1935 bekanntgegeben und von den auswärtigen Mächten hingenommen worden. Ausgerechnet Großbritannien hatte sich im Juni 1935 bereit gefunden, durch Abschluß eines Flottenabkommens mit dem Reich, das Deutschland 35 Prozent der Stärke der britischen Marine zugestand, an der Aushöhlung von Versailles mitzuwirken. Mit der Remilitarisierung des Rheinlands hatte Hitler nun einen inbrünstigen Wunsch der militärischen Führung erfüllt, lange bevor diese einen solchen Schritt auch nur in Erwägung gezogen hatte. Er tat nicht nur alles, was die Führer der Streitkräfte von ihm wünschten, er tat sogar noch mehr. Das gab wenig Anlaß zur Beschwerde.

Die Führer der Großunternehmen waren Hitler für die Vernichtung der Linksparteien und der Gewerkschaften dankbar, wenn ihnen auch oftmals momentane Schwierigkeiten und zukünftige wirtschaftliche Probleme Sorge bereiteten. Sie waren in ihren Betrieben und in ihrem Umgang mit ihren Arbeitnehmern nun wieder »Herr im Hause«, und der Weg zu gewaltig gesteigerten Profiten und Dividenden lag weit offen. Selbst wo man Kritik am Eingreifen der Partei übte, auf Probleme des Außenhandels oder die Knappheit an Rohstoffen hinwies oder Bedenken hinsichtlich der Richtung der Wirtschaftspolitik äußerte, befürwortete niemand unter den Industriellen, nicht einmal unter vier Augen, eine Rückkehr zu den »schlechten«, alten, demokratischen Tagen der Weimarer Republik.

Einige Einzelpersonen, die Gruppen der national-konservativen Elite angehörten, hauptsächlich der Führung des Heeres und den oberen Schichten der Staatsbürokratie, sollten zwei Jahre später zunächst allmählich und zögernd beginnen, sich auf dem Weg in Richtung auf eine Fundamentalopposition zum NS-Regime voranzutasten. Doch zu jener Zeit sahen sie die allem Anschein nach erfolgreiche Politik der nationalen Selbstbehauptung und des Wiederaufbaus, die sich in der Person Hitlers verkörperte, immer noch als ihren eigenen Interessen und den vermeintlichen nationalen Belangen adäquat an.

Nur der verschärfte »Kirchenkampf«, der erhöhte Spannungen zwischen Geistlichen und Kirchgängern auf der einen und Parteiaktivisten auf der anderen Seite auslöste, warf einen beträchtlichen Schatten. Dies galt besonders in ländlichen, katholischen Gebieten, in denen der Einfluß des Klerus unvermindert fortwährte, während andernorts ein Konsens bestand, der natürlich zum Teil durch eine Mischung von Unterdrückung und Propaganda zustande gekommen war. Aber die Haltung der beiden wichtigen christlichen Konfessionen trug zwiespältige Züge. Wenn sie auch immer noch beträchtlichen Einfluß auf den kirchentreuen Teil der Bevölkerung ausübten, so spürten die Geistlichen doch, daß sie bei öffentlichen Stellungnahmen Vorsicht walten lassen mußten. Dies galt insbesondere bei nicht unmittelbar religiösen Themen. In gewisser Hinsicht hinkten sie eher der öffentlichen Meinung hinterher, als daß sie imstande oder willens waren, diese zu führen. Sie mußten die Tatsache berücksichtigen, daß Hitlers nationale »Erfolge«, vor allem der gewaltige Triumph der Remilitarisierung des Rheinlands, selbst unter jenen Angehörigen ihrer Gemeinde ungeheuer populär waren, die an den nationalsozialistischen Angriffen auf die Kirchen heftig Kritik übten.

Die Unruhe, die durch den »Kirchenkampf« ausgelöst wurde, war weit verbreitet, aber sie war überwiegend diffus. Sie war selten gleichzusetzen mit grundsätzlicher Ablehnung des Regimes oder mit einer Festlegung auf aktive und unumwundene politische Opposition. Die leidenschaftliche Verteidigung traditioneller kirchlicher Feste, Bräuche und Praktiken gegen nationalsozialistische Schikanen war vereinbar mit der Unterstützung für Hitler als Person, mit Zustimmung zu seinen Angriffen gegen die Linke, mit Beifall für seine nationalen »Triumphe« sowie mit der Bereitschaft, seine diskriminierenden Maßnahmen gegen die Juden zu akzeptieren. Sie vertrug sich in der Tat mit den meisten Maßnahmen, die nicht direkt in kirchliche Angelegenheiten eingriffen. In den allerersten Wochen der Kanzlerschaft Hitlers hatten katholische Bischöfe die ihnen anvertrauten Gläubigen ermuntert, dem neuen Regime Gehorsam zu leisten.7 Und selbst auf dem Höhepunkt des »Kirchenkampfes« billigten sie öffentlich seine Haltung gegenüber dem »atheistischen« Bolschewismus und bekräftigten ihre Hitler-Treue.8 Die Brutalität in den Konzentrationslagern, die Morde an den SA-Führern 1934 und die zunehmende Diskriminierung der Juden hatten nicht zu offiziellen Protesten und Widerspruch geführt. In ähnlicher Weise existierten im innerlich gespaltenen Protestantismus Unbehagen, Kritik und Widerspruch wegen nationalsozialistischer Eingriffe in die Kirche, ihre Praktiken, Strukturen und Lehrsätze Seite an Seite mit offiziellen Loyalitätsbekundungen und einem erheblichen Maß an Zustimmung, zu dem, was Hitler tat. Nur wenige herausragende Persönlichkeiten bildeten in dieser Hinsicht eine Ausnahme.

Hitlers unangefochtene Autorität wurde im Frühjahr 1936 von der Bewunderung der Massen bestärkt. Große Teile der Bevölkerung vergötterten ihn einfach. Selbst seine Gegner mußten das anerkennen. »Aber ein Kerl ist er doch, der Hitler. Er hat den Mut, etwas zu wagen«, so lautete eine Ansicht, von der die sozialistische Opposition im Untergrund berichtete. »Der Geist von Versailles ist allen Deutschen verhaßt; Hitler hat nun den fluchwürdigen Vertrag doch zerrissen und den Franzosen vor die Füße geworfen«, so die Begründung für den Anstieg der Zustimmung für den Diktator selbst unter jenen, bei denen er bis zu diesem Zeitpunkt keineswegs Begeisterung ausgelöst hatte.9 1936 schwelgte das deutsche Volk jedenfalls in seiner großen Mehrheit in nationalem Stolz darüber, daß Hitler das Land wieder erneuert hatte, und das, so schien es, wie die Propagandafanfaren unaufhörlich und überschwenglich verkündeten, fast ausschließlich aus eigener Kraft.

Die Unterstützung für Hitler ruhte auf einem breiten Fundament und war von gewaltigem Ausmaß. Die meisten Deutschen waren im Sommer 1936, worüber sie auch immer zu nörgeln haben mochten, zumindest in mancher Hinsicht Hitler-Anhänger. Fraglos hatte Hitler mittels der Durchbrüche auf dem Feld der Außenpolitik die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich gebracht. Was die alltäglichen Lebensverhältnisse betraf, hielten viele Hitler zugute, in Deutschland einen Wandel herbeigeführt zu haben, der an ein Wunder zu grenzen schien. Denen, die keiner verfolgten Minderheit angehörten, die nicht feste Anhänger der unterdrückten Sozialdemokraten oder Kommunisten blieben, und jene, die durch die Angriffe auf die Kirchen nicht zurückgestoßen wurden, boten sich bessere Lebensumstände als zum Zeitpunkt von Hitlers Regierungsübernahmen. Die Arbeitslosigkeit war so gut wie hinweggefegt und stieg nicht wieder an, wie es die Schwarzseher prophezeit hatten. Der Lebensstandard begann sich in bescheidenem Maße, aber spürbar zu verbessern. Es gab mehr Konsumgüter zu kaufen. In immer mehr Haushalte gelangten »Volksempfänger«.10 Freizeitaktivitäten, neue Formen der Unterhaltung und bescheidene Ansätze des Tourismus breiteten sich aus. Kinos und Tanzlokale waren gut besucht. Selbst wenn die vielgepriesenen »glanzvollen« Reisen nach Madeira oder Norwegen auf den Kreuzfahrtschiffen der Organisation »Kraft durch Freude« den Privilegierten vorbehalten waren und die Klassenspaltung nicht wirklich überwanden, so waren mehr Deutsche als zuvor in der Lage, sich Ausflüge aufs Land oder Karten für Theateraufführungen und Konzerte zu leisten.11 Für viele handelte es sich hier um »gute Zeiten«, auch noch in der Rückschau nach dem Krieg.12

In nur drei Jahren schien Hitler das Land vom Elend und aus der Zerrissenheit der Weimarer Demokratie errettet und den Weg in eine grandiose Zukunft des deutschen Volkes geebnet zu haben. Der einstige Demagoge und politische Heißsporn hatte sich allem Anschein nach in einen Staatsmann und nationalen Führer vom Format eines Bismarck verwandelt. Das nationale »Wiedererwachen« ging einher mit einer rigiden, autoritären Ordnung, dem Verlust an bürgerlichen Rechten, der totalen Unterdrückung der Linken und einer sich verschärfenden Diskriminierung der Juden und anderer Gruppen, die aus der »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen wurden. Dies galt den meisten Deutschen zumindest als ein angemessener »Preis« und wurde von vielen ausdrücklich willkommen geheißen.

Unterdessen brachten nur wenige die Weitsicht auf, daß Deutschlands unaufhaltsamer, internationaler Aufstieg im Frühjahr 1936 sich als Probelauf für eine grenzenlose Expansion erweisen sollte, für einen Weltkrieg, der zu Bestialität von unvorstellbarem Ausmaß, zu Völkermord ohnegleichen und schließlich zur Zerstörung des Reichs selbst führte.13

II

Viele Diktatoren hätte die Erlangung der unangefochtenen Macht über den Staat zufriedengestellt. Für Hitler war das ein Etappenziel. In seiner Vorstellung diente Macht einem doppelten ideologischen Zweck: Der Vernichtung der Juden, die in seinen Augen Deutschlands Todfeinde waren; und, vermittels ihrer Auslöschung, der Vorherrschaft über den europäischen Kontinent und später über die Welt. Diese beiden miteinander verknüpften Ziele besaßen seit den zwanziger Jahren in seinem Denken einen zentralen Stellenwert. Sie gründeten sich auf eine »Weltanschauung«, die den Rassenkampf und das Überleben der Stärksten als Determinanten der menschlichen Geschichte ansah. Wieviel Unklarheit über den Weg, der zu diesen Zielen führte, auch bestand, diese Kernvorstellungen verließen Hitler nie.

Die Besessenheit und Hartnäckigkeit, mit denen er an diesen Ideen festhielt, hatten ihren Anteil an Hitlers Rolle, Deutschland, Europa und die Welt in die Katastrophe zu steuern. Nur wenige unter den Millionen von Gefolgsleuten, die der Anziehungskraft des Nationalsozialismus auf seinem Weg zur Macht erlegen waren, sahen die Dinge in demselben Licht, wie Hitler sie sah, oder hatten sich wie er mitreißen lassen durch das fanatische Festhalten an unverrückbaren Positionen seiner persönlichen »Weltanschauung«.14 In einem weit größeren Ausmaß verdankte Hitler seine wachsende Attraktivität als Alternative zur Weimarer Demokratie der Wucht seiner kompromißlosen Frontalangriffe gegen ein sichtlich versagendes politisches System, das sich von oben her auflöste und dessen Popularität in wachsendem Maße schwand. Während seines Aufstiegs an die Hebel der Macht waren Hitlers zentrale ideologische Glaubenssätze in einen breiten Strom von Haßtiraden gegen das Weimarer »System« eingebettet. Mit der verführerischen Gegenvorstellung einer nationalen Wiedergeburt beschwor er den Zeitpunkt herauf, da die »Verbrecher« vernichtet sein würden, die vermeintlich Niederlage und Revolution mit all ihren katastrophalen Konsequenzen verschuldet hatten. Das Geheimnis seines demagogischen Erfolgs lag in der Fähigkeit, das auszusprechen, was die unzufriedenen Massen zu hören wünschten, ihre Sprache zu sprechen. Hitler vermochte die von Verzweiflung durchzogene Gemütslage zu erfassen und auszubeuten und die Menschen mit neuer Hoffnung auf ein Erwachen der Nation, gleich einem Phönix aus der Asche, zu erfüllen. Er war wie kein anderer imstande, die im Volk verankerten Haßgefühle, Ressentiments und Erwartungen zu artikulieren. Er formulierte schärfer, vehementer, ausdrucksstärker als alle, die eine ähnliche ideologische Botschaft verkündeten. Er war das Sprachrohr der nationalistischen Massen im entscheidenden Augenblick einer tiefgreifenden Krise der Nation.

Indem er unter Beweis stellte, daß er die nationalistischen Massen wie kein anderer aufrütteln konnte, wurde er persönlich immer attraktiver für jene, die Macht und Einfluß besaßen und ihn und seine zügig wachsende Bewegung als unverzichtbare Waffen »im Kampf gegen den Marxismus« betrachteten. Diese Wendung umfaßte nicht nur Angriffe auf Kommunisten, sondern auch auf Sozialdemokraten, Gewerkschaften und das demokratische System selbst und beschrieb aus der Sicht der konservativen Eliten einen »Marxismus«, den zu schwächen sie alles Erdenkliche unternommen hatten. Mit ihrer Hilfe erhielt Hitler im Endstadium der Weimarer Republik, wonach er solange gestrebt hatte: die Kontrolle über den deutschen Staat. Der verhängnisvolle Irrtum dieser »Drahtzieher« bestand darin, zu meinen, sie würden Hitler kontrollieren können. Zu spät entdeckten sie, in wie katastrophalem Ausmaß sie diesen Mann unterschätzt hatten.

In der Zeit, als Hitler an die Schalthebel der Macht gehievt wurde, hatte die »Erlösungspolitik«, die Hitler predigte, die Unterstützung von über 13 Millionen Deutschen gewonnen. Zu ihnen zählte eine aktivistische Basis von mehr als einer Million Mitgliedern der verschiedenen Gliederungen der nationalsozialistischen Bewegung. Hitler verkörperte das Verlangen all dieser Menschen nach nationaler Erlösung. Die pseudoreligiösen Elemente des um seine Person geschaffenen Kults konnten ihn zu einer Zeit, da Frömmigkeit in der Bevölkerung noch stark verankert war, als einen weltlichen »Erlöser« erscheinen lassen. Der verlorene Krieg, die nationale Erniedrigung, das tiefe wirtschaftliche und soziale Elend, der Mangel an Vertrauen in demokratische Institutionen und Politiker und die Bereitschaft, nach einem »starken Mann« Ausschau zu halten, der über die Fähigkeit verfügen würde, durch Gewalt die vermeintlich unüberbrückbaren, scharfen politischen Spaltungen in einer umfassenden Staatskrise zu überwinden, all dies trug dazu bei, große Teile der Bevölkerung durch verführerische Parolen von nationaler Errettung anzulocken.

Aber nicht nur die politisch Naiven hatten sich dadurch fesseln lassen. Der zählebige, in neokonservativen und intellektuellen Kreisen weitverbreitete Kulturpessimismus machte solche Gruppen für die Vorstellung einer »nationalen Wiedergeburt« empfänglich, wie sehr auch immer die Vulgarität Hitlers und seiner Gefolgsleute zu Geringschätzung seiner Person Anlaß geben mochte. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Ansicht eines unaufhaltsamen kulturellen Niedergangs sich rasch durchgesetzt, oftmals in enger Verbindung mit Zeitgeistströmungen, die eine vermeintlich unaufhaltsame Rassendurchmischung kommen sahen.15 Nach und nach erfaßte eine Stimmung kultureller Verzweiflung die konservativen Intellektuellen. Oswald Spenglers Werk »Der Untergang des Abendlandes« war mit seiner düsteren Prognose eines steilen kulturellen Niedergangs außerordentlich einflußreich.16 Die abstrakte Kunst und das moderne Theater konnten als »jüdisch« und also nicht wirklich deutsch der Verachtung preisgegeben werden. Die Jazzmusik, verunglimpft als »Niggermusik«, schien im Land Bachs und Beethovens massiv die Amerikanisierung nicht nur auf dem Gebiet der Musik, sondern auch in allen Lebensbereichen anzukündigen.17

Es sah so aus, als spiegele sich der kulturelle Niedergang Deutschlands in der Politik. Wo wenige Jahrzehnte zuvor ein Bismarck als Gigant auf der politischen Bühne agiert hatte, da schienen die Repräsentanten des Landes zu zänkischen Zwergengestalten zusammengesunken. Der heillos zerstrittene Reichstag wirkte solange wie das Spiegelbild eines gespaltenen Deutschland, bis ein neuer nationaler Held, wenn nötig mit Gewalt, eine neue Einheit schuf. Nur in die Erwartung solch eines Helden ließen sich Hoffnungen setzen, er mußte Kriegsherr, Staatsmann und Hohepriester zugleich sein, er sollte auferstehen aus der Asche der nationalen Erniedrigung und der Nachkriegsnot, um Stolz und Größe der Nation wiederherzustellen.18 Die Saat der späteren intellektuellen Förderung für Hitler und seine Bewegung ging in diesem Boden auf, wie weit auch immer die Realität nachweislich von den Idealen entfernt war.

Der schroffe Antisemitismus der Nationalsozialisten war kein Hemmnis für diese Unterstützung. Juden, weniger als ein Prozent der Bevölkerung und ganz überwiegend ängstlich darauf bedacht, als gute, vaterlandstreue deutsche Bürger aufzutreten, konnten wenige Deutsche unter ihre Freunde rechnen. Selbst jene, die offene nationalsozialistische Gewalttaten und die immer wiederkehrenden Ausschreitungen kritisierten, die die jüdische Gemeinschaft während der Weimarer Republik zu erleiden hatte, waren oftmals von irgendeiner Form des Ressentiments, des Neids oder des Mißtrauens gegen Juden infiziert. Obwohl sich relativ wenige Deutsche zu offenen Gewalttätigkeiten gegen Juden hinreißen ließen, die dennoch im Deutschland der Weimarer Republik immer wieder vorkamen, war ein latenter oder passiver Antisemitismus weit verbreitet.19 Indem die unaufhörliche nationalsozialistische Agitation die Feindseligkeiten durch die Suche nach Sündenböcken für den verlorengegangenen Krieg, die Revolution, die sich zuspitzende politische Krise und das in der Gesellschaft weit verbreitete Elend anheizte, griffen Verdächtigungen und Vorurteile um sich. Schnell mehrten sich Anschuldigungen, die Juden seien unverhältnismäßig wohlhabend, beherrschten in schädlicher Weise die Wirtschaft und verfügten im kulturellen Bereich über einen ungesunden Einfluß. Anders ausgedrückt: Es verbreitete sich bereits bevor Hitler die Macht übernahm schnell der Eindruck, Juden seien »anders« und trügen die Verantwortung für Deutschlands Leiden, wie sehr sie auch immer danach streben mochten, für das Gegenteil den Beweis zu erbringen.

Nach Hitlers Machtübernahme vollzog sich die Rückbindung der antijüdischen Prämissen des Nationalsozialismus auf diese Ressentiments. Sie konnten das gesamte Regime und, befördert durch fortgesetzte Propaganda, alle Ebenen der Gesellschaft durchdringen. Das Vorhaben sollte den Grundstein zu einer nationalen Erneuerung legen, die auf rassischer »Reinigung« basierte. Die Juden aus Deutschland »zu entfernen«, konnte daher mit Initiativen aus jedem Winkel des Regimes rechnen. Und unter den vielen, die die Grausamkeiten des Antisemitismus im neuen Staat in große Unruhe versetzte, erwuchs wegen der weitverbreiteten latenten Abneigung gegenüber Juden und der moralisch gleichgültigen Haltung zur Diskriminierung kein Widerstand gegen die grassierende Verfolgungsstimmung.

Die Zügelung offener Aggressivität gegen Juden im Olympiajahr 1936 wurde von Parteiaktivisten als vorübergehendes taktisches Manöver angesehen und ließ die Androhung weiterer diskriminierender Maßnahmen unterschwellig fortbestehen. Gesellschaftliche Ressentiments, Böswilligkeit und Habsucht sorgten ebenso wie vorbehaltloser Haß und ideologische Linientreue dafür, daß sich die Schraube der Verfolgung nicht lockerte. Ende 1937 gewann die »Arisierung« der Wirtschaft schnell an Fahrt. 1938 waren offene Angriffe auf die jüdische Gemeinschaft wieder allenthalben an der Tagesordnung. Die innere Dynamik eines ideologisch motivierten Polizeiapparats mit eigener Agenda, der nach neuen rassischen Zielgruppen Ausschau hielt, sowie die Suche nach neuen Möglichkeiten zur »Lösung der Judenfrage« verschärften sich in den »ruhigen Jahren« 1936 und 1937 eher, als daß sie abflauten.

Allmählich erschien die »Entfernung der Juden«, die Hitler bereits 1919 unter einer nationalen Regierung für unausweichlich erklärt hatte, als realisierbares Ziel.20

In der anderen Sphäre, die eng mit Hitlers ideologischer Besessenheit in Zusammenhang stand, der Ausweitung der Grenzen Deutschlands, entfalteten ebenfalls radikalisierende Kräfte ihre Wirkung. Wenn Hitler auch der führende, entschiedenste und skrupelloseste Exponent der expansionistischen Bestrebungen in Deutschland war, so war der Traum von der Vorherrschaft in Europa keineswegs nur sein persönlicher. In der Besonderheit deutscher imperialistischer Ideologie verwurzelt,21 nahm diese Vision spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre eine Schlüsselfunktion in Hitlers Denken ein. Sie gewann sodann in dem Maße an Boden, wie die nationalsozialistische Bewegung in den frühen dreißiger Jahren an Boden gewann. Die Idee bildete einen Bestandteil der großen »Mission« der »nationalen Erlösung«, die mit Hitlers utopischer »Vision« einer glorreichen deutschen Zukunft zusammenlief. Wie illusorisch Gedanken an einen Erwerb von »Lebensraum« in Osteuropa auf Kosten der Sowjetunion »durch das Schwert«, wie von Hitler in den späten zwanziger Jahren wiederholt gefordert, unter den Umständen einer beispiellosen Verarmung und Schwächung des deutschen Staats in den frühen dreißiger Jahren erschienen sein mochten, besaß die vage formulierte »Vision« der Vorherrschaft in Europa doch einen großen Vorteil: Sie konnte die liebgewonnenen, unterschiedlichen Konzeptionen einer neuen deutschen Vorherrschaft vereinigen, die mächtigen Gruppen in der Führung der Streitkräfte und den oberen Rängen des Auswärtigen Amts, bedeutenden Unternehmenskreisen und vielen Intellektuellen am Herzen lagen. Als während der ersten Jahre der HitlerDiktatur das Selbstvertrauen zurückkehrte, die Wirtschaft sich erholte, die Aufrüstung wieder einen Stellenwert gewann und das Regime von einem außenpolitischen Triumph zum nächsten fortschritt, nahmen die unterschiedlichen Vorstellungen deutscher Expansion und Vorherrschaft feste Gestalt an, die mehr und mehr den realen Gegebenheiten angeglichen schien.

Expansion galt nicht nur als ideologisch wünschenswert, als Abschluß der nationalen Wiederauferstehung, als Gipfelpunkt der »nationalen Rettung«, die Hitler gepredigt hatte. Wirtschaftliche und militärische Gründe machten die Expansion mehr und mehr wünschenswert, ja notwendig.

Viele Unternehmer fügten Hitlers Vorstellungen vom »Lebensraum« ohne Schwierigkeiten in ihre Auffassungen von einer »Großraumwirtschaft« ein, wenn sie auch eine Expansion zur Wiederherstellung der traditionellen deutschen Hegemonie in Südosteuropa einer brutalen Kolonisierung Rußlands vorzogen. Während sich Ideen über einen wirtschaftlichen Wiederaufschwung in Gedankenspiele über ökonomische Vorherrschaft verwandelten und der Druck einer zunehmend rüstungsorientierten Wirtschaft den steigenden Mangel an Arbeitskräften und Rohstoffen offenlegte, ging von einer Expansion offensichtlich eine große Verführung aus. Der dringenden Bewältigung des wirtschaftlichen Balanceakts, dem Verlangen nach Konsum und zugleich nach Rüstungsausgaben Genüge zu tun, kam Vorrang zu. Schließlich bedeutete Prioritätensetzung zugunsten der Rüstungswirtschaft praktisch die Entscheidung für eine Expansion. Tatsächlich war für jene Sektoren der Wirtschaft, die sich in einer Abhängigkeit zur Rüstungsproduktion befanden, der leidenschaftliche Einsatz für das expansionistische Programm des Regimes der sichere Weg zu hohen Profiten.

Das Militär, gezwungen, auf »bessere Zeiten« zu warten, solange Deutschland durch den Versailler Vertrag »gefesselt« und durch die Bürde der Reparationen gehemmt war, verfolgte langfristig das Ziel, seine frühere Bedeutung wiederzuerlangen, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen und eine Hegemonie in Mitteleuropa zu errichten.22 Das schnelle Tempo des Wiederaufbaus der Streitkräfte nach 1933 sowie das offensichtliche Zögern und die Unfähigkeit der westlichen Demokratien, dagegen vorzugehen, brachten nun eine Eigendynamik hervor. Nicht nur Hitler persönlich, sondern auch einigen führenden Militärs schien es angebracht, Vorteile aus aktuell günstigen Umständen zu ziehen, die sich rasch verschlechtern konnten, sobald Großbritannien und Frankreich ihrerseits in den Rüstungswettlauf eintraten. Die Instabilität der internationalen Beziehungen, die dem Zusammenbruch der Versailler Nachkriegsordnung folgte, die Schwäche der westlichen Demokratien und der beginnende Rüstungswettlauf, all dies legte den Eindruck nahe, daß der Zeitpunkt günstiger war, als er es je wieder sein würde, um Deutschlands Führungsposition auf dem europäischen Kontinent durchzusetzen. Hitler wußte dieses Argument häufig wirkungsvoll einzusetzen, wenn er vor der Generalität sprach.

Die Nähe von potentiell feindseligen Nachbarn wie Polen und der Tschechoslowakei, mögliche Konflikte mit Frankreich und Großbritannien in unbestimmter Zukunft und vornehmlich die Furcht vor dem Bolschewismus im Osten, für wie schwach man ihn auch immer momentan halten mochte, diese Faktoren steigerten die Verlockung einer expansionistischen Politik und halfen, die Militärs an Adolf Hitler und seine Träume von einer Vorherrschaft in Europa zu binden.

Auf diese Weise mündeten Hitlers unverrückbare ideologische Vorgaben, die »Entfernung der Juden« und die Vorbereitung eines zukünftigen gigantischen Kampfes um »Lebensraum« in langfristige Ziele mit einer breiten Verpflichtung, so daß durch sie leicht die unterschiedlichen Interessen jener Kräfte gebündelt werden konnten, die die Stützpfeiler des NS-Regimes bildeten. Das führte dazu, daß sich die Instrumente eines hochmodernen Staats im Herzen Europas, die Bürokratie, die Wirtschaft und nicht zuletzt das Militär selbst in wachsendem Maße an Hitlers »charismatische« Autorität, an die Politik der nationalen Errettung und den Traum der europäischen Vorherrschaft in Gestalt der »Vision« und der Macht eines Mannes banden. Zwangsläufig gerieten Hitlers wesentliche, unveränderliche Fernziele zur Triebkraft des gesamten NS-Regimes. Sie bildeten das Gerüst für die außerordentliche Energie und Dynamik, die das gesamte Herrschaftssystem durchdrangen. Es handelte sich hier um eine Dynamik, der keine Grenzen gesteckt waren, in der kein Moment denkbar war, in dem der Machthunger gestillt sein könnte, und die den Gedanken nicht zuließ, daß enthemmte Aggression in gewaltsamen Autoritarismus umschlagen kann.

Die »guten Zeiten«, die die ersten drei Jahre der Hitlerdiktatur offenkundig durch Abstellung ökonomischer Mißstände, Ordnung, Aussicht auf einen Aufschwung und die Wiederherstellung des nationalen Stolzes für Deutschland gebracht hatten, konnten nicht ewig anhalten. Sie waren auf Sand gebaut. Sie lebten von der Illusion, daß Stabilität und »Normalität« in Reichweite seien. In Wirklichkeit war das Dritte Reich nicht ideologisch in der »Normalität« einzurichten. Das war nicht allein auf Hitlers Persönlichkeit und ideologischen Elan zurückzuführen, obschon diese Faktoren nicht unterschätzt werden sollten. Sein Temperament, seine ruhelose Energie, seine spielerische Bereitschaft, Risiken einzugehen und Initiativen zu ergreifen, wurden durch den Vertrauensgewinn bekräftigt, den seine Triumphe der Jahre 1935 und 1936 ihm eingetragen hatten. Sein auf Expansion gerichteter Messianismus nährte sich von der Droge der Bewunderung durch die Massen und von der Speichelleckerei der meisten Gestalten seiner Umgebung. Seine Wahrnehmung, daß die Zeit gegen ihn arbeite, sowie die Ungeduld, die ihn zum Handeln trieb, wurden durch die wachsende Überzeugung verschärft, daß er kein langes Leben zu erwarten habe. Aber neben diesen Facetten der Persönlichkeit Adolf Hitlers spielten eher unpersönliche Kräfte eine Rolle – so der Druck, der durch die chiliastischen Ziele, für die Hitler stand, ausgelöst und verschärft wurde. Die Verflechtung von persönlichen und überpersönlichen Triebkräften sorgte dafür, daß während der zwei »ruhigen« Jahre zwischen der militärischen Wiederbesetzung des Rheinlands und dem »Anschluß« Österreichs die ideologische Dynamik des Regimes nicht nur nicht nachließ, sondern sich sogar verstärkte, daß die Spirale der Radikalisierung sich weiterdrehte.

Der Triumph des Jahres 1936, der Hitlers Selbstvertrauen so sehr gestärkt hatte, bedeutete kein Ende, sondern einen Anfang. Die meisten Diktatoren wären zufrieden gewesen, einen solchen Erfolg auszukosten, und hätten den Schlußstein gesetzt. Für Hitler war die Remilitarisierung des Rheinlands bloß eine wichtige Station auf dem Weg zur Vorherrschaft in Europa. Die Monate, die folgten, bahnten den Weg für eine scharfe Radikalisierung des neuen Regimes in vielfältigster Hinsicht, die sich seit Ende 1937 deutlich abzeichnete und die Deutschland und Europa zwei Jahre später in einen zweiten katastrophalen Weltkrieg stürzen sollte.

Vierzehntes Kapitel: Unentwegte Radikalisierung

»Die Auseinandersetzung mit [dem] Bolschewismus kommt. Dann wollen wir parat sein. [...] Die Armee ist jetzt ganz von uns gewonnen. Führer unantastbar. [...] Vorherrschaft in Europa ist uns so gut wie sicher. Nur keine Chance vorbeigehen lassen. Dafür rüsten.«

»Die Juden müssen aus Deutschland, ja aus ganz Europa heraus. Das dauert noch eine Zeit, aber geschehen wird und muß das. Der Führer ist fest entschlossen dazu.«

Notiz über Hitlers Gedanken im Tagebuch von JosephGoebbels vom 15. November 1936 und vom 30. November 1937

I

Nach dem Triumph im Rheinland war Hitler mehr als je zuvor der Überzeugung, daß er den vom Schicksal gewiesenen Weg gehe. Die Reichstagswahlen vom 29. März 1936, die den Charakter eines Plebiszits trugen, galten im In- und Ausland als Beweis für Hitlers gestärkte Stellung. Neue Zuversicht beflügelte sein Handeln. Während des Sommers zeichneten sich die weltpolitischen Tendenzen ab, die im Laufe der nächsten drei Jahre Gestalt annehmen sollten. Das Kräfteverhältnis in Europa hatte sich deutlich verschoben.1

Bezeichnenderweise bestand Hitlers erster Schritt nach dem »Wahlerfolg« darin, den als Partner begehrten Briten einen in seinen Augen großzügigen »Friedensplan« vorzulegen. Am 1. April unterbreitete der von Hitler als Sonderbotschafter nach London entsandte Joachim von Ribbentrop der britischen Regierung ein Angebot, das Hitler am Vortage konzipiert hatte. Ribbentrop, vormals ein Sektvertreter, war zum engsten Berater Hitlers in außenpolitischen Angelegenheiten geworden. Die Offerte schlug ein viermonatiges Moratorium für Truppenverstärkungen im Rheinland vor und betonte den Willen, Gespräche auf internationaler Ebene zu führen, um einen Friedenspakt auf 25 Jahre, eine Einschränkung der Produktion von schwerer Artillerie sowie ein Verbot des Einsatzes von Gas-, Gift- und Brandbomben gegen zivile Ziele zu erreichen.2 Das vermeintlich vernünftige »Angebot« war eine Reaktion auf die diplomatische Wende nach dem Einmarsch deutscher Streitkräfte ins Rheinland gewesen. Spät hatte Frankreich damals auf Maßnahmen gegen Deutschland gedrängt, und Großbritannien hatte sodann von Hitler gefordert, die Verstärkung der am Rhein stationierten Truppen und eine Befestigung der Region zu unterlassen.3 Naturgemäß hatte Hitler, mit Blick auf diese konkreten Punkte, keine Konzessionen gemacht. Die Antwort des britischen Außenministers Anthony Eden vom 6. Mai 1936 ließ die Tür für verbesserte Beziehungen durch neue internationale Vereinbarungen offen, die das erloschene Locarno-Übereinkommen von 1925 ersetzen sollten. Trotz aller diplomatischen Formulierungskünste war die Antwort im Kern negativ. Eden teilte dem deutschen Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath mit: »Seiner Majestät Regierung bedauert, daß die deutsche Regierung nicht imstande gewesen ist, einen greifbaren Beitrag zur Wiederherstellung des Vertrauens zu leisten, was eine so wesentliche Vorbedingung für die umfassenden Verhandlungen ist, die beide ins Auge gefaßt haben. «4 Damit trat das Mißtrauen der britischen Regierung gegenüber Hitler deutlich zutage. Die Worte des britischen Außenministers Eden paßten schlecht zu der englischen Entschlossenheit, praktisch um jeden Preis zu vermeiden, das Land erneut in einen Krieg hineinzuziehen.5 Der britische Premierminister Stanley Baldwin hatte diese Grundhaltung Ende April so formuliert: »Wenn man es mit zwei Irren wie Mussolini und Hitler zu tun hat, kann man in keiner Beziehung sicher sein. Aber ich bin entschlossen, das Land aus dem Krieg herauszuhalten. «6

Sollte Hitler bei der Verwirklichung des von ihm angestrebten Bündnisses mit Großbritannien auf wachsende Schwierigkeiten stoßen, dann eröffnete ihm der Triumph im Rheinland anderswo neue Möglichkeiten. Italien, das seit dem vorangegangenen Herbst durch die Folgen des Angriffs auf Abessinien in Anspruch genommen war und nun spät auf ein für Mussolini siegreiches Ende dieser Affäre zusteuerte, konnte mit Befriedigung feststellen, wie die Aufmerksamkeit der Westmächte durch die Remilitarisierung des Rheinlands abgelenkt wurde. Mehr noch: Zu den diplomatischen Folgen des Überfalls auf Abessinien zählten bessere Beziehungen zwischen Italien und Deutschland. Wie Mussolini bereits früher in jenem Jahr angedeutet hatte, war das Interesse Italiens am Schutz Österreichs vor deutschen Übergriffen als Gegenleistung zur Unterstützung durch Berlin im Abessinien-Konflikt gesunken. Die Weichen für die Ende des Jahres auftauchende »Achse« Berlin-Rom waren gestellt. Unterdessen führte der Entzug jeglichen italienischen Schutzes für Österreich beim Alpenstaat unvermeidlich zu der Erkenntnis, daß er, wie es ein einseitiges Abkommen im Juli deutlich machen sollte, in den deutschen Einflußbereich gefallen war.

Innerhalb von 14 Tagen nach dem Abkommen mit Österreich prägten sich die diplomatischen Bruchlinien in Europa noch stärker aus, da Hitler Deutschland auf ein Eingreifen in jenem Konflikt festlegte, der sich rasch zum Spanischen Bürgerkrieg ausweitete und ein unheilvolles Vorspiel zu der Katastrophe war, die bald ganz Europa verschlingen sollte. Für scharfsinnige Beobachter bestand kein Zweifel: Hitlers kühnes Unternehmen am Rhein hatte sich als Katalysator für eine bedeutende Machtverlagerung in Europa erwiesen. Der Aufstieg Deutschlands bildete ein unvorhersehbares und in höchstem Maße die Stabilität der internationalen Ordnung erschütterndes Element. Die Chancen, einen weiteren europäischen Krieg zu vermeiden, waren für absehbare Zukunft deutlich geringer geworden.

Der deutschen Öffentlichkeit präsentierte sich Hitler wieder einmal als Mann des Friedens. Er deutete nicht ohne Geschick an, wer für die heraufziehenden Gewitterwolken des Kriegs die Schuld trage. Vor einem großen Publikum im Berliner Lustgarten, einem weiträumigen Platz in der Stadtmitte, formulierte er am 1. Mai, einst der internationale Festtag der Arbeiterschaft, im Dritten Reich der »Tag der nationalen Arbeit«, rhetorisch: »Ich frage mich: Wer sind denn eigentlich diese Elemente, die keine Ruhe, keinen Frieden und keine Verständigung haben wollen, die fortgesetzt hetzen und Mißtrauen säen müssen, wer sind sie eigentlich?« Die Masse verstand sofort den Hintersinn und brüllte: »Die Juden!« Hitler setzte erneut an: »Ich weiß!« Abermals wurde er von minutenlang brandendem Beifall unterbrochen. Als er weiterreden konnte, griff er den unterbrochenen Satz, nachdem die gewünschte Wirkung erzielt war, jetzt in einer anderen Stimmungslage wieder auf: »Ich weiß, es sind nicht die Millionen, die zu den Waffen greifen müßten, wenn diesen Hetzern ihre Absichten gelingen würden. Sie sind es nicht!«7

Der Sommer des Jahres 1936 war, wie Hitler nur zu gut wußte, nicht der geeignete Zeitpunkt zur Entfesselung einer antisemitischen Kampagne. Im August des Jahres sollten die Olympischen Spiele in Berlin stattfinden. Der Sport sollte wie nie zuvor in ein Werkzeug nationalistischer Politik und Propaganda verwandelt werden. Die nationalsozialistische Ästhetik der Macht würde nie ein größeres Publikum finden. Da die Augen der Welt auf Berlin gerichtet waren, bot sich die Gelegenheit, Hunderttausenden von Besuchern aus aller Welt die Schauseite des neuen Deutschland zu zeigen. Für diesen Zweck waren keine Kosten und Mühen zu scheuen. Das positive Gesamtbild durfte nicht beschmutzt werden, indem man die »finstere Seite« des Regimes sichtbar werden ließ. Offene Gewalt gegen Juden, wie sie vorigen Sommer in Erscheinung getreten war, konnte nicht mehr zugelassen werden. Nicht ohne Schwierigkeiten wurde der Antisemitismus sorgfältig im Verborgenen gehalten. Bevor im Februar die Winterolympiade im alpinen bayerischen Urlaubsort Garmisch-Partenkirchen begann, waren bereits an den Ortseingängen die Schilder entfernt worden, von denen man eine abschreckende Wirkung auf ausländische Besucher fürchtete. Es handelte sich um antijüdische Plakate mit Aufschriften wie »Für Juden ist der Zutritt verboten« und anderen häßlichen Formulierungen; den Befehl hatte, auf Drängen des Grafen Henri Baillet-Latour, des belgischen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, Adolf Hitler erteilt.8 Den antisemitischen Fanatikern in der Partei mußten Zügel angelegt werden, zu diesem Zeitpunkt waren andere Ziele wichtiger. Hinsichtlich der Frage, was mit den Juden geschehen sollte, vermochte Hitler zu warten.

Hektische Bautätigkeit, Anstreicharbeiten, Renovierungs- und Aufpolierungsmaßnahmen zielten darauf, ein möglichst attraktives Erscheinungsbild Berlins, der Stadt der Spiele, zu bieten.9 Im Zentrum all dieser Bemühungen stand das neue Olympiastadion. Hitler hatte den ursprünglichen Entwurf des Architekten Werner March zornig als »modernen Glaskasten« gebrandmarkt und bei einem seiner üblichen kindischen Wutanfälle gedroht, die Olympischen Spiele ganz abzusagen. Als müßten sie ein verwöhntes Kind zufriedenstellen, sorgten die Gefolgsleute in seiner Umgebung dafür, daß Hitler nicht enttäuscht wurde. Albert Speers in Eile skizzierter Entwurf in klassizistischem Stil errang sofort allerhöchste Gunst.10 Hitler war mehr als befriedigt. Voller Begeisterung forderte er alsbald, das geplante Bauwerk solle das größte Stadion der Welt werden. Als es bereits im Bau war und die Ausmaße die des bislang größten Stadions übertrafen, das für die Spiele von 1932 in Los Angeles errichtet worden war, klagte Hitler, alles sei zu klein geraten.11

Am 1. August, als inmitten spektakulärer Zeremonien die Ankunft der Olympischen Fackel den Beginn der XI. modernen Olympiade, der Hitlerolympiade, signalisierte, wogte ein Meer von Hakenkreuzflaggen durch ganz Berlin. Am Himmel flog das Luftschiff Hindenburg mit der Olympiaflagge im Schlepptau dahin. Im Stadion hatte sich eine erwartungsvolle Menge von 110.000 Menschen versammelt. Mehr als eine Million weiterer Schaulustiger, die keine Eintrittskarten erhalten hatten, säumten, laut Schätzungen, die Straßen Berlins, um einen Blick auf ihren »Führer« zu werfen, als eine Kavalkade von schwarzen Limousinen Hitler und andere Würdenträger und Ehrengäste zu der neuerrichteten höchsten Weihestätte des Sports brachte. Beim Betreten der Arena begrüßte Hitler eine Fanfare von 30 Trompeten. Der weltberühmte Komponist Richard Strauss leitete in Weiß gekleidet einen Chor mit 3.000 Sängern, der die Nationalhymne »Deutschland, Deutschland über alles« und die Parteihymne, das »Horst-Wessel-Lied«, anstimmte. Schließlich dirigierte Strauss die neue »Olympische Hymne«, die er eigens für dieses Ereignis komponiert hatte. Als die Musik verklang, läutete die gewaltige Olympiaglocke und verkündete den Beginn des Aufmarschs der am Wettkampf teilnehmenden Athleten. Mannschaften zahlreicher Nationen entboten den Nazigruß, als sie an Hitlers Podium vorbeimarschierten; die Briten und Amerikaner unterließen dies demonstrativ.12 Überall im Stadion surrten die Kameras. Die Kamerateams von Leni Riefenstahl, die nach ihrem Erfolg bei der Verfilmung des Reichsparteitags von 1934 den Auftrag erhalten hatte, einen Streifen über die Olympiade zu produzieren, hatten ihre Kameras an den strategisch günstigen Stellen installiert und sammelten Material für einen auf Zelluloid gebannten Bericht über die aufwühlenden Begebenheiten.13

Die Eröffnungsfeierlichkeiten waren an ihr Ende gelangt, und die Spiele konnten beginnen. In den folgenden vierzehn Tagen entfaltete sich eine glanzvolle Schau überragenden sportlichen Könnens. Unter allen bemerkenswerten Ergebnissen kam nichts den überragenden Leistungen des schwarzen amerikanischen Athleten Jesse Owens gleich, der vier Goldmedaillen gewann. Immer wieder heißt es, Hitler habe bewußt Owens nicht die Hand zum Glückwunsch gereicht. Es war jedoch tatsächlich nicht vorgesehen, daß er Owens oder irgendeinem anderen Sieger gratulieren sollte. Er hatte allerdings, was wahrscheinlich von den Organisatoren nicht erwartet worden war, am ersten Tag die Hände der Medaillengewinner geschüttelt, doch das waren Finnen und Deutsche. Nachdem an jenem Abend die letzten deutschen Wettbewerbsteilnehmer im Hochsprung ausgeschieden waren, hatte Hitler das Stadion mit Einsetzen der Dunkelheit vor Abschluß des verspätet gestarteten Wettbewerbs verlassen. Ob es als eine bewußt schroffe Brüskierung gedacht war oder nicht, Hitler mußte so nicht darüber entscheiden, ob er die Hände von Cornelius Johnson und David Albritton schütteln sollte, von zwei schwarzen Amerikanern, die im Hochsprung den ersten und zweiten Platz belegten. An jenem Tag nahm Jesse Owens an keinem Endkampf teil, und bevor der US-Athlet eine seiner Medaillen gewann, hatte Graf Baillet-Latour Hitler in höflicher Form darauf hingewiesen, daß es für ihn als Ehrengast des Komitees, ungeachtet seiner herausragenden Bedeutung, nicht dem Protokoll entspreche, den Siegern zu gratulieren. Danach sprach Hitler keinem Gewinner mehr seine Glückwünsche aus.14 Hitler war daher gar nicht in der Lage, einen direkten Affront gegenüber Jesse Owens zu begehen, als der amerikanische Sprinter am nächsten Tag im 100-Meter-Lauf die erste seiner Goldmedaillen gewann. Daß Hitler dennoch bereit gewesen war, Owens zu brüskieren, läßt sich aus dem schließen, was er allem Anschein nach zu Baldur von Schirach, dem Führer der Hitlerjugend, sagte: »Die Amerikaner«, so meinte er, »sollten sich schämen, daß sie sich ihre Medaillen von Negern gewinnen lassen. Ich werde diesem Neger nicht die Hand geben.« Auf Schirachs Anregung, Hitler solle sich gemeinsam mit Jesse Owens fotografieren lassen, geriet er angeblich wegen dieser schweren Beleidigung vor Wut außer sich.15

Neben den sportlichen Ereignissen ließ sich die NS-Führung keine Gelegenheit entgehen, prominente Würdenträger mit extravaganter Gastfreundschaft zu beeindrucken. Joachim von Ribbentrop, soeben von Hitler zum neuen Botschafter in London ernannt, bewirtete freigiebig Hunderte wichtiger ausländischer Gäste in seiner eleganten Dahlemer Villa. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, lud mehr als tausend Gäste zu einem großen Empfang, einer »italienischen Nacht«, mit einem spektakulären Feuerwerk auf der idyllischen Pfaueninsel in der Havel. Die Insel war für dieses Ereignis durch eine extra errichtete Schiffsbrücke mit dem Festland verbunden. Hermann Göring, der Chef der Luftwaffe, dessen Position ihm das Ansehen des zweiten Mannes im Staate verlieh, stach mit seinem pompösen Fest die ganze Konkurrenz aus. Der wohlhabende und leicht zu beeindruckende britische konservative Parlamentarier Sir Henry »Chips« Channon, damals ein Enddreißiger, erinnert sich an ein unvergeßliches gesellschaftliches Ereignis: »Ich weiß nicht, wie ich diese blendende, ereignisreiche Festlichkeit beschreiben soll«, schrieb er in seinem Tagebuch. »Wir fuhren zum Ministerium«, gemeint ist das Luftfahrtministerium in Berlin, wo sich Görings palastartige Luxusresidenz befand, »und fanden seine großen Gärten geöffnet, und 700 oder 800 Gäste staunten über den Prunk und den Glanz. Der lächelnde Göring im Schmuck all seiner Orden und Ehrenzeichen empfing uns voller Fröhlichkeit, seine Frau befand sich an seiner Seite. [...] Gegen Ende des Dinners tanzte ein Ballettkorps im Mondschein: Es war das lieblichste ›lebende Bild‹, das man sich vorstellen konnte, und alle Gäste zeigten sich erfreut und überrascht. [...] Das Ende des Gartens lag im Dunkeln, und plötzlich, ohne Ankündigung, wurden Scheinwerfer eingeschaltet, und ein Aufzug weißer Pferde, Esel und Bauern tauchte aus dem Nirgendwo auf und wurde in einen eigens errichteten Lunapark geführt. Es war fantastisch: [man sah] Karussells, Lokale mit Bier und Champagner, Bauern, die tanzten, und ›schuhplattelnde‹, korpulente Frauen brachten Brezeln und Bier, [es gab] ein Schiff, ein Bierhaus, Mengen von fröhlichen, lachenden Menschen und Tieren. [...] Die Musik dröhnte. Der erstaunte Gast ging umher. ›Seit den Tagen von Ludwig XIV. hat es dergleichen nicht mehr gegeben‹, meinte jemand. ›Seit Nero nicht mehr‹, erwiderte ich [...].«16

So großartig das Stadion auch war, so spektakulär die Feste, so verschwenderisch die Gastfreundschaft, es hätte für Hitler und auch für den Stolz der deutschen Nation doch eine Enttäuschung bedeutet, wären die Leistungen der deutschen Athleten bei der Olympiade bescheiden gewesen. Aber hier bestand kein Anlaß zur Sorge. Die deutschen Sportler machten die Spiele – zu Hitlers großer Freude – zu einem nationalen Triumph. Sie gewannen mehr Medaillen als die Athleten irgendeines anderen Landes.17 Dies trug nicht gerade dazu bei, dem Glauben der deutschen Nation an ihre Überlegenheit einen Dämpfer aufzusetzen.18

Die Olympischen Spiele waren für das NS-Regime ein gewaltiger Propagandaerfolg. Hitler nahm fast täglich an den Veranstaltungen teil und unterstrich damit die Bedeutung der Spiele. Wenn er das Stadion betrat, erhoben sich die Zuschauermassen zum Gruß,19 und die deutschen Medien berichteten umfassend über das Ereignis. Weltweit wurden mehr als 3000 Radioprogramme in etwa 50 Sprachen übertragen; allein in den USA übernahmen mehr als 100 Rundfunkstationen Sendungen. Und es waren die ersten Olympischen Spiele, die am Fernseher zu sehen waren, wenn sich die Reichweite des Empfangs auch auf Berlin beschränkte und es nur sehr verschwommene Bilder zu sehen gab.20 Fast vier Millionen Besucher erlebten die Spiele und gaben dafür viele Millionen Reichsmark aus.21 Weitere Millionen Menschen lasen Berichte oder sahen die Wochenschauen über die Olympiade. Doch die überragende Bedeutung des Ereignisses bestand darin, daß Besucher aus aller Welt Hitlers Deutschland hatten sehen und erleben können. Die meisten von ihnen reisten höchst beeindruckt ab.22 Der US-Journalist William Shirer schrieb: »Ich fürchte, die Nazis hatten Erfolg mit ihrer Propaganda. Erstens haben sie die Spiele in einer nie zuvor erlebten Dimension veranstaltet, was die Athleten sehr beeindruckte. Zweitens haben die Nazis den allgemeinen Besuchern, insbesondere den großen Geschäftsleuten, eine sehr gute Fassade vorgeführt. «23 Ein Außenseiter aus dem Inneren Deutschlands, der jüdische Philologe Victor Klemperer, der in Dresden lebte, gelangte zu einer ähnlich pessimistischen Ansicht. Er betrachtete die Olympiade als »ganz und gar ein politisches Unternehmen. [...] Immerfort wird dem deutschen Volk und den Fremden eingetrichtert, daß man hier den Aufschwung, die Blüte, den neuen Geist, die Einigkeit, Festlichkeit und Herrlichkeit, natürlich auch den friedlichen, die ganze Welt liebevoll umfassenden Geist des Dritten Reiches sehe«. Die judenfeindliche Hetze und die kriegerischen Töne waren, so berichtete Klemperer, zumindest bis zum 16. August, dem letzten Tag der Spiele, aus den Zeitungen verschwunden. Die Gäste würden »immer wieder darauf hingewiesen, wie friedlich und freudig es bei uns zugehe, während in Spanien ›kommunistische Horden‹ Raub und Totschlag [sic] begingen«.24 Melita Maschmann, eine begeisterte Funktionärin der Hitlerjugend, erinnerte sich später, daß junge Menschen mit einem ähnlich positiven und friedlichen Bild von Deutschland in ihre Heimatländer zurückkehrten: »In uns allen war die Hoffnung auf eine Zukunft des Friedens und der Freundschaft.«25 In den Augen der jungen Frau Maschmann und in denen vieler, die ihre Begeisterung teilten, lief es auf eine Zukunft hinaus, in der es keinen Platz für einen Victor Klemperer und andere gab, die als rassisch nicht dazugehörig galten. Auf jeden Fall sollten sich die Erwartungen auf ein friedliches Zusammenleben der Völker allzu rasch als Wunschträume erweisen.

Abseits des Glanzes der Olympischen Spiele und jenseits des Blickfeldes der Öffentlichkeit herrschte ein krasser Kontrast zu dem für die Außenwirkung inszenierten Image friedlichen Wohlverhaltens. Zu jener Zeit erreichte die selbstverschuldete Krise der deutschen Wirtschaft ihren Wendepunkt. Die Krise entstand aus der Unmöglichkeit, Kanonen und Butter zugleich zu liefern, also die Versorgung mit Rohstoffen sowohl für die Rüstung als auch für den Konsum zu gewährleisten. Eine Entscheidung darüber, welche Richtung das Reich wirtschaftlich einschlagen sollte, konnte kaum länger vertagt werden. Am Ende des Sommers 1936 stand der Entschluß für eine Wirtschaftspolitik fest, die sich unerbittlich in Richtung Expansion orientierte und damit internationale Konflikte zwangsläufig heraufbeschwor. Unterdessen hatte der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs begonnen, Europa näher an eine Explosion heranzuführen.

II

Seit Frühling 1936 stand außer Frage, daß es nicht länger möglich war, die Forderungen nach rascher Wiederaufrüstung und wachsendem Inlandskonsum miteinander zu versöhnen. Die Versorgung der Rüstungsindustrie mit Rohstoffen war damals nur noch für zwei Monate gewährleistet.26 Die Treibstoffversorgung für die Streitkräfte befand sich in einem besonders kritischen Zustand.27 Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht war inzwischen zutiefst über das sich beschleunigende Tempo der Wiederaufrüstung und dessen unvermeidbar zerstörerische Konsequenzen für die Wirtschaft beunruhigt. Nur eine abrupte Senkung des Lebensstandards, die ohne Gefährdung der Stabilität des Regimes unmöglich war, oder eine gewaltige Steigerung der Exporte, die angesichts der Prioritäten des Regimes, der Wechselkursprobleme und des Zustands der Außenmärkte gleichermaßen unmöglich war, konnte seiner Ansicht nach die Erfüllung der Ansprüche einer expandierenden Rüstungsindustrie sichern. Schacht bestand darauf, das Tempo der Wiederaufrüstung zu drosseln.28

Die Militärs hingen anderen Vorstellungen an. Die Führer der Streitkräfte interessierten sich nicht für die Details der Wirtschaftspolitik, sondern waren ganz und gar von den Möglichkeiten moderner Waffen fasziniert und drängten unablässig auf eine schnelle und massive Beschleunigung des Rüstungsprogramms. Wenige Wochen nach der Wiederbesetzung des Rheinlands hatte General Ludwig Beck, der Generalstabschef des Heeres, Pläne entwickelt, statt der 36 Divisionen, die im März 1935 nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Aussicht genommen worden waren, 41 Divisionen aufzustellen. Im Sommer waren die Planungen für eine Armee abgeschlossen, die 1940 größer sein sollte, als es das kaiserliche Heer 1914 gewesen war.29

Die militärische Führung stand nicht unter Hitlers Druck. Sie vertrat vielmehr ihr eigenes Programm. Die hohen Militärs arbeiteten zugleich »dem Führer entgegen«; bewußt oder unbewußt handelten sie »seiner Linie« und »seinem Ziel« entsprechend (so die aufschlußreichen Formulierungen, die ein nationalsozialistischer Beamter zwei Jahre zuvor in einer Rede verwendet hatte).30 Die führenden Generäle handelten in der vollen Überzeugung, daß ihre Aufrüstungsambitionen ganz und gar mit Hitlers politischen Zielen übereinstimmten und sie auf seine Unterstützung gegen Versuche, die Rüstungsausgaben zu senken, vertrauen konnten. Reichskriegsminister Werner von Blomberg, der Oberbefehlshaber des Heeres Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch und sein Generalstabschef Ludwig Beck machten die Bahn frei, indem sie die erforderliche bewaffnete Macht für eine spätere Expansionspolitik schufen, die sie alle in Hitlers Kielwasser durchführen wollten.31

Gleichwohl lief die ökonomische Situation in eine Sackgasse. Sowohl das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft als auch das Rüstungsministerium verlangten einen wesentlich höheren Anteil bei der Zuteilung der knappen Devisen.32 Die Lage war auf die Dauer unerträglich. Fundamentale wirtschaftspolitische Prioritäten mußten dringend geklärt werden. Interessengruppen, die teils für Autarkie und teils für eine exportorientierte Wirtschaft eintraten, konnten nicht simultan zufriedengestellt werden. Hitler blieb auf diesem Feld monatelang inaktiv, er hatte für dieses Problem keine Lösung. Zu diesem Zeitpunkt war Göring die Schlüsselfigur.